Die Vernichtung von psychisch kranken und geistig

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Die Vernichtung von psychisch kranken und geistig
behinderten Menschen unter nationalsozialistischer
Herrschaft
Cet article a été publié avec le soutien de la Fondation pour la Mémoire de la Shoah [1].
Zusammenfassung
1939 bis 1945 wurden schätzungsweise 300.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen
im Deutschen Herrschaftsgebiet unter dem Deckmantel der „Euthanasie“ ermordet. « Aktion T4 »
und « Aktion 14f13 » sind die bekanntesten Aspekte dieser Politik. Der Beitrag beschreibt der
Geschichte der Idee des „lebensunwerten Lebens“, ihre radikale und grausame Umsetzung in der
Zeit des Nationalsozialismus im Deutschen Reich wie in den besetzten Gebieten, differenziert die
verschiedenen Aktionsformen des „Euthanasie“-Programms, beschreibt die Täter und ihre Motive
und versucht, an die ermordeten Menschen zu erinnern.
Schlüsselworte
Aktion T4, Aktion 14f13, Nationalsozialismus, „Euthanasie“, Verfolgung von psychisch kranken und
geistig behinderten Menschen, Krieg und Krankenmord
Kontext und Vorgeschichte: „Euthanasie“-Debatten in
Deutschland seit 1895
Zwischen 1939 und 1945 wurden unter dem Deckmantel der „Euthanasie“ im deutschen
Herrschaftsbereich schätzungsweise 300.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen,
Frauen, Männer und Kinder ermordet: sie kamen in speziell eingerichteten Tötungsanstalten durch
Kohlenmonoxydgas ums Leben, sie starben in den Heil- und Pflegeanstalten selbst durch
Nahrungsmittelentzug, Vernachlässigung und überdosierte Medikamente. In den besetzten Gebieten
Polens und der Sowjetunion wurden sie von SS-Sonder- und Einsatzkommandos erschossen, vergast
oder auf andere brutale Weise getötet. An den Vernichtungsaktionen beteiligten sich Ärzte,
Pflegepersonal, Verwaltungsfachleute und SS-Mitglieder. Auch wenn sich Organisation und
Verantwortung bei den Mordaktionen unterschieden, gemeinsam war die Absicht: die mehr oder
weniger planmäßige Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ unter der Prämisse, angeblich
unheilbar Kranke von ihrem Leiden zu erlösen und den „Volkskörper von Ballastexistenzen zu
reinigen“. Von daher lassen sich die Morde an den Anstaltspatienten im Deutschen Reich und in den
während des Zweiten Weltkriegs besetzten Gebieten nicht verstehen, ohne die seit dem Ende des
19. Jahrhunderts aufkommende Debatte um die „Euthanasie“, die ärztliche Erlösung unheilbar
Kranker, zu berücksichtigen1.
1895 veröffentlichte der Philosophiestudent Adolf Jost ein Buch mit dem Titel „Das Recht auf den
Tod“. Das Individuum solle das Recht haben, autonom über seinen Tod zu verfügen, wenn das Leben
durch Krankheit oder Behinderung wertlos geworden sei. Hinzu tritt das Motiv des Mitleids, welches
Ärzte und Gesellschaft dazu verpflichte, die Erlösung vom Leiden durch Tötung zu gewähren:
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„Wenn wir einen unheilbar Kranken auf seinem Lager unter unsäglichen Schmer¬zen sich
winden sehen, mit der trostlosen Aussicht auf vielleicht noch monate¬langes Siechthum,
ohne Hoffnung auf Genesung, wenn wir durch die Räume eines Irrenhauses gehen, und es
erfüllt uns der Anblick des Tobsüchtigen oder des Paralytikers mit all dem Mitleid, dessen der
Mensch fähig ist, dann muß doch trotz allen eingesogenen Vorurtheilen der Gedanke in uns
rege werden: ‚haben diese Menschen nicht ein Recht auf den Tod, hat nicht die menschliche
Gesell¬schaft die Pflicht, ihnen diesen Tod möglichst schmerzlos zu geben?“2
Bereits bei Jost kommt die Doppeldeutigkeit des „Euthanasie“-Gedankens zum Ausdruck: Das Recht
des Einzelnen auf den Tod soll auch die Gesellschaft von denjenigen Leben entlasten, die für sie
keinen Nutzen mehr haben. Vor dem 1. Weltkrieg beschränkte sich die Debatte um die „Euthanasie“
auf Einzelstimmen und Kreise, die durch sozialdarwinistisches Gedankengut geprägt waren. In der
wirtschaftlichen Not der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland radikalisierten sich die Begriffe
und der Angriffspunkt der Debatte. 1920 erschien die Schrift des bedeutenden Strafrechtlers Karl
Binding und des bekannten Psychiaters Alfred Hoche mit dem programmatischen Titel: „Die Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Ausgangspunkt war die Frage:
„Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes einge¬büßt haben,
daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert
ver¬loren hat?“ 3
Unheilbar Kranke, die dies wünschten, Bewußtlose, die zu einem namenlosen Elend erwachen
würden, und die „geistig toten“ „Ballastexistenzen“ in den Heil- und Pflegeanstalten sollten von
ihrem Leiden durch den Tod erlöst werden. Die „geistig Toten“ hätten weder den Willen zu leben,
noch zu sterben, und so sei ihre Tötung kein Unrecht. Diese Entwertung des schwachen und der Hilfe
und Pflege bedürftigen menschlichen Lebens, die im Begriff des „Lebensunwerts“ zum Ausdruck
kommt, sollte eine unheilvolle Wirkung entfalten. Dies umso mehr als ökonomische Argumente ins
Feld geführt werden, um die staatlich angeordnete Lebensvernichtung der „geistig völlig Toten“
unter den Anstaltspatienten zu rechtfertigen. Hoche wirft das „ungeheure Kapitel“ in die
Waagschale, das dem Nationalvermögen durch die Pflege von etwa 30.000 Vollidioten und
„Ballastexistenzen“, darunter 3.000 bis 4.000 „geistig völlig Tote“, für einen unproduktiven Zweck
entzogen werde4. Er kommt zu dem Schluß, daß wir vielleicht eines Tages zu der Auffassung
heranreifen werden, „daß die Beseitigung der geistig völlig Toten, kein Verbrechen, keine
unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt
darstellt5.“
Die Forderungen von Bindung und Hoche wurden in der Weimarer Republik unter Ärzten, Juristen
und Politikern kontrovers diskutiert. Man sah ihn der Schrift von Binding und Hoche „ein rechtes Kind
unsere zwiespältigen Zeit6“und störte sich erstaunlich wenig an der psychisch kranke und geistig
behinderte Menschen abwertenden Begrifflichkeit. Aufschlußreich ist die Umfrage, die der Leiter
einer evangelischen Erziehungs- und Pflegeeinrichtung für geistesschwache Kinder in Sachsen unter
den Eltern seiner Schützlinge Anfang der 1920er Jahre durchführte. Auf die Frage, ob sie einer
schmerzlosen Abkürzung des Lebens ihres Kin¬des einwilligen würden, wenn durch Sachverständige
festgestellt sei, daß es unheilbar blöd ist, antworteten 119 mit „ja“ und nur 43 mit „nein“7. Die
Intensität und Radikalität der Debatte um Euthanasie und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in
der Weimarer Republik erwies sich abhängig von der sozioökonomischen Situation, sie kam Mitte der
1920er Jahre etwas zur Ruhe, um mit Beginn der Weltwirtschaftskrise wieder an Schärfe
zuzunehmen. Radikale Einschnitte bei den Fürsorgeleistungen und Sparmaßnahmen in den
psychiatrischen Anstalten mit Senkung der Pflegesätze und Kürzung bei Personal, Verpflegung und
Heizung verschlechterten die Lebensbedingungen für psychisch kranke und geistig behinderte
Menschen. Zugleich gewannen eugenische und rassenhygienische Positionen an Einfluß: Durch
Sterilisierung und Anstaltsverwahrung sollten die erblich minderwertigen Teile der Bevölkerung von
der Fortpflanzung ausgeschlossen und so sollte dem Verfall des Volkes in geistiger, körperlicher und
sozialer Hinsicht entgegengewirkt werden8.Mit der Ideen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“
und der mittlerweile wissenschaftlich etablierten Eugenik standen am Vorabend der
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in der wirtschaft¬lich und politisch zerrütteten
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Weimarer Republik die unbedingte Achtung vor dem Leben und der Würde des Einzelnen zur
Disposition. Der rassenhygienisch und sozialdarwinistisch inspirierte Gedanke der Opferung der
Schwachen zur Stärkung der Gesunden und Starken gewann an Anziehungskraft für Ärzte, Politiker,
Juristen, Ökonomen und Wissenschaftler.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde die Rassenhygiene
zur Leitwissenschaft für die Bevölkerungs- und Sozialpolitik. Staatliche Unterstützung und soziale
Leistungen wie Ehestandsdarlehen sollten nach dem rassischen Wert der Menschen und der
Beschaffenheit der Erbanlagen zugeteilt werden, zugleich legte das „Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses“ fest, welche Teile der Bevölkerung durch zwangsweise Sterilisierung von
der Fortpflanzung ausgeschlossen werden sollten. Von 1934 bis 1945 sind 350.000 bis 400.000
Menschen gegen ihren Willen sterilisiert worden, weil sie an einer von acht Krankheiten litten, die als
„Erbkrankheiten“ galten, unter ihnen „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“ und „Erbliche
Fallsucht (Epilepsie).9Eine aufwendige rassenhygienische Propaganda sollte die Sterilisationspolitik
der Bevölkerung gegenüber legitimieren verbunden mit einer massiven Abwertung der sozial und in
der Beschaffenheit ihrer Erbanlagen als minderwertig angesehenen Menschen. Auch wenn mit den
Begriffen der „Ausmerze“ und der „Reinigung des Volkskörpers“ operiert wurde, die Forderung nach
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurde selten offen ausgesprochen. Die Frage der
„Euthanasie“ wollte Adolf Hitler erst mit Kriegsbeginn aufgreifen. Nachdem in den 1930er Jahren die
Sparpolitik in den Anstalten rigoros fortgesetzt wurde, verschlechtern sich die Lebensbedingungen
der Psychiatriepatienten und Anstaltsinsassen durch Überbelegung und Mittelkürzungen weiter. In
einzelnen Krankengeschichten findet sich nun die von Binding und Hoche geprägten Begriffe des
„lebensunwerten Lebens“. So schrieb der Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, Dr. Gregor
Overhamm, im Jahr 1938 über die an einer geistigen Behinderung leidende 32jährige Adelheid B.,
Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts: „Weiterhin entsetzlich schwierig u. störend.
