Neurologie & Psychiatrie 2| 2011 Epileptischer Anfall Wie erkennen – wie reagieren? K. Meyer, Tschugg Fast jede 5. Epilepsiediagnose ist falsch und ca. 1/5 der „Anfälle“ wird von Ärzten nicht als epileptisch erkannt. 100%ige differenzialdiagnostische Parameter gibt es nicht. Wie sollte man beim Auftreten von epileptischen Anfällen reagieren? Epilepsie versus epileptischer Gelegenheitsanfall In der Schweiz sind knapp 70.000 Menschen epilepsiekrank, epileptische Gelegenheitsanfälle sind bis zu 10-mal häufiger. Das Risiko, nach einem ersten Anfall einen zweiten zu erleiden, beträgt für Erwachsene ca. 33%, für Kinder zwischen 42 und 54%. Epileptische Gelegenheitsanfälle werden in der Regel bei Erwachsenen und Kindern nicht behandelt, ausser wenn die Zusatzuntersuchungen (EEG, Bildgebung, familiäre Belastung) auf eine hohe Rezidivgefahr hinweisen (Abb.). Parameter für wichtige Differenzialdiagnosen Der klassische epileptische Anfall im Sinne eines Grand Mal ist in der Regel leicht zu erkennen. Im epileptischen Anfall können aber abhängig von der Erregung kortikaler Gebiete verschiedenste Semiologien vorliegen, wie z.B. motorisch, sensorisch, psychisch (psychiatrisch und kognitiv). So sind einfache, etwa repetitive motorische Funktionen in einem Anfall mit Bewusstseinsstörung nicht unbedingt eingeschränkt. Die Wahrnehmung und die Reaktionsfähigkeit können allerdings derart beeinträchtigt sein, dass z.B. die Fahrtauglichkeit nicht gegeben ist. In derartigen Fällen ist eine Aufzeichnung der Ereignisse im EEG-Labor (Abb.) sehr wichtig. Insbesondere die sogenannten einfach-fokalen Anfälle ohne Bewusstseinsstörung werden zum Teil primär nicht als epileptisch erkannt. I 38 Zusammenfassend ist festzustellen, dass gemäss der aktuellen Literatur bei bis zu 20% aller Patienten mit anfallsartig auftretenden Störungen ein nicht epileptisches Anfallsgeschehen zunächst irrtümlich als Epilepsie diagnostiziert und die Hälfte davon mit Antiepileptika behandelt wird. Umgekehrt werden ca. 20% der Epilepsien nicht als solche erkannt; es handelt sich dabei vor allem um die oben beschriebenen eher diskreteren Semiologien ohne wesentliche Bewusstseinsstörung und ohne motorische Begleitsymptome. Im Folgenden wird auf zwei wesentliche Differenzialdiagnosen – Synkopen und nicht epileptische psychogene Anfälle – eingegangen. Bei provozierten Synkopen konnten eine Aura (subjektive sensorische Phänomene) bei 93%, Myoklonien bei 90%, orale Automatismen bei 79%, Augendeviationen bei 66%, Halluzinationen bei 60%, Vokalisationen bei 60%, ein Sturz mit erhöhtem Tonus bei 52% und ein atonischer Sturz bei 48% ausgelöst werden. Letzten Endes ist eine semiologisch konstante Aura typisch für epileptische Anfälle. Bei Synkopen sind vegetative Begleitsymptome, die allerdings auch bei insulärer Beteiligung bei Temporallappenanfällen vorkommen können, häufig. Ein signifikanter Serum-CK-Anstieg beginnt meist erst 3 Stunden nach dem Ereignis. Der Anstieg im Verlauf und Werte über 200mU/ml mit einer Sensitivität von ca. 80% sind für Grand Mal typisch, hingegen bei Synkopen selten. Bei Verdacht auf Synkopen (evtl. Begleitsymptome wie Thoraxschmerzen und/oder Atemnot, ins- epileptischer Anfall provoziert durch Schlafentzug, Fieber, Toxisch,… unprovoziert - Neurologische Untersuchung CT im Notfall sonst MRI Labor EEG o.B. ggf. Liquor o.B. Lebensregulierung Verlaufsbeobachtung pathologisch - CVI (Spätanfall) Tumor/Gefässmissbildung Meningoenzephalitis Metabol. Störung ...... Verlaufsbeobachtung auf Pat.-Wunsch evt. Therapie mit Antiepileptika ev. 2. unprovozierter Anfall ?? Therapie wenn Diagnose klar - Schlafentzugs EEG - längeres Video EEG - Stehbelastungstest - ..... Abb. universimed.com | referat Anfallsmerkmal Epileptischer Anfall Psychogener Anfall Synkope Auslöser teilweise Belastungssituation häufiger im Stehen Dauer häufig <3 Minuten häufig >3 Minuten häufig <3 Minuten Semiologie meist gleichbleibend vor allem Beginn wechselnd ähnlich; vegetative Symptomatik Subjektive sensorische Phänomene (Aura) epigastrisch, akustisch, visuell, Angst, Déjà vu unspezifisch, wechselnd Schwarzwerden, Wärmegefühl Bewusstseinsstörung teilweise oft wechselnd immer Sturz tonisch, atonisch, myoklonisch meist Abstützbewegungen atonisch, tonisch Automatismen oral, nestelnd, greifend, suchend, teils gerichtet vielgestaltig, wechselnd, wenig stereotyp selten Bewegungsschablonen häufig, stereotyp, bilateral vielgestaltig, wechselnde Seitenbetonung selten, evtl. zu Beginn Kloni rhythmisch, symmetrisch, langsamer werdend unregelmässig, bizarr kurz, meist arrhythmisch Augen Zungenbiss meist offen lateral meist geschlossen selten Zungenspitze teils Blickelevation selten Amnesie Reorientierung Todd‘sche Zeichen unterschiedlich teils protrahiert teilweise oft Teilerinnerung