Kampf der Kulturbegriffe Kritik der Globalisierung

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WIDER SPRUCH
Kampf der Kulturbegriffe
Kritik der Globalisierung
MÜNCHNER ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE
Heft 40
Manuel Knoll
Die Grenzen des Westens: Eine Kritik an Huntingtons Kozeption von kultureller Identität
Alexander von Pechmann
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
Wolfgang Melchior
Die alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
Mohamed Turki
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
Charme I. Sucharewicz
Die israelische Entwicklung – multikulturelle Gesellschaft und übergeordnete Kultur
6.-
EUR
Kim Lan Thai Thi
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
Ein Koan zur Lehrbiographie
Widerspruch
Kampf der Kulturbegriffe
Kritik der Globalisierung
Dem Kritiker passt die Kultur nicht,
der er sein Unbehagen verdankt.
Theodor W. Adorno
Zum Thema
Kampf der Kulturbegriffe
Kritik der Globalisierung
Artikel
Manuel Knoll
Die Grenzen des Westens. Eine Kritik an Samuel
P. Huntingtons Konzeption von kultureller Identität
11
Alexander von Pechmann
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
26
Wolfgang Melchior
Die alte Weltordnung:
die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
41
Mohamed Turki
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft? Zur
Rationalitätsdebatte in der arabisch-islamischen Welt
61
Charme I. Sucharewicz
Die israelische Entwicklung – multikulturelle
Gesellschaft und übergeordnete Kultur
77
Elmar Altvater / Birgit Mahnkopf:
Globalisierung der Unsicherheit
Percy Turtur
85
Dan Diner: Feindbild Amerika
Georg Koch
86
Terry Eagleton: Was ist Kultur?
Konrad Lotter
89
Heinz Kimmerle: interkulturelle Philosophie
Alexander von Pechmann
91
Robert Kurz (Hg): Marx lesen
Bernd M. Malunat
93
Bücher zum
Thema
7
Werner Seppmann: Das Ende der Gesellschaftskritik?
Reinhard Jellen
96
Charles Taylor: Die Formen des Religiösen
Wolfgang Melchior
Slavoj Zizek: Die Tücke des Subjekts
Wolfgang Habermeyer
98
101
Münchner
Philosophie
Neuerscheinungen
Anhang
Kim Lan Thai Thi
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
Ein Koan zur Lehrbiographie
105
Hannelore Bublitz: Judith Butler
Jadwiga Adamiak
113
Manfred Frank: Selbstgefühl
Thomas Wimmer
114
Otfried Höffe (Hg): Aristoteles. Politik
Manuel Knoll
116
Otfried Höffe: Gerechtigkeit
Reinhard Jellen
118
Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch. Leben und Werk
Micha Homolka
121
Ulrike Kleemeier: Grundfragen einer
philosophischen Theorie des Krieges
Wolfgang Teune
122
Manuel Knoll: Theodor W. Adorno –
Ethik als erste Philosophie
Roger Behrens
125
Martha C. Nussbaum: Konstruktion der Liebe,
des Begehrens und der Fürsorge
Fritjof Bönold / Norbert Walz
127
Richard Rorty: Wahrheit und Fortschritt
Christian Schwaabe
130
Michael Ruoff:
Schnee von Morgen – das Neue in der Technik
Hans-Martin Schönherr-Mann
132
Peter Trawny: Die Zeit der Dreieinigkeit
Alexander von Pechmann
134
Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft
Jonas Dörge
137
Rainer E. Zimmermann: Subjekt und Existenz
Roger Behrens
140
AutorInnen
Impressum
142
143
Zum Thema
Kampf der Kulturbegriffe
Kritik der Globalisierung
Der Traum von der Einen Welt ist wieder verflogen. So manchem erschien
es nach dem Kalten Krieg als reale Möglichkeit, dass durch die Öffnung der
Märkte, die mediale Vernetzung der Kontinente und durch den Wandel zur
„Weltinnenpolitik“ die Welt zum „globalen Dorf“ werde, in dem die Völker
und Kulturen sich begegnen und in ihrer Vielfalt zur Einheit zusammenwachsen. Dieser Traum ist in weite Ferne gerückt. Spätestens seit dem 11.
September rüstet die USA nicht nur militärisch im Namen des „war against
terrorism“ auf, wächst in der islamischen Welt nicht zuletzt dadurch der
Hass gegen „den Westen“, und spielt der Ferne Osten mit seinen atomaren
Muskeln. Europa sieht sich mittendrin und zwischen Friedensliebe und
Kriegsbereitschaft hin- und hergerissen..
Wie aber ist diese neue Lage zu beschreiben? Stehen erneut „Arme gegen
Reiche“, die Globalisierungsverlierer gegen die -gewinner; resultiert sie aus
den Anpassungsproblemen traditionaler Gesellschaften an die moderne
globale Welt; oder ist sie doch der viel zitierte „Kampf der Kulturen“? Welcher theoretische Rahmen und welche Begrifflichkeit sind geeignet, um die
unerhoffte neue „Welt-Unordnung“ zu beschreiben?
Hatte die letzte Nummer Beiträge versammelt, die aus außereuropäischen
Perspektiven den kritischen Blick auf die Globalisierungsprozesse geworfen
haben, so befasst sich diese Nummer nicht mit der Globalisierung selbst,
sondern streitet um die Begriffe, die sie begreifen wollen. Ins Zentrum ist dabei der Begriff der „Kultur“ gerückt, nicht nur, weil von S. Huntington der
„Kampf der Kulturen“ ausgerufen worden ist, sondern weil es prima vista
in der Tat so erscheint, als stünden in den gegenwärtigen Konflikten sich
Kulturen einander gegenüber. Was aber meint dieser Begriff?
In seinem Beitrag Die Grenzen des Westens hinterfragt Manuel Knoll die antagonistische Konzeption von kultureller Identität, die Samuel P. Huntington
in seinem Buch Der Kampf der Kulturen vertritt. Nach einer Einführung in
8
Zum Thema
Huntingtons Konzeption thematisiert er zuerst die inneren Grenzen der
westlichen Kultur und bemüht sich dann darum, eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie sich die konfliktreichen Grenzen zwischen westlichem und islamischem Kulturkreis überwinden lassen.
Alexander von Pechmann unterscheidet in seinem Artikel über Die neue Dimension der Globalisierungskritik zunächst die immanente von der externen
Kritik, die sich in den nicht-westlichen Kulturen formiert hat. Er unternimmt dann den Versuch, einen Begriff der Kultur zu formulieren, der die
Konfliktlage zwischen den Kulturen verstehbar machen kann.
In seinem Artikel Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen setzt sich Wolfgang Melchior ideologiekritisch mit denjenigen Theorien
auseinander, die vom ‚Kampf der Kulturen’ reden. Seine Analyse kommt zu
dem Ergebnis, dass es sich bei ihnen weniger um empirische als um präskriptive Theorien handelt, die die eigentlich ökonomischen Konflikte zu
verschleiern versuchen.
Kampf der Kulturbegriffe
9
Mohamed Turki gibt in seinem Artikel Arabische Vernunft versus westliche Vernunft? anhand von zwei Protagonisten der Diskussion, M.A. Al Gabiri und
M. Arkoun, einen Einblick in die derzeitige Debatte in der arabischislamischen Welt um ein gegenwartsadäquates Rationalitätsmodell.
In ihrem Beitrag über Die israelische Entwicklung geht Charme I. Sucharewicz
schließlich der Frage nach, ob und inwiefern in Israel heute unter den Bedingungen einer multiethnischen, aber auch multinationalen Gesellschaft
von einer einheitlichen „israelischen Kultur“ gesprochen werden kann.
In unserer Reihe „Münchner Philosophie“ stellt die vietnamesische Philosophin Kim Lan Thai Thi ihre intellektuelle Entwicklung dar. Ihr Beitrag Warum ging Bodhidharma gen Osten? beschreibt zuerst den Weg, der sie von der
geistig-kulturellen Tradition ihrer Heimat weg zur europäischabendländischen Philosophie geführt hat, um in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr dann den Wert und die Bedeutung der buddhistischen
Denk- und Lebensweise (wieder)zuentdecken.
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10
Zum Thema
Neben einem umfangreichen Rezensionsteil, der Bücher zum Thema vorstellt und bespricht, beschließen Rezensionen aktueller Neuerscheinungen das
Heft.
Last not least haben wir eine Berichtigung anzuzeigen. Frau Shalini Randeria hat uns um den Abdruck der folgenden Erklärung gebeten:
„Der Beitrag von Shalini Randeria: ‚Die Transnationalisierung des Rechts
und der Rechtspluralismus im Süden’ in Heft Nr. 39 wurde in der vorliegenden Fassung ohne Genehmigung der Autorin abgedruckt und enthält
sachliche Fehler aufgrund der nicht autorisierten Übersetzung. Die ungekürzte englische Originalfassung des Textes erscheint unter dem Titel:
‚Domesticating neo-liberal discipline: Transnationalisation of law, fractured
states, and legal pluralism in the South’, in: Wolf Lepenies (Hg), Shared Histories and Negotiated Universals, Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2003.“
Wir bedauern dieses Vorkommnis.
Die Redaktion
Manuel Knoll
Die Grenzen des Westens.
Eine Kritik an Samuel P. Huntingtons Konzeption
von kultureller Identität
Zweifellos hat der 11. September 2001 Samuel P. Huntingtons Theorie
vom Kampf der Kulturen zu neuer Aktualität verholfen. Der Theorie des
US-Politikwissenschaftlers nach könnten die Terroranschläge als Folge des
Konflikts zwischen der islamischen und der westlichen Kultur verstanden
werden. Huntington verneint jedoch in einem Interview die Frage, ob mit
den Terroranschlägen der vorausgesagte Kampf der Kulturen tatsächlich
beginnt: „Nein, die islamische Welt ist gespalten. Ob der echte Zusammenprall verhindert wird – das hängt davon ab, ob islamische Staaten mit den
USA bei der Bekämpfung dieses Terrors zusammenarbeiten werden“.1 Interpretiert man die Terroranschläge und die anschließenden Kriege in Afghanistan und im Irak als Folge des Konflikts zwischen der islamischen und
der westlichen Kultur, würde dies bedeuten, daß sich die von Huntington
unterstellten „blutigen Grenzen des Islam“ territorial zunehmend weiter
entgrenzen (415 ff.).2 So verliefe die Front zwischen den beiden Kulturen
mittlerweile nicht nur durch den arabischen Raum, sondern auch mitten
durch die USA und in Zukunft vielleicht durch den ganzen Westen und die
halbe Welt. Dazu könnte insbesondere eine von westlichen Staaten unterstützte US-Invasion Syriens oder des Irans führen, die das Auseinanderbrechen der Anti-Terror-Koalition von westlichen und islamischen Staaten
bewirken und eine Vielzahl weiterer Terroranschläge nach sich ziehen
könnte.
Auch wenn das Szenario eines großen Krieges zwischen dem westlichen
und dem islamischen Kulturkreis übertrieben anmutet, ist es vor dem Hintergrund einer möglichen weiteren Entgrenzung des Konflikts dieser Kulturkreise geboten, die von Huntington vertretene antagonistische Konzep1
2
Interview: „Nein, kein Kampf der Kulturen“, in: Die Zeit, 66/2001.
Die im Text in Klammern angegebenen Seitenangaben beziehen sich auf folgende
Ausgabe: Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der
Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1997.
12
Manuel Knoll
tion von kultureller Identität zu hinterfragen. Diese soll anhand der
kulturellen Identität des Westens, den Huntington als weitgehend einheitlichen bzw. monolithischen Block begreift, kritisch überprüft werden. Im
Zentrum stehen dabei die Fragen nach der Abgrenzung der kulturellen
Identität der USA von der Europas und danach, wie sich die
konfliktreichen Grenzen des Westens zum islamischen Kulturkreis
überwinden lassen.
1. Huntingtons Konzeption von kultureller Identität
Als zentrales Thema und Hauptaussage seines Buches benennt Huntington:
„Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem kalten Krieg, die
Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt“ (19). Die zeitgenössischen Kulturen sind für ihn der chinesische, der japanische, der hinduistische, der islamische, der westliche, der lateinamerikanische und der afrikanische Kulturkreis. Huntingtons Theorie richtet sich vor allem gegen die – als
falsch bezeichnete – „verbreitete Annahme des Westens, daß kulturelle
Verschiedenheit eine historische Kuriosität ist, welcher durch das Heranwachsen einer gemeinsamen, westlich orientierten, anglophonen Weltkultur,
die unsere Grundwerte prägt, bald der Boden entzogen sein wird“ (511).
Mit der hier ausgesprochenen Zurückweisung des westlichen Universalismus geht Huntingtons entschiedene Ablehnung der multikulturalistischen
Strömungen in den USA einher, die „Amerika der Welt gleichmachen“ wollen (525). In einer unaufhebbar multipolaren und multikulturellen Welt
bleiben die Nationalstaaten die „Hauptakteure des Weltgeschehens“, die
sich allerdings nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr nach Blöcken, sondern nach Kulturkreisen gruppieren (21).
Huntington geht davon aus, daß jeder Mensch eine Vielzahl von Identitäten besitzt. Er erwähnt die „identitätsstiftende Dimension der Verwandtschaft, des Berufs, der Kultur, der Institutionen, des Territoriums, der Bildung, der Parteizugehörigkeit, der Ideologie usw.“ (198). Die verschiedenen
Identifikationen eines Menschen können ohne Beziehung sein, konkurrieren oder einander verstärken. Die kulturelle Identität des Menschen definiert „sich sowohl durch gemeinsame objektive Elemente wie Sprache, Geschichte, Religion, Sitten, Institutionen als auch durch die subjektive Identifikation der Menschen mit ihr“ (54). Unter diesen Elementen hebt
Huntington an erster Stelle die Religion und an zweiter die Sprache als die
Die Grenzen des Westens
13
Hauptunterscheidungsmerkmale von Kulturen hervor (81, 413). Zudem unterscheidet er verschiedene Ebenen der Identität, die sich nach Allgemeinheitsgraden abstufen: „Ein Einwohner Roms kann sich mit unterschiedlichem Nachdruck als Römer, Italiener, Katholik, Christ, Europäer, Westler
definieren. Die Kultur, zu der er gehört, ist die allgemeinste Ebene der Identifikation, mit der er sich nachdrücklich identifiziert“ (54).
Identität läßt sich für Huntington auf allen Ebenen immer nur in Bezug
auf ein „Anderes“ definieren. Zwischen Kulturkreisen gibt es eine unaufhebbare Abgrenzung von einem „Wir“ und einem „Sie“ da draußen. Huntingtons zutreffende Einsicht ist bereits in dem alten Satz „omnis determinatio est negatio“ ausgedrückt. Die unumgänglichen Abgrenzungen bei der
Bestimmung von kultureller Identität gehen für Huntington zwangsläufig
mit Gegnerschaft und allgegenwärtigen Konflikten einher: „Hassen ist
menschlich. Die Menschen brauchen Feinde zu ihrer Selbstdefinition und
Motivation: Konkurrenten in der Wirtschaft, Gegner in der Politik. Von
Natur aus mißtrauen sie und fühlen sich bedroht von jenen, die anders sind
und die Fähigkeit haben, ihnen zu schaden.“3 Für Huntington lautet eine alte Wahrheit: „Ohne wahre Feinde keine wahren Freunde! Wenn wir nicht
hassen, was wir nicht sind, können wir nicht lieben, was wir sind“ (18).
Derartige Aussagen lassen an Carl Schmitt denken, für den das Kriterium
des Politischen „die Unterscheidung von Freund und Feind“ ist.4 Huntington beruft sich allerdings nicht explizit auf ihn. An anderer Stelle äußert er:
„Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen
wen wir sind“ (21). Huntingtons Behauptung, daß die für kulturelle Identität notwendige Abgrenzung eines „Wir“ von einem „Sie“ auch zwangsläufig
mit einem „Wir“ gegen „Sie“ verknüpft ist, ist für sein Buch und für seine
Konzeption eines Kampfes der Kulturen zentral. Sie ist aber höchst problematisch, da sie das interkulturelle Verhältnis ausschließlich als Gegnerschaft begreift. Analog dazu sieht Huntington auch das Verhältnis zwischen
den Religionen, die kulturelle Identitäten entscheidend bestimmen, von einer Dialektik von Aufwertung und Abwertung geprägt: „Alle Religionen,
was immer ihre universalistischen Ziele sein mögen, postulieren eine grundlegende Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen
3
4
Ebenda, S. 202, 200, 54.
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 58 (1927), S. 1-33.
14
Manuel Knoll
einer überlegenen In-Gruppe und einer anderen, minderwertigen OutGruppe“ (147).
Daß die von Huntington als unauflöslich behauptete Verknüpfung von
kulturellen Identitäten mit Antagonismen in Gegenwart und Geschichte
häufig anzutreffen ist, soll hier nicht bestritten werden. So verdankt sich die
Selbstschätzung der Griechen seit den Perserkriegen zunehmend auch ihrer
verachtenden Abgrenzung von den Barbaren. Der Vergleich mit der Despotie und Roheit der „Anderen“ ermöglichte es den Griechen, ihre eigene
Freiheit und Bildung zu erkennen und zu schätzen. Im Hinblick auf das geschichtlich wechselhafte Verhältnis des Westens zu anderen Kulturen betont Huntington: „Vor dem 19. Jahrhundert empfanden sich, jeweils in ihrer Zeit, Byzantiner, Araber, Chinesen, Osmanen, Moguln und Russen hinsichtlich ihrer Stärke und ihrer Errungenschaften als dem Westen
überlegen. In diesen Zeiten sahen sie auch auf die kulturelle Minderwertigkeit, institutionelle Rückständigkeit, Korruption und Dekadenz des Westens
verächtlich herab. In dem Maße, wie der relative Erfolg des Westens
schwindet, kehren solche Haltungen wieder“ (142). Belegen diese geschichtlichen Befunde, daß Selbstachtung und Selbstbejahung von Kulturen notwendig die Verachtung und Verneinung von anderen Kulturkreisen voraussetzen, die damit zwangsläufig zu Gegnern werden? Sind also – gemäß Sartres berühmtem Diktum – nicht nur die anderen Individuen, sondern auch
die anderen Kulturen die Hölle? Setzen die Terroranschläge vom 11. September nicht auch die Verachtung und Verneinung der westlichen Kultur
voraus, die im islamischen Kulturkreis häufig als dekadent, materialistisch,
gottlos, unmoralisch, arrogant und korrupt wahrgenommen wird (342 f.)?
Huntingtons antagonistische Konzeption von kultureller Identität läßt sich
durch Rousseaus kulturkritische und psychologische Theorien philosophisch abstützen. Treffen diese zu, dann gibt es wenig Hoffnungen, der
teuflischen Dialektik von Selbstschätzung und Verachtung zu entkommen.
Denn der vergesellschaftete Mensch ist für Rousseau unentrinnbar Opfer
seiner Eigenliebe (amour-propre). Rousseaus Gedanken zur Eigenliebe beziehen sich ausschließlich auf die intersubjektive Ebene. Sie lassen sich aber
ohne Schwierigkeiten auf die interkulturelle Ebene übertragen. So äußert
Rousseau: „Die Eigenliebe ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich
selbst höher zu schätzen als jeden anderen, das den Menschen all die Übel
Die Grenzen des Westens
15
eingibt, die sie sich wechselseitig antun, und das die wahrhafte Quelle der
Ehre ist.“5 Der Ursprung dieses Gefühls ist für Rousseau der Vergleich mit
„Anderen“, der zwischen Kulturen in einer globalisierten Welt noch häufiger und bedeutender wird als in früheren Epochen. Sobald „man die Gewohnheit annimmt, sich mit andern zu messen und sich außerhalb seiner
selbst zu versetzen, um sich den ersten und den besten Platz zuzuweisen“,
wird es für Rousseau unmöglich, „nicht eine Abneigung gegen alles das zu
fassen, was uns übertrifft, alles was uns erniedrigt, alles, was uns einengt,
gegen alles das, was dadurch, daß es etwas ist, uns daran hindert, alles zu
sein“.6
Auch Max Webers Auffassung vom Polytheismus und Kampf der Werte
kann zur Unterstützung von Huntingtons antagonistischer Konzeption von
kultureller Identität herangezogen werden. Dabei ist zu bemerken, daß sich
Huntington weder auf Rousseau noch auf Max Weber ausdrücklich beruft.
Zudem thematisiert Weber den Kampf der Werte zumeist auf prinzipiellphilosophischer und nur selten auf interkultureller Ebene, auf die er sich
aber durchaus übertragen läßt. Für Weber handelt es sich „zwischen den
Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ,Gott’ und
,Teufel’“.7 Webers Überzeugung ist, daß „die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen“.8 Zudem betont
er, daß die „Weltanschauungen“ und „höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren“.9
2. Die Abgrenzung der kulturellen Identität der USA von der Europas
Huntingtons antagonistische Konzeption von kultureller Identität kann anhand der kulturellen Identität des Westens kritisch überprüft werden. Der
5
6
7
Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn u.a. 1997, S. 369.
Ebenda, S. 370 f.
Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen
1982, S. 507.
8 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 603.
9 Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 154.
16
Manuel Knoll
Westen ist nämlich kein weitgehend einheitlicher bzw. monolithischer
Block, wie Huntington unterstellt.10 Die kulturelle Identität der USA unterscheidet sich sehr wohl von der Europas und diese Differenzen gehen offensichtlich keineswegs zwangsläufig mit Gegnerschaft oder gar Feindschaft
einher.
Früher als das christliche Abendland bezeichnet, umfaßt der westliche
Kulturkreis, der „nach allgemeiner Auffassung um 700 oder 800 n. Chr.
entstanden“ ist, heute neben Nordamerika und Europa auch von Europäern besiedelte Länder wie Australien und Neuseeland. Definierten die USA
ihre Gesellschaft bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Gegensatz zu einem
als rückständig angesehenen Europa, so führte der zunehmende Kontakt
mit nichtwestlichen Kulturen sukzessive zu dem „Gefühl einer größeren
Identität mit Europa“ (59 f.). Auch in Zukunft dient es nach Huntington
den Interessen der USA, wenn sie „eine atlantikorientierte Politik der engen
Zusammenarbeit mit ihren europäischen Partnern verfolgen, um die Interessen und Werte der einzigartigen, ihnen gemeinsamen Kultur zu schützen
und zu fördern“ (514). Trotzdem erwartet er, daß der Westen im Verhältnis
zu den anderen Kulturen „allmählich, unaufhaltsam und fundamental“ an
Macht verlieren wird (119).