Lebens¬unwertes Leben!“10Im Juni 1939 hieß es über die 47jährige Helene N.: „Weiter so. Geistig
tot. Das Krankenblatt sollte abgeschlossen werden, da sich auch in Zukunft nichts ändern wird. Der
einzige Eintrag, der sich noch lohnt, ist die Notiz des Sterbedatums.“11Diese Entmenschlichung der
anvertrauten Patienten hat dazu beigetragen, sie dem nationalsozialistischen
„Euthanasie“-Programm zu überantworten.
Das Verbrechen: Die Massenvernichtung der Anstaltspatienten
Im Oktober 1939 unterzeichnete Adolf Hitler, rückdatiert auf den 1. September 1939, den Tag des
Kriegsbeginns, ein Schriftstück mit folgendem Wortlaut:
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse
namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar
Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden
kann.“12
Mit dem Angriffskrieg auf Polen sollte nicht nur ein „Krieg nach außen“, sondern auch ein „Krieg
nach innen“ beginnen. Dieser „Krieg nach innen“ umfaßte die Teile der Bevölkerung, die aus
rassischen, erbbiologischen oder sozialen Gründen als minderwertig galten. Diejenigen Menschen,
die der Gemeinschaft nicht mehr dienen, die aufgrund von Krankheit oder sozialer Auffälligkeit keine
nutzbringende Arbeit mehr leisten konnten, sollten der Vernichtung anheimfallen. Diese Vernichtung
jedoch sollte nach außen hin nicht als grausame Untat erscheinen, sondern den Charakter einer
Erlösung vom Leiden annehmen. Die Vernichtung der psychisch kranken und geistig behinderten
Menschen stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Angriffskrieg auf die Republik
Polen: Im besetzten Polen haben Sonderkommandos der SS unmittelbar nach Kriegsbeginn deutsche
und polnische Anstaltspatienten durch Massenerschießungen und Vergasungen hingerichtet und
einzelne Anstalten für Zwecke der SS und der Wehrmacht leergeräumt. Auch Patienten
pommerscher Anstalten wurden von Oktober bis Dezember 1939 in einem Wald bei Neustadt in
Westpreußen durch das SS-Sonderkommando Eimann erschossen und in Massengräbern
verscharrt.13Das Sonderkommando Lange, für die Patientenmorde im Warthegau zuständig,
benützte fahrbare Gaskammern. Auf diese Weise wurden von Mai bis Juni 1940 auch Patienten
ostpreußischer Anstalten vergast. Die Zahl der Opfer dieser Aktion beläuft sich auf etwa 1.600
Menschen.14Insgesamt sind während der deutschen Besatzung in Polen mindestens 17.000
polnische Psychiatriepatienten ermordet worden, die Opfer von Hunger und Mangelversorgung nicht
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eingerechnet.15Die Vernichtung der Psychiatriepatienten setzte sich auch im Krieg gegen die
Sowjetunion fort, wo Einsatzkommandos der SS und des SD in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht
die Patienten psychiatrischer Krankenhäuser in Massenexekutionen ebenso ermordeten wie jüdische
Menschen, Sinti und Roma, Partisanen und „Bolschewisten“. Die freigewordenen Krankenhäuser und
die geraubten Lebensmittel wurden der Wehrmacht zur Verfügungen gestellt. Eine unvollständige
Übersicht dokumentiert 17.000 ermordete Menschen. Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt deutlich
höher.16
Im Deutschen Reich begannen Planung und Vorbereitung der geheim gehaltenen
„Euthanasie“-Maßnahmen wahrscheinlich erst im Frühjahr 1939.17Zwei Programme sind zu
unterschieden:
1. Im Rahmen der „Kindereuthanasie“ sollten körperlich bzw. geistig behinderte Neugeborene und
Kleinkinder bis dritten Lebensjahr erfaßt werden, die sich nicht in Anstaltspflege befanden. Die
Kinder wurden in speziell eingerichtete „Kinderfachabteilungen“ eingewiesen, beobachtet, selektiert
und getötet.
2. Bei der „Aktion T4“, benannt nach dem Sitz der Organisationszentrale der Patiententötungen in
der Berliner Tiergartenstraße 4, ging es um die Erfassung, Selektion und Vernichtung von
Psychiatriepatienten, die in Heil- und Pflegeanstalten verwahrt wurden und in speziell eingerichteten
Tötungsanstalten mit Kohlenmonoxydgas ermordet werden sollten.
Beide Programme, „Kindereuthanasie“ und „Aktion T4“ wurden von der Kanzlei des Führers, einem
von Philipp Bouhler geleiteten und Hitler unmittelbar unterstellten Amt, in Zusammenarbeit mit dem
Reichsinnenministerium organisiert.