meist schnell sehr selten oft nicht für Beginn meist <30 Sekunden keine Creatinkinase (CK) CK >200mU/ml bei GM und Anstieg im Verlauf CK in der Regel normal CK oft normal Tab. besondere Auftreten bei Anstrengung, positive Familienanamnese …) ist zum Ausschluss von kardialen Erkrankungen die Diagnostik bevorzugt bei älteren Personen zu forcieren, da die Mortalität in Zusammenhang mit Synkopen generell und insbesondere im Alter deutlich höher ist als die bei Epilepsie. Auch bei Synkopen bleibt die Hälfte der Fälle ungeklärt. Psychogene nicht epileptische Anfälle, teilweise als nicht epileptische oder hysterische Anfälle usw. bezeichnet, manifestieren sich im Alter von 7 bis 71 (Mittel 20) und haben bei Erwachsenen (Mann: Frau 1:4) eine Prävalenz von 0,02 bis 0,033, eine hohe psychiatrische Komorbidität mit „Trauma-Anamnese“ und eine Latenz zur Diagnosestellung von 7 bis 16 Jahren. Ferner ist zu berücksichtigen, dass bei Patienten mit psychogenen nicht epileptischen Anfällen in 8–58% der Fälle auch eine Epilepsie besteht. So bestehen bei 5–40% der in Epilepsiezentren untersuchten Patienten auch psychogene nicht epileptische Anfälle. Dieser Anteil ist höher bei längerer Beobachtungszeit in einer Klinik; 5% bei einer Beobachtungszeit von 6 Tagen und ca. 31% bei einer Beobachtungszeit von 21 Tagen. Bei Verdacht auf einen psychogenen Anfall können praktische Untersuchungstipps wie „das Zukneifen geschlossener Augen“ beim Versuch des passiven Öffnens oder „passiver Handfalltest über dem Gesicht“ beim atonischen Patienten universimed.com zur Differenzierung helfen. Semiologisch „typisch psychogene Zeichen“ sind „Hinund Herwackeln mit dem Kopf“ sowie eine vielgestaltige, oft unregelmässige und wechselnde Semiologie mit wechselnder Frequenz, wenig stereotyp, und eine Dauer von mehr als 3 Minuten (Tab.). Eigen- und Fremdanamnese immer wichtig Am besten ist es, wenn bereits der primär behandelnde Arzt die detaillierte Eigenund wenn möglich die Fremdanamnese erhebt. Die Situation des Anfallsbeginns mit möglichen Auslösern (direkte und indirekte), erste subjektive Zeichen des Anfalls (Aura), von der Umgebung registrierte Störungen des Bewusstseins und erste motorische Zeichen sind sehr wichtig. Im Weiteren ist insbesondere bei Rezidivereignissen die detaillierte Symptomabfolge mit Seitenlokalisation von Stereotypien, tonischen und/oder atonischen Phänomenen, Automatismen und Augendeviationen, die dem Patienten oft nicht erinnerlich sind, zu erheben, da bei Therapieresistenz auch an Epilepsiechirurgie zu denken ist. Die amnestische Periode ist vom Patienten genau zu erfragen, ebenso wie postiktale Symptome, die insbesondere typisch für epileptische Anfälle sind. Diese sog. Todd’schen Symptome – letzten Endes „zerebrale Hemmungsphänomene“ – sind einerseits die bekannte mo- torische Halbseitenlähmung, andererseits auch kognitive Defizite und psychiatrische Störungen (z.B. postiktale Depression). Ferner ist zwischen provozierten und unprovozierten Anfällen zu unterscheiden und insbesondere ist auch die Evaluation einer evtl. notwendigen Autofahrkarenz, gemäss Führerscheinrichtlinien der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie (www.epi. ch/Publikationen/Epilepsie und Autofahren), sehr wichtig; ein Neurologe ist hinzuzuziehen. Von kardiologischer Seite existieren bezüglich Synkopen in der Schweiz keine veröffentlichten Richtlinien. Insbesondere bei unklaren synkopalen Ereignissen wird ein ähnliches Vorgehen wie bei epileptischen Anfällen empfohlen. Notfall epileptischer Anfall Obwohl Epilepsiekranke wegen Selbstgefährdung und Verletzung im Anfall und aufgrund der Grunderkrankung eine zweibis dreimal höhere Mortalität als die Durchschnittsbevölkerung haben, ist der weiterhin noch nicht ganz geklärte unerwartete Tod im epileptischen Anfall, SUDEP (sudden unexpected death), mit 10–17% der vorzeitigen Todesfälle bei Epilepsie relativ selten. In der Regel sollte die tonisch-klonische Phase des Grand Mal spätestens nach 5min – meistens allerdings früher – sistieren und der Anfall mit im Vordergrund stehender Bewusstseinsstörung nach max. 15min. Wichtig ist, dass der Anfall von der postiktalen Phase unterschieden wird und dass ein klares individuelles Prozedere bei bekannter Epilepsie getroffen ist; d.h. dass bei bekannten Anfallsclustern ggf. prophylaktisch Benzodiazepine, in der Regel Lorazepam Expidet oder das etwas schwieriger rektal applizierbare Diazepam, gegeben werden. Auch bei Anwendung während des Anfalls tritt die Wirkung frühestens nach ca. 15min ein; nicht selten findet vorher ein spontanes Sistieren des Anfalls statt. Literatur beim Verfasser ■ Autor: Dr. med. Klaus Meyer Chefarzt-Stv., Leiter Epileptologie Klinik Bethesda, 3233 Tschugg E-Mail: [email protected] www.klinik-bethesda.ch LOneu110200 39 I