Um welche Werte handelt es sich bei der westlichen Kultur, und wodurch
unterscheidet sich diese von anderen Kulturen? Spezifisch westliche Werte
und Institutionen sind für Huntington vor allem Christentum, Pluralismus,
Individualismus und Rechtsstaatlichkeit. Huntington zitiert zustimmend Arthur Schlesinger, Jr., für den Europa die „Quelle, die einzige Quelle ... für
Ideen wie individuelle Freiheit, politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Menschenrechte und kulturelle Freiheit“ ist (513). Zudem führt Huntington
noch das klassische griechische und römische Erbe, die Fülle der europäischen Sprachen, die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, Repräsentativorgane, Selbstbestimmung, Liberalismus, freie Märkte, eine kontrollierte Regierung, Unabhängigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz und Achtung
von Verfassung und Privateigentum als Merkmale der westlichen Kultur an
(99 ff., 139, 292, 505). Huntington sieht zwischen der Identität der USA, die
10
Bereits 1994 lehnt R. Picht Huntingtons Auffassung ab, daß Kulturkreise weitgehend
einheitliche Blöcke sind und fragt: „Wie eindeutig gehören Europa und die Vereinigten
Staaten zum gleichen ,Westen’?“ (R. Picht: Der Konflikt der Kulturen und die große
Mutation, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 4/1994, Jg. 44, S. 438-444, 440).
Die Grenzen des Westens
17
sich seit dem 20. Jahrhundert als „Führer einer umfassenden Einheit, eben
des Westens“ (60) definiert, und der Europas keine gravierenden Unterschiede. Er erwähnt allerdings zutreffend, daß in den USA im Gegensatz zu
Europa die Mehrzahl der Menschen an Gott glauben, und daß sich die Amerikaner für ein religiöses Volk halten und zahlreich die Kirchen besuchen. Während Huntington in den USA seit Mitte der 80er Jahre sogar ein
Wiedererstarken der Religion konstatiert, befürchtet er, daß die westliche
Kultur in Europa „durch die Schwächung ihres zentralen Elements, des
Christentums, unterminiert werden“ könnte. Denn immer „weniger Europäer bekennen sich zu religiösen Überzeugungen, beachten religiöse Gebote und beteiligen sich an religiösen Aktivitäten“ (501). Bedenkt man, daß
sich die kulturelle Identität eines Menschen für Huntington an erster Stelle
durch die Religion definiert, dann zeigt sich bereits hier eine schwerwiegende Spaltung zwischen der kulturellen Identität der USA und der Europas.
Die europäische Kultur ist heute zudem, sieht man von ihrem englisch- und
spanischsprachigen Teil ab, in einer Vielzahl anderer Sprachen verwurzelt
als die der USA. Auch deshalb fällt es schwer, Huntingtons Unterstellung
eines einheitlichen westlichen Kulturkreises zu akzeptieren. Schließlich stellt
die Sprache für ihn nach der Religion das zweite Hauptunterscheidungsmerkmal von Kulturen dar.11
Erkennt man jedoch an, daß die oben angeführten Werte und Institutionen für die kulturelle und politische Identität des Westens auch zentral sind,
dann ist es äußerst schwierig, die europäische Identität in abwertender Abgrenzung von den USA zu definieren, wie dies etwa die zumeist antiamerikanisch gesinnte europäische Linke gerne unternimmt. Allerdings muß mit
der europäischen Linken gegen Huntington eingewendet werden, daß sich
die kulturelle Identität der USA sehr wohl von der Europas abgrenzen läßt.
Gegen Huntingtons Konzeption von kultureller Identität und gegen die europäische Linke muß eingewendet werden, daß diese Abgrenzung nicht
zwangsläufig mit Gegnerschaft oder gar Feindschaft einhergeht oder einhergehen muß.
11
Dagegen könnte Huntington vorbringen, daß sich der Westen für ihn „von den meisten Kulturkreisen durch die Fülle seiner Sprachen“ unterscheidet (99 f.). Eine Pluralität,
hier von Sprachen, stellt aber – zumindest nach Huntingtons genereller Konzeption von
Identität – kein integrierendes oder identitätsstiftendes, sondern ein trennendes Moment
innerhalb einer Kultur oder zwischen Kulturkreises dar.
18
Manuel Knoll
Worin unterscheidet sich die kulturelle Identität der USA von der Europas
neben den religiösen und sprachlichen Differenzen noch? Vielleicht ist eine
der gängigsten Gegenüberstellungen die von einer einheitlichen und vereinheitlichenden amerikanischen Konsum- und Populärkultur – Coca Cola
und Hollywood – mit der Vielfalt der nationalen und regionalen Kulturproduktionen Europas sowie der europäischen Hochkultur. Diese Gegenüberstellung ist teilweise zutreffend. So steht die Mannigfaltigkeit von spanischen, französischen und deutschen Filmen sicherlich im Gegensatz zu der
Homogenität einer Masse von standardisierten Hollywoodproduktionen,
die Zweifel erwecken, ob Adornos Theorie der Kulturindustrie wirklich überholt ist. In Anbetracht von Filmemachern wie den Coen Brothers, Jim
Jarmusch, Spike Lee und Quentin Tarantino läßt sich aber nicht bestreiten,
daß in den USA auch eine Vielfalt nicht standardisierter Filme erzeugt wird.
Auch das Vorurteil, daß es in den USA keine Hochkultur gibt, kann ohne
Schwierigkeiten durch die Bedeutung der zeitgenössischen amerikanischen
Kunst entkräftet werden. Man denke an Künstler wie Jasper Johns, Bruce
Nauman, Richard Serra und Frank Stella. Die Kulturproduktion der USA
läßt sich also gewiß nicht auf Popmusik, Jeans und Hollywoodfilme reduzieren. Derartige Erzeugnisse als das Spezifische der amerikanischen Kultur
zu betrachten, trivialisiert sie zu Unrecht. Die Eigentümlichkeit der kulturellen Identität der USA besteht vor allem in den von Huntington angeführten
Werten und Institutionen. Diese konstituieren zwar auch ein beträchtliches
Moment der kulturellen Identität Europas. Gerade hier bestehen allerdings
schwerwiegende Differenzen, etwa im Verständnis der Menschenrechte. So
schließen für viele Europäer mittlerweile die unantastbare Menschenwürde
und das Recht auf Leben die Todesstrafe aus, die in den USA bekanntlich
noch häufig vollstreckt wird. Dies führt aber nicht zu nennenswerten Verstimmungen des gegenseitigen Verhältnisses. Dagegen war das Festhalten
der islamischen Türkei an der Todesstrafe, die seit 1984 nicht mehr vollstreckt12 und im Sommer 2002 abgeschafft wurde, bisher ein wichtiger
Grund, ihr die Aufnahme in die EU zu verweigern.
Ein weiterer wichtiger Gegensatz innerhalb des Westens besteht zwischen
der Betonung von Selbstverantwortung und aktiver Selbstorganisation der
Individuen auf gesellschaftlicher Ebene in den USA und umfänglicher staat12
Süddeutsche Zeitung, 20. Dezember 2001, S. 1.
Die Grenzen des Westens
19
licher Regelungstätigkeit und Aktivität in zahlreichen Bereichen auf dem europäischen Kontinent. Dem entspricht der Gegensatz einer weitgehend
freien Marktwirtschaft in den USA und ihrer sozialen Abmilderung in Kontinentaleuropa. Die Verteidigung des europäischen Wertes der Sozialstaatlichkeit, der heute auch durch die Globalisierung, die von den USA etwa
durch Freihandelspolitik vorangetrieben wird, bedroht ist, ist für viele Europäer ein zentrales Motiv zur weiteren politischen Integration des Kontinents.
Der US-Historiker Michael H. Hunt arbeitet in einer bemerkenswerten
Studie drei zentrale und dauerhafte Elemente der nationalen Ideologie der
USA heraus, die ihre Außenpolitik gestalten: die Feindseligkeit gegenüber
Revolutionen, besonders von der Linken, die von der amerikanischen
Norm abweichen, die Klassifikation von anderen Völkern nach einer rassischen Hierarchie und eine Vision nationaler Größe, die mit der Vorstellung
von der Mission einhergeht, die Freiheit im Ausland eifrig fördern zu müssen.13 Diese Überzeugungen und Annahmen sind oder waren – insbesondere in den letzten zwei Jahrhunderten – teilweise auch für die kulturelle Identität Europas charakteristisch. Der von Huntington abgelehnte westliche
Universalismus, der von anderen Völkern als Imperialismus wahrgenommen wird, hat ebenso genuin europäische Wurzel und ist sowohl in Europa
als auch in den USA vorhanden. Trotzdem ist der hohe Stellenwert der Ideologie in den USA, insbesondere ihr ungebrochen starkes Sendungsbewußtsein, ein spezifisches Merkmal, das sie von Europa unterscheidet. So
betont Wolfgang Koydl: „Richtig ist freilich, dass Europa, das vom Nationalismus über Faschismus und Kommunismus schon alle Varianten ausprobiert hat, der Ideologien müde geworden. Amerika hingegen ist in vielerlei Hinsicht eine radikal-ideologische Nation geblieben, die in ihrer Form
der Demokratie nicht weniger als das Heil der Menschheit sieht. Gerade die
Verknüpfung mit einem religiös verbrämten Sendungsbewußtsein verwirrt,
irritiert und bestürzt viele Europäer.“14
Zum Abschluß dieser kurzen verallgemeinernden Reflexion über die Differenzen zwischen der kulturellen Identität der USA und der Europas muß
13
14
Michael H. Hunt: Ideology and U.S. Foreign Policy, New Haven 1987.
Wolfgang Koydl: Amerikas Visionen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 101, 3./4. Mai
2003, S. 4.
20
Manuel Knoll
betont werden, daß die Identität einer Kultur veränderlich und immer im
Werden ist.15 Insbesondere in Europa könnte in näherer Zukunft eine Dekonstruktion der nationalen und die Konstruktion einer europäischen Identität erfolgen. Für die klassischen europäischen Nationalstaaten und ihre Identitätskonstruktion war zumeist eine Tendenz zur Vereinheitlichung und
Nivellierung der Pluralität charakteristisch. So versuchte der faschistische
Nationalstaat in Italien durch die Italienisierungswelle in Südtirol das Andere zu unterwerfen, gewaltsam zu assimilieren und zu integrieren. Diese
Tendenz hat sich seit Ende der 70er Jahre verkehrt. In der Dezentralisierung von 1982/83 erhielten die Regionen in Frankreich den Status von Gebietskörperschaften. Seit den 90er Jahren ist die beschränkte Autonomie
von Schottland, Wales und Korsika anzuführen. In den sich abzeichnenden
mehr oder weniger „Vereinigten Staaten von Europa“ dürfte diese neue
Tendenz zur Anerkennung der Vielfalt und des Anderen fortgeschrieben
werden. Denn das europäische Ziel kann nicht eine vereinheitlichte europäische Sprache, Kultur etc. sein, sondern immer nur die Anerkennung und
Betonung der Pluralität. Die europäische Identität läßt sich gerade als die
Einheit in der Vielfalt, gerade als die geographische Nähe des mannigfaltigen Anderen und Fremden begreifen. Das macht auch weltweit die Eigentümlichkeit der europäischen Identität aus.16 So betont auch Herfried
Münkler, daß „wo die Pluralität endet und die Uniformität beginnt, da endet auch Europa“.17 Ein derartiges Verständnis der europäischen Identität
findet auch seinen Niederschlag in der Charta der Grundrechte der EU. So
spricht die Präambel von der „Achtung der Vielfalt der Kulturen und Tradi15
Identität läßt sich zwar als das konstante und beharrende Seiende in einer werdenden
und damit sich verändernden Wirklichkeit begreifen. Demgemäß kann kulturelle Identität als ein Komplex von konstanten und beharrenden Momenten verstanden werden,
der von den vergänglichen Individuen eines Kulturkreises weitgehend geteilt wird. Dieser allgemeine Komplex im Besonderen verändert sich aber selbst wiederum im Verlauf
der geschichtlichen Entwicklung. So bildet sich etwa nach Jacob Burckhardt mit Ausgang des 13. Jahrhunderts in Italien das später den Westen prägende Moment des Individualismus neu aus (Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart
1988, S. 99).
16 Mariano Delgado; Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.): Herausforderung Europa. Weg
zu einer Europäischen Identität, München 1995; Denis de Rougemont: Europa. Vom
Mythos zur Wirklichkeit, München 1962, S. 385 ff.
17 Herfried Münkler: Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung, in: Leviathan, Bd. 4, 1991, S. 521-541, 539.
Die Grenzen des Westens
21
tionen der Völker Europas“ und Artikel 22 lautet: „Die Union achtet die
Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“18
Hier gilt es nochmals kritisch gegen Huntingtons antagonistische Konzeption von kultureller Identität festzuhalten, daß die erwähnten Differenzen
zwischen der kulturellen Identität der USA und der Europas de facto nicht
mit Gegnerschaft oder gar Feindschaft einhergehen. Analog dazu gehen die
kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Nationalstaaten seit
dem 2. Weltkrieg mit friedlichen Grenzen einher. Zudem bilden sich zunehmend partnerschaftliche Kooperation, Strukturen wechselseitiger Anerkennung und sogar Freundschaft heraus. Die Existenz von friedlichen Abgrenzungen und Grenzen innerhalb des westlichen Kulturkreises zeigt somit deutlich, daß die für kulturelle Identität notwendige Abgrenzung eines
„Wir“ von einem „Sie“ nicht auch zwangsläufig mit einem „Wir“ gegen
„Sie“ verknüpft ist. Trotzdem bergen etwa die mögliche weitere Entgrenzung des Krieges gegen „den Terrorismus“ durch die USA, ihre zunehmend imperialen Bestrebungen und die divergierenden umweltpolitischen
Vorstellungen ein ernstzunehmendes Konfliktpotential zwischen den USA
und Europa. Die politische Spaltung des Westens durch den jüngst von den
USA gegen den Irak geführten Krieg hat darüber hinaus die konkrete Möglichkeit zu Bewußtsein gebracht, daß „der Westen“ in Zukunft tatsächlich
auseinanderdriften könnte. Denn die politische Spaltung des Westens hatte
nicht nur pragmatische Gründe, etwa daß Gerhard Schröder durch seine
dezidierte Ablehnung eines Krieges gegen den Irak von innenpolitischen
Problemen ablenken und seine Chancen bei der Bundestagswahl 2002
verbessern wollte. Sie hat auch offenbart, daß es innerhalb des Westens klare Interessengegensätze gibt und daß sich die Werte und damit auch die
kulturelle Identität der „neuen USA“ und des „alten Europas“ zunehmend
unterscheiden. So wird Europa in der Außenpolitik zunehmend friedfertiger und moralischer, setzt auf Verhandlungen, Diplomatie und auf internationale Organisationen wie die UNO sowie auf eine stärkere globale Verrechtlichung, etwa auf den von den USA abgelehnten Internationalen Strafgerichtshof. Dagegen tendieren die USA zunehmend zu unilateralem
Handeln und setzen auf militärische Macht, die sie wie im jüngsten Irak18
Charta der Grundrechte der EU. Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS, Juristische Schulung (JuS), Heft 1, 41. Jg., 2001.
22
Manuel Knoll
krieg auch auf Basis einer höchst fragwürdigen völkerrechtlichen Legitimation einsetzen.19 Die neuzeitliche Entwicklung des Völkerrechts hat dazu
geführt, daß ein Staat trotz eines als gefährlich, schlecht und böse eingeschätzten Regimes vor einem Angriffskrieg geschützt war. Diese zivilisatorische Errungenschaft scheinen die USA bis auf weiteres verabschieden zu
wollen.
3. Eine Möglichkeit zur Überwindung der konfliktreichen Grenzen zwischen westlichem
und islamischem Kulturkreis
Mit diesen Betrachtungen über die Grenzen innerhalb des westlichen Kulturkreises sind natürlich noch nicht die Fragen beantwortet, ob sich ein
Kulturkreis nicht unabwendbar immer wieder Feinde macht oder ganz ohne Feinde auskommen kann. So wurde der Ostblock als Feind des Westens
im Kalten Krieg erst von einer Reihe islamischer Staaten und dann von dem
Milosevic-Regime in Serbien abgelöst. Letzteres wurde Ende der 90er Jahre
wiederum von Osama Bin Ladens Terrororganisation Al-Qaida und den afghanischen Taliban abgelöst.
Geht man mit Niccolò Machiavelli von der anthropologischen Prämisse
aus, daß die invariante conditio humana darin besteht, daß die Menschen
von ihren Leidenschaften und Begierden, insbesondere von einem unersättlichen Ehrgeiz angetrieben werden, dann scheinen Feindschaft, Konflikt
und Krieg zwischen Staaten und Kulturen für alle Zeiten unvermeidlich.
Denn wird der Ehrgeiz innerhalb der Staaten und Kulturen durch gute gesetzliche Ordnung gezähmt, dann richtet er „seine Wuth nach außen“.20
Machiavellis Auffassung läßt sich eine aktualisierte Variante des Arguments
entgegenhalten, das Rousseau gegen Hobbes vorbringt.21 Beide Denker unterstellen nämlich, daß der durch die zeitgenössischen gesellschaftlichen
und ökonomischen Verhältnisse geprägte Mensch unwandelbar der Mensch
schlechthin ist. Ein kurzer Vergleich von der Kriegsbereitschaft und dem
19
In diesem Zusammenhang ist die vieldiskutierte These von Robert Kagan ernst zu
nehmen, daß die angeführten divergierenden Entwicklungen zum einen auf die relative
militärische Schwäche Europas und zum anderen auf die Macht und Stärke der USA zurückgeführt werden können (Robert Kagan: Power and Weakness, Policy Review, Nr.
113, 2002).
20 Niccolò Machiavelli: Der Ehrgeiz. An Luigi Guicciardini, in: ders.: Sämtliche Werke,
Karlsruhe 1832/41, Bd. VII, S. 237.
21 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, a.a.O., S. 70 f., 139.
Die Grenzen des Westens
23
nationalen Ehrgeiz der deutschen Jugend in der ersten und der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt dagegen, wie wandlungsfähig der Mensch
ist.
Huntington vertritt mit guten Argumenten die These, „daß im Anschluß
an die iranische Revolution 1979 ein interkultureller Quasi-Krieg zwischen
dem Islam und dem Westen ausbrach... Zwei fundamentalistische Staaten
(Iran, Sudan), drei nichtfundamentalistische Staaten (Irak, Libyen, Syrien)
sowie ein breites Spektrum islamistischer Organisationen haben, finanziell
unterstützt von muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien, gegen die USA
und gelegentlich gegen Großbritannien, Frankreich und andere westliche
Staaten und Gruppen sowie gegen Israel und die Juden generell gekämpft“
(347 ff.). Zudem kann Huntington zeigen, daß bereits der sowjetischafghanische Krieg von vielen Muslimen als Konflikt zwischen Kulturen und
der zweite Golfkrieg als Krieg „gegen sie“ angesehen wurde (403, 400-410).
Dasselbe trifft auch für den gerade zu Ende gegangenen dritten Golfkrieg
zu. Die erneute Eskalation des palästinensisch-israelischen Konflikts seit
den Monaten vor dem 11. September 2001 und die von vielen Muslimen als
ungerecht erachtete US-Parteinahme zugunsten Israels fügt sich nahtlos in
die von Huntington beschworene Neugestaltung globaler Politik entlang
„kultureller Kampflinien“ (193). Das tiefere Problem für den Westen im
Konflikt mit dem islamischen Kulturkreis ist für Huntington nicht der islamische Fundamentalismus, sondern „der Islam, eine andere Kultur, deren
Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind“ (349 f.). Das tiefere Problem für
den Islam ist für Huntington der von ihm als gefährlich abgelehnte westliche Universalismus (524). Diese Ingredienzien heizen für Huntington den
Konflikt zwischen den beiden Kulturkreisen an. Dem läßt sich noch hinzufügen, daß der Westen nach einer im islamischen Kulturkreis verbreiteten
Sichtweise diesem seit dem Untergang des Osmanischen Reiches statt Anerkennung vornehmlich Mißachtung widerfahren ließ. Die Kette der Mißachtungen beginnt etwa mit dem quasi kolonialen Status des unter französische und britische Herrschaft geratenen arabischen Teils des Osmanischen Reiches und reicht bis zur Stationierung von US-Truppen in SaudiArabien, dem Land der islamischen Heiligtümer, die nicht nur von Osama
Bin Laden als Entwürdigung und Beleidigung des Islam angesehen wird.
24
Manuel Knoll
Dem Westen empfiehlt Huntington eine klare Abgrenzung vom islamischen Kulturkreis. Insbesondere befürwortet er, die schwierige und umstrittene Frage nach der Festlegung der Ostgrenze Europas nach religiösen Gesichtpunkten zu beantworten: „Wo hört Europa auf? Es hört dort auf, wo
das westliche Christentum aufhört und Orthodoxie und Islam beginnen“
(252). Seine „Identifikation Europas mit der westlichen Christenheit“ liefert
Huntington auch „ein klares Kriterium für die Zulassung neuer Mitglieder
zu westlichen Organisationen“ wie der EU und der NATO (255). Im Zusammenhang mit der Osterweiterung und der „kulturellen Umgestaltung“
dieser Organisationen wirft er die Frage nach deren Verkleinerung um die
muslimische Türkei und das orthodoxe Griechenland auf, die allerdings
nicht absehbar ist (258). In Anbetracht der geplanten Erweiterung der Europäischen Union stellt sich für Europa vor allem die Frage nach dem weiteren Umgang mit der islamischen Türkei, der von der EU im Dezember
1999 der Kandidatenstatus zugesprochen und im Dezember 2002 angeboten wurde, nach einer erfolgreichen Prüfung ab Dezember 2004 „ohne Verzug“ mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Diese Frage muß natürlich
auch im Zusammenhang mit den ca. 15 Millionen Muslimen gesehen werden, die derzeit in Westeuropa leben.
Identifiziert man mit Huntington Europa vor allem mit der westlichen
Christenheit, dann werden die in Europa lebenden Muslime per definitionem ausgegrenzt. Begreift man dagegen den Kern der europäischen Identität gemäß der oben angeführten europäischen Selbsthermeneutik als die
Einheit in der Vielfalt und als die geographische Nähe des mannigfaltigen
Anderen und Fremden, dann kann dies die Integration der islamischen Bevölkerung und der Türkei in die Gemeinschaft fördern. Dazu wäre es allerdings erforderlich, dieser europäischen Selbsthermeneutik zur Verbreitung
im Bewußtsein der europäischen Bevölkerungen zu verhelfen. Zudem müßte sich die Türkei noch weiter an europäische Werte und Institutionen angleichen und insbesondere „Parteien- und Berufsverbote, die Unterdrückung anderer Sprachen, Bekleidungs- und Denkvorschriften“22 überwinden, die die Pluralität mißachten. Letzteres dürfte allerdings kein
unüberwindliches Hindernis darstellen. Denn durch die bereits im Zuge des
22
Süddeutsche Zeitung, 11./12. Dezember 1999, S. 4.
Die Grenzen des Westens
25
Kemalismus erfolgte Modernisierung und Verwestlichung hat die Türkei
eine erstaunliche Reformfähigkeit bewiesen.
Die erfolgreiche Integration der islamischen Türkei in „Vereinigte Staaten
von Europa“ könnte langfristig zum nachahmenswerten Paradigma für das
Verhältnis des gesamten Westens zum islamischen Kulturkreis werden.