In der Kanzlei des Führers sind Ende der 1930er Jahr mehrere Anfragen von Eltern eingegangen, die
um den „Gnadentod“ für ihre schwerbehinderten Kinder nachsuchten. Unter ihnen erlangte der „Fall
Kind Knauer“ die Bedeutung eines Präzedenzfalles. Der Vater des körperlich und geistig behinderten
Säuglings hatte sich an Adolf Hitler gewandt. Nach einer Untersuchung durch Hitlers Begleitarzt Karl
Brandt wurde das Kind in der Leipziger Universitätskinderklinik „eingeschläfert“.18Ab August 1939
waren alle Ärzte und Hebammen verpflichtet, geistig bzw. körperlich behinderte Kinder über die
örtlichen Gesundheitsämter an den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und
anlagebedingter schwerer Leiden“ zu melden. Die relativ differenzierten Meldebögen wurden an die
drei Gutachter des „Reichsauschusses“ weitergeleitet, unter ihnen der Direktor der Leipziger
Universitätskinderklinik Prof. Werner Catel. Die Gutachter entschieden über die Einweisung der
behinderten Kinder in eine „Kinderfachabteilung“, wo den Eltern bestmögliche Behandlung und
Pflege der Kinder versprochen, in Wahrheit jedoch selektiert und getötet wurde. Die Kinder wurden
meistens mit überdosierten Medikamenten (Luminal oder Morphium-Scopolamin) zu Tode gebracht,
sie starben an einer Lungenentzündung, was den Eltern eine scheinbar natürliche Todesursache
vorspielen sollte. Ab März 1941 sollten auch diejenigen Kinder und Jugendlichen, die sich bereits in
Anstaltspflege befanden, bis zum Alter von 14 Jahren in die Zuständigkeit des „Reichsausschusses“
fallen und in den Kinderfachabteilungen ermordet werden. Insgesamt wurden bis Kriegsende etwa
30 „Kinderfachabteilungen“ betrieben, auch in den besetzten Gebieten Polens und der
Tschechoslowakei.19Die Zahl der in den Kinderfachabteilungen ermordeten behinderten Kinder und
Jugendlichen ist schwer abzuschätzen, von etwa 5.000 ermordeten behinderten Kinder muß man
ausgehen. In einzelnen „Kinderfachabteilungen“ wurden die Kinder vor ihrer Ermordung
medizinischen Experimenten unterworfen, z. B. zur Erprobung von Tuberkuloseimpfstoffen. Die
Kanzlei des Führers richtete zwei Forschungsabteilungen zur Erforschung der Ursachen des
„Schwachsinns“ und der Epilepsie ein, in der Anstalt Brandenburg-Görden und in der Anstalt
Wiesloch. Einem großangelegten Forschungsprojekt zur Unterscheidung von erblichen und
nichterblichen Ursachen geistiger Behinderung an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik
unter Prof. Carl Schneider fielen in den Jahren 1942 bis 1944 21 Kinder zum Opfer.20
Die „Aktion T4“ hatte den Charakter einer die Individualität der Opfer nivellierenden
Massentötungsaktion.21Ab Oktober 1939 wurden über das Reichsinnenministerium und die
Anstaltsbehörden der Länder und Provinzen die ersten Meldebögen versandt, mit denen die
Anstaltspatienten zur Tötung ausgewählt werden sollten: Betroffen waren alle Patienten, die sich
mindestens fünf Jahre in Anstaltsbehandlung befanden und nicht oder nur mit „mechanischen
Arbeiten“ zu beschäftigen waren, zudem psychisch kranke Straftäter und Patienten, die „nicht
deutschen oder artverwandten Blutes sind“.22
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Anhand der Angaben auf dem einseitigen Meldebogen lassen sich die Selektionskriterien der
rassischen Zugehörigkeit, der Unheilbarkeit des Leidens („Dauer der Anstaltsbehandlung“), des
Fehlens produktiver Arbeitsleistung und „asozialen“ bzw. „kriminellen“ Verhaltens ableiten.
Demgegenüber sollten aus Gründen politischer Opportunität Alterskranke, Weltkriegsteilnehmer und
Ausländer zurückgestellt werden. Die ausgefüllten Meldebögen wurden in der „T4“-Dienststelle der
Kanzlei des Führers registriert, photokopiert und an drei der insgesamt 42 medizinischen Gutachter
versandt. Allein aufgrund der Angaben in dem Meldebogen entschieden diese über Tod und Leben
der Betroffenen. Ein rotes + bedeutete Tötung, ein blaues – Überleben. Die endgültige Entscheidung
trafen die Obergutachter, unter ihnen Herbert Linden vom Reichsinnenministerium und der Leiter der
Medizinischen Abteilung der „T4“ Werner Heyde. Anhand von 30.000 erhaltenen Krankenakten der
Opfer der „Aktion T4“ konnte nachgewiesen werden, daß das Fehlen produktiver Arbeitsleistung in
der Anstalt tatsächlich das entscheidende Selektionskriterium der „Aktion T4“ gewesen ist. Darüber
hinaus spielten die Länge des Anstaltsaufenthalts, Pflegebedürftigkeit und „störendes Verhalten“
eine Rolle. Eine Überlebenschance hatte nur, wer produktive Arbeit leistete.23Anschließend wurden
Transportlisten mit den Namen der zum Tod selektierten Patienten zusammengestellt, die den
betroffenen Anstalten über die vorgesetzten Anstaltsbehörden zugestellt wurden. Wenige Tage
später fuhren die berüchtigten grauen oder roten Busse der „Gemeinnützigen
Krankentransgesellschaft“ vor und transportierten die Patienten in eine der sechs Tötungsanstalten,
die im Gebiet des Deutschen Reiches eingerichtet worden waren: Grafeneck auf der Schwäbischen
Alb, Brandenburg an der Havel, Sonnenstein bei Pirna in Sachsen, Hartheim bei Linz in Österreich,
Bernburg an der Saale und Hadamar in Hessen. Im Verlauf der „Aktion T4“ wurde das
Selektionsverfahren modifiziert, nachdem in den ersten Monaten des Jahres viele arbeitsfähige
Patienten abtransportiert worden waren. Man wollte das Selektionsverfahren zielgenauer ausrichten:
In einer Reihe kirchlicher Anstalten und in Österreich wurden Ärztekommissionen der „T4“
eingesetzt, um die Selektion der Patienten direkt vor Ort vorzunehmen.24Ab Sommer 1940 wurde
das System der Zwischenanstalten eingeführt: Die Transporte gingen nun nicht mehr direkt in die
Tötungsanstalten, sondern zunächst in Zwischenanstalten, wo die Patienten mehrere Wochen oder
auch Monate auf den definitiven Transport in den Tod warteten. Diese Zwischenanstalten
verschleierten die Transportwege und waren in der Nähe der Tötungszentren gelegen, um eine
flexible und effektivere Organisation der industriell betriebenen Maschinerie der Tötungsanstalten zu
ermöglichen. Manche der todgeweihten Patienten ahnten ihr Schicksal und setzten sich zur Wehr, sie
erhielten beim Abtransport Beruhigungsspritzen. In der Tötungsanstalt angekommen, wurden sie
vom dortigen Pflegepersonal in Empfang genommen, mußten ihre Kleidung ablegen und wurden
dann einzeln den Tötungsärzten vorgeführt, die die Identität der Opfer überprüften und eine
plausible Todesursache für die Sterbeurkunde eruierten. Vor der Tötung wurden die Opfer
photographiert. Anschließend wurden sie in Gruppen in die als Duschraum getarnte Gaskammer
geführt. Der Tötungsarzt öffnete das Ventil der Gasflaschen und das einströmende Kohlenmonoxyd
führte zum Erstickungstod. Nach etwa zwei Stunden wurde die Gaskammer gelüftet und die Leichen
durch die „Brenner“ herausgeschafft, den besonders markierten Leichen wurden die Goldzähne
herausgebrochen. In Einzelfällen wurde zu wissenschaftlichen Untersuchungszwecken eine Sektion
vorgenommen. Die Leichen wurden in einem an die Gaskammer anschließenden Krematoriumsofen
verbrannt. Der leichengeschwängerte Rauch der Gasmordanstalten war in der Umgebung sichtbar
und ruchbar.
Der Tod der Opfer wurde bürokratisch abgewickelt.25Etwa zwei Wochen nach der Tötung erhielten
die Angehörigen einen sogenannten Trostbrief mit den gefälschten Sterbeurkunden: „Zu unserem
Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, daß Ihr ..., der am ... auf ministerielle Anordnung gemäß
Weisung des Reichsverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden mußte,
unerwartet am ... infolge ... verstorben ist. Bei seiner schweren unheilbaren Erkrankung bedeutet
sein Tod Erlösung für ihn.“26
Für den Zeitraum zwischen Tötung und Beurkundung des Todes, in der Regel zwei Wochen, kassierte
die Zentralverrechungsstelle der „T4“ Pflegegelder, so daß mit dem Tötungsprogramm mehrere
Millionen Reichsmark erwirtschaftet werden konnten.
Trotz aller Geheimhaltungsmaßnahmen kam es innerhalb der Bevölkerung zu einer erheblichen
Beunruhigung wegen der Krankenmorde. Nach der öffentlichen Protestpredigt des Münsteraner
Bischofs Graf von Galen verfügte Hitler am 24. August 1941 die Einstellung der Vergasungen im
Rahmen der „Aktion T4”. Offensichtlich wollte Hitler die ohnehin angeschlagene Kriegsmoral der
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deutschen Bevölkerung durch die Fortführung der öffentlich gewordenen und umstrittenen
„Euthanasie“-Aktion nicht weiter schwächen.27Bis August 1941 sind nach einer internen Statistik der
Zentraldienststelle 70.273 Anstaltspatienten in den sechs Gasmordanstalten getötet worden. In den
Regionen, die früh in die „Aktion T4“ einbezogen worden waren - wie Baden, Württemberg, Bayern
und Österreich – betrug der Anteil der getöteten Anstaltspatienten 50% und mehr.
Beim Stopp der „Aktion T4“ handelte es sich um eine taktische Entscheidung: Die
Organisationsstruktur der „T4“ blieb erhalten, die Meldebogenerfassung der Anstaltspatienten wurde
fortgesetzt, die „Kindereuthanasie“ lief unter Heraufsetzung des Alters der einzubeziehenden Kinder
und Jugendlichen auf 16 Jahre bis Kriegsende unvermindert weiter. Auch die Gasmordanstalten
Bernburg, Hartheim und Sonnenstein stellten ihre Tätigkeit nicht unmittelbar ein, sie dienten z. T.
noch bis Ende 1944 der Tötung von arbeitsunfähigen, kranken und rassisch oder politisch
unerwünschten Konzentrationslagerhäftlingen, die von Gutachterkommissionen der „T4“ ausgesucht
worden waren. Dieser sogenannten „Aktion 14f13“ sind allein von 1941 bis 1943 etwa 20.000
Häftlinge aus vielen Nationen zum Opfer gefallen.28
Zugleich wurde die Tötung erwachsener Anstaltspatienten in dezentraler Form fortgesetzt. Die Opfer
wurden nicht mehr aufgrund einer Selektionsentscheidung der „T4“ getötet, sondern in einzelnen
Anstalten nach Maßgabe der Anstaltsdirektoren durch überdosierte Medikamente, systematisches
Verhungernlassen und Vernachlässigung zu Tode gebracht. Die historische Forschung bezeichnet
diese Form der Patientenmorde als „dezentrale Euthanasie“, um deutlich zu machen, daß diese Form
der Patientenmorde nicht von der „T4“-Zentrale organisiert worden ist, Initiative und Verantwortung
hingegen bei den Anstaltsbehörden der Länder und Provinzen und den Anstaltsdirektoren lag. Die
Entscheidung, welcher Patient getötet werden soll, wurde vor Ort getroffen. Bereits während der
„Aktion T4“ war es in verschiedenen Regionen, wie z. B. in Sachsen, durch schlechte Ernährung und
gezielt eingesetzte überdosierte Medikamente zu einem deutlichen Anstieg der Sterblichkeit in den
Anstalten gekommen. In der oldenburgischen Anstalt Wehnen spielte Hunger als Tötungsmethode
bereits seit Kriegsbeginn eine entscheidende Rolle.29In den bayerischen Anstalten, vor allem in
Eglfing-Haar bei München und in Kaufbeuren, haben die Anstaltsdirektoren aufgrund eines Erlasses
des Bayerischen Innenministeriums ab 1942 den systematischen Nahrungsentzug, die sogenannte
E-Kost, in speziell eingerichteten Hungerhäusern als Tötungsmittel eingesetzt.30
Die Zentraldienststelle der „T4“, die unter der Tarnbezeichnung „Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten“ in Erscheinung trat, versuchte nach dem Stopp der „Aktion T4“ die
dezentralen Formen der Patiententötungen unter ihre Kontrolle zu bringen, eruierte unter den
Anstaltsdirektoren die Bereitschaft, sich an weiteren „Euthanasie“-Maßnahmen zu beteiligen und
lieferte auch die notwendigen Tötungsmedikamente (Morphium und Scopolamin) an ausgewählte
Anstalten, es gelang ihr jedoch nicht, eine Wiederaufnahme der zentral gesteuerten
Krankentötungen zu erreichen.
Mit der dem zunehmenden Luftkrieg gegen deutsche Städte stieg der Bedarf an zivilen
Krankenhausbetten in den luftgefährdeten Gebieten West- und Norddeutschlands ab 1942 31
deutlich an und erreichte im Sommer 1943 einen Höhepunkt. Bereits am 24. August 1941, dem Tag
des Stopps der „Aktion T4“, war Karl Brandt, Hitlers „Euthanasie“-Beauftragter und ab 1942 sein
Generalkommissar für das zivile und militärische Gesundheitswesen, damit beauftragt worden, für
die besonders vom Luftkrieg betroffene Städte Ersatzkrankenhäuser zu schaffen und dabei auch die
Heil- und Pflegeanstalten einzubeziehen.32Zusammen mit dem „Reichsbeauftragten für die Heil- und
Pflegeanstalten“, dem Ministerialrat im Reichsinnenministerium Herbert Linden, der wiederum in
enger Verbindung mit „T4“-Zentrale stand, oblag es Karl Brandt, bei Bedarf für die schnelle
Wegverlegung von Psychiatriepatienten aus den luftgefährdeten Gebieten in Norddeutschland, in
Rheinland, in Westfalen und im Großraum Berlin zu sorgen, um Platz für Ausweich- und
Hilfskrankenhäuser für körperlich kranke und Bombenopfer zu schaffen. Die Initiative für diese
Verlegungen ging von den städtischen und regionalen Gesundheitsbehörden sowie den Gauleitern
aus, die möglichst viele alte, chronisch Kranke und eben auch Psychiatriepatienten aus ihrem
Verantwortungsbereich herausschaffen wollten.Dabei standen die Psychiatriepatienten ganz unten in
der Hierarchie medizinischer Versorgung und unterlagen einem tödlichen Verdrängungswettbewerb.
Die Aufnahmeregionen und Aufnahmeanstalten in Mittel-, Ost und Süddeutschland sowie in den
besetzten Gebieten Polens lösten das Problem der Überfüllung auf ihre Weise. Wenn die verlegten
Psychiatriepatienten nicht ohnehin durch Hunger und Vernachlässigung starben, brachten Ärzte und
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Pflegepersonal sie in den Anstalten durch überdosierte Medikamente um, so z. B. in Kaufbeuren-Irsee
in Schwaben, in Meseritz-Obrawalde in Pommern, in Tiegenhof im besetzen Polen, in Wiesengrund
oder Kosmanos in der 1938 besetzten Tschechoslowakei. Allein aus dem Rheinland sind 1943 bis
1944 etwa 8.000 Psychiatriepatienten wegverlegt worden, die meisten von ihnen kamen ums Leben.