Denn die Abgrenzung von islamischen und christlichen EU-Mitgliedern
würde statt mit Gegnerschaft mit Zusammenarbeit in den gemeinsamen europäischen Institutionen und der Anerkennung der Anderen und Fremden
einhergehen. Dazu bedarf es der Rückbesinnung auf eine Tugend, die genauso europäisch wie islamisch ist und die bezeichnenderweise von Huntington nicht erwähnt wird: Toleranz.23 Denn echte Toleranz ist nicht bloß
die – allerdings nicht unbegrenzte – Duldung anderer religiöser, politischer
und kultureller Überzeugungen und Lebensweisen. Toleranz ist auch die
wechselseitige Anerkennung der anderen Individuen und Kulturen als Gleiche und als Andere. Die Anderen werden als Gleiche anerkannt, da alle als
frei bzw. autonom respektiert werden, sich ihre Überzeugungen und Lebensweisen selbst zu wählen oder aus der Tradition zu übernehmen. Da
diese Wahl von den verschiedensten Faktoren wie Herkunft, Bildung,
Denkweise etc. beeinflußt wird und natürlich unterschiedliche Ergebnisse
zeitigt, werden die tolerierten Individuen und Kulturen auch als Andere
bzw. Fremde anerkannt. Ist die Tugend der Toleranz erst in Folge der blutigen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zum europäischen
Grundwert geworden, so herrschte sie über weite Strecken des Mittelalters
im muslimischen Spanien gegenüber Christen und Juden vor und förderte
maßgeblich dessen wirtschaftliche Prosperität und kulturelle Blüte.
23
Rainer Forst (Hg): Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis
einer umstrittenen Tugend, Frankfurt am Main 2000; Adel-Theodor Khoury: Toleranz
im Islam, München u.a. 1980.
Alexander von Pechmann
Zur neuen Dimension der
Globalisierungskritik
Wenn wir nicht die Bereitschaft der Menschen verstehen,
für eine Überzeugung zu sterben,
dann verstehen wir die Menschen nicht.
Walden Bello
Zur Wende des Jahrtausends hat sich gegen die Globalisierung ein selbst
globaler Widerstand formiert. Auf der einen Seite der Front ist das strategische Ziel klar: die optimale Verwertung des eingesetzten Kapitals. Und dies
Lager besteht aus einem höchst schlagkräftigen Heer von visionären Bankern, effizienten Unternehmern und beflissenen Politikern, von klassenund konkurrenzkampferprobten Managern und Merchandisern sowie so agilen wie kreativen Kulturvermittlern und Medienagenten. Im gegnerischen
Lager jedoch scheint die blanke Furcht und Wut und Ohnmacht zu regieren: hier kämpfen brasilianische Landlose um ihre Parzelle, stemmen sich
mexikanische Rebellen dem Ausverkauf ihrer Heimat entgegen, opfern arabische Intellektuelle ihr und anderer Leben für ihren bedrohten Glauben,
treibt die Sorge um die Familie US-amerikanische Teamsters auf die Straße,
streiten indische Bäuerinnen um ihr jährliches Saatgut und kämpfen australische Tierschützer fürs Überleben der Kängurus und der Schildkröten ...
Diese bunte Menge aus aller Welt eint offenbar allein der Kampf gegen die
Übermacht der Globalisierer und ihre Hoffnung auf ein anderes, besseres
Leben.
Als Geburtsstunden der Globalität dieser Anti-Globalisierungsinitiativen
lassen sich drei „Ereignisse“ festmachen, die – über die Vielfalt der Einzelinteressen hinaus – auch drei verschiedene Typen der Kritik benennen:
1. die weltweit geführte Auseinandersetzung um das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) im Jahre 1998, die zum Scheitern des Abkommens
und in der Folge zur Gründung von „attac“ führte;
2. die „Schlachten“ um Seattle und Genua Ende 1999 und Mitte 2001, die
zu Kristallisationspunkten einer global vernetzten Protestbewegung wurden
und die Schaffung der „People’s Global Action“ (PGA) initiierten; und
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
27
3. schließlich der Crash des Welthandelszentrums in New York und der
Angriff auf das Pentagon in Washington am 11. September 2001 durch das
„Al-Quaida“-Netzwerk, die dem Kampf gegen die Globalisierung eine ganz
neue Dimension verliehen haben.
I. „Die Wiedergewinnung des Politischen“
Der erste Typ der Globalisierungskritik hat seinen Ausgang vom moralischen
Protest am Charakter der derzeitigen Globalisierung und an der Dominanz
des Neo-Liberalismus genommen, der von Viviane Forrester in „Der Terror der Ökonomie“ (1997) so eindrucksvoll und von Pierre Bourdieu im
„Elend der Welt“ (1997) so empirisch gehaltvoll formuliert worden war.
Die weltweite Deregulierung und Vernetzung der Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte, die Politik der Privatisierung staatlicher Betriebe und kommunaler Einrichtungen sowie der ‚Konsolidierung’ der Staatshaushalte – und
damit die Unterordnung des Staates und der Gesellschaft unter die Effizienzkriterien der kapitalistischen Wirtschaftsweise wurden in ihren sozialen
Folgen als unvereinbar mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit beurteilt. Statt eines wachsenden Wohlstandes habe die Entfesselung eines gnadenlosen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt), die gezielte Privilegierung des Großen Kapitals durch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik
und der Abbau des Sozialstaates durch eine rigide Sparpolitik weltweit eine
sprunghafte Vermehrung der Armut und den Zusammenbruch ganzer
Wirtschaftsräume bewirkt und bedrohe so die sozial-ökonomischen Grundlagen demokratischer Strukturen. – Diese Art der Kritik an der herrschenden Globalisierung zielt darauf, durch Formen des zivilen Protests und des
organisierten Widerstandes sowohl die Interventionsfähigkeit demokratisch
legitimierter Regierungen gegenüber den globalen Märkten zu stärken als
auch das transnationale Wirtschaftssystem der politischen Kontrolle, einer
„global governance“, zu unterwerfen.1
Versuchen wir diese Kritik an der Globalisierung gewissermaßen zu lokalisieren, so nimmt es nicht Wunder, dass diese Protestbewegung ihren Ausgangs- und Schwerpunkt in Kontinentaleuropa, vor allem in Frankreich,
hatte und sich in den sog. „NGO’s“ organisiert hat. Spiegelt sich in ihr doch
siehe dazu das Attac-Manifest 2002: Mit ATTAC die Zukunft zurückerobern. In:
www.attac-netzwerk. de/archiv/manifest2002.pdf.
1
28
Alexander von Pechmann
die Kontroverse um das Wesen und die Ausgestaltung der modernen Gesellschaft wider: dort, auf Seiten der Globalisierer, das liberale Gesellschaftsund Staatsmodell, das in der Tradition von Locke, Smith und Ricardo insbesondere die angloamerikanische Kultur geprägt hat; hier, auf Seiten der
Kritiker, das republikanische Gesellschafts- und Staatsmodell, das in der Tradition Rousseaus und auch Kants das Marktgeschehen der bürgerlichen
Gesellschaft in vorgängige politisch-rechtliche und demokratische Strukturen eingebettet sehen will. Während das liberale Modell das „Gemeinwohl“
oder „allgemein Beste“ nicht als das Produkt eines gemeinsamen, politisch
organisierten Willens, sondern als das zwangsläufige, quasi naturwüchsige
Ergebnis der autonom handelnden Wirtschaftssubjekte versteht, konzipiert
jenes republikanische Modell das Gemeinwohl gerade nicht als Resultat eines solchen „freien Spiels der Kräfte“, sondern als Folge eines bewussten
und gewollten Prozesses der politischen Orientierung, Regulierung und
Steuerung.
Auch wenn diese Kontroverse um die Globalisierung sich heute zweifellos
auf neue Räume und Felder erstreckt, so können doch die philosophischen
Grundlagen dieses Streits nicht als neu verstanden werden. Sie sind kein Produkt der Globalisierung, sondern sind so alt wie die moderne bürgerliche
Gesellschaft selbst, zumindest seit die französische Revolution die Liberté
mit der Egalité zusammengespannt und den Kampf zwischen den liberalen
Girondisten und den republikanischen Jakobinern ausgetragen hat. Dementsprechend reproduziert dieser Streit auch nur wieder die bekannten Bilder von der unstillbaren Profitsucht des Yankeetums auf der einen Seite
und der sterilen Reglementierungssucht der Kontinentaleuropäer auf der
anderen Seite. Und auch die Einwürfe und Gegeneinwürfe über die Machbarkeit und die Wünschbarkeit politischer (De-)Regulierungen sowie über
die moralischen und intellektuellen Qualifikationen der je anderen Seite
wiederholen nur, was die klassische politische Philosophie an Argumentationsmustern bereitgestellt hat. Es kann daher auch nicht überraschen, dass
dieser Typ der Kritik keineswegs gegen die Globalisierung selbst gerichtet
ist, sondern nur gegen die einseitig ‚angloamerikanische’ Art der Globalisierung. Und es ist unschwer vorauszusehen, dass jene vermeintliche Unvereinbarkeit der beiden Modelle sich im Zuge der Ausgestaltung der globalen
Beziehungen als durchaus vereinbar erweisen wird.
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
29
II. „Eine andere Welt ist möglich“
Ganz anders hingegen scheint es sich mit dem zweiten Typus der Globalisierungskritik zu verhalten. Denn dieser richtet sich nicht nur gegen das
Laisser-faire des gegenwärtigen Globalisierungsprozesses, sondern gegen
die Globalisierung als Herrschaftsstruktur. Er kritisiert sie gleichsam ‚von unten’: „Ihr seid G8 – wir sind sechs Milliarden!“ Ihm geht es nicht um politische Reformen sozial ungerechter Prozesse, sondern um die revolutionäre
Überwindung unmenschlicher Strukturen. Im Zentrum dieser Kritik steht
daher nicht die Entmachtung der Politik durch dominante ökonomische Interessen, sondern zunächst und vor allem die Darstellung und die Analyse
der Globalisierungsprozesse als Entstehung eines Systems der universalen
Herrschaft. Dies System sei heute nicht mehr, wie vormals, national und
territorial organisiert, sondern formiere sich in hybriden Transformationsprozessen zum „Empire“, zu einem transnationalen zentrumslosen Imperium. Dieses globale Herrschaftssystem aber schaffe durch die Produktion
seiner eigenen Krisen, Widersprüche und Widerstände zugleich die Bedingungen für eine künftige sich selbst vernetzende, solidarische und herrschaftsfreie Weltgemeinschaft.2
Wenn wir auch hier fragen, wo dieser Typus des revolutionären Protests
zuhause ist, so finden wir ihn sicher nicht in den Vorzimmern der staatlichen Institutionen oder den Konferenzräumen der internationalen Organisationen, sondern in den regionalen Protestbewegungen und auf den Massendemonstrationen, in denen sich die Widersprüche des Systems manifestieren. Er
ist vor allem in den autonomen Gruppen und Netzwerken Italiens wie den
Centri sociali oder der „Tute Bianche“- bzw. „Disobbedienti“-Bewegung
und in den Aktionsgruppen Lateinamerikas verankert und gründet sich auf
deren traditionelles Misstrauen gegenüber den Herrschenden sowie ihr ebenso traditionelles Vertrauen in die Aktionskraft der Massen.
Auch diese Protestbewegung ist nicht gegen die Globalisierung selbst gerichtet. Im Gegenteil: indem sie im entstehenden Imperium das Imperium
zugleich global bekämpft, eignet sie sich die globalen Techniken an und
sieht sich in diesem weltweiten Kampf gleichsam als die Vorhut einer künftigen solidarischen Weltgemeinschaft, in der die sozialen Hierarchien und
2 Siehe dazu insbesondere: M. Hardt, A. Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main 2002.
30
Alexander von Pechmann
die kulturellen Unterschiede verschwunden sein werden. Diese Bewegung
steht so in der emanzipatorischen Tradition der modernen Gesellschaft, die
die Überwindung aller völkischen, nationalen und staatlichen Schranken, die
Schaffung globaler Verhältnisse der materiellen wie geistigen Produktion als
einen Prozess der Befreiung, der „kulturellen Vereinigung der Menschheit“
(Gramsci), gefeiert hat, die so zum Träger und zum Subjekt ihrer eigenen
Geschichte wird. Sie versteht daher – in der Tradition von Marx und Engels – die Globalisierung als einen umfassenden, dialektischen und in sich
widersprüchlichen Geschichtsprozess, der zugleich die Bedingungen für eine herrschaftsfreie, solidarische und sozial gerechte Weltgemeinschaft hervorbringt.
Dieser Typus der Kritik ist jedoch gleichfalls kein Kind der Globalisierung. Er vertritt vielmehr in der europäischen Moderne das radikale und revolutionäre Element – Hardt und Negri sehen in ihm mit guten Gründen
sogar ihren Ursprung3 –, das die Moderne als den Ausbruch des Menschen
aus unmenschlichen Verhältnissen begreift, der im Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse zum Gattungswesen wird. Diese Kritik repräsentiert so
neben dem Prinzip der Freiheit des Bourgeois und dem Prinzip der Gleichheit
des Citoyen das Prinzip der Solidarität, der Brüder- und Schwesterlichkeit aller Menschen. Sie bildet das radikale und sozialrevolutionäre Element der
Moderne, das seine geschichtliche Wurzel vor allem im italienischen Renaissance-Humanismus findet.
III. Der „Kampf der Kulturen“
Wirkt so diese Dreifaltigkeit – wenn auch nicht Dreieinigkeit – der Ideen
der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, der Gerechtigkeit im säkularen
Staat und der Solidarität im emanzipatorischen Kampf zusammen, um das
europäische Projekt der Moderne gegen alle Widerstände im globalen Maßstab wirklich zu machen, und sieht sich diese Kultur gerade in und wegen
ihrer Selbstkritik zur globalen Herrschaft – Habermas spricht von ihr als
„weltweit zivilisierender Gestaltungsmacht“4 – berufen, so kommt die wirkebd., 83 ff.
J. Habermas: Glaube, Wissen – Öffnung. Zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In: Süddeutsche Zeitung, 15.10.01. – Vgl. auch G. Schröder: Regierungserklärung
des Bundeskanzlers am 18.10.01. zit. nach: www.documentarchiv.de/brd/2001/ rede_schroeder_1018.html.
3
4
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
31
liche Kritik an der Globalisierung offenbar von außen, von den Betroffenen.
Dieser dritte Typus der Gegnerschaft, der gegen dieses Projekt als solches
gerichtet ist, scheint so das wirklich Neue der Globalisierung zu sein, weil er
das Produkt der Globalisierung selbst ist und ganz neue Fronten, Akteure
und Formen des Kampfes hervorbringt. Sowohl die Radikalität dieser Gegnerschaft als auch das Brachiale des Kampfes zeigen, in welch vertrauten
Bahnen und Mustern der bisher skizzierte Protest verlief, der in seinen
Grundlagen nur den alten Streit der europäischen Moderne mit sich neu
auflegt. In diesem neuen, durch die Globalisierung selbst bewirkten Konflikt geraten daher nicht, wie in den vertrauten – mehr oder weniger gewaltlosen – Formen des Protestes, wohlunterscheidbare Elemente des einen
Diskurses in Gegensatz, sondern prallen, wie das Ungeheuerliche der Terroranschläge gezeigt hat, schlicht verschiedene Diskurse aufeinander. Hier sind
die Kontrahenten nicht die sozialen Klassen einer gemeinsamen Gesellschaftsformation, sondern Repräsentanten einander fremder Kulturen. Dieser Zusammenstoß erst schafft eine in der Tat neue und unvertraute Situation, die
mit dem vertrauten Instrumentarium der politischen Philosophie offenbar
nicht angemessen zu beschreiben ist.
Im folgenden möchte ich dieser neuen Art der Globalisierungskritik anhand
von drei Problemfeldern nachgehen:
1. einem Kulturbegriff, der diese globale Konfliktlage beschreibbar macht;
2. den Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern des Eigenen und des Anderen;
3. möglichen Szenarien der künftigen Weltgesellschaft.
1. zum Begriff der „Kultur“
Beschreiben wir diesen dritten Typ der Globalisierungskritik nicht psychologisch als ein irgendwie erklärbares Phänomen des Hasses auf die „Moderne“ und ihre Zumutungen oder in sozial-ökonomischen Kategorien als eine
ebenso erklärbare Reaktion der Verlierer auf die Globalisierungsprozesse,
sondern betrachten wir ihn in seinem Kern als einen Konflikt von Kulturen,
dann kommt es offenbar darauf an, den Begriff von Kultur angemessen zu
bestimmen. Jedenfalls kann er in diesem Fall nicht in dem klassischen, auf
Aristoteles zurückgehenden Sinne gebraucht werden, wonach die Kultur
der Inbegriff der Tätigkeiten sei, durch die die Menschen sich von den Tieren unterscheidet; denn dieser Begriff lässt sich nur in der Einzahl, nicht
32
Alexander von Pechmann
aber in der Mehrzahl verwenden. Unter „Kulturen“ können aber auch nicht
– wie etwa in der romantischen Tradition – gewisse individuelle, in sich abgeschlossene Entitäten verstanden werden5; denn solche Monaden können
nicht streiten. Schließlich kann der Kulturbegriff aber auch nicht – in einem
postmodernen Sinne – die Vielfalt der je regionalen geistigen und ästhetischen Produktionen umfassen6; denn mit ihm lassen sich zwar die mehr
oder weniger friedliche Diffusionen und Hybridisierungen der Kulturen in
einer sich „kreolisierenden Welt“ beschreiben, nicht aber die neue Art der
Feindschaft, die aus ihnen offenbar hervorgeht.
Soll also dieser neue Typ der Globalisierungskritik mit dem Begriff der
Kultur bezeichnet werden, dann erscheint es sinnvoll, ihn nicht auf Objekte,
auf geistige Produkte wie die Sprache, die Religion oder die Kunst zu beziehen, sondern unter „Kultur“ vielmehr das Subjektive und unverfügbar Innere zu verstehen, das ihren Produkten je schon zugrunde liegt und diese prägt
und bestimmt. In diesem Sinne bezeichnet der Kulturbegriff nicht das, was
Menschen machen, sondern wie sie das, was sie machen, machen. Was die
jeweilige Kultur ist, besteht so gesehen nicht in ihren materiellen und immateriellen Produkten, sondern in der Art oder Form, in der sie diese hervorbringt. Sie ist in der Terminologie Foucaults das „Dispositiv“, das menschliches Handeln zu einem je eigentümlichen „Diskurs“ formiert, oder in der
Redeweise Wittgensteins die „Lebensform“, in der und durch die erst die
menschlichen Tätigkeiten ihren spezifischen Sinn erhalten.7 So verstanden
wäre also „Kultur“ nichts Äußeres, nichts, was man sehen, untersuchen und
beschreiben kann, sondern das Innere oder Implizite, der jeweilige „Code“,
nach dem die Vergegenständlichungen geschehen.
5 So etwa J. Baudrillard: „Kulturen sind wie Sprachen. Jede ist unvergleichlich, ein abgeschlossenes Kunstwerk für sich... Man kann sie nicht am Universellen messen.“ („Das
ist der vierte Weltkrieg“. Spiegel-Gespräch. zit. nach: http://www.us-aussenpolitik.de/interviews/baudrillard.html.)
6 Vgl. W. Welsch: „Es gibt zwar noch eine Rhetorik der Einzelkulturen, aber in der Substanz sind sie alle transkulturell bestimmt. Anstelle der separierten Einzelkulturen von
einst ist eine interdependente Globalkultur entstanden, die sämtliche Nationalkulturen
verbindet und bis in Einzelheiten hinein durchdringt.“ (Netzdesign der Kulturen. In:
Zeitschrift für Kulturaustausch 1/2002: Der Dialog mit dem Islam. www.ifa.de/
zfk/themen/ 02_1_islam/ dwelsch.htm)
7 In „Über Gewißheit“ nennt L. Wittgenstein sie den „überkommenen Hintergrund, auf
welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ (Werkausgabe Band 8, Frankfurt/Main 1984, 94)
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
33
Ein solcher Kulturbegriff versteht unter Kulturen weder separate und in
sich verschlossene Inseln noch das offene Meer, in dem sich all das, was
Menschen aus sich und der Welt machen, mischt und verbindet. An die
Stelle solcher Bilder träte vielmehr die Metapher einer „semantischen Maschine“, die die kognitiven, praktischen und ästhetischen Tätigkeiten der Menschen in einer je eigentümlichen Weise bedeutungsvoll ‚verarbeitet’.
2. Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster des „Eigenen“ und des „Anderen“
Auf der Grundlage dieses Kulturbegriffs lässt sich der dritte Typus der
Globalisierungskritik, der Kritik „von außen“, nun als ein „Konflikt von
Kulturen“ verstehen. Dieser Konflikt erklärt sich so aus dem einfachen
Umstand, dass es auf der Erde offenbar nicht nur eine, sondern mehrere solcher „Maschinen“ gibt, die die stattfindende Globalisierung nach verschiedenen Codes verarbeiten. Und die Verschiedenheit dieser ‚Programme’ resultiert ihrerseits daraus, dass diese Codes sich auf den verschiedenen Teilen der Erde bisher relativ autonom konstituiert haben.
Dass die Globalisierung zwischen den Kulturen einen Konflikt erzeugt, bedeutet dann in negativer Hinsicht, dass es offenbar keine universelle „Hypermaschine“ gibt, die diese verschiedenen Programme zu koordinieren
und semantische Ähnlichkeiten zu erzeugen vermag. Anders gesagt: es gibt
keine globale Instanz, die die stattfindende Globalisierung zu einem Diskurs
formiert. Was daher die Ausdrücke wie „Eigentum“, „Recht“ oder „Regierung“ bedeuten, unterliegt einer verschiedenen, je eigentümlichen Codierung. – In positiver Hinsicht lässt sich der Konflikt der Kulturen als eine Bedrohung der jeweiligen „Lebensform“ oder des je eigenen „semantischen
Codes“ deuten, die durch den Globalisierungsprozess erzeugt wird: Je weiter dieser Prozess fortschreitet, d.h. je mehr die ökonomischen Beziehungen, die rechtlichen Strukturen und die kulturellen Produkte sich erweitern,
angleichen und vermischen, desto weniger können diese stattfindenden
Veränderungen in den jeweiligen Diskurs integriert werden, und umso mehr
werden sie als Gefahr des Verlusts der eigenen Bedeutung gebenden Instanz verstanden.