Die Anstalt Hadamar in Hessen, nachdem sie 1941 als Gasmordanstalt der „T4“ gedient hatte, wurde
1942 wurde unter der Leitung des Bezirksfürsorgeverbandes Wiesbaden als Tötungsanstalt
reaktiviert: Getötet wurde nun im Rahmen eines scheinbar normalen Anstaltsbetriebs mit
überdosierten Medikamenten. Die Patienten wurden in Absprache mit der „T4“ und dem
Reichsinnenministerium aus Norddeutschland, dem Rheinland, Baden-Elsaß und Brandenburg nach
Hadamar verlegt, um in diesen Regionen Platz für Ausweichkrankenhäuser zu schaffen. Von den
4.861 in Hadamar aufgenommen Patienten wurden bis zum 26. März 1945 4.411 zu Tode gebracht,
das sind 91%.33
Die Zahl der nach dem scheinbaren Stopp der „Euthanasieaktion“ im August 1941 allein im
Deutschen Reich (ohne Österreich) getöteten Anstaltspatienten wird auf etwa 90.000
geschätzt.34Darin enthalten sind auch die an Tuberkulose oder psychischen Erkrankungen leidenden
Zwangsarbeiter, vorwiegend aus Polen und der Sowjetunion. Sie wurden ab 1944, wenn ihre
Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden konnte, in vorgegebene Heil- und Pflegeanstalten,
wie Kaufbeuren oder Hadamar, eingewiesen und systematisch mit überdosierten Medikamenten
ermordet.35
Die „Euthanasie“-Aktion steht mit dem Genozids an den europäischen Juden in einer engen
Verbindung: Die Anstaltspatienten jüdischer Herkunft wurden ab Frühjahr 1940 in bestimmten
Sammelanstalten konzentriert und unterschiedslos allein aufgrund ihrer Abstammung in den
Gasmordanstalten der „Aktion T4“ umgebracht. Ihre Tötung war sowohl ökonomisch als auch
rassistisch motiviert. So kann die systematische Ermordung der Anstaltspatienten jüdischer Herkunft
als ein erster Schritt zum Genozid an den europäischen Juden verstanden werden.36Bei der Genese
des Holocaust spielten die bei der „Aktion T4“ gewonnenen Erfahrungen der industriellen
Massenvernichtung eine entscheidende Rolle: So wurden die drei Vernichtungslager der „Aktion
Reinhard“ Bełżec, Sobibor und Treblinka von etwa 120 T4-Männern entwickelt und betrieben, unter
ihnen Christian Wirth, Büroleiter in verschiedenen T4-Töungsanstalten, er stieg zum Inspekteur der
„Aktion Reinhard“ auf, der von Oktober 1941 bis November 1943 etwa 1,6 Millionen vorwiegend
polnische Juden zum Opfer fielen.37
Das Schicksal der Psychiatriepatienten während des Zweiten Weltkriegs in den von Deutschland
besetzten westeuropäischen Ländern ist noch weitgehend unerforscht. Für die Niederlande wurden
erste Arbeiten zum Hungersterben in niederländischen Heil- und Pflegeanstalten begonnen.38Im
besetzten Frankreich einschließlich der Landesteile, die der Vichy-Regierung unterstanden, sind in
den Jahren 1940 bis 1944 statistisch gesehen 40.000 bis 45.000 Anstaltspatienten mehr gestorben,
als unter Friedensbedingungen zu erwarten gewesen wäre. Dabei gibt es unterschiedliche
Auffassungen, ob die deutlich erhöhten Sterberaten auf einen bewußten
Nahrungsmittelentzug39oder auf die durch die Kriegs- und Besatzungsverhältnisse erheblich
verschlechterte Ernährungslage zurückzuführen sind. Isabelle von Bueltzingsloewen zeigt, wie die
Versorgung mit Lebensmitteln in den Anstalten trotz einiger Bemühungen der Anstaltsdirektoren und
der Präfekten immer prekärer wurde. Aufgrund von Rationierung, steigenden Preisen, bürokratischen
Hindernissen, Unterschlagung und der Unfähigkeit, sich auf dem Schwarzmarkt zu versorgen, gelang
es den Anstalten nicht, für eine ausreichende Ernährung der Patienten zu sorgen: Sie waren
aufgrund ihrer sozialen Isolation benachteiligt und mußten vielfach an Auszehrung und
Unterernährung sterben.40
Die Täter und ihre Motive
Zu den Hauptverantwortlichen der nationalsozialistischen Patientenmorde zählen die beiden
„Euthanasie“-Beauftragten Hitlers Reichsleiter Philipp Bouhler, Chef der Kanzlei des Führers, und Karl
Brandt, Hitlers Begleitarzt und späterer Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen.
Während Philipp Bouhler sich 1945 suizidierte, wurde Karl Brandt 1946 im Nürnberger Ärzteprozeß
angeklagt und zum Tode verurteilt. Er verteidigte seine Beteiligung am „Euthanasie“-Programm wie
folgt: Bei der Euthanasie sei es nicht um Besei-tigung eines Menschen überhaupt ge¬gangen, „[...]
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sondern es hat sich darum gehandelt, ihn frei zu machen von dem Leiden, das auf ihm lag.“41
Karl Brandt stilisierte sich im Nürnberger Ärzteprozeß als Idealist mit humanen Intentionen42die
operative Durchführung des „Euthanasie“-Programms habe bei Philipp Bouhler und der Kanzlei des
Führers gelegen. Geleitet wurde die „Euthanasie“-Abteilung „T4“ von Viktor Brack, einem
Wirtschaftsingenieur, mit einer engen Beziehung zum Reichsführer SS Heinrich Himmler. Auch Viktor
Brack wurde im Nürnberger Ärzteprozeß zum Tode verurteilt und wie Karl Brandt 1948 hingerichtet.
Der „T4“-Apparat mit seinem Hauptsitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 umfaßte etwa 60 – 80
Personen: Ärzte, Verwaltungsangestellte, Handwerker und Kraftfahrer. In den Tötungsanstalten der
„T4“ waren jeweils zwei Ärzte, Pflegekräfte, Verwaltungs- und Büropersonal, Standesbeamte, Fahrer,
Wachmänner und Leichenbrenner tätig, insgesamt 60 – 100 Personen. Das Personal wurde von der
„T4“ angeworben, zum Teil auch über die Gauleiter der NSDAP dienstverpflichtet und genoß
zahlreiche Privilegien: man mußte nicht an die Front, regelmäßig wurden Betriebsausflüge und
Feierlichkeiten organisiert.
Die 42 ärztlichen Gutachter, darunter namhafte Lehrstuhlinhaber der Psychiatrie, unterstanden der
Medizinischen Abteilung der „T4“, die bis 1941 von Prof. Dr. Werner Heyde aus Würzburg und dann
von Prof. Hermann Paul Nitsche geleitet wurde. Unter den „T4“-Gutachtern finden sich überzeugte
Rassenhygieniker, opportunistische und ehrgeizige Karrieristen, wie der Eichberger Anstaltsdirektor
Friedrich Mennecke, und an Gehorsam und Pflichterfüllung gewöhnte akribische Beamte wie der
Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Hermann Pfannmüller. In vorauseilendem
Gehorsam schlug er seiner vorgesetzten Behörde, der Regierung von Oberbayern eine „wirkliche
Sparmaßnahme“ vor: „Ich erachte es an dieser Stelle für angebracht einmal offen und mit aller
Deutlichkeit auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung
lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen.“43
Viele Psychiater hatten das Gefühl, durch das „Euthanasie“-Programm an einem großen
„Erlösungswerk“ mitzuwirken. Unter den älteren „T4“-Psychiatern sind Hermann Paul Nitsche oder
Valentin Faltlhauser aus Kaufbeuren während der Weimarer Republik für die Reformbestrebungen
der offenen Fürsorge, der Familienpflege und der Frühentlassung in der Psychiatrie
eingetreten.44Der bereits erwähnte Heidelberger Lehrstuhlinhaber Carl Schneider setzte sich in den
1930er Jahren für die aktive Krankenbehandlung und die Arbeitstherapie ein. Für ihn – wie für viele
andere „T4“-Psychiater – stellten Heilen und Vernichten keinen Gegensatz dar.45Die durch die
Vernichtung der unheilbar kranken eingesparten Mittel sollten für eine intensive Therapie der
heilbaren Patienten mit den Methoden der modernen Schocktherapien (Insulinkoma-, Cardiazol- bzw.
Elektrokrampftherapie) und der Arbeitstherapie eingesetzt werden. In einer von Carl Schneider,
Hermann Paul Nitsche und Ernst Rüdin verfaßten Denkschrift zur Lage der Psychiatrie aus dem Jahr
1943 heißt es:
„Aber auch die Massnahmen der Euthanasie werden umso mehr allgemeines Verständnis und
Billigung finden, als sichergestellt und bekannt wird, dass in jedem Fall bei psychischen
Erkrankungen alle Möglichkeiten erschöpft werden, um die Kranken zu heilen oder doch so weit zu
bessern, dass sie, sei es in ihren Berufen, sei es in einer anderen Form volkswirtschaftlicher
wertvoller Betätigung zugeführt werden.“46
Aber nicht nur für die „T4“-Ärzte war die Ideologie der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“
entscheidendes Motiv ihrer Beteiligung an den Patientenmorden. Auch das unmittelbar an der
Ausführung der Morde beteiligte Personal hatte die rassenhygienische und ökonomische Abwertung
der betroffenen Menschen verinnerlicht. So sagte Georg Frentzel, als Mitglied des
Einsatzkommandos 8 an der Vernichtung der Psychiatriepatienten in Mogilew/Weißrußland beteiligt,
in dem in der DDR gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren aus: „Durch ihre Krankheit waren diese
Menschen mit ‚ungesunden Erbanlagen‘ behaftet, somit minderwertig, arbeitsunfähig und stellten
außerdem nutzlose Esser dar.“47
Die Opfer
Die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ gehörten zu den schwächsten Mitgliedern der
Gesellschaft. Aufgrund von seelischer Krankheit oder geistiger Behinderung hätten sie der Fürsorge
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und Unterstützung bedurft, de facto jedoch wurden sie durch jahre- bis jahrzehntelange
Anstaltsverwahrung aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und oft auch von ihren Familien
entfremdet. Die Opfer waren Frauen, Männer und Kinder, vom Säugling bis zum hochbetagten
Menschen, sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Für die Opfer der „Aktion T4“ läßt sich
nachweisen, daß ihre Herkunft nach sozialer Schicht der Schichtzusammensetzung der Bevölkerung
des Deutschen Reiches entsprach. Menschen aus der Unterschicht waren bei den „T4“-Opfern nicht
überproportional vertreten.48Unter den „T4“-Opfern überwogen die Frauen (54 %) gegenüber den
Männern (46%). Frauen hatten durch ihr Geschlecht ein höheres Risiko, zur Tötung selektiert zu
werden. 82% der „T4“-Opfer waren ledig, geschieden oder verwitwet, deutlich mehr als in der
Gesamtbevölkerung: bedingt durch die oft Jahre bis Jahrzehnte währende Anstaltsverwahrung waren
viele „T4“-Opfer sozial isoliert.Zwei Gruppen waren besonders gefährdet, im Rahmen der „Aktion T4“
zur Tötung selektiert zu werden: Zum einen die chronisch kranken Langzeitpatienten mit der
Diagnose Schizophrenie, die man als „Endzustände“ beschrieben hat, als „abgelaufene Fälle“, bei
denen sich keine Therapie mehr lohnte und die man als „unbrauchbar“ ansah, weil sie – in den
Anstalten - keine „produktive Arbeit“ leisteten, zum anderen die Patienten mit der Diagnose
„Schwachsinn“, deren Intelligenzminderung als besonders ausgeprägt galt, die man also als „geistig
tot“ ansah. Die wegen Straftaten gerichtlich eingewiesenen Patienten standen zu Beginn der „Aktion
T4“ im Fokus des Selektionsverfahrens: Sie wurden aus einzelnen Anstalten wie Bedburg-Hau oder
Waldheim unterschiedslos in die Tötungsanstalten deportiert, dann hatten sie aufgrund ihrer häufig
guten Arbeitsleistung eine Überlebenschance, ab 1944 sollten sie in den Konzentrationslagern zur
„Vernichtung durch Arbeit“ herangezogen werden.
Im Verlauf des Krieges erweiterte sich der Kreis der Opfer der „Euthanasie“-Maßnahmen in den Heilund Pflegeanstalten. Vermehrt wurden verwirrte ältere Menschen, z. T. Bombengeschädigte,
Fürsorgezöglinge und psychisch bzw. körperlich kranke Zwangsarbeiter in die Heil- und
Pflegeanstalten eingewiesen und kamen dort durch Vernachlässigung, Hunger und überdosierte
Medikamente ums Leben.
Entgegen dem die Individualität der Menschen auslöschenden Vernichtungsprogramm der
„T4“-Organisatoren: jedes Opfer hatte seine eigene Geschichte, wie Benjamin Traub aus Mühlheim
an der Ruhr, der aus einer baptistischen Predigerfamilie stammte und im Alter von 16 Jahren nach
einer tiefen seelischen Krise in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau kam, wo es ihm zeitweise
besser ging und der Kontakt zu seiner Familie aufrecht erhalten konnte. Er wurde am 13. März 1941
in der Gaskammer von Hadamar ermordet.49Die „T4“-Opfer litten oft ohnehin unter Ängsten und
lebten in ihrer eigenen Welt, wie die 35jährige Telegraphenmanipulantin Leopoldine aus Wien, die in
der Gaskammer von Hartheim in Oberösterreich um ihr Leben gebracht wurde. Das vor ihrer Tötung
aufgenommene Photo verrät die tiefe und existentielle Beunruhigung, die bereits ihr
eingeschränktes Leben in der Heil- und Pflegeanstalt Steinhof in Wien bestimmt hatte.50Manche
fühlten sich vielleicht in ihrer Einrichtung wohl und geborgen, wie Wilhelmine Haußner, die im Alter
von 5 Jahren wegen Unruhe und einer Verzögerung ihrer geistigen Entwicklung in die katholische
Pflegeanstalt Schönbrunn in Oberbayern aufgenommen wurde und oft Besuch von ihrer Familie
erhielt. 1941 mußte sie Schönbrunn verlassen und kam in einem Sammeltransport in die Heil- und
Pflegeanstalt Eglfing-Haar, wo sie 1942 in der „Kinderfachabteilung“ mit überdosierten
Medikamenten ermordet wurde.51Manche versuchten den hoffnungslosen Verhältnissen in der
Anstalt zu entkommen, wie die Schauspielerin Emmy R. aus Hamburg, die wegen abfälliger
Äußerungen über das NS-Regime inhaftiert und infolge Schuldunfähigkeit in die Heil- und
Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen wurde. 1944 kam sie ins Hungerhaus für Frauen und wurde
durch Nahrungsmittelentzug zu Tode gebracht wurde.52Grigorij S. gehörte zu den im Rahmen der
„Euthanasie“-Aktion ermordeten Zwangsarbeitern. Er stammte aus der Ukraine und mußte beim
IG-Farben-Konzern in Wiesbaden arbeiten. Wegen einer offenen Tuberkulose wurde am 2. März 1945
nach Hadamar gebracht und wenige Tage später mit überdosierten Medikamenten getötet.53
Die Reaktionen der Angehörigen, der Gesellschaft und
Widerstand
Entgegen allen Versuchen der Geheimhaltung der „Aktion T4“ wußte man in den betroffenen
Familien und in kirchlichen Kreisen sehr bald um die wahren Ursachen der gehäuften Todesfälle
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unter den Anstaltspatienten. In Einzelfällen ist es Angehörigen in letzter Minute gelungen, ihre
Familienmitglieder vor der Gaskammer zu retten. Die Mutter von Alfred N. aus Ulm, der an den
Folgen einer Kopfverletzung aus dem 1. Weltkrieg litt, hat durch ein Telegramm an Adolf Hitler dafür
gesorgt, daß ihr Sohn aus der Tötungsanstalt Grafeneck in die Anstalt Schussenried zurückgebracht
wurde.54
Doch längst nicht alle Versuche, die bedrohten Familienmitglieder aus der Anstalt nach Hause zu
holen, und Protestschreiben waren erfolgreich. Demgegenüber wird ein größerer Teil der
Angehörigen die Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Familienmitglieds hingenommen haben, ohne
eine Reaktion nach außen kundzutun. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Äußerungen von
Angehörigen, die die „Erlösung vom Leiden“ erleichtert aufnahmen oder sogar befürworteten. So
schrieben die Eltern von Katharina W. aus Ostpreußen am 23. August 1941 an die sächsische
Zwischenanstalt Zschadraß:
„Gestern erhielten wir Ihre Depesche mit der Nachricht vom Hinscheiden unserer lieben einzigen
Tochter Katharina, die ja eigentlich bereits vor 22 Jahren für uns mehr als gestorben ist, denn einen
geliebten Angehörigen als unheilbar geisteskrank in einer Anstalt zu wißen ist schmerzlicher als sein
Tod. Darum sind wir jetzt natürlich voll Trauer, aber wir empfinden das Sterben unserer Tochter in
erster Linie als eine endliche Erlösung für sie.“55
Insgesamt zeigen die Angehörigen der Opfer ein breites Spektrum von Reaktionen auf die
Patientenmorde zwischen Hinnahme, Protest und Befürwortung, ohne daß sich dieses Spektrum nach
dem gegenwärtigen Stand der Forschung in quantifizieren ließe.56Bei der „Kindereuthanasie“ sind
neben den Protesten der Eltern auch ausdrückliche Bitten um Erlösung ihrer behinderten Kinder
überliefert. So schrieb der Vater des zweijährigen Heinz F. am 25. Oktober 1941 an den Leiter der
Kinderfachabteilung Eichberg:
„So haben wir nur noch eine Bitte an Sie, wenn schon keine Rettung u. Besserung, oder mit der Zeit
eine Heilung vorhanden ist; So lasst den kleinen, lieben Jungen nicht mehr allzulange sein schweres
Leiden ertragen.57
Widerstand gegen die „Euthanasie“-Aktion haben nur einzelne geleistet wie die Wiener
Krankenschwester Anna Wödl, die eine kleine Demonstration vor der Heil- und Pflegeanstalt Am
Steinhof organisierte, die lokale Widerstandsgruppe um die Brüder Schuhmann, die in Flugblättern
die „Euthanasie“-Morde in der Tötungsanstalt Hartheim anprangerte oder der Brandenburger
Amtsrichter Lothar Kreyssig, der die Verlegung der von ihm als Amtsvormund betreuten Patienten
untersagte. Der evangelische Pfarrer und Leiter der Hoffnungsthaler Anstalten Lobethal Paul Braune
verfaßte 1940 in Absprache mit Friedrich von Bodelschwingh, dem Leiter der Betheler Anstalten,
eine mit detaillierten Informationen versehene Denkschrift gegen die Tötung der Anstaltspatienten,
die er an die Reichskanzlei schicken ließ. Daraufhin wurde er von der Geheimen Staatspolizei für drei
Monate in Haft genommen. Während sich die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche
zumeist auf nichtöffentliche, diplomatische Bemühungen um eine Einstellung oder Modifikation der
„Euthanasie“-Aktion beschränkten, war es die öffentliche Protestpredigt des Münsteraner Bischofs
Clemens Graf von Galen vom 3. August 1941, die wesentlich zur Einstellung der Patientenmorde
beitrug.58In der Predigt wurde die Tatsache der Krankenmorde detailliert beschrieben und verurteilt:
„Jetzt wird auch das 5. Gebot: ‚Du sollst nicht töten‘ beiseite gesetzt und unter den Augen der zum
Schutz der Rechtsordnung und des Lebens verpflichteten Stellen übertreten, da man es sich
herausnimmt, unschuldige, wenn auch kranke Mitmenschen, vorsätzlich zu töten, nur weil sie
‚unproduktiv‘ sind, keine Güter mehr produzieren können.“59Der Text der Predigt wurde heimlich
vervielfältigt und verbreitete sich im ganzen Deutschen Reich. Der im katholischen Münsterland sehr
populäre Bischof blieb unangetastet, aber Menschen, die die Predigt verbreiteten, wurden verfolgt
und verhaftet. Von Seiten der Psychiater ist kein aktiver Widerstand gegen die „Euthanasie“-Aktion
überliefert, allenfalls ließen sich Anstaltsdirektoren in den Ruhestand versetzen, um nicht in die
Patientenmorde verwickelt zu werden. Die deutsche Justiz deckte die Morde an den
Anstaltspatienten, obwohl diese nach geltendem Recht den Straftatbestand des Mordes erfüllten.