Diese Art der Globalisierungskritik verweist demnach auf einen Umschlagspunkt, wo die Herstellung des Weltmarkts, die Vereinheitlichung der
Rechtsnormen und die Vermischung der Lebensweisen in die Bedrohung
des je Eigenen umschlägt; wo also die Kraft der Kulturen schwindet, das
34
Alexander von Pechmann
Andere in spezifischer Weise bedeutungsvoll zu integrieren, wo die Akkulturation in Dekulturation umschlägt und die Kommunikation und Kooperation abbricht. An die Stelle der Transformationen, Diffusionen und „Überlappungen“ (Ram A. Mall) tritt so der Bruch: Die Globalisierungsprozesse
können nicht mehr als Erweiterungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten
gedeutet werden, sondern werden als feindselige Handlungen beurteilt, die gegen das Unverfügbare der eigene Kultur gerichtet sind, und die daher zur
Verteidigung des je eigenen diskursbildenden Codes zwingen. Dieser Umschlagspunkt der Kooperation in Konfrontation folgt den „soziomoralischen Grundgesetzen“, wie sie K.O. Hondrich genannt hat, welche in der
„Stunde der Gefahr“ greifen: der Präferenz für die eigene Kultur und der
kollektiven Solidarität mit ‚seinesgleichen’.8
Unter der Bedingung verschiedener ‚Codes’ führt die Globalisierung offenbar zwangsläufig zum Konflikt der Kulturen. So hat sich etwa in Indien
seit der Verabschiedung der Kongresspartei von der Politik des „Dritten
Wegs“ und mit der Öffnung der Kapital- und Warenmärkte in den 90er
Jahren eine Re-Hinduisierung der indischen Gesellschaft vollzogen. Die
Sangh Parivar, das Netzwerk der Hindu-Organisationen, gewann in dem
Maße Einfluss, in dem die indische Gesellschaft für die globalen Prozesse
geöffnet wurde. Dieses Netzwerk lässt sich jedoch nicht als eine Kraft verstehen, die auf die Bewahrung vormaliger Zustände und Lebensweisen gerichtet ist, sondern ist eine, auch militant agierende, Organisation, die angesichts der Globalisierung für das Unverfügbare des eigenen, indischen Diskurses kämpft9. – In vergleichbarer Weise findet in Russland derzeit eine mit
K.O. Hondrich, Unschuld und Sühne – Zum Sinn des Krieges, FAZ, 8.12.2001, 8. –
Diese ‚soziomoralische Regel’ hat übrigens schon Herodot in den Historien III aufgestellt:
„Wenn man alle Völker der Erde aufforderte, sich unter all den verschiedenen Sitten die
trefflichsten auszuwählen, so würde jedes doch die eigenen allen anderen vorziehen. So
sehr ist jedes Volk davon überzeugt, dass seine Lebensformen die besten sind.“ Ihr folgt
auch der Kupferstich ‚Il retourne chez égaux’ (er kehrt zurück zu seinesgleichen), den
Rousseau seiner „Abhandlung über die Ungleichheit“ voranstellte. Der Stich zeigt, wie
ein Hottentotte, den die Holländer europäisch erzogen, in mehreren Sprachen unterrichtet und sogar bis nach Indien geschickt hatten, die europäische Kleidung ablegt, vor den
Gouverneur tritt und erklärt, er wolle wieder zu ‚seinesgleichen’ zurückkehren.
9 Den ‚Umschlag’ von Kooperation in Konfrontation hat ein aufsehenerregender Artikel
in der Hindu-Zeitschrift Organiser mit dem Titel: „Angry Hindu! Yes, why not?“ beredt zum
Ausdruck gebracht: „My temples“, schreibt der anonyme Autor, „have been desecrated,
destroyed. Their sacred stones are being trampled under the aggressor’s feet. My gods
8
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
35
der Globalisierung einhergehende Umstrukturierung der politischen Landschaft statt, die das vormalige Rechts-Links-Schema der Politik abgelöst hat.
Diese Umorientierung hat ihren signifikanten Ausdruck in der Erklärung
der Kommunistischen Partei gefunden, wonach unter den Bedingungen der
Globalisierung „die Hauptsache nicht [mehr] der Widerspruch zwischen
Kapital und Arbeit“ sei, sondern „der weiter gefasste Widerspruch zwischen den Kräften von Kosmopolitismus und Patriotismus“10. Dieser „Patriotismus“ versteht sich jedoch nicht als eine konservative Bewegung zur
Restitution der Vergangenheit – sei es des Zarenreichs oder der Sowjetunion –, sondern sieht sich im Kampf um die Selbständigkeit des eigenen Diskurses unter Globalisierungsbedingungen. – Ebenso zeigt der durch die islamische Kultur geprägte Raum nach dem Ende der Phase einer säkularen
und nationalen Politik des „Dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus und seiner Einbindung in die Welthandelspolitik den Vorgang der
Re-Islamisierung.11 Auch dieser Vorgang kann nicht als eine Wieder-holung
are crying.“ Der Grund aber sei der gutgläubige Schlaf gewesen: „For so long – for too
long – I was lost in a deep coma. I saw nothing. I heard nothing, felt nothing – even
when my motherland was cut off... I now realise that I had been too good for this world
of ‚hard reality’. I believed that others would respect my gods and temples as I respected
other’s ... But alas, again and again I was deceived. I was betrayed, I was stabbed in the
back ... I know now a bit of the ways in the world. And I have decides to speak to others in the language they understand ... And, finally, I have come to the value of my anger
itself!“ (zit. nach: C. Six, Hindu-Nationalismus und Globalisierung. Die zwei Gesichter
Indiens: Symbole der Identität und des Anderen, Frankfurt/Main 2001, 100 f.) – Auf
das Neuartige dieses Diskurses verweist der indische Philosoph J. Alam in: Die Aneignung von Tradition. Koloniale und postkoloniale Debatten. In: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 4, Berlin 1999, 617-631.
10 zit. nach: G. Neunhöffer, Luxemburg in Russland. Warum es die Globalisierungskritik
in der Ex-Sowjetrepublik so schwer hat. In: Blätter des Informationszentrums 3. Welt
(IZ3W), Wo steht die Bewegung? Eine Zwischenbilanz der Globalisierungskritik, Freiburg 2002, 10.
11 Diese Parallelität hebt H. Fürtig hervor: „Historischer Zufall oder nicht, bestechend
ist die zeitliche Übereinstimmung der Herausbildung und Reife dieser dritten Generation [islamischer Reformer] mit der rasant beschleunigten Globalisierung im ausgehenden
20. Jahrhundert... In der Quintessenz bedeutet dies, dass weder Kolonialismus noch
Imperialismus den Muslim in seiner eigentlichen Substanz und Identität so gefährdeten
wie die Globalisierung. Den Kolonial- wie den imperialistischen Mächten ging es um die
Muslime als Arbeitskräfte und Konsumenten beziehungsweise (später) als ‚Verfügungsmasse’ im Kalten Krieg. Wenn sich im Verlauf der jahrzehntelangen Einflussnahme in
den islamischen Ländern eine prowestliche beziehungsweise ‚verwestlichte’ Schicht herausbildete, so blieb sie doch immer Minderheit. Globalisierung durchdringt jedoch alle
36
Alexander von Pechmann
vormaliger kultureller Zustände, sondern muss als eine neuartige Bewegung
der Re-Etablierung des islamischen Diskurses unter Globalisierungsbedingungen verstanden werden.12 – Schließlich ist auch in der westlichen Kultur
das bislang Selbstverständliche der Globalisierung ins Szenario des Kampfs
ums Eigene umgeschlagen. Hier war die Zerstörung des Welthandelszentrums und der Angriff auf das Pentagon das Ereignis, durch das sich die
westliche Kultur angesichts der Bedrohung durchs Böse zur Verteidigung
des Eigensten, von „freedom, democracy, and free enterprise“13, herausgefordert sah. Seither scheint auch in der westlichen Kultur, insbesondere in
den Vereinigten Staaten, der Vorgang einer Re-Ideologisierung stattzufinden, der die globalen Beziehungen nicht mehr nur nach Gesichtspunkten
des Interesses und der Nützlichkeit, sondern nach moralischen Kriterien in
„gut“ und „böse“14, und die globalen Akteure in „Freunde“ und „Feinde“
unterscheidet.
So verstanden ist also die neue Dimension der Globalisierung weder diese
selbst noch die ihr immanente Kritik. Vielmehr ist das eigentlich Neue der
Konflikt, den die Globalisierung zwischen den Kulturen erzeugt, und der
sich eben darum als so unerbittlich zeigt, weil es nicht mehr nur um dieses
oder jenes Interesse, sondern um das Unverfügbare des je eigenen Diskurses geht.15
Lebensbereiche ...“ (Islam, Islamismus und Terrorismus. In: Utopie Kreativ 135, Berlin
2002, 22 ff.)
12 Auf das Post-nationale dieser Re-Islamisierung weist H. Mowlana, Professor an der
School of International Service in Washington, hin: „In vielen Fällen hat der Staat als
solcher in der Gesellschaftsstruktur keinen Platz mehr. Statt dessen gewinnen Gemeinschaftsführer wie die ‚ulama’ (religiöse Führer und Gelehrte) an Einfluss, da Regierungen dazu neigen, äußeren Einflüssen nachzugeben. So wurde ein ‚ulama’ wie Ayatollah
Ruhollah Khomeini zum Vermittlungskanal zwischen Volk und Staat, der im Namen
der ‚ummah’, aber auch der Nation agierte....“ (Die Vereinigten Staaten und der Islam:
Ein Kulturkonflikt? In: IfA – Zeitschrift für Kulturaustausch 1/2002)
13 G.W. Bush: The National Security Strategy of the United States of America (NSS),
Washington 2002. Introduction. zit. nach: www.whitehouse.gov/nsc/nssintro.html.
14 Vgl. G.W. Bush: „Some worry that it is somehow undiplomatic or impolite to speak
the language of ‚right and wrong’. I disagree. Different circumstances require different
methods, but not different moralities." (West Point, New York, 1.6.2002. zit. nach:
www.whitehouse.gov/nsc/nss2.html).
15 Der Vollständigkeit halber sei in Bezug auf die „Asiatisierung Asiens“ auf den Artikel
verwiesen: K.-G. Riegel, „Asiatische Werte“ – Asiatierungsdebatte im Kontext der Globalisierung. In: Zeitschrift für Politik 4, München 2001, 397-426.
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
37
3. mögliche Szenarien der künftigen Weltgesellschaft
Geht man nicht wie die Modernitätstheorie davon aus, dass die genannten
Konflikte und ihre Potentiale aus gewissen Anpassungsschwierigkeiten traditionaler Kulturen an den objektiven Geschichtsprozess der Modernisierung resultieren, sondern sieht in ihnen Gegensätze und Widersprüche, die
durch diesen Prozess selbst erzeugt werden, so erscheinen angesichts der
Konflikte (mindestens) drei Lösungsszenarien als möglich:
a. Der „Vierte Weltkrieg“16; der Hobbes’sche Naturzustand eines künftigen
Weltbürgerkriegs, der aus dem Zerfall der bisherigen nachkolonialen Weltordnung einhergeht. In diesem Zustand kämpfen freilich nicht mehr – wie im
englischen Bürgerkrieg – Individuen oder Sekten um die Erhaltung ihrer Identität und auch nicht mehr – wie in der Zeit des Nationalismus und des
(Anti-)Kolonialismus – Nationalstaaten um die Erhaltung oder die Gewinnung ihrer Souveränität, sondern die verschiedenen Kulturen, wie S. Huntington dies angenommen hat, die sich unter den Bedingungen der Globalisierung der Wirtschaftsweise, der Rechtsstrukturen und der Lebensweisen
historisch erstmals im Kampf um die Erhaltung ihres je eigenen ‚Codes’ befinden. In diesem Kampf aber zählt nicht ‚das Recht’ oder die jeweilige
‚Wahrheit’, sondern allein der Erfolg. Und so wie Hobbes sagt, dass im Naturzustand der eine über mehr Kraft, der andere über mehr Verstand verfügt17, so mag in diesem Weltbürgerkrieg die eine Kultur ein Mehr an materiell-technischen Mitteln aufbringen, das die andere durch ein Mehr an geistigen oder spirituellen Ressourcen, oder an List, Mut oder Opferung des
eigenen Lebens kompensiert.18 In diesem globalen Kampf um ‚Sein oder
Nichtsein’ ist absehbar, dass sich unterschiedliche Koalitionen und Konfliktlinien bilden werden, und dass wohl die Kulturen untergehen werden,
16 So u.a. Eliot A. Cohen, Professor für Strategische Studien und Berater der USRegierung (Wall Street Journal, 20.11.2001). Betrachtet man allerdings die drei ersten
Weltkriege als in ihrem Kern europäische Kriege, so wäre dieser der erste Weltkrieg. Er wäre, wie der Zapatistenführer Marcos behauptete, "ein wahrhaft planetarischer Krieg, der
schlimmste und grausamste Krieg, und er wird vom Neoliberalismus gegen die ganze
Menschheit geführt" (zit. nach: W.F. Haug: Weltkrieg gegen den Terror? In:
www.gegenentwurf-muenchen.de/globterr.htm)
17 Th. Hobbes, Leviathan, 13. Kap., Stuttgart 1983, 112 f.
18 Vgl. dazu die Diskussion um die sogenannten „asymmetrischen Kriege“: M. van Crefeld, Die Zukunft des Krieges, München 1998; H. Münkler, Die neuen Kriege, Berlin
2002.
38
Alexander von Pechmann
die nicht die Ressourcen aufbringen, ihre spezifische Diskursform unter
den globalen Bedingungen aufrechtzuerhalten.19
Dieses Szenario wäre als ein globaler und weltbürgerlicher Zustand anzusehen, weil sich keine der Kulturen mehr dem Kampf um ihr Selbst entziehen kann; aber er ist kein friedlicher, weil weder eine Kultur den anderen
ihren ‚Code’ aufzuzwingen vermag noch Prinzipien existieren, die allgemein
anerkannt und gleichförmig ausgelegt und verstanden werden. In diesem
Zustand ist vielmehr jede Partei gleichsam in die Höhle ihres „kulturellen
Selbsts“ verstrickt und kann daher die anderen nur als dessen (potentielle
oder aktuelle) Bedrohung wahrnehmen.
b. Der Verzicht auf Globalisierung und der Rückzug des jeweiligen Imperiums
auf die von ihm beherrschbare Sphäre. Ein solcher Zustand der globalen
Befriedung durch eine Art der Limesbildung entspräche, historisch gesehen,
dem „Westfälischen Frieden“, der den europäischen Bürgerkrieg beendete.
Freilich müsste für die Befriedung des Konflikts heute der umgekehrte Satz
gelten: cuius religio, eius regio. Die Welt würde so aufgeteilt in verschiedene, von einander abgeschottete Sphären, in denen jeweils ein anderer Code
herrscht: das Kapital, Allah, Mamotschka Rossia usw. – Allerdings erscheint
diese Art der Konfliktlösung durch die Aufteilung des globalen Raumes in
ein je ziviles ‚Innen’ und ein barbarisches ‚Außen’ als wenig wahrscheinlich.
Denn der Verzicht auf Globalisierung entspränge so nur einer äußeren
machtpolitischen Konstellation oder einer momentanen Interessenlage; er
gehorchte nur der Not, aber nicht dem eigenen Trieb, weil zumindest der
westlichen Kultur, wie angenommen, die Universalisierung ihres ‚Codes’
wesenseigen, und sie daher grenzenüberschreitend ist. Für sie ist die Moderne, wie es drohend heißt, ein allemal „unvollendetes Projekt“.
c. Als dritte – und intellektuell wohl interessanteste – Lösung wäre der
gleichsam „Hegelsche Zustand“ der Anerkennung denkbar, der aus dem
Kampf der Kulturen um Anerkennung selbst hervorgeht. Ein solcher künf19 Den monotheistisch geprägten Kulturen dürfte es in diesem globalen Kriegszustand
leichter fallen als anderen, ein klares und deutliches Bild sowohl für das Eigene als auch
für das bedrohlich Fremde zu finden: das Satanische als das moralische Gegenprinzip,
vorgestellt als „Schurke“ oder „Terrorist“ oder als der „Große Verführer“. Schwerer
freilich dürften sich Kulturen tun, die auf keinen solchen moral-ontologischen Dualismus gegründet sind und daher Schwierigkeiten haben, sowohl ihr ‚Selbst’ als auch den
‚Feind’ klar zu benennen.
Zur neuen Dimension der Globalisierungskritik
39
tiger Zustand lässt sich heute jedoch nicht mehr geschichtsphilosophisch als
das zu erwartende, zu erhoffende oder zu prognostizierende ‚Ende’ oder
‚Ziel der Geschichte’ antizipieren. Denn in diesem Kampf der Kulturen ist
es ja gerade umstritten, was denn das „übergreifend Allgemeine“ sei, das
sich im Antagonismus des Partikularen verwirklichte.20 Insofern zeigen die
Fehlprognosen, die vom „Ende der Geschichte“ erzählt haben, dass die
Zukunft der Menschheit offenbar nicht mehr wie im europäisch-westlichen
Kontext als ein künftiger Sieg der „Vernunft“ über die Mächte der Unvernunft oder der „Freiheit“ über die Gewalten der Unfreiheit gedacht werden
kann.
Ein solcher Zustand der Anerkennung müsste vielmehr – hegelisch gedacht – aus der Not des Kampfes der Kulturen selbst hervorgehen.21 Er
müsste in der Unausweichlichkeit gegründet sein, die sie zwingt, ihr Selbst
aufzugeben, d.h. „das eigene Heiligste“, wie Ulrich Beck dies formuliert hat,
„für die Kritik durch andere (zu) öffnen“.22 Und er kann nicht darin bestehen, in den anderen Kulturen nur das Gleichartige zu erkennen, sondern
darin, diese in ihrer Andersartigkeit und Fremdheit, d.h. in ihrem Selbstsein,
anzuerkennen.23 Ein solcher Zustand der gegenseitigen Anerkennung aber
20 Dem entspricht, wenn H. Mowlana den Westen in Hinblick auf die islamische Kultur
warnt: „Letztendlich wird es Aufgabe des Westens und besonders der Vereinigten Staaten sein, sich mit den Tatsachen der modernen Welt anzufreunden und die Grundsätze
und die Geschichte anzuerkennen, auf die sich die islamische Zivilisation gründet. Jeder
Versuch des Westens, die innere Veränderung der islamischen Welt zu beschleunigen
oder zu modifizieren, wird aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Katastrophe enden.“
(Die Vereinigten Staaten und der Islam, a.a.O.)
21 In der „Phänomenologie des Geistes“ beschreibt Hegel den Kampf um Anerkennung
folgendermaßen: „Das Verhältnis der Selbstbewußtseine ist also so bestimmt, dass sie
sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in
diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur
Wahrheit an dem andern, und an ihnen selbst erheben ... Das Individuum, welches das
Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit seines Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewusstseins nicht erreicht.“
(Frankfurt/Main 1970, 116)
22 U. Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf die Globalisierung, Frankfurt/Main 1997, 149.
23 Diese andere Art der Anerkennung beschreibt J. Habermas in „Die Einbeziehung des
Anderen“, die er allerdings nicht auf Kulturen, sondern auf Personen bezieht: „Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf gleichartige, sondern auf die Person
des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit.“ (Die Einbeziehung des Anderen.
Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1996, 7: H.v.m)
40
Alexander von Pechmann
bedürfte, kontrafaktisch, eines gleichsam transkulturellen Perspektivenwechsels,
der nicht mehr nur vom Eigenen aus sich und andere erkennt, sondern der
auch „von dem Eigenen des Anderen aus(geht) und von ihm aus den Blick
zurück auf das Eigene ... richte(t)“.24
Ein solcher auf die gegenseitige Anerkennung der Anderen in ihrer Andersartigkeit gegründeter „planetarischer Vertrag“ mag angesichts der gegenwärtigen Konflikte heute als ein Sollens-Prinzip formuliert und postuliert
werden können. Was er aber in concreto als ein künftiger Vertragszustand bedeuten könnte, scheint nur als das mögliche Resultat des Kampfes der Kulturen bestimmbar zu sein.25 Denn ein solcher Zustand der gelungenen Anerkennung setzt nicht nur die Kenntnisnahme der anderen Kulturen voraus,
sondern auch die Existenz eines transkulturellen und gemeinsamen Codes,
der die globalisierte Welt zu Einem Diskurs formiert. Dieser aber fehlt heute; und sein Fehlen provoziert den Kampf der Kulturen.
24 So J. Matthes in: Interkulturelle Kompetenz. Ein Konzept, sein Kontext und sein Potential. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3, Berlin 1999, 415. – Zu diesem Perspektivenwechsel genügt daher nicht, wie J. Galtung in Bezug auf die westliche Kultur
selbstkritisch meint, „sich im eigenen Spiegel zu betrachten“ (Die Zukunft der Menschenrechte. Vision: Verständigung zwischen den Kulturen, Frankfurt/Main 2000, 138). Er
muss vielmehr über das Selbstbezügliche hinaus den Zwang enthalten, sich auch im
Spiegel des Anderen zu betrachten.
25 Die Schwierigkeit, einen solchen Vertrag zu formulieren, dürfte nicht zuletzt in der
Aporie bestehen, daß er als Vertragszustand auf der Gemeinsamkeit, als Zustand der Anerkennung jedoch auf der Andersartigkeit des Gewollten gründen müßte.
Wolfgang Melchior
Die Alte Weltordnung:
die Neugestaltung der Welt
nach Kulturen
Denn wenn man einmal mit dem Einfluss entweder gesellschaftlicher oder natürlicher Zufälle auf die Verteilung unzufrieden ist, dann wird man durch Nachdenken dazu geführt
mit beidem unzufrieden zu sein. Vom moralischen Gesichtspunkt aus erscheint beides als gleich willkürlich.
John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit
Thema dieser Untersuchung ist eine Kritik der Globalisierung aus einem
anderen Blickwinkel. Ich greife hier nicht bestimmte empirische Entwicklungen auf und an, wie dies andere Autoren mit größerem Sachverstand bereits getan haben und es täglich tun. Vielmehr hat dieser Artikel eine Theorie
der globalisierten Welt zum Gegenstand, deren self-fulfilling prophecy – so die
Hypothese – zu einem Konfliktpotenzial ungeheueren Ausmaßes geführt
hat und weiter führen wird. Insofern verschiebe ich hier die Themenstellung von einer Kritik der Globalisierung hin zu einer Kritik der führenden
Theorie der Globalisierung, für die momentan einige Evidenz zu sprechen
scheint. Das Unternehmen möchte ich als ideologiekritisch bezeichnen.
Die neuen Verteilungskonflikte, wirklich neu?
Politische Auseinandersetzungen, ob friedlich oder kriegerisch ausgetragen,
waren schon immer Verteilungskämpfe. Während des Kalten Krieges bedeutete Globalisierung nichts anderes als die möglichst große Ausweitung
von Einflusssphären zweier unterschiedlicher politisch-ökonomischen Systeme.
Die Ontologie der Verteilung und ihre Kriterien waren klar: verteilt wurden Primärgüter (Macht, Geld, Güter, Ressourcen) auf Nationalstaaten, die
sich entweder dem einen oder anderen Block zurechneten. Die Kohäsion
innerhalb der Blöcke wurde durch freiwillige Partizipation (freiwillige Assoziation durch Vertrag aufgrund zweck-mittel-rationaler Überlegungen) hergestellt oder durch unmittelbare (militärische) Bedrohung oder mittelbar
ökonomische Druckmittel erzwungen. Im Kalten Krieg hatten die meisten
42
Wolfgang Melchior
Staaten die Wahl zwischen wenigstens drei Alternativen: Ost, West oder
blockfrei.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verlaufen die Konfliktlinien neuer Verteilungskämpfe heute nicht mehr zwischen Blöcken mit unterschiedlichen
politischen und ökonomischen Systemen, sondern entlang ethnisch-religiös
geprägter Kulturkreise. Das neue Verteilungsspiel findet nicht mehr zwischen zwei Wirtschaftssystemen, sondern zwischen Kulturen oder kulturell
identifizierbarer Ethnien statt. Allerorten wird der Kampf der Kulturen
ausgerufen. Das behaupten zumindest die Vertreter von Theorien, die in
dieser Untersuchung thematisiert werden sollen. Sie sollen im Folgenden
mit dem Begriff kulturessentialistische Theorien bezeichnet werden.
Diese Untersuchung setzt sich drei Aufgaben:
1. Zum ersten beschäftigt sie sich mit der Analyse dieser kulturessentialistischen Theorien.
2. In einem zweiten Schritt wird die theoretisch-philosophische Verortung dieser
Theorien vorgenommen und gezeigt, dass sie im Kommunitarismus liegt.
Ergebnis wird sein: Kulturessentialistische Theorien a la Huntington sind
die konsequente einzelwissenschaftliche Weiterentwicklung des kommunitaristischen Paradigmas.
3. Schließlich wird gezeigt werden, dass und inwiefern dieses Paradigma erstens nur als ein ideologischer Reflex der gegenwärtigen globalen Konflikte
gelten kann (vor allem weil es Ursache und Wirkung verwechselt oder
anders: die Epiphänomene für die Causa nimmt) und dass bzw. inwiefern
es zweitens nicht zur Lösung dieser selbstgeschaffenen Konflikte beitragen
kann. Dabei werden zwei Hypothesen aufgestellt und mit Plausibilität angereichert: der Kommunitarismus besitzt nicht den Status einer deskriptiven Theorie und er bietet keine echte Theorie der Verteilungsgerechtigkeit.
1. Was sind kulturessentialistische Theorien?
Wenden wir uns zunächst den Theorien zu, die ich als kulturessentialistisch
bezeichne. In ihnen treten nicht mehr Individuen (Liberalismus) oder soziale Klassen (Marxismus) als Akteure von Verteilungskonflikten, sondern
ethnisch-kulturell geprägte Ganzheiten auf.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
43
Ergebnisse dieser kulturessentialistischen Theorien sind bereits in die Einzelwissenschaften eingedrungen: In der Geschichtswissenschaft erklärte
Goldhagen den Holocaust mit dem Begriff eines in der deutschen Kultur
tief verankerten eliminatorischen Antisemitismus und nennt seinen Ansatz
anthropologisch1; Politologen reden vom Kampf der Zivilisationen, um die
New World Order in den Griff zu bekommen2; Vertreter der NIE (New
Institutional Economics) unter Ökonomen wenden sich den sog. non-price
institutions zu3 und entdecken den Zusammenhang von Ethnizität und
Ökonomie4; und auch Soziologen und Psychologen entdecken neuerdings
die Grenzen des liberalen Individualisierungsbegriffs und betonen die „solidarische Bezogenheit“ des einzelnen, seine Einbettung in gemeinschaftliche
Wertsysteme.5 Nicht zuletzt hat die Ethnologie, gerade in den USA und
Deutschland, den Kulturbegriff wiederentdeckt6.
Gemeinsam sind allen diesen Theorien wenigstens folgende Annahmen:
- Eine essentialistisch-deterministische Auffassung von Kultur und Gemeinschaft: Kultur bzw. die in einer Gemeinschaft geteilten, tradierten Wertüberzeugungen sind für die Mitglieder dieser Gemeinschaft ein hinreichend identitätsstiftendes Moment. Pointierter gesagt vertreten diese Theorien das
Primat der Kultur in bezug auf Identitätsbildung.
1 Goldhagen: Hitler’s Willing Executioneers, 1st ed., New York 1997. Ich möchte
Goldhagens Ansatz hier weder stützen noch kritisieren. An dieser Stelle kommt es lediglich darauf an, den Bezug zum kulturessentialistischen Theoriengeflecht herzustellen.
„Anthropology“, insbesondere die „Cultural Anthropology“, werden in den USA alle
Ansätze genannt, die hierzulande innerhalb der Kulturethnologie abgehandelt würden.
2 S.P. Huntington: The Clash of Civilizations. Remaking of New World Order, New
York 1996.
3 Stellvertretend hierfür: J. Buchanan.
4 siehe Thai Landa: Trust, Ethnicity and Identity. Beyond the New Institutional Economics of Ethnic Trading Networks, Contract Law, and Gift Exchange, Ann Arbor
1995; Joel Kotkin: Tribes. How Race, Religion, and Identity Determine Success in the
New Global Economy, New York 1993. Review unter:
http://wjcohen.home.mindspring.com/otherclips/tribes.htm.
5 Vgl. die Arbeiten von U. Beck und H. Keupp.
6 siehe C. Bruman: Writing for Culture. Why a successful Concept should not be discarded, in: Current Anthropology, 40, Febr. 1999, Supplement, 1-27. Man beachte auch
den sich anschließenden Kommentarteil, der ein guten Überblick über Pro- und Against-Culture-Vertreter in der Ethnologie gibt.
Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang auch die Schaffung völlig neuer
Fächer wie „Interkulturelle Kommunikation“ in den 90er Jahren, so etwa geschehen an
der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
44
Wolfgang Melchior
- Eine holistische und platonistische Auffassung von Gesellschaftlichkeit: im vorigen
Absatz wurde nur von Gemeinschaft anstatt Gesellschaft geredet. Das
hatte seinen Grund: der Begriff der Gesellschaft im engeren Sinne soll im
Folgenden als rein nominalistisches Universum verstanden werden. Im Sinne
der liberalistischen Ideentradition (Hobbes, Locke, Smith, Bentham, Mill,
Kant, Rawls; Kantianismus, Utilitarismus, Spieltheorie) soll der Begriff der
Gesellschaft nur als Aggregat von Individuen und deren Einzelinteressen
aufgefasst werden (auch mereologische Vorstellung von Gesellschaft genannt). Demgegenüber soll Gemeinschaft ein holistisches und platonistisches
Universum7 bezeichnen, in dem das Ganze mehr als die Summe ihrer
Einzelinteressen umfasst und dieses Ganze die konkreten Einzeldinge
transzendiert. Das über die mereologische Summe Hinausweisende ist
nichts anderes die Kultur selbst. In ihre Geschichte und Tradition ist die
Gemeinschaft eingebettet.
- Diese definitorische Unterscheidung mag im Deutschen vielleicht arbiträr
erscheinen, bezieht sich jedoch auf die im Englischen selbstverständliche
Unterscheidung zwischen society und community. Kulturtheorien vertreten
stets eine platonistische Ontologie, und Gemeinschaft bezeichnet dabei
ein holistisches Ganzes.
- Die Auffassung von Kultur und Gemeinschaft als einem mehr oder weniger
geschlossenen Ganzen (Kulturmonadismus), welches Nationalstaaten, Gesellschaften und andere bekannte soziale Entitäten übergreift. Kultur ist weder ein Luhmannsches soziales System innerhalb einer Gesellschaft noch
ist sie eindeutig bestimmten Individuen zuzuordnen.
- Die traditionalistische Auffassung von gemeinschaftlicher Kohäsion: die kohäsiven,
den Zusammenhalt einer Gemeinschaft sichernden Merkmale liegen nicht
in ihrer Integrationskraft und der Universalisierbarkeit ihrer Werte, sondern in ihrer Ethnizität und Religion. Kulturtheorien ist die Betonung von
Geschichtlichkeit und Tradition wichtig.
- Die daraus folgende Überzeugung, dass ein Werteuniversalismus nicht haltbar
ist: oder umgekehrt die Überzeugung, dass nur partikularistische Wertesysteme Geltung haben. Bestritten wird hier die Geltung einer universalisti-
7 Ich verwende hier den Begriff des Platonismus nach W. Stegmüller: Das Universalienproblem einst und jetzt, Darmstadt 1978.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
45
schen Ethik, also von Normen, die unabhängig von einer bestimmten
Kultur und Gemeinschaft begründet werden können.
- Die Überzeugung, dass die – frühere und/oder heutige – Konflikte (conflict, clash
oder Kampf) kulturell verursacht sind: Dies wird einmal in trivialer Weise so
verstanden, dass es nun einfach Kulturen als ganze sind, die an den globalen Verteilungskämpfen teilnehmen (die neuen Spieler im Verteilungskampf), und zum zweiten in einer kulturfundamentalistischen Weise so,
dass Kulturen einander genuin widersprechende, auf Selbsterhaltung und
in einem Hobbes’schen Kampf ums Überleben stehende Entitäten sind.8
2. Wes Geistes Kind? Der Kommunitarismus macht Karriere
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Klasse von Überzeugungen
ihren philosophisch-theoretischen Ort und Ursprung im Kommunitarismus
finden. Dort wurden bereits Ende der 70er Jahre die Weichenstellungen gesetzt, nach denen heute die Fahrpläne der Einzelwissenschaften gestrickt
sind. Kulturtheorien essentialistischer Provenienz, wie sie oben kurz charakterisiert wurden, sind Ergebnis eines kommunitaristischen Siegeszugs.
Zentraler Ausgangspunkt kommunitaristischer Betrachtungen war die
Frage nach der Identität. Der Paradigmenwechsel, der hier stattfand, war
von der Theorie der individuellen Wahl autonomer Individuen hin zu einer
essentialistischen Theorie von Mitgliedschaft. Dieser Weg soll hier kurz abgegangen werden.
Der Angriff der Kommunitaristen galt zunächst der Theorie des liberalen
Selbst. M. Sandel hatte in seinem Werk Liberalism and the Limits of Justice
(1974) das liberale Selbst als un-encumbered, atomistisch und freischwebend
kritisiert. Vielmehr, so Sandel, sei das Individuum von Geburt an eingebettet in eine Vielzahl gesellschaftlicher Zusammenhänge. Der Kommunitarismus hielt der liberalen Theorie des autonomen Subjekts schlicht die gesellschaftliche Praxis entgegen9.
8
9
Diese Auffassung vertritt etwa A.v. Pechmann in dieser Nummer.
Als ob die modernen Theoretiker des Liberalismus wie J. Rawls dies nicht selbst gewusst hätten: die Theorie des autonomen Selbst sollte einen methodologischen Zweck
innerhalb des liberalistischen Systems erfüllen und war niemals als adäquate deskriptive
Theorie von Gesellschaft gemeint. Siehe dazu auch M. Walzer: The Communitarian Crique of Liberalism, in: Political Theory, Vol. 18, No.1, 1990, 6-23.
46
Wolfgang Melchior
Nach der Kritik des liberalen Selbst wandte sich der Kommunitarismus
dann daran, eine eigene Theorie von Verteilungsgerechtigkeit aufzubauen.
Ihr Ergebnis war die Beseitigung des Prinzips individueller Wahlfreiheit und
ihre Ersetzung durch das Prinzip der kommunitären Mitgliedschaft.
Im einem ersten Schritt wurde Mitgliedschaft (membership) als Primärgut
definiert. In M. Walzers Gerechtigkeitskonzept der Komplexen Gleichheit
fungiert Mitgliedschaft als Primärgut, als Bedingung der Möglichkeit von
Verteilung10. Dass dies nicht in einem trivialen Sinne verstanden werden
darf, wurde in einem zweiten Schritt durch die Anreicherung des Gemeinschaftskonzepts deutlich. Heute, glaubt man den Kommunitaristen, hat der
einzelne keine Wahlfreiheit mehr (Walzer: „Wir sind nicht frei geboren“),
sondern er ist, aufgrund seiner Geschichte, seiner Religion und nicht zuletzt
seiner Kultur, bereits determiniert durch die pure Mitgliedschaft in einer
Gemeinschaft. Einfach gesagt: wer in einer christlichen, jüdischen oder islamischen Gemeinschaft geboren wird, hat schlichtweg gar keine andere
Wahl als eine christliche, jüdische oder islamische Identität zu entwickeln.
Mit der Kantischen Autonomie (zuletzt noch von J. Rawls vertreten) wurde
derart gründlich aufgeräumt, dass heute nur noch vom unverfügbaren
Zwang oder unfreiwilligen Assoziationen die Rede ist: „Es gibt vier Arten
unverfügbarer Zwänge ... Alle werden bereits sehr früh in unserem Leben
errichtet. Sie drängen uns, ja zwingen uns in Assoziationen einer bestimmten Art hinein.“11 Ein paar Absätze weiter lesen wir: „Der zweite Zwang
besteht in der kulturellen Determiniertheit der verfügbaren Assoziationsformen.“12
Während postmoderne Theorien noch dem Wunschtraum nachh(ä)ingen,
(alle?) Individuen könnten sich ihre Identität und die Wiesen ihrer sozialen
Interaktion frei und patchworkartig (H. Keupp) zusammenbasteln oder
Posttraditionalisten uns glauben machen woll(t)en, Tradition sei zur bloßen
Sitte und Gewohnheit geronnen (A. Giddens), haben Kommunitaristen die10
Vgl. hierzu M. Walzer: Spheres of Justice, 1983, 33: “The primary good that we distribute to one another is membership in some human community.” Es darf an dieser
Stelle betont werden, dass Walzer sicherlich zu den most liberal communitarians gehört. Der
argumentativen Fairness halber habe ich Walzer als exemplarisch für die kommunitaristische Theorie herangezogen.
11 M. Walzer: Vernunft. Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie, Frankfurt
1999, 13.
12 Ebd., 17.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
47
sen Individuen bereits ein kulturelles Apriori übergestülpt und sammeln
posttraditionalistische wie postmoderne Theorien als Teil einer westlichen
Gemeinschaft wieder ein.
In der Ausweitung ihrer Kritik bestritten Kommunitaristen den universalen Geltungsanspruch von Normen, wie er von der liberalistischen Ideentradition vertreten wurde. Das war nur konsequent: in einer Ontologie, in
der die Akteure nicht gleiche und freie Individuen oder Gesellschaften,
sondern ungleiche, durch je unterschiedliche Kulturen determinierte Gemeinschaften sind, kann es keine universell gültigen Normen geben. Deswegen vertreten Kommunitaristen eine partikularistische Auffassung von
Normenbegründung. Ethische Normen sind nicht nur auf dem Boden einer
bestimmten Gesellschaft verstehbar, sondern auch nur innerhalb dieser gültig. Walzer hat dies eindrucksvoll in seinem Werk „Interpretation and Social
Criticism“ dargelegt.
Die Alternativen sind klar: hie individuelle Autonomie, dort gesellschaftlich-kulturelle Determination, hie Universalismus, dort Partikularismus.
Der Kulturessentialismus ist damit nur mehr eine Spielart des Kommunitarismus oder wenn man so will, seine konsequente einzelwissenschaftliche
Weiterentwicklung.
Hierbei sind drei Entwicklungen zu beobachten:
- zum einen wird der Begriff der Gemeinschaft immer enger mit dem Kulturbegriff verknüpft,
- zum zweiten wird der Kulturbegriff immer intensiver religiös und ethnisch aufgeladen,
- zum dritten wird immer mehr der antagonistische Charakter von kulturellen Gemeinschaften betont.
Bestanden die ersten beiden Punkte in der direkten Anwendung kommunitaristischer Vorgaben, so ist der letzte Punkt einem Mangel kommunitaristischer Theorien geschuldet. Hatte die nominalistisch-liberale Theorie kein
Problem, ihre Verteilungsgrundsätze nicht nur innerhalb, sondern auch
zwischen Gesellschaften anzuwenden, indem sie einfach die Akteure nicht
mehr mit Individuen, sondern mit Staaten identifizierte13, wird dies für
13
In utilitaristischen oder spieltheoretischen Betrachtungen tauchen die Akteure oder
Mitspieler nicht mit bestimmten oder besonderen, sondern abstrakten Merkmalen auf.
48
Wolfgang Melchior
kommunitaristische Theorien zum genuinen Problem. Gemäß des Mitgliedschaftsprinzips kann Verteilungsgerechtigkeit nur innerhalb von Gemeinschaften Anwendung finden. Die Anwendung dieser Prinzipien auf interkommunitäre Beziehungen ist nach kommunitaristischem Universalisierungsverbot untersagt. So ist es kein Wunder, dass sich kommunitaristische
Ansätze bis dato weitgehend zum Problem internationaler Verteilungsgerechtigkeit, ja internationaler Konfliktlösungen per se ausgeschwiegen haben.14 Wendet man jedoch Walzers System Komplexer Gleichheit trotzdem
auf internationale Verteilungskonflikte an, so erlaubt es nicht nur maximale
Ungleichheit, sondern stellt auch keinen Mechanismus bereit, unter dem
umstrittene Güter verteilt werden sollen. Im System Komplexer Gleichheit
gelten lediglich zwei Prinzipien: Das Dominanzverbot und die Erlaubnis
zum Monopol. Einzig untersagt ist es Güter, die in einer der insgesamt 11
Sphären (Mitgliedschaft, Sicherheit, Wohlstand, Geld und Waren, Ämter,
Arbeit, Freizeit, Erziehung, Sippe und Liebe, Anerkennung, politische
Macht sowie göttliche Gnade) angehäuft wurden, dazu zu verwenden, Güter in anderen Sphären zu erwerben. Dagegen sind Monopole ausdrücklich
erlaubt, allerdings nur innerhalb ein und derselben Gütersphäre.
Kulturessentialistische Theorien haben diesen Mangel aufgegriffen und reagieren konsequenterweise mit dem Konzept der Kampf der Kulturen. Wo
es keine Verfahren gibt, nach denen Kulturen umstrittene, knappe Güter
verteilen sollen, bleibt nur noch der Kampf oder ein andauernd schwelender Konflikt.
Bis hierhin dürfte also klar geworden sein:
Der theoretische Ort heutiger kulturessentialistischen Theorien liegt im
Kommunitarismus. Er hatte den Begriff Gemeinschaften als essentialistische, holistische und deterministische Entitäten in den Gesellschaftswissenschaften15 verankert.
Entscheidend für sie ist, dass alle Mitspieler mit gleichen Voraussetzungen ausgestattet
sind.
14 In diesem Zusammenhang vielleicht verdächtig, wenn auch nicht hohe argumentative
Kraft beanspruchend, sei erwähnt, dass einzig M. Walzer sich diesem Thema in seinem
Werk „Just and Unjust Wars“ (1977) angenommen hat.
15 Ein kleiner Treppenwitz der Geschichte: Was früher „Gesellschaftswissenschaften“
hieß, soll heute nur mehr „Kulturwissenschaften“ heißen.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
49
Der Kommunitarismus selbst vertritt keine politische Theorie eines Kulturkampfes, diente dieser aber durch zwei Umstände als Steigbügelhalter:
zum einen besitzt er keine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit und besitzt
deswegen auch keine Theorie zur Lösung von Verteilungskonflikten. Zum
anderen hat er diesem Mangel niemals ausdrücklich abgeholfen und sich
über Konfliktlösungsprinzipien ausgeschwiegen – kein Wunder, verbot ihm
dies doch seine genuin partikularistische Normentheorie.
Durch den Nebel hindurch die globalen Konflikte sehen
Exkurs: die europäische Verwirrung
Die Stärke kommunitaristisch-kulturessentialistischer Ansätze liegt nun darin, dass sie für die europäische Linke wie konservative Rechte attraktiv erscheinen muss. Die Linke sieht in ihnen ein langersehntes Instrument, mit
der bürgerlichen Ideologie des autonomen Subjekts aufzuräumen. Das Primat des Gesellschaftlichen wird dann auch weniger als Vorrang kultureller
Wertesysteme (Überbau) als vielmehr bestimmter ökonomischer Systeme
(Sein) verstanden16. Die Rechte hingegen reinterpretiert die Idee vom Primat der Gemeinschaft als kohäsive Volksgemeinschaft und sieht im
Kommunitarismus den Partner der Idee, dass die Zugehörigkeit zu einer
Wertegemeinschaft vor anderen Konzepten der Identitätsbildung (soziale
Klasse, liberales Individuum) Vorrang habe.
Die Verwirrung ist haarsträubend; sie fing damit an, den ethnischkulturellen Begriff der Gemeinschaft (community) mit dem der politischen
Begriff der Gesellschaft (society) zu verwechseln. Für die amerikanischen Väter des Kommunitarismus war dieser Unterschied ebenso selbstverständlich
wie das in der amerikanischen Geschichte tief verankerte Verständnis für
die Beziehung zwischen ethnisch-kulturellen Gemeinschaften und der civil
society17. Solche Beziehungen existieren in der europäischen Geschichte
16
So etwa verstehe ich E. Treptows Verteidigung des Kommunitarismus in seinen Seminaren an der LMU München.
17 Vgl. hierzu H. Joas: Gemeinschaft und Demokratie in den USA. Die vergessene Vorgeschichte der Kommunitarsimus-Diskussion, in: M. Brumlik/H. Brunkhorst (Hg):
Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1993, 3-11: „Aber der große Unterschied [des Kommunitarismus in den USA und Europa] liegt darin, daß der Diskurs über die Gmeinschaft in den USA Bestandteil der Selbstverständigung einer liberalen Gesellschaft war und ist, während er in Deutschland – und das ist unabhängig von der Ge-
50
Wolfgang Melchior
schlichtweg nicht. Weitere Schieflagen entstanden, als verschiedene Ergebnisse des Kommunitarismus aufgegriffen wurden: Soziales Engagement,
Selbsthilfe, Bürgergesellschaft waren Schlagworte, mit denen die sog. low
communitarians (Etzioni et al.) die Theorie des big government der liberals
angriffen und die communities der USA wieder auf ihre eigenen Strukturen
zurückführen wollten. Übertragen auf Europa wurden daraus genau die
Forderungen nach Sozialabbau, Eigenengagement und Selbsthilfe, die heute
sozialdemokratische von konservativer Politik kaum mehr unterscheiden
lassen.
Konnte man jedoch den Kommunitarismus noch als inneramerikanische
Debatte abtun, so ist er heute durch seine – geographische wie theoretische
– Expansion im Gewande des Kulturessentialismus nicht mehr zu übersehen.
3. Zur Kritik eines „Kampfs der Kulturen“
Die kulturessentialistischen Theorien sind realer Schein, ideologisches Abbild des Vorgefundenen.
Wahr ist, dass sich tatsächlich die Verteilungskämpfe weltweit zunehmend
nach kulturellen Mustern ausrichten. Falsch jedoch ist, dass kulturelle Verschiedenheit deren Ursache sind. Die wahren neuen Konfliktlinien verlaufen zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern. Kultur kommt erst dann ins Spiel, wo sie als kohäsive und schlagkräftige Macht
diesen Verlierern im politischen Kampf nützlich erscheint. Kulturessentialistische Theorien verwechseln deswegen die politischen Instrumente und die
Oberflächenphänomene mit den ökonomischen Ursachen der Konflikte. Kulturessentialistische Theorien greifen diese Ideologien auf und nehmen den
gesellschaftlichen Schein für bare Münze.
3.1 Ein immanentes Argument
Wenn – ceteris paribus – Kulturen tatsächlich die Ursache moderner Verteilungskämpfe sein sollen und sie historisch invariante Merkmale aufweisinnung der einzelnen Beiträger – über einen langen Zeitraum im Rahmen einer im wesentlichen illiberalen Gesellschaft stattfand“.
Ebenso L. Probst: Gesellschaft vs. Gemeinschaft? Zur Tradition des dichotomischen
Denkens in Deutschland, in: Politik und Zeitgeschichte, B 36/37, 30. August 1996, 1319.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
51
sen18, dann darf gefragt werden, warum nicht die gesamte Geschichte eine
Geschichte von Kulturkämpfen ist. Soweit ersichtlich, vertritt nämlich keine
kulturessentialistische Theorie diese Konklusion. Der Grund ist klar: die
einzig konsequenten Theorien des Kulturkampfes sind die eines Oswald
Spengler oder Rassentheorien, wie sie Ende des vorletzten und Anfang des
letzten Jahrhunderts formuliert wurden. Vor dieser theoretischen Konsequenz scheuen die Kulturessentialisten und Kommunitaristen ganz offensichtlich zurück.
Auf diesen Einwand könnten Kulturessentialisten/Kommunitaristen den
Ball des ceteris paribus auffangen, indem sie auf die neue globale Situation
verweisen. Zum ersten Mal in der Geschichte fänden sich heute alle Kulturen in einem gemeinsamen Raum wieder (One World Argument). Was früher
nebeneinander koexistierte, sehe sich heute plötzlich in einen Zusammenhang gestellt. Doch auch dieser modifizierte Kulturessentialismus auf globaler Basis geht nicht auf: denn der gemeinsame Raum, die One World betrifft ja nicht nur die Kulturen, sondern auch Wirtschaft, Politik, Tourismus
und viele weitere Sphären. Ebenso gut könnte man behaupten, der Tourismus sei die Ursache moderner Konflikte, weil es zum ersten Male einen
Massentourismus in globalem Maßstab gibt. Anders ausgedrückt: das Faktum der One World, das die Globalisierung geschaffen hat, ist kein hinreichender Grund zur Erklärung der Kämpfe.
Und es darf weiterhin gefragt werden, warum manche Kulturen in diesen
globalen Verteilungskämpfen gar nicht als Teilnehmer auftreten? Wenn
nämlich das universe of discourse der Verteilungskämpfe aus Kulturen besteht,
dann müssen auch alle Kulturen dort als Akteure auftreten. Spieltheoretisch
ausgedrückt: manche Kulturen werden offensichtlich nicht als Mitspieler
anerkannt. Eine Begründung dafür findet man bei kulturessentialistischenkommunitaristischen Theorien vergebens, müssten sie doch zu folgendem
Ergebnis kommen: wichtig für den Status als Akteur im Verteilungskampf
ist nicht ihr kulturelles Sein, sondern das politische und ökonomische Interesse des Weltmarktes an ihren Produkten und Ressourcen. Und ergo
18
Historische Invarianz scheint zumindest der kleinste gemeinsame Nenner zu sein, auf
den sich kulturessentialistische Theorien einigen können. Demgegenüber ist die gesellschaftliche Invarianz (Homogenität von Kultur innerhalb einer Gemeinschaft) umstritten.
52
Wolfgang Melchior
müssten sie einräumen, ihre kulturessentialistischen Argumentationen seien
nur vorgeschoben.
3.2 Kultur – wirklich homogen und invariant?
Einige intuitive Vorbemerkungen seien mir gestattet:
Kulturessentialisten tun so, als ob die Kulturen a priori existierten. Dem ist
keineswegs so. Das gilt sowohl für Theorien der Kultur wie für das kulturelle Selbstverständnis der Akteure. So sieht etwa Huntington in Clash of Civilizations einmal 10, dann wieder 8 und zum Schluss nur noch zwei Kulturkreise („the West and the Rest“); von weiteren derzeit kursierenden Auswüchsen von Kulturdefinitionen ganz zu schweigen.
Der Grund hierfür liegt auf der Hand: der Kulturbegriff besitzt kein hinreichend genaues Abgrenzungskriterium. Bezieht er sich auf objektive Produkte und Tätigkeiten, haftet ihm immer der Hauch von Zirkularität an:
Basis des Kulturbegriffs ist dann stets das Je-Eigene. Dies ist etwa gut ablesbar in der Geschichte der Ethnologie, in der lange Zeit Kultur mit einer
ganz bestimmten Art zivilisatorischer Praktiken des Westens/Nordens
gleichgesetzt wurde.19
Heute findet man immer wieder als Abgrenzungskriterien für Kultur wenigstens die beiden Merkmale von Religion und Ethnizität. Doch damit
läuft der Kulturbegriff in das nächste Problem: er muss ein Ganzes beschreiben, das wenigstens die Kriterien von Homogenität und Kohäsion erfüllt. War es früher so, dass alle nicht-europäische Kulturen diese beiden
Kriterien verfehlten, so ist heute genau umgekehrt: die westlichposttraditionale Gesellschaften, wie wir sie im Westen vorfinden, besitzen
gerade nicht diesen Grad von Homogenität und Kohäsion. Würden wir
deswegen bestreiten, dass der Westen eine Kultur besitzt?
Ähnlich bestellt ist es mit dem Selbstverständnis der Akteure einer Kultur:
der Kulturbegriff unterstellt invariante Muster, denen auch die Mitglieder
der jeweiligen Kultur tatsächlich unterworfen sein sollen. Interessanterweise
wird dies oft von eben diesen bestritten: Mancher Afrikaner würde sich
wehren gegen Huntingtons Begriff der African Culture, und auch Europäer
19
Vgl. hiezu etwa Hans Fischer (Hg): Ethnologie, Berlin 4. Aufl. 1992; K.-H. Kohl:
Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München
2000.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
53
sehen in letzter Zeit immer mehr kulturelle Unterschiede zu einer Western
Culture made in USA.20 Nach nahezu hundert Jahren moderner Ethnologie,
in der hermeneutische Prinzipien zu einem immer besseren Verständnis der
Kulturen gelangten, scheint man jetzt das Rad wieder zurückdrehen zu wollen und oktroyiert ganzen Regionen des Globus bestimmte Kulturbegriffe
auf.
Zum Kern der Sache:
Insgesamt betrachtet, lassen sich wenigstens zwei Typen von Kulturbegriffen in der Debatte beobachten:
- solche, die Kultur an bestimmten, abgrenz- und angebbaren Einstellungen, Lebensäußerungen und Artefakten einer Gesellschaft festmachen. Beispiele
dieser Gruppe sind: Luhmanns Konzept des kulturellen Systems, Marx’
Theorie des Überbaus, evolutionistische und ethologische Konzepte von
Kultur;
- solche, die Kultur als holistische Gesamtheit (man verzeihe mir den Pleonasmus) aller Einstellungen, Lebensäußerungen und Artefakte einer Gemeinschaft betrachten. Kultur fällt hier tendenziell mit dem Begriff der
Gemeinschaft zusammen. Darunter lassen sich zwei Untergruppen ausmachen: objektivistische und subjektivistische. Zu den objektivistischen
Kulturkonzepten zählen all solche, die als interkulturelles Abgrenzungskriterium nur beobachtbare Lebensäußerungen und Artefakte zulassen.
Beispiele hierfür sind: Huntingtons Zivilisationskonzept oder ethnischreligiöse Konzepte von Kultur. Zu den subjektivistischen zählen all solche, die Kultur primär als Gesamtheit von nicht-objektiven Einstellungen
und Überzeugungen sehen. Ein Beispiel dafür gibt v. Pechmann hier in
diesem Heft, indem er Kultur als das „unverfügbar Innere“ oder das
„Dispositiv“ interpretiert.21
Kulturessentialisten verwenden stets einen expansiven Begriff von Kultur,
lassen sich also in der zweiten Gruppe wiederfinden22. Prinzipiell sind Fra20
21
Siehe dazu den Artikel von M. Knoll in diesem Heft.
Zwischenformen objektivistischer und subjektivistischer Konzepte sind in letzter Zeit
im Zusammenhang mit dem Wittgensteinschen Konzept der „Lebensform“ entstanden.
22 Daraus folgt, dass ich, Kulturessentialisten kritisierend, einen Begriff von Kultur favorisiere, der sich in der ersten Gruppe wiederfinden lässt. Attraktiv erscheint mir Luhmanns Begriff des kulturellen Systems, wobei ich den metaphysischen Ballast von systemischer Geschlossenheit und Autopoiesis abwerfen würde.
54
Wolfgang Melchior
gen der Ontologie unentscheidbar und sind pragmatisch zu lösen: ob Kultur wirklich in einem platonischen Himmel unabhängig von ihren subjektiven wie objektiven Instanzen existiert oder nicht, mögen andere entscheiden. Etwas anderes ist es jedoch, was daraus gefolgert wird – und da „hört
der Spaß auf“. Wer Kultur zu einer eigenen, irgendwelche Dinge hervorbringenden Substanz hypostasiert (z.B. einer „semantischen Maschine“), entzieht sie a priori und prinzipiell zwei dimensionalen Betrachtungsweisen:
1. einer historischen: Kultur als Substanz existiert ewig und invariant. Das widerspricht jedoch all unseren Erfahrungen mit und in der Kultur und auch
sämtlichen Ergebnissen der Kulturwissenschaften. Kultur selbst ist sehr
wohl historischen Änderungen unterworfen.
2. einer ethischen: wenn Kultur unabhängig von Handlungsträgern existiert,
ist sie auch als Ganzes deren Verantwortung und der Veränderbarkeit
entzogen. Mit den Kulturessentialisten – das Rad der Geschichte zurückdrehend – sind wir wieder dort angekommen, wo wir Ende des letzten
Jahrhunderts waren: westliche Kultur besteht aus „Herrenmenschen“ und
der/die „NegerIn“ ist nun mal ein Sklavenmensch – egal, was der/die
einzelne will und tut..
3.3 Missing link: Warum Kampf oder Konflikt?
Die Konfliktthese kommt in der Regel in zwei Spielarten daher:
a. entweder Kulturen stünden prinzipiell miteinander im Konflikt oder
b. Kulturen führten einen andauernden Selbstbehauptungskampf.
Oben hatte ich die kulturelle Konfliktthese mit dem Fehlen einer Theorie
der Verteilungsgerechtigkeit – also innertheoretisch – erklärt. Das Argument besagte, dass Kulturessentialisten infolge ihrer eigenen Prämissen zu
einem Begriff des Kampfes der Kulturen kommen müssen. Sehen wir uns
die Prämissen genauer an: die Akteure des Verteilungsspiels bei Kulturessentialisten sind selbstgenügsame, geschlossene, partikulare Einheiten, die
sich plötzlich in einer Welt wiederfinden und daher keine Verfahren zur
Schlichtung dieser Konflikte besitzen. Dies Argument der Kulturessentialisten ist stimmig und klingt prima facie plausibel.
Die Struktur meiner Gegenargumente ist empirischer und prinzipieller
Art. Im ersten möchte mich dem Thema Verteilungskonflikt zuwenden und
die Prämisse der „kulturellen Geschlossenheit“ aufgreifen. Prinzipiell und in
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
55
der Geschichte ablesbar gibt es wenigstens drei Möglichkeiten, in denen
Akteure eines Verteilungskonflikts miteinander umgehen können23:
1. sie haben ein gegenseitiges Desinteresse,
2. sie kooperieren miteinander,
3. sie verharren in einem andauernden Konflikt miteinander24.
Zusammengenommen mit der Geschlossenheitsprämisse würde man eigentlich eher erwarten, Kulturessentialisten entscheiden sich für Alternative
1. Denn warum sollte ein mehr oder weniger geschlossenes kulturelles System den Kampf mit anderen Kulturen aufnehmen, wenn es ständig nach
Selbstgenügsamkeit strebt?
Bestimmte – vor allem linke – Kulturessentialisten antworten darauf mit
der Bedrohungshypothese: behauptet wird, es gibt eine Kultur (die westliche), die alle anderen Kulturen – existenziell – bedroht. Abgesehen davon,
dass hier zu klären wäre was „bedrohen“ meint25, gibt es auch hier wieder
verschiedene Strategien für eine bedrohte Kultur, darauf zu reagieren:26
- sie arrangiert sich und passt sich an (Assimilation);
- sie entwickelt universalistische Theorien als Instrumente einer politischen
Auseinandersetzung (Universalisierung);
- sie versucht die Oberhoheit zu erlangen (Dominanz);
- sie isoliert sich (Isolation).
Soweit mir ersichtlich, werden diese Alternativen von Kulturessentialisten
noch nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen, was vermuten lässt, hier
gehe es nicht um empirisch-deskriptive Betrachtungen, sondern schlichtweg
um die Formulierung politisch-agitatorischer Parolen.
23 Beispiele und empirische Belege für alle Alternativen lassen sich in der Geschichte
genügend anführen.
24 Zwei Dinge sind hier anzusprechen: 1) Interessanterweise schließen genau diesen Fall
alle philosophischen und ökonomischen Theorien aus: dort gibt es immer ein Outcome,
ein Ergebnis, welches als Endbedingung dient. 2) Der Begriff des andauernden Konflikts kann an dieser Stelle nicht genauer geklärt werden. Er schließt prinzipiell sowohl
friedliche als auch kriegerische Auseinandersetzungen ein, unterstellt jedoch, dass letztlich alle andauernde Konflikte kriegerisch enden.
25 So meinen manche, die Mc-Donaldisierung sei bereits eine kulturelle Bedrohung. Für Islamisten sei – so wird fernsehweise verbreitet – westliche Musik eine kulturelle Bedrohung.
26 Siehe hierzu die Marginalitätstheorie von S. Rothman/S.R. Lichter: Roots of Radicalism, 1982.
56
Wolfgang Melchior
Die Missing links für eine Theorie des Kampfes der Kulturen ergeben sich
dann wie folgt:
- sie erklärt nicht, warum es notwendig zu Konflikten der Kulturen kommt,
wenn es – theoretisch wie empirisch – auch andere plausible Alternativen
gab und gibt;
- und sie erklärt nicht, warum es notwendig zur gewaltsamen Austragung
dieser Konflikte kommt.
4. Eine Erklärung
Aus dem Vorigen sollte klar geworden sein, dass die Geschichte kulturessentialischer Theorien bereits mit dem Kommunitarismus in den 70er Jahren und damit bereits vor dem Ende des Kalten Krieges und auch vor den
gegenwärtigen Anti-Globalisierungskonflikten27 beginnt.
Daraus könnte sich die Vermutung ergeben, es handele sich bei diesen
Theorien weniger um deskriptive als um präskriptive Konzepte. Diese
Vermutung klang bereits zuvor in der Kritik dieser Konzepte des öfteren
an. Gestützt wird sie weiterhin durch den Umstand, dass es empirisch grundsätzlich unentscheidbar ist, ob die Theorie der Autonomie des Individuums
oder die Theorie der Mitgliedschaft wahr – d.h. eine wahre
Gesellschaftstheorie – ist.
Kulturessentialisten wie Huntington könnten darauf mit dem Einwand
entgegnen, ihre Theorien seien prognostisch. Dagegen lässt sich zunächst
nichts Prinzipielles einwenden. Allerdings treten nahezu sämtliche kulturessentialistischen Betrachtungen als Empfehlungen auf, d.h. sie geben Anleitungen, wie zukünftige (politische) Handlungen auszurichten seien. Wir
kennen für dieses Phänomen einen Begriff: self-fulfilling prophecy: Kulturessentialisten empfehlen den politisch Verantwortlichen ihre Handlungen so auszurichten, als ob es den Kampf der Kulturen bereits gäbe. Die Folge ist das
aktive Betreiben von Konflikten/Kriegen unter eben dieser Losung. Möglich war und ist dies nur, weil der Kommunitarismus bereits in den 70er
Jahren dafür den Boden bereitete. Die Transponierung amerikanischkommunitärer Strukturen auf die gesamte Welt erscheint den mittlerweile
27
v. Pechmann macht diese Konflikte sogar erst Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts fest. Siehe hierzu seinen Artikel in diesem Heft.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
57
kommunitaristisch entrenched politisch Verantwortlichen als nicht allzu weiter
Schritt, ja geradezu als selbstverständlich.
Damit ist jedoch der Kampf der Kulturen keine notwendige Entwicklung
eines globalen Systems der Kulturen, also keine Eigenschaft dieses Systems,
sondern die Folge einer interessegeleiteten, intendierten Politik.28 Kulturessentialisten verwechseln damit die besonderen, politisch-ökonomischen Interessen
mit den allgemeinen Bestimmungen von Kultur.
Ergebnis sind die Entwicklungen, die wir heute beobachten: der Aufstand
indigener Gruppierungen und Gemeinschaften, die vom Verteilungsschema
a priori ausgeschlossen sind. Diese Aufstände finden jedoch nur dort statt,
wo zwei Bedingungen erfüllt sind:
1. diese Gemeinschaften müssen auf hinreichend große Kohäsionskräfte
zurückgreifen können: in der fragmentierten Kulturlandschaft Afrikas
fehlt es an solchen Kohäsionskräften; in Lateinamerika haben wir es mit
lokalen, aufflackernden Aufständen indigener Gruppierung zu tun; allein
im „Kulturraum“ Islam hat sich mit der islamistischen Strömung eine
buchstäblich schlagkräftige, mit hoher Kohäsion ausgestattete AntiGlobalisierungsbewegung entwickeln können.
2. sie müssen explizit als Gegner der westlichen Globalisten „anerkannt“,
d.h. sie müssen für sie von hegemonialem Interesse sein.
Die Ideologie dabei
Es ist sicher richtig, dass bestimmte kulturelle Handlungsregeln mehr oder
weniger die Fähigkeit besitzen, sich an die globalistischen Bedingungen anzupassen; dies setzt jedoch diese Kulturen nicht per se als kulturelle Entitäten in einen Konflikt zu anderen und macht Kulturen noch nicht zu den
Hauptakteuren globaler Verteilungskämpfe. Es ist das eine zu sagen: „Hier
sehe ich eine Gemeinschaft, deren Tradition und Geschichte diese oder jene Produktionsweisen hervorgebracht haben, und diese Produktionsweisen
lassen sie global ins Hintertreffen geraten, da der Weltmarkt nach anderen
Produktionsweisen fragt“. Das andere – wie von kommunitaristischkulturessentialistischen Theorien behauptet: „Hier sehe ich eine Gemein-
28
Mit Luhmann gesprochen könnte man sagen: nicht das System ‚Kultur’ besitzt das
Konfliktpotenzial, sondern die Systeme ‚Politik’ und ‚Ökonomie’.
58
Wolfgang Melchior
schaft, und diese steht in einer globalisierten Welt sui generis in einem Konflikt mit allen anderen Gemeinschaften“.
Was im zweiten Fall aus dem Blick gerät ist schlichtweg der Umstand,
dass es momentan ein ökonomisches System ist, das allen anderen von vorneherein die Bedingungen des Verteilungskampfes diktiert.
Die kulturessentialistischen Theorien unterstellen ein Principle of Fairness:
sie argumentieren so, als ob alle Gemeinschaften tatsächlich gleiche und
freie Ausgangsbedingungen haben29. Genau dies ist nicht der Fall.
Die ideologische fallacy des Kulturessentialismus ist – ähnlich wie im Kulturrelativismus – demnach exakt das, was er den universalistischen Theorien des Liberalismus immer vorgeworfen hat: nämlich anzunehmen, Gemeinschaften gingen von gleichen und fairen Startbedingungen aus. Während der Liberalismus dies jedoch als explizite und lediglich
methodologische Prämisse30 betrachtet, ist dies im kulturessentialistischkommunitaristischen Konzept implizit und als empirische Hypothese formuliert.
5. Die neuen ideologischen Konfliktlinien: Der Aufstand des Partikularen gegen die Universalismen und die Kritik
Die neuen Frontlinien der globalen Welt verlaufen ideologisch zwischen
Universalismus und Partikularismus. Es geht um die schlichte Frage, ob wir
in Zukunft Gemeinschaften als möglichst kleine Einheiten oder als möglichst große Einheiten schaffen wollen.
Die Vertreter partikularistischer Konzepte, die sich bis hinunter zur postmoderne Individualmonade vorgearbeitet haben, führen ins Feld, das Andere, das Nicht-Identische, das Besondere gegen das überformende Ganze
zu verteidigen. Sie betonen, dass die Geschichte universalistischer Gesellschaftstheorien – Liberalismus, Libertinismus, Sozialismus, Marxismus –
den einzelnen, statt ins Licht der Freiheit, in noch größere Knechtschaft geführt habe. Diesem Misstrauen gegen die großen Metaerzählungen nachgebend, wollen sie das Partikulare wieder in sein/ihr Recht setzen. Dazu gehöre zuallererst seine/ihre Anerkennung, zweitens das selbstzweifelnde
29
Zur Erinnerung: J. Rawls hatte damals das Principle of Fairness als theoretische Hypothese formuliert und nicht als Teil einer deskriptiven Theorie.
30 Dies meint etwa Rawls, wenn er sein System des Urzustands als Hypothese begreift.
Die Alte Weltordnung: die Neugestaltung der Welt nach Kulturen
59
Hinterfragen der eigenen Bedingungen und drittens das Ziel, das Andere
aus dessen eigenen Bedingungen heraus zu verstehen. Im Aufstand gegen
die Moderne sollen nach und nach alle universalistischen Konzepte und
Normen als falsche Ideologien entlarvt werden. Zu diesen partikularistischen Konzepten gehören alle momentan „herrschenden Paradigmen“:
- Kommunitarismus und kulturessentialistische Theorien
- Cultural Explanation Theories
- Postmoderne.
Ihre Gegner sind die universalistischen Konzepte:
- Sozialismus, Marxismus
- Liberalismus
- Libertinismus
- Kritischer Rationalismus.
Das Feld partikularistischer Theorien ist dem gemäß sehr breit gestreut,
lässt sich jedoch in zwei Gruppen einteilen:
- Der politisch korrekte Partikularismus: dieser argumentiert aus der ethischen
Position eines globalen Pluralismus und wendet sich gegen jede Art von
Hegemonialismus. Universalität wird hier dem Verdacht ausgesetzt, hegemoniale Geltungsansprüche durchzusetzen. Interessanterweise verschränken sich im politisch korrekten Partikularismus zwei Tendenzen:
die Forderung nach interkulturellem Pluralismus mit der nach intrakulturellem
Uniformismus: Das verwundert denn auch nicht, denn die pluralistische
Forderung wird erst valide, wenn hinreichend abgrenzbare kulturelle Einheiten geschaffen sind.
- Der hegemoniale Macht-Partikularismus: dieser erklärt, dass mit dem Ende
universeller Verteilungskriterien eben das Geltung besitze, was sich qua
Stärke durchsetzen lasse. Paradigmatisch wird uns dieser Partikularismus
zur Zeit von den USA um die Ohren gehauen.
Partikularistische Theorien waren angetreten, das Besondere zu schützen.
War in der partikularistischen Tradition das Besondere stets im Überformten, in der Minderheit, dem Schutzlosen – kurz: dem Gegenstand von Herrschaft – gesehen worden, wird es im kulturessentialistischen Paradigma
auch zur Rechtfertigung für Herrschaft verwendet: mit dem Ende der
Wahlfreiheit gibt es jetzt eben auserwähltes Besonderes, das qua Macht Herr-
60
Wolfgang Melchior
schaft über das Andere auszuüben berechtigt ist. Möglich wird dies nur –
und das ist entscheidend –, wo eine allgemeingültige Theorie der Verteilungsgerechtigkeit VORHER konterkariert wurde und durch eine nur mit partikularem Geltungsanspruch ausgestattete ersetzt wurde – wie im Falle der
kommunitaristischen Tradition.
Die aktuelle und uns nicht mehr lange beschäftigende Frage, ob die USA
oder die UNO als Konfliktlösungsmedium einzusetzen sei, trifft hier ins
Zentrum der Fragestellung: es geht darum, ob partikulare Interessen sich
qua Macht durchsetzen oder universelle und allgemeingültige Standards und
Verfahrensweisen zur Konfliktlösung herangezogen werden sollen.
Letztlich haben wir nur die Wahl zwischen zwei präskriptiven Pfaden: Der
partikularistische Pfad der kleinen Einheiten hat bis dato viel zu Verständnis des Anderen und Besonderen geleistet; aber er bedarf einer universalistischen Korrektur, wollen wir nicht im Kampf aller gegen alle untergehen, in
dem nur der Stärkere überleben wird. Es geht daher um eine Methodenfrage: Statt mit der prinzipiellen Verschiedenheit der Kulturen zu beginnen, sollten wir wieder mit der prinzipiellen Gleichheit der Gemeinschaften/Kulturen
starten und von diesem Prinzip aus nach allgemeingültigen, universell anwendbaren, unparteilichen, öffentlichen, einstimmigen und entscheidbaren
Kriterien suchen. Denn vom Standpunkt der Ethik ist das Besondere, wie
Talente oder Glaubensüberzeugungen, zweitrangig.31
31
Ansätze zu solch universalistischen Konzepten gibt es bereits in der interkulturellen
Philosophie. Siehe dazu H. Kimmerle: „Auf der philosophischen Seite, auf die ich mich
hier beschränke, gibt es Ansätze zu gemeinsamer Arbeit zwischen europäischen und afrikanischen Fachvertretern, die von dem Bewußtsein prinzipieller Gleichheit ausgehen.
Es geht um einen Dialog im Sinne eines geduldigen und methodisch geleisteten Aufeinander-Hörens und der Arbeit an gemeinsam interessierenden und organisierten Projekten. Eine interkulturelle Philosophie, die auf solche Weise entsteht, kann auf der Ebene
interkontinentaler Multikulturalität zu einer prinzipiellen Gleichheit beitragen, auch
wenn im ökonomisch-politischen und technologisch-zivilisatorischen Bereich Verhältnisse der Ungleichheit und der Abhängigkeit fortbestehen.“ (Multikulturelle Gesellschaft
und interkulturelle Philosophie. Bemerkungen im Anschluß an einige Studienreisen nach
Afrika südlich der Sahara, in: Widerspruch 21, 1991, 24).
Mohamed Turki
Arabische Vernunft versus Westliche
Vernunft?
Zur Rationalitätsdebatte in der
arabisch-islamischen Welt*
In der arabisch-islamischen Welt ist seit mehr als einem Jahrhundert eine
öffentliche Diskussion im Gange, die das Verhältnis der arabisch-islamischen Gesellschaften zur Moderne thematisiert. Kernpunkt dieser Diskussion ist die Frage nach der Spezifität des arabisch-islamischen Diskurses
und seiner Beziehung zum Modernisierungsprozess in Europa. Als die zwei
großen arabischen Denker, die diese Kontroverse unter dem Gesichtspunkt
des Rationalismus bzw. Säkularismus auf der einen Seite und dem des islamischen Reformismus bzw. Traditionalismus auf der anderen Seite weitgehend geprägt haben, sind Farah Antun und Muhammad Abdu zu nennen1.
Diese innerarabische Debatte sah sich dabei mit der europäisch-westlichen
Behauptung konfrontiert, dass islamische Gesellschaften sich bei ihrem
Anschluß an die Moderne schwer tun, weil der Islam ein grundlegendes
Hindernis für diesen Anschluß darstelle, da er den Rahmen der Rationalität
überspringe und sich auf der Ebene der Offenbarung bewege. Diese Behauptung, die bereits von Hegel formuliert2 und dann von den Orientalisten
– namentlich von E. Renan3 – übernommen und verbreitet wurde, hat sich
im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts im Westen, aber auch unter den a-
* Der Artikel ist in englischer Sprache erschienen in: W. Ruf (Hg), Islam and the West
Judgments, Prejudices, political Perspectives, Münster 2002.
1 T. Tizini (Hg), Farah Antun: Ibn Rushd wa falsafatuhu ma’a nusus al munazara baina
Muhammad ’Abdu wa Farah Antun, Beirut 1988; A. Flores, Secularism, Integralism and
Political Islam. The Egyptian Debate. In: Middle East Report 183, 1993, 32-38.
2 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte de Philosophie, Frankfurt/Main 1971,
Bd. 19, 518.
3 E.Renan, Averroes et L’Averroisme, essai historique, ed. Calmann Levy, Paris 1882,
VIII.
62
Mohamed Turki
rabisch-islamischen Intellektuellen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem
Islamismus fortgesetzt.4
In den letzten Jahrzehnten nun hat sich diese Debatte im Zuge der sich
deutlich abzeichnenden Islamisierungstendenzen in Staat und Gesellschaft
– die iranische Revolution und ihre Auswirkung auf die islamische Welt, die
Afghanistankriege, der Machtwechsel im Sudan und die dramatischen Ereignisse in Algerien – und in Folge des im Westen angekündigten ‚Kampfes
der Kulturen‘5 verschärft. Sie hat unter den Intellektuellen in der Frage um
Säkularisierung oder Islamisierung von Gesellschaft und Staat zur Polarisierung der Positionen geführt. Die einen sind zu Befürwortern einer radikalen
Kritik und Überwindung der hemmenden Strukturen des Islams geworden;
sie verlangen eine totale Säkularisierung der Gesellschaft als ‚historische
Notwendigkeit‘, wie etwa der ägyptische Philosoph Fuad Zakkariya6. Die
anderen treten als Verfechter einer Aufrechterhaltung des status quo bzw. einer Rückbesinnung auf die Prinzipien des islamischen Glaubens auf, die
schon die Grundzüge der Rationalität beinhalten und in ihrer praktischen
Handhabung zur Entfaltung der islamischen Kultur und Zivilisation beigetragen haben. Nach deren Verständnis verleiht der Islam der Gesellschaft
eine identitätsstiftende Prägung, die der ständigen Gefahr einer Überfremdung durch Verwestlichung und des Verlustes der eigenen Wertvorstellungen entgegenwirken kann. Diese Meinung wird gleichermaßen von den
meisten Islamisten und Traditionalisten vertreten.
Um diese beiden Positionen genauer beleuchten zu können, und zwar in
Hinblick auf die Beschaffenheit einer ‚arabischen‘ oder ‚islamischen Vernunft’, die der ‚westlichen Vernunft’ entgegenstehe, bedarf es jedoch der
Dekonstruktion und der Freilegung der jeweiligen Strukturen des Wissens
und des sittlichen Handelns innerhalb der arabisch-islamischen Kultur. Sie
zeigt, daß und wie die ihr zugrundeliegenden Paradigmen verschieden sind
und von keiner einheitlichen Instanz bestimmt werden. Um die AmbiguitäZu den Begriffen Islamismus und Fundamentalismus, siehe: A. Hartmann, Der islamische ‚Fundamentalismus‘, Wahrnehmung und Realität einer neuen Entwicklung im Islam. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 4.Juli 1997, 4 ff.
5 S.P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, Wien 1996.
6 F. Zakkariya, Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit. In: M. Lüders (Hg),
Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München 1992, 228-246.
4
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
63
ten solcher Konzepte sichtbar zu machen, wird diese Thematik im Folgenden anhand von zwei maghrebinischen Denkern erörtert und kritisch betrachtet.
1. Mohammad Abid Al-Gabiri und die ‚Kritik der arabischen Vernunft‘
Dem Anspruch einer grundlegenden Kritik am ‚zeitgenössischen arabischen
Denken‘ folgend, unternimmt es der marokkanische Philosoph Muhammad
Abid Al Gabiri, die Genese, die Struktur und die politischen Ausprägungen
dieses Denkens eingehend zu untersuchen. In Anlehnung an Kants Kritikprogramm hat er sich in den 80er Jahren mit den erkenntnistheoretischen
Paradigmen des arabisch-islamischen Diskurses auseinandergesetzt. Sein
dreibändiges Werk Kritik der arabischen Vernunft (Nakd al-’Akl al-’arabi‘) legt
sowohl die epistemischen Fundamente des arabisch-islamischen Kulturerbes als auch die Mechanismen seiner Konstituierung frei.7 Unter dem Begriff der ‚arabischen Vernunft‘ faßt Al Gabiri demnach „die Summe der
Prinzipien und Regeln, die von der arabisch-islamischen Kultur ihren Angehörigen als Grundlage zur Aneignung von Wissen geboten wird, um sich
danach als Erkenntnissystem in einer bestimmten historischen Phase zu etablieren und unbewußt fortwirken zu können“8. Es handelt sich also um
Strukturen des Denkens und Handelns, die ihre eigene Rationalität im Laufe der Zeit gewonnen haben und nicht unbedingt den Paradigmen und Kategorien der ‚westlichen Vernunft‘ entsprechen oder ihr unmittelbar entnommen sind.
Ausgehend von dieser Voraussetzung unterscheidet Al Gabiri drei verschiedene Erkenntnissysteme, die der arabischen Vernunft zugrunde liegen
und sie unterschiedlich prägen. Er kennzeichnet sie mit den drei arabischen
Begriffen: Bayan, Irfan und Burhan.
Al Gabiri, Muhammad ’Abid, Naqd al-’Aql al-’arabi (Kritik der arabischen Vernunft),
Bd. 1: Taqwin al-Àql al-’arabi, (Genese der arabischen Vernunft), Beirut 1984. (Im Weiteren unter ‚Genese der arab. Vernunft’ zitiert).
8 Al Gabiri, Muhammad ’Abid, Naqd al-’Aql al-’arabi, Bd. 2: Bunyat al Aql al Arabi, Dirasa tahlilyya naqdiyya li-nuzum al-ma’rifa fi-th-thaqafa al-àrabiyya (Struktur der arabischen Vernunft, eine analytische und kritische Untersuchung der Erkenntnissysteme in
der arabischen Kultur) Beirut 1986, 555. (Im Weiteren unter ‚Struktur der arab. Vernunft’ zitiert).
7
64
Mohamed Turki
– Bayan bedeutet das Offensichtliche. Hier ist der Begriff ein Synonym für
den offenbarten und tradierten Text (Koran und Hadith) und seine
Exegese.
– Irfan kennzeichnet die Gnosis, d.h. die Mystik und alle esoterischen Wissenschaften, die mit ihr verbunden sind.
– Burhan umfaßt alle Erkenntnisse, die der demonstrativen Beweisführung
und Begründung unterworfen sind.
1. Betrachtet man diese drei Paradigmen bzw. epistemischen Systeme näher,
so läßt sich erkennen, dass Al Gabiri unter den Begriff Bayan alles subsumiert, was mit dem tradierten Text mittelbar oder unmittelbar zusammenhängt: Sprache und Grammatik, aber auch Rechtswissenschaft und spekulative Theologie. Diese Wissensbereiche bilden ein einheitliches System, das
sich hauptsächlich auf den heiligen Text bezieht und ihn rational zu begründen versucht. So gelangt man mithilfe des Analogieschlusses vom
Sichtbaren auf das Verborgene (Qias al Schahid ’ala-al Ghaib), des Igtihad
(Bemühen um das Wissen) und des Igma‘a (Konsens) zu Erkenntnissen, die
zusammen mit den tradierten Texten die islamischen Wissenschaften ausmachen.9
Was die Genese und Entwicklung dieser Wissenschaften betrifft, so erklärt Al Gabiri, dass sie sich in den ersten drei Jahrhunderten nach der Offenbarung des Korans konstituiert haben, dass dann aber das sog. ‚Tor des
Igtihad’ geschlossen wurde und keine nennenswerten Erkenntnisse mehr
erfolgten. Man habe sich mit einer bloß formalen Handhabung des Analogieschlusses begnügt und somit die Frage der Gültigkeit der Wissensprinzipien bei ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit außer Acht gelassen. Dies
führte unter anderem zum Stillstand der hermeneutischen Exegese wie zur
Verfestigung des ‚Taqlid‘, d.h. zum Festhalten am tradierten Wissen und
seiner mechanischen Wiederholung, die zu einer Art ‚Scholastik‘ ausartete.
So gesehen, stellt der Bayan eine gewisse Rationalität religiöser Prägung
dar. Al Gabiri nennt sie ‚das religiöse Denkbare’ (Al Ma‘qul ad-dini), das im
Laufe der Zeit zum Dogma erstarrt und somit seine Gültigkeit eingebüßt
habe. Hier sieht er schon den ersten Ansatz für eine kritische Bestandsaufnahme des religiösen Diskurses einschließlich der geschichtlichen Überliefe-
9
Al Gabiri, Genese der arab. Vernunft, 335; Struktur der arab. Vernunft, 23 ff.
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
65
rung, um das kulturelle und religiöse Erbe aus dem Fanggriff des ‚Taqlid‘ zu
befreien.
2. Zur zweiten Dimension der Erkenntnis, dem ‚Irfan‘, der mit ‚Gnosis‘ übersetzt werden kann, zählt Al Gabiri vor allem die mystischen Erfahrungen des ‚Tasawif‘, das schiitische Denken und seine ismailitische Deutung
des Islams, die Illuminationsphilosophie sowie Alchimie, Zauberei und Astrologie.
All diese Arten des Wissens entspringen seiner Ansicht nach einem System, das sich zwar an die Vernunft anlehnt, jedoch keinen rationalen Prinzipien folgt, weil es sich an manichäischen und hellenistischen Vorstellungen orientiert, die ein esoterisches Wissen mit irrationalem Hintergrund bilden. Al Gabiri nennt dieses System ‚das rationale Nicht-Denkbare‘ (Al la
ma‘qul al ’aqli), da es sich um ein Produkt des menschlichen Denkens handelt, das sich mit der religiösen Tradition vermischt hat und eine Zwischenstufe zwischen Offenbarung und rationalem Wissen einnimmt.10 – Diese
Einschätzung teilt er übrigens mit der Islamwissenschaftlerin A. Schimmel,
für die ebenfalls „nicht intellektuelles Wissen ... das letzte Ziel der Sufis,
sondern existentielle Erfahrung“ sei, und die in Bezug auf die theologischen
Traktate hinzufügt, die Sufis wüßten, „dass es nicht auf die schwarzen
Buchstaben ankam, sondern darauf, ‚das Weiße zwischen den Zeilen zu lesen’, d.h. den inneren Sinn der Worte, wie er von Generation zu Generation
weiter gegeben wurde, zu erfassen“.11
Aufgrund der Unklarheit der Prinzipien und des eklektischen Charakters
ihrer Bestimmung werden die auf den ‚Irfan‘ gegründeten Erkenntnisse von
Al Gabiri scharf angegriffen und für nicht nachvollziehbar gehalten. Er
rechnet sie deshalb nicht zu den ‚genuin islamischen Wissenschaften‘. Im
Gegenteil, sie haben nach seinem Verständnis in besonderem Maße zum
Verfall der arabischen Vernunft beigetragen. Insofern erscheint es ihm als
dringlicher denn je, sich von diesem Paradigma zu trennen und sich den
wissenschaftlich nachprüfbaren und apodiktischen Prinzipien zuzuwenden,
die den heutigen Gegebenheiten Rechnung tragen.
3. Beim dritten epistemischen Erkenntnissystem, dem Burhan, handelt es
sich um „ein Wissen, das ausschließlich dem geistigen Vermögen des Men10
11
Al Gabiri, Struktur der arab. Vernunft, 253 ff.
A.Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 2000, 9.
66
Mohamed Turki
schen und seiner natürlichen Kräfte entspringt“.12 Es umfasst die gesamten
Wissenschaften, welche die arabische Kultur vom griechischen Gedankengut übernommen und weiterentwickelt hat. Diese sind vor allem die Mathematik und Naturwissenschaften, Astronomie und Medizin, aber auch die
Logik und Metaphysik, d.h. all jene Wissensbereiche, die der logischen Beweisführung und der empirischen Erfahrung unterworfen sind. Al Gabiri
bezeichnet das auf dem ‚Burhan‘ gegründete System als ‚das rationale Denkbare‘ (al Ma‘qul al ’aqli), da es auf rationalen Prämissen aufgebaut ist, und
seine erkenntnistheoretischen Ergebnisse mit Hilfe empirischer Experimente nachgeprüft werden können.13
Diese rationale und kritische Betrachtungsweise verfolgt Al Gabiri bis zu
ihren Wurzeln in der Philosophiegeschichte und den islamischen Wissenschaften zurück. Er kommt zum Schluß, dass sie bereits im philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Feld des andalusischen und maghrebinischen Denkens von Ibn Hazm, Ibn Rushd und Ibn Khaldun vorliegt.
Sie müsse jedoch mit den gegenwärtigen wissenschaftlichen Methoden in
Einklang gebracht werden, um wieder in Geltung zu kommen.
Hier liegen zweifellos die Präferenzen Al Gabiris, der in diesem letzten epistemischen Paradigma die Bedingungen für eine rationale und kritische
Analyse des gesamten arabischen Kulturerbes für gegeben hält und sie als
Möglichkeit zur Überwindung der Krise, in der sich das arabisch-islamische
Denken gegenwärtig befindet, in den Blick nimmt.
Die Voraussetzung einer solchen Überwindung ist für Al Gabiri jedoch
der epistemologische Schnitt (la coupure épistémologique), der bei der Aneignung und Lektüre des Kulturerbes mit der Struktur der arabischen Vernunft im Zeitalter des Verfalls und mit ihren Ausläufern im zeitgenössischen Denken vollzogen werden müsse. Denn die bisherigen Versuche seien aufgrund ihrer veralteten und unkritischen Verfahrensweise gescheitert.
Es sei deshalb notwendig, einen neuen methodischen Ansatz in Angriff zu
nehmen, der sich am Modell der modernen Wissenschaften anlehnt und
diese Aufgabe im Rahmen der Geisteswissenschaften zu erfüllen vermag.
Dieser – von G. Bachelard für die Naturwissenschaften verlangte und dann
von den Strukturalisten wie M. Foucault und L. Althusser auf die Gesell12
13
Al Gabiri, Struktur der arab. Vernunft, 384.
Al Gabiri, Genese der arab. Vernunft, 334.
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
67
schaftswissenschaften angewandte – ‚epistemologische Schnitt’ wird von Al
Gabiri als alternative Interpretationsmethode herangezogen, um die gesamte arabische Geistesgeschichte zu untersuchen und dadurch die Strukturen
der arabisch-islamischen Vernunft zu dekonstruieren. Dazu fordert er als
ersten Schritt, Abschied vom bisherigen Erkenntniskriterium des Analogieschlusses bei der Beurteilung und Betrachtung der eigenen Geschichte zu
nehmen: es darf keine Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft, dem
Analogieschluß vom ‚Sichtbaren‘ auf das ‚Verborgene‘ gemäß, erfolgen.
Stattdessen müsse die Vergangenheit auf ein bloßes Untersuchungsobjekt
der Geschichtswissenschaft reduziert und dürfe nicht weiterhin zum Modell
für die Gestaltung der Zukunft gemacht werden. Gleichzeitig dürfen die zur
Analyse herangezogenen Texte nicht allein nach ihrer Bedeutung befragt
werden, sondern müssen auch nach der ideologischen Funktion untersucht
werden, die sie vermittelt haben. Sie können so Auskunft über das Denken
in ihrer Entstehungszeit geben und so einen Beitrag zur Geschichtskenntnis
liefern. Denn heute, so Al Gabiri, gehe weniger um den Wahrheitsgehalt
des mittelalterlichen Geisteserbes als vielmehr um den ideologischen Hintergrund, in dem sich zugleich eine politische Aussage verbirgt.
Aus diesen Thesen läßt sich der Schluß ziehen, daß Al Gabiris Projekt einer Kritik der arabischen Vernunft das Ziel verfolgt, nicht allein die traditionellen Strukturen des arabisch-islamischen Denkens und Wissens aufzudecken
und zu beleuchten, sondern zugleich eine Erneuerung der Denkweise der
zeitgenössischen arabischen Intellektuellen einzuleiten, deren Tragweite im
hermeneutischen Verfahren der Lektüre des Kulturerbes sichtbar wird. Es
geht ihm also, um mit Kant zu sprechen, um eine Neubegründung der
Denkungsart, die allerdings nicht, wie bei Kant, im Allgemeinen verfolgt
wird, sondern auf das Feld der arabisch-islamischen Geistesgeschichte eingeschränkt ist. Al Gabiri zieht dabei keine Parallelen zu anderen Modellen
des Denkens wie etwa der Aufklärung oder der Postmoderne; er fragt vielmehr nach den Bedingungen und Ursachen des Verfalls eines Denkens wie
des arabisch-islamischen, das vormals die höchste Stufe der Rationalität erreicht hatte.
Der Erfolg dieses Vorhabens hängt freilich vom Grad der Bereitschaft der
arabischen Intellektuellen ab, sich neue wissenschaftliche Interpretationsmethoden anzueignen und sie kritisch anzuwenden. So schreibt er am
Schluss des zweiten Bandes seines Werkes: „Der Erfolg der Erneuerung –
68
Mohamed Turki
Tahdith – der arabischen Vernunft und der Neubegründung des islamischen Denkens, um die wir uns bemühen, hängt nicht nur davon ab, in
welchem Umfang wir die zeitgenössischen Wissenschaften und methodischen Errungenschaften vor und auch nach dem 20. Jahrhundert adaptieren, sondern wohl in erster Linie davon, inwieweit wir in der Lage sind, die
kritische Haltung Ibn Hazms, den Rationalismus Ibn Rushds, die Prinzipienlehre Ashshatibis und das Geschichtsbewußtsein Ibn Khalduns wiederzuerlangen. Diese rationalistischen Tendenzen sind für uns unerläßlich,
wenn wir unsere Beziehung zu unserem Erbe auf eine Weise neu definieren
wollen, die es uns ermöglicht, uns dergestalt darin einzubinden, dass Raum
für Kreativität (Ibda‘) geschaffen wird, für eine Kreativität der arabischen
Vernunft innerhalb der Kultur, in der sie sich herausgebildet hat. Ohne den
kritisch-rationalistischen Umgang mit unserem Erbe werden wir keinesfalls
in der Lage sein, dem Rationalismus in unserem zeitgenössischen arabischen Denken, das bald als ‚fundamentalistisch‘ (Usuli), bald als ‚salafitisch‘
charakterisiert wird, breiteren Raum zu verschaffen“.14
So betrachtet, scheint Al Gabiri den schon geebneten Weg des Rationalismus erkenntnistheoretisch wie ideologisch einzuschlagen und konsequent
voranzutreiben. Dies wird noch offensichtlicher bei seiner Kritik am
Mißbrauch des Islams durch den religiösen Extremismus bzw. Islamismus.