Nachkriegsgeschichte: Die Reaktionen der Justiz
Amerikanische und deutsche Gerichte kamen in der juristischen Bewertung der
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nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg zu
eindeutigen Urteilen: es handele sich um Mord an unschuldigen Menschen und um Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. So wurde z. B. 1947 der Obergutachter und ärztliche Leiter der
„T4“-Zentraldienststelle Hermann Paul Nitsche und andere Ärzte und Pfleger aus Sachsen im
Dresdner „Euthanasie“-Prozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet. Doch durften die ärztlichen
Täter ab 1948/49 auf eine erstaunliche Milde insbesondere der westdeutschen Justiz hoffen, sie
wurden zum Teil unter Verweis auf das hochstehende sittliche Problem der Euthanasie entschuldet.
Darüber hinaus konnten sich die Täter auf Verbotsirrtum oder Pflichtenkollision als
Schuldausschließungsgründe berufen, was zum Freispruch führt. Zwar galt die „Vernichtung
lebensunwerten Lebens“ als rechtswidrig, doch hätten die Ärzte die Rechtswidrigkeit ihres Handelns
nicht erkennen können oder sie wären auf ihrem Posten geblieben, um Schlimmeres zu verhüten und
einen Teil der Betroffenen zu retten. In vielen Fällen wurden die Ermittlungen eingestellt oder gar
nicht erst aufgenommen. So blieb Prof. Werner Catel, einer der Hauptverantwortlichen für die
„Kindereuthanasie“, unbehelligt und konnte 1954 Lehrstuhlinhaber für Pädiatrie in Kiel werden. Es ist
dem Engagement des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zu verdanken, daß die
Frankfurter Staatsanwaltschaft Anfang der 1960er Jahre den Versuch unternahm, den Komplex der
„Euthanasie“-Verbrechen juristisch aufzuarbeiten, doch die Hauptverantwortlichen entzogen sich der
Verantwortung zumeist durch Suizid oder Verhandlungsunfähigkeit. Ihren Tiefpunkt erreichte die
juristische Aufarbeitung der „Euthanasie“-Verbrechen mit dem Freispruch für drei Ärzte der
Tötungsanstalten der „Aktion T4“ durch das Landgericht Frankfurt am Main 1967. Durch ihre
Unerfahrenheit hätten die Ärzte einen möglichen Lebenswillen ihrer Opfer nicht erkennen können
und an die Rechtmäßigkeit der „Euthanasie“ im Sinne von Binding und Hoche geglaubt. Das
Revisionsurteil des Bundesgerichtshofes im Jahr 1988 mit sehr niedrigen Haftstrafen machten die
Sache nicht besser.60
Der Milde der westdeutschen Justiz den Tätern gegenüber spiegelt sich in der fehlenden
Entschädigung für die Opfer der nationalsozialistischen Rassenhygiene und „Euthanasie“-Politik.
Weder die nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ihrer Fortpflanzungsfähigkeit
beraubten Menschen noch die Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer erhielten eine finanzielle
Entschädigung für das erlittene Leid. Trotz einer Härtefall-Regelung sind die zwangssterilisierten
Menschen und die Familien der „Euthanasie“-Opfer bis heute nicht mit den anderen Gruppen
nationalsozialistischer Verfolgung gleichgestellt.61
Das Vermächtnis der Opfer
In einem Klima fehlender gesellschaftlicher Anerkennung und fortwirkender Stigmatisierung
psychisch kranker und geistig behinderter Menschen gehörten die zwangssterilisierten Menschen
und die „Euthanasie“-Toten lange zu den „vergessenen“ bzw. verdrängten Opfern des
Nationalsozialismus, dies sowohl in der offiziellen Erinnerungskultur als auch in den betroffenen
Familien selbst. Dabei zeigt sich in den letzten Jahren ein zunehmendes Bedürfnis der
nachgeborenen Generationen, an die aus Familiengedächtnis verschwundenen Menschen zu
erinnern, ihr Schicksal zu erforschen und das erlittene Unrecht zu benennen. Beispielhaft genannt
seien die Recherchen von Sigrid Falkenstein zum Leben und zur Ermordung ihrer Tante Anna
Lehnkering, die 1940 in die Tötungsanstalt Grafeneck deportiert wurde.62Der 2014 am historischen
Ort der Organisation der Patientenmorde in der Berliner Tiergartenstraße 4 eingerichtete Gedenkund Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde ist ein spätes
Zeichen für ein öffentliches Gedenken an die „Euthanasie“-Opfer. Er ergänzt die dort seit 1989
bestehende Gedenkplatte: Eine blaue Glaswand steht für die Erinnerung an die ermordeten
Menschen und eine barrierefreie Open-Air-Ausstellung bietet Informationen zur Vorgeschichte, zur
Durchführung und zu den Nachwirkungen der nationalsozialistischen Patientenmorde. Die Texte sind
auch in Leichter Sprache verfügbar, die nicht nur von Menschen mit Lernschwierigkeiten genutzt
wird.63
Was bleibt ist die Erinnerung an außergewöhnliche Menschen, die ihr Leben oft über Jahrzehnte in
Heil- und Pflegeanstalten verbrachten und dort versuchten, unter den Bedingungen der
Anstaltsordnung ihre Würde zu bewahren, wie der Mecklenburger Kutscher Karl Ahrendt dies 1933 in
einem Brief an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch zum Ausdruck brachte: „ich vor
meine wenigkeit halthe demnag als das Menschliche dasein in mier selpst auvregt“. Auch er wurde
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mit 87 Jahren ein Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“.64
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1. Vgl. Schmuhl, Hans-Walter (1987): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, S.
106-125; Schwartz, Michael (1998): „Euthanasie“-Debatten in Deutschland; Benzenhöfer,
Udo (1999): Der gute Tod?, S. 92-108; Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom
Leiden, S. 27-71.
2. Jost, Adolf (1895): Das Recht auf den Tod, S. 6, Hervorhebung im Original.
3. Binding, Karl; Hoche, Alfred (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens,
S. 27 u. 51, Hervorhebung im Original.
4. A. a. O. S. 54.
5. A. a. O. S. 57, Hervorhebung im Original.
6. Gaupp, Robert (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, S. 336.
7. Meltzer, Ewald (1925): Problem der Abkürzung „lebensunwerten Lebens“, S. 88.
8. Vgl. Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt (1988): Rasse, Blut und Gene und
Weindling, Paul (1989): Health, race and German politics.