So machte in einem Beitrag für die schweizerische Zeitschrift ‚du‘: Islam und
Extremismus, die missbrauchte Irrationalität deutlich, wie der religiöse Extremismus mit der Lehre des Islams selektiv vorgeht, indem er bei seiner Bezugnahme auf die Lehre oder ihre Begründung den historischen Kontext
außer Acht läßt. Er schließt: „Der Extremismus, unter dem die islamische
Welt heute leidet, hat nichts mit dem Islam zu tun. Auch wenn seine Parolen dem Islam entnommen sind. Dieser Extremismus wendet die Religion
nur zum Erreichen politischer Ziele an. Deshalb müssen Ursache und Lösung des Extremismus auch in der Politik gesucht werden.“15 – Al Gabiri
stimmt darin mit der Orientalistin A. Hartmann überein, wenn sie schreibt:
„Nicht der Islam selbst, sondern die herrschenden politischen Strukturen
und wirtschaftlich-sozialen Ungleichgewichte regionalen und globalen Zu14 Al Gabiri, Struktur der arab. Vernunft, 552. Zit. nach: A.v. Kügelgen, Averroes und
die arabische Moderne, Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam,
Leiden 1994, 270.
15 Du. Die Zeitschrift der Kultur, Zürich 1994, 153.
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
69
schnitts stellen das Haupthindernis auf dem Weg zur Herstellung von Menschenrechten und Demokratie in der islamischen Welt dar. Nicht der Islam
selbst, sondern der status quo der islamischen Länder gefährden die nationale
und internationale Stabilität und damit den Weltfrieden“.16
Daraus wird ersichtlich, dass in einer Zeit der Globalisierung die Thematik
der Rationalität und der ‚Kritik der arabischen Vernunft‘ nicht losgelöst
vom globalen Rahmen verhandelt werden kann. Sie bedarf ihres Kontrapunktes, nämlich der Kritik der ‚westlichen Vernunft‘, wie sie sich in ihrer
gegenwärtigen Entfaltung und Ausprägung äußert.
2. Arkouns Ansatz zur ‚hegemonialen Vernunft’
Die Aufgabe einer kritischen Beleuchtung auch der ‚westlichen Vernunft‘
hat bereits der inzwischen emeritierte algerische Professor für ‚islamische
und Ideengeschichte‘ an der Sorbonne, Mohammed Arkoun, in Angriff genommen. In seinem Beitrag ‘Westliche‘ Vernunft kontra ‚islamische‘ Vernunft?
Versuch einer kritischen Annäherung vertritt Arkoun die These, dass die gegenwärtig herrschende Rationalität des Westens im Grunde nichts anderes als
das Zeichen einer hegemonialen Vernunft sei, welche die Welt geopolitisch
und geohistorisch unterteilt, um sie zu beherrschen. Nach der römischen
Maxime ‚divide et impera’ habe sie die Welt in ein Zentrum und eine Peripherie geteilt, wobei der Westen mit seiner technologischen und industriellen
Entwicklung sowie seiner polit-ökonomischen Macht das Zentrum bildet,
während die übrige Welt zur marginalisierten Peripherie gehört.
Diese Dichotomie scheint für die Vernunft gleichfalls zu gelten, wenn sie
in eine ‚westliche‘ und eine ‚islamische‘ unterteilt und dabei dem Westen die
Rationalität zugerechnet wird, dem Islam hingegen der Irrationalismus. So
jedenfalls hat S. Huntington es eingeschätzt,17 der dem ‚westlichen Universalismus‘ den Rest der Welt, speziell den ‚Islam und China‘, gegenüberstellt.
Für Arkoun sind solche Zuordnungen jedoch unsachgemäß und unzutref-
16 A. Hartmann, Islam und Islamismus contra Demokratie? Einführung und Fragen zum
politischen Denken im Islam. In: B-O. Bryde, H. Dubiel, C. Leggewie (Hg), Triumph
und Krise der Demokratie, Vorlesungen, Gießen 1995, 154.
17 S. Huntington, Kampf der Kulturen, a.a.O., 294 ff. Eine kritische Einschätzung des
Buches gibt D. Senghaas in: Die fixe Idee vom Kampf der Kulturen. In: Blätter für
deutsche und internationale Politik 2/1997, 215-221.
70
Mohamed Turki
fend, weil sie genau so wenig wie auch die Gegenüberstellung von ‚säkularem’ und ‚religiösem’ Denken den Kern des Problems erfassen.
Was unter die Begriffe der ‚Moderne’ oder der ‚Rationalität’ heute subsumiert wird, bezeichnet Arkoun als die entfesselte Kraft der hegemonialen Vernunft, die zwar dem Westen als dem Zentrum der Macht „Fortschritt aus
Technologie und Produktivität, Industrialisierung und Geldstreben“ beschert, aber zugleich den Rest der zur Peripherie herabgestuften Welt wirtschaftlich ausbeutet, militärisch unterjocht und sie am Anschluß an die ‚Gutes verheißende‘ Moderne hindert. Denn die Werte, die die Moderne im
Zuge der Aufklärung hervorgebracht hat, wie Emanzipation und Freiheit,
die Menschenrechte und den wissenschaftlichen Fortschritt, sind der Peripherie erst vorenthalten und danach nur bedingt weitergegeben worden.
Arkoun verlangt deshalb eine Revision der Paradigmen, die unsere Denkweise bestimmen, damit die Sachzusammenhänge genauer erkannt werden
und gegen solch dualistisches Denken vorgegangen werden kann. „Um die
Gewalttätigkeit zu verstehen, die unser Jahrhundert (das 20. Jhdt., M.T.) erschüttert hat, müssen wir ohne falsche Rücksichtnahme und frei von Polemik die wirksame Kraft der hegemonialen Vernunft zu verstehen versuchen“.18
Das heißt: die der Rationalität innewohnenden Strukturen und sie begleitenden negativen Mechanismen müssen aufgedeckt und analysiert werden,
um die historische Wahrheit wiederherstellen zu können.
Dieser Entwurf ist nicht neu; Arkoun hat daran seit Jahrzehnten gearbeitet. So schrieb er schon 1973 in seinem Buch „Essais sur la pensée islamique“ unter der Überschrift L’islam face au développement: „Die wahre wissenschaftliche Forschung besteht darin, die wirklichen Probleme zu stellen, und
nicht so sehr darin, kurz- oder langfristige Lösungen zu entwerfen“.19 Er
spricht hier von den ‚faux problèmes‘, die seit den 50er Jahren im Zuge der raschen technologischen und industriellen Entwicklung und der Vertiefung
der Kluft zwischen Zentrum und Peripherie entstanden sind. Sie drücken
sich in den Gegensätzen aus wie: entwickelt-unterentwickelt, fortschrittlichrückständig, reich-arm, Westen-Dritte Welt. Aus eben diesen Korrelationen
18 M. Arkoun, „Westliche“ Vernunft kontra „islamische“ Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung. In: Der Islam im Aufbruch, a.a.O., 264.
19 M. Arkoun, Essais sur la pensée islamique, Paris 1973, 297. (Im Weiteren als ‚Essais’
zitiert.)
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
71
lassen sich die falschen Bezeichnungen und Stereotypen wie ‚westlichearabische‘ oder ‚rationale-islamische’ Vernunft ableiten.
Zur Überwindung solcher Denkschemata schlägt Arkoun einige Bedingungen vor; unter anderem die Aufhebung der Korrelation ‚OrientOkzident’, die wissenschaftliche Aufarbeitung der verschiedenen Schichten
der islamischen Tradition sowie die genauere Betrachtung der dialektischen
Wechselwirkung von wirtschaftlicher Entwicklung und kultureller Entfaltung. Das Instrumentarium für seine Methode entnimmt er der angewandten bzw. strukturalen Anthropologie und der Linguistik, die dem postmodernen Dekonstruktivismus den Weg geebnet haben.
Aufgrund der genannten Postulate und der neuen wissenschaftlichen Vorgehensweise kann das erkenntnistheoretische Feld nicht mehr linear bearbeitet werden. Es bieten sich vielmehr mehrere Dimensionen an, die das
Objekt der Betrachtung näher beleuchten können. So erweist sich z.B. der
gegenwärtige epistemologische Schnitt, der zwischen der westlichen und der islamischen Welt besteht, nicht als das Zeichen einer kulturellen Differenziertheit, sondern spiegelt die Distanz zwischen den Völkern des postindustriellen Zeitalters und den noch an archaischen Strukturen festhaltenden
Gesellschaften wider.20 Auf diese Weise gelangt man über die soziopolitischen, ökonomischen und historisch-anthropologischen Analysen zu differenzierteren Ergebnissen und Schlußfolgerungen als mit dem dualistischen
Prinzip.
Was die Korrelation von ‚westlicher‘ und ‚islamischer‘ Vernunft betrifft, so
betont Arkoun, dass beide Vernunftarten denselben Anspruch auf Hegemonie erheben: „Die islamische Vernunft, in ihrer theologisch-juristischen
Ausprägung des 7. bis 13. Jahrhunderts, war ihrerseits eine hegemoniale
Kraft wie auch die christliche Vernunft jener Zeit“.21 Sie galt als Herrschaftsinstrument, dessen man sich bediente, um machtpolitische Ziele
durchzusetzen. Wenn daher Islamisten oder andere Intellektuelle heute auf
jene Vernunft des sog. ‚goldenen Zeitalters’ Bezug und sie für sich in Anspruch nehmen, dann geschieht dies nach derselben Logik, mit der sich die
‚westliche Vernunft’ behauptet. Mit Arkouns Worten: „Die ‚islamische‘
Vernunft der Gegenwart erhebt den Anspruch, die an den Westen verlore20
21
M. Arkoun, Essais, 308.
M. Arkoun, „Westliche“ Vernunft kontra „islamische“ Vernunft?, a.a.O., 269.
72
Mohamed Turki
ne Hegemonie zurückzugewinnen“22 – auch wenn ein solcher Anspruch
unter den gegebenen Umständen jeglichen Realitätsbezugs entbehrt und so
auf den negativ utopischen Charakter der Weltanschauung seiner Vertreter
hindeutet.
Aus diesem Grund tritt Arkoun für eine kritische Vernunft ein, welche an
jeder Art hegemonialer Vernunft Kritik übt, um damit ein neues Verständnis
vom Menschen wie von der Gesellschaft und Religion zu ermöglichen.
„Kritische Vernunft meint Beseitigung jedweder Hegemonie, sei es im
theologischen, juristischen, ökonomischen oder politischen Bereich“.23 Eine
radikale Kritik der islamischen Vernunft könne daher nicht allein die Aufgabe haben, die fremdbestimmenden Strukturen der Gesellschaft aufzudecken und zu entlarven, sondern müsse ebenso die internen hemmenden
Mechanismen ans Licht bringen und zu überwinden trachten.
In dieser Hinsicht fällt unter seine Kritik auch Al Gabiris Ansatz einer
‚Kritik der arabischen Vernunft‘, der sich von der Last hegemonialer Vernunft
offenbar noch nicht befreit hat und der Faszination des arabischen Kulturerbes erlegen ist. Sie impliziert zudem eine klare Absage, avant la lettre, an
all jene neuen Ideologen, die, wie S. Huntington, den ‚Kampf der Kulturen‘
predigen und dabei die eigene Vernunft nicht nur zum Maß aller Dinge erheben, sondern sie auch verherrlichen und mit allen Mitteln zu verwirklichen trachten.
Ohne direkt Bezug darauf zu nehmen, knüpft Arkoun an Traditionen der
‚Kritischen Theorie‘ der ‚Frankfurter Schule‘ an. Sein Ansatz einer nichthegemonialen Vernunft erinnert an das Programm der Dialektik der Aufklärung, das von Th.W. Adorno und M. Horkheimer eingeleitet wurde und im
späteren Werk des letzteren Zur Kritik der instrumentellen Vernunft24 besonders
deutlich zum Ausdruck kam. Dennoch überwiegt in Arkouns methodischer
Vorgehensweise die ‚Dekonstruktion‘ der postmodernen Denker, die sich
eingehend mit den Mechanismen und Machtstrukturen von Diskursen befaßt haben.
Ebenda, 269.
Ebenda, 268.
24 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt/Main 1967.
22
23
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
73
3. Metakritische Bemerkungen
Es ist das unverkennbare Verdienst der beiden Denker, sich um die Diagnose der gegenwärtig herrschenden Vernunft zu bemühen. Sie haben die
Mechanismen der hegemonialen Vernunft sowohl im Allgemeinen, d.h. im globalen Maßstab, wie im Besonderen, im zeitgenössischen arabischen Denken, aufgedeckt und kritisiert. Al Gabiri wie Arkoun weisen auf die bestehende Krise der Rationalität samt ihren unterschiedlichen Ursachen und
negativen Auswirkungen hin. Dennoch sind die von ihnen vorgeschlagenen
Modelle zur Überwindung dieser Krise nicht gänzlich überzeugend, weil sie
jeweils innerhalb eines monistisch konstruierten Denkmodus erfaßt worden
sind, der für sich selbst Wahrheit beansprucht und infolgedessen andere
Modelle ausschließt.
So setzt sich Al Gabiri mit der Frage der Rationalität im arabischislamischen Denken und Kulturerbe auseinander mit dem Ziel, eine Dichotomie zwischen dem Denkmodus des Maschreqs und dem des Maghrebs zu
konstruieren und daraus eine rationale Überlegenheit des letzteren gegenüber dem ersten abzuleiten. Dieses Verfahren schließt jedoch einen nicht zu
unterschätzenden Teil des rationalistischen Kulturerbes im Islam aus, der
im Maschreq entstanden und auch für die philosophische und wissenschaftliche Ausrichtung im Maghreb grundlegend gewesen ist. Das deutlichste
Beispiel hierfür ist die systematische Aufarbeitung der aristotelischen Werke
durch Al Farabi, der ‚der zweite Lehrmeister‘ (nach Aristoteles) genannt
worden ist, bevor beide von Ibn Ruschd ausführlich gelesen und kommentiert wurden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn der erste Herausgeber der Schriften von Al Farabi, der Orientalist F. Dieterici, diesen zum eigentlichen Begründer der arabisch-islamischen Philosophie erhoben25 und
sein Werk gebührend gewürdigt hat.
Auch wäre die Kritik der andalusischen und maghrebinischen Denker wie
Ibn Baga, Ibn Tufail oder Ibn Ruschd an den Widersachern der philosophischen Anschauungen aus dem Raum des Maschreqs ohne die Bezugnahme
auf deren Werke und Wirken nicht erfolgt. Denn die wichtigsten philoso25 F. Dieterici, Al Farabi als Begründer der arabischen Philosophie. In: Al-Farabis Abhandlung ‚Der Musterstaat‘ aus Londoner und Oxforder Handschriften, hg. und übertr.
von F. Dieterici, Nachdruck der Ausgaben von Leiden 1895 und 1900, Hildesheim, Zürich, New York 1985.
74
Mohamed Turki
phischen Hauptschriften von Ibn Ruschd sind als direkte oder indirekte
Repliken der Schriften von Ibn Sina und Al Ghazali auf der Basis rationaler
Argumentation und Demonstration konzipiert und verfasst worden. Daher
kann, was Al Gabiri leider nicht beachtet, die rationale Beweisführung weder methodisch noch erkenntnistheoretisch einseitig für das maghrebinische
Denken beansprucht werden. Sein falscher Monismus führt ihn infolgedessen zu einer eindimensionalen Lektüre des arabisch-islamischen Kulturerbes, die weniger der Wahrheitsfindung als der Ideologie dient.26
Anders als Al Gabiri bemüht sich Arkoun bei der Behandlung dieser
Problematik um eine kritische Distanz gegenüber den von ihm fokussierten
Paradigmen. Sie gelingt ihm zum Teil auch bei seiner Analyse und Kritik
der ‚islamischen Vernunft’, da er die Spezifische einer solchen Vernunft
nicht zu definieren unternimmt, sondern ihre Besonderheit vielmehr auf
dem Hintergrund eines bestimmten Ensembles von Inhalten sprachlicher,
religiöser und kultureller Provenienz herausstellt. Er kommt deshalb zum
Schluß, dass „eine radikale Kritik der islamischen Vernunft nicht zu trennen
ist von der Analyse hegemonialer Strukturen in den islamischen Gesellschaften“.27
Allerdings beschränkt sich Arkoun auf die negativen Felder der islamischen Vernunft und deren Problembereiche, ohne sie jedoch in Beziehung
zur ‚westlichen Vernunft’ zu bringen, die ihrerseits die ‚islamische Vernunft’
als eine Herausforderung für sich und ihre Wertvorstellungen beurteilt. Insofern bleiben seine Betrachtungen auf der Ebene einer kritischen Bestandsaufnahme der vorherrschenden Strukturen islamischer Vernunft stehen, anstatt auch Lösungen für die Aufhebung der hegemonialen Mechanismen in beiden Modellen zu entwickeln. Auch wenn er am Ende seines
Aufsatzes die Frage aufwirft: „Was ist zu tun? Welche Haltung kann die
Vernunft in einem Umfeld voller dramatischer Herausforderungen einnehmen?“, so antwortet dann doch bloß in der Form eines Appells an die islamischen Intellektuellen, ihren Beitrag zur Verwirklichung eines neuen historischen Modells zu leisten, „das den Hoffnungen und Sehnsüchten von
26 A.v. Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne, a.a.O., 280 ff. – Die Autorin
fasst in ihrer Studie die wichtigsten kritischen Einwände gegen Al Gabiris Interpretation
seitens der zeitgenössischen arabischen Intellektuellen zusammen.
27 M. Arkoun, „Westliche“ Vernunft kontra „islamische“ Vernunft?, a.a.O., 271.
Arabische Vernunft versus westliche Vernunft?
75
Menschen unterschiedlicher Kulturen glaubwürdig Rechnung trägt“.28 Er
bleibt so hinter den von ihm zuerst gestellten Erwartungen zurück.
Bereits 1973 hatte Arkoun in dem schon erwähnten Artikel L’islam face au
développement diese grundsätzliche Frage aufgeworfen: „Wie lassen sich dem
menschlichen Geist die Bedingungen und die Mittel zur permanenten Wiedergewinnung seiner Freiheit sichern, die von einer ständigen Überwindung
der Formen, der Rahmen, der Themen, der Bedeutungen, der Verfahren
und der Stile ausgeht, welche eine Tradition, d. h. einen Ort der Wiederholung, der Aufbewahrung und der Eingeschlossenheit, zu konstituieren versuchen?“29 Hier scheint Arkoun nach den Bedingungen der Möglichkeit für
eine Befreiung des menschlichen Geistes von den ihm auferlegten Zwängen
zu fragen, die er als Grundvoraussetzung für die Emanzipation des Menschen schlechthin versteht. Aus dieser Sicht aber werden Paradigmen wie
die einer ‚westlichen‘, ‚arabischen‘ oder ‚islamischen Vernunft’ als bloß ideologische Konstrukte wahrgenommen und entsprechend widerlegt, weil
sie von den jeweiligen geographischen, historischen und politischen Positionen des Benennenden abhängig sind und einen Ausschlußcharakter für
diejenigen implizieren, die nicht dazugehören. Hier formuliert Arkoun ein
Vorhaben, das nicht nur in der Kritik an den bestehenden und herrschenden Strukturen besteht, die die Vernunft an einen bestimmten Ort oder an
eine gewisse Tradition binden und einschließen, sondern fordert deren radikale Überwindung. Es gleicht Kants Aufsatz Zur Beantwortung der Frage:
Was ist Aufklärung? vor mehr als zwei Jahrhunderten. Und genauso wie in
dieser Schrift geht es auch heute noch um die Befreiung der Vernunft aus
der selbst verschuldeten wie fremdbestimmten Unmündigkeit, deren Bedingungen freilich der jeweiligen Situation angepaßt sein müssen.
Im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierung der Wirtschaftssysteme und
der medialen Vernetzung wirkt die ‚westliche‘ Vernunft zwar weiterhin als
hegemonial; aber sie fordert zugleich die Menschheit zu einem globalen
Denken heraus, das weder monistisch noch dualistisch verfahren darf, sondern das sich interkulturell entfaltet und globale Lösungen für die brennenden Menschheitsprobleme sucht. Dieses Denken kann den Dialog zwischen
den Kulturen ebenso fördern wie es die Interaktion der verschiedenen
28
29
Ebenda, 274.
M. Arkoun, Essais sur la pensée islamique, a.a.O., S.305, (H.v.m.).
76
Mohamed Turki
Denksysteme vorantreibt, so dass aus ihm keine hegemoniale Vernunft
mehr entspringt, sondern eine universale, aus ethischer und ‚geschichtlicher
Verantwortung‘30 handelnde Vernunft entsteht, die angesichts der ‚neuen
Welt-Un-Ordnung‘31 die Menschheit sowohl vor einem ‚Kampf der Kulturen‘ als auch vor einer planetarischen Bedrohung zu retten trachtet. Sie mag
heute als Utopie erscheinen; dennoch gehört das Vertrauen in einen solchen
Wandel der Vernunft zur Leitidee des ‚Prinzips Hoffnung‘.
Anzeige
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Nr.38
Ökologische Ästhetik
Konrad Lotter:
Traditionelle und ökologische
Naturästhetik
Jost Hermand:
Ökologiebewußte Ästhetik
Norbert Walz:
Die Erlösung der Natur
Wolfgang Thorwart:
Der moderne Künstler
Manuel Knoll:
Zu Michel Foucaults Genealogie
des modernen Subjekts
Wolfgang Habermeyer:
Für einen Lehrer
... und viele Rezensionen philosophischer Neuerscheinungen
erhältlich in allen uni-nahen Buchhandlungen
Preis: 6.- EUR
30 W. Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung, Wegbahnungen
zur praktischen Philosophie, Würzburg 1999, 25.
31 W. Ruf, Die neue Welt-Un-Ordnung, Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der Souveränität der „Dritten Welt“, Münster 1994.
Charme I.
Sucharewicz
Die israelische Entwicklung –
multikulturelle Gesellschaft und
übergeordnete Kultur
„Wenn anderswo ein Mensch plötzlich zu gackern beginnt,
nimmt man an, dass er den Verstand verloren hat. In Israel
nimmt man an, dass er ein Neueinwanderer aus der südlichen
Mandschurei sei, der sich in seiner Muttersprache verständlich
zu machen sucht. Und wenn er sich Spinat in die Haare
schmiert, darf man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es
sich hier um eine alte bolivianische Volkssitte handelt.“
Ephraim Kishon
Für ein gewisses Land eine bestimmte Kultur festzulegen, ist immer ein
schwieriges Unterfangen; denn je nach Interpretation fällt