9. Vgl. Bock, Gisela (1986): Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.
10. Zitiert nach Hohendorf, Gerrit (2009): Adelheid B..
11. Zitiert nach Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 66.
12. Zit. n. Klee, Ernst (2010): „Euthanasie“ im Dritten Reich, S. 114.
13. Vgl. Rieß, Volker (1995): Die Anfänge der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, S.
53-117.
14. Vgl. Topp, Sascha; Fuchs, Petra; Hohendorf, Gerrit; Richter, Paul; Rotzoll, Maike (2008):
Die Provinz Ostpreußen.
15. Vgl. Jaroszewski, Zdzisław (1993): Die Ermordung der Geisteskranken in Polen
1939-1945, S. 226f..
16. Vgl. Winkler, Ulrike; Hohendorf, Gerrit (2010): „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“.
17. Aufgrund fehlender schriftlicher Quellen ist die Planungsphase der NS-„Euthanasie“
schwer zu rekonstruieren, vgl. Benzenhöfer, Udo (2001): Planung der NS-„Euthanasie“.
18. Vgl. Benzenhöfer, Udo (2008): Der Fall Leipzig. Eine genaue Datierung des Falles „Kind
Knauer“ ist bisher nicht gelungen, da die sich die Identifizierung des Kindes nicht als
tragfähig erwiesen hat.
19. Vgl. Topp, Sascha (2004): Der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erbund anlagebedingter schwerer Leiden“.
20. Hohendorf, Gerrit; Roelcke, Volker; Rotzoll, Maike (1996): Innovation und Vernichtung und
Hohendorf, Gerrit; Rotzoll, Maike (2014): Medical Research and National Socialist Euthanasia.
21. Zur „Aktion T4“ und den nationalsozialistischen Krankenmorden insgesamt siehe
Burleigh, Michael (1994): Death and Deliverance; Friedlander, Henry (1995): The Origins of
Nazi Genocide; Klee, Ernst (2010): „Euthanasie“ im Dritten Reich; Hohendorf, Gerrit (2013):
Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 72-131.
22. Zit. nach Klee, Ernst (2010): „Euthanasie“ im Dritten Reich, S. 92.
23. Vgl. Rotzoll, Maike; Fuchs, Petra; Richter, Paul; Hohendorf, Gerrit (2010): Die
nationalsozialistische „Euthanasieaktion T4“ und Rotzoll, Maike et al. (Hg.): Die
nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktion „T4“, S. 297-324.
24. Vgl. Neugebauer, Wolfgang; Czech, Herwig (2010): Die „Aktion T4“ in Österreich.
25. Vgl. Hinz-Wessels, Annette; Fuchs, Petra; Hohendorf, Gerrit; Rotzoll, Maike (2005): Zur
bürokratischen Abwicklung eines Massenmords.
26. Zit. nach Klee, Ernst (2010): „Euthanasie“ im Dritten Reich, S. 148.
27. Vgl. Faulstich, Heinz (1998): Hungersterben in der Psychiatrie, S. 271-288 und Süß,
Winfried (2003): Der Volkskörper im Krieg, S. 127-151.
28. Vgl. Ley, Astrid (2011): Die „Aktion 14f13“ in den Konzentrationslagern.
29. Vgl. Harms, Ingo (1996): „War mööt wi hier smachten ...“.
30. Vgl. Faulstich, Heinz (1998): Hungersterben in der Psychiatrie, S. 317ff und 633ff. Zu
Eglfing-Haar siehe Schmidt, Gerhard (1965): Selektion in der Heilanstalt.
31. In der historischen Forschung wird der Zusammenhang zwischen der Schaffung von
Ausweichkrankenhäusern und der Ermordung der verlegten Psychiatriepatienten oft als
„Aktion Brandt“ bezeichnet. Ob mit der sogenannten „Aktion Brandt“ eine systematische
Wiederaufnahme der Patiententötungen intendiert war, ist umstritten, vgl. Aly, Götz (1985a):
Medizin gegen Unbrauchbare, S. 56-63; Walter, Bernd (1996): Psychiatrie und Gesellschaft, S.
744-766; Süß, Winfried (2003): „Volkskörper im Krieg, S. 319-369 und Lilienthal, Georg
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(2010): Von der „zentralen“ zur kooperativen Euthanasie“.
32. Vgl. Faulstich, Heinz (1998): Hungersterben in der Psychiatrie, S. 598-602.
33. Vgl. Lilienthal, Georg (2006): Gaskammer und Überdosis, S. 168-171.
34. Vgl. Faulstich, Heinz (2000): Die Zahl der „Euthanasie“-Opfer.
35. Vgl. Hamann, Matthias (1985): Die Morde an polnischen und sowjetischen
Zwangsarbeitern.
36. Vgl. Friedlander, Henry (1995): The Origins of Nazi Genocide und Hinz-Wessels, Annette
(2013): Antisemitismus und Krankenmord.
37. Vgl. Berger, Sara (2013): Experten der Vernichtung.
38. Vgl. aan de Stegge, Cecile (2014): Die Situation der Psychiatrie in den Niederlanden
während der deutschen Besatzung.
39. Lafont, Max (2000): L’extermination douce.
40. Bueltzingsloewen, Isabelle von (2007): L’Hécatombe des Fous.
41. Zit. n. Dörner, Klaus; Ebbinghaus, Angelika; Linne, Karsten (Hg.) (2000): Der Nürnberger
Ärzteprozeß, S. 2/2436, siehe auch 2/2450.
42. Vgl. Schmidt, Ulf (2007): Karl Brandt.
43. Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaft München 1b Js 1791/47, Ermittlungsverfahren
gegen Hermann Pfannmüller, Bd. 3, Bericht Dr. Schmidt.
44. Vgl. Schmuhl, Hans-Walter (1991a): Reformpsychiatrie und Massenmord, S. 240-249.
45. Vgl. Aly, Götz (1985): Der saubere und der schmutzige Fortschritt.
46. Zit. n. Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 128.
47. Zitiert nach Winkler, Ulrike; Hohendorf, Gerrit (2010): „Nun ist Mogiljow frei von
Verrückten“, S. 88.
48. Vgl. Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 114.
49. Vgl. Traub, Hartmut (2013): Ein Stolperstein für Benjamin.
50. Vgl. Fuchs, Petra et al. (Hg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung
selbst“, S. 271.
51. Vgl. Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 308.
52. Vgl. Tiedemann, Sibylle v. (2014): Emmy R..
53. Vgl. Baader, Gerhard; Cramer, Johannes; Winter, Bettina (1991): „Verlegt nach Hadamar“,
S. 145.
54. Vgl. Aly, Götz (2013): Die Belasteten, S. 39.
55. Zit. n. Hohendorf, Gerrit (2013): Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 118.
56. Vgl. Nowak, Kurt (1991): Widerstand, Zustimmung, Hinnahme und Rauh, Philipp (2007):
„Ist mein Bruder in der Anstalt noch seines Lebens sicher?“.
57. Zit. n. Hohendorf, Gerrit (2013) Der Tod als Erlösung vom Leiden, S. 83, vgl. auch Lutz,
Petra (2006): Mit Herz und Vernunft.
58. Vgl. Nowak, Kurt (1978): „Euthanasie“ und Sterilisierung im Dritten Reich, S. 161-172..
59. Predigt Bischof Clemens Graf von Galen in der Lambertikirche zu Münster vom 3.8.1941,
abgedruckt in: Dörner, Klaus et al. (Hg.) (1989): Der Krieg gegen die psychisch Kranken, S.
112-128, hier S. 121.
60. Vgl. Benzler, Susanne (1988): Justiz und Anstaltsmord und Loewy, Hanno; Winter, Bettina
(Hg.) (1996): NS-„Euthanasie” vor Gericht.
61. Vgl. Tümmers, Henning (2011): Anerkennungskämpfe.
62. Vgl. Falkenstein, Sigrid (2012): Annas Spuren.
63. Vgl. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas u. a. (Hg.) (2015):
Tiergartenstrasse 4 und www.t4-denkmal.de [2]sowie www.gedenkort-t4.eu. [3]
64. Vgl. Rotzoll, Maike (2007): Karl Ahrendt.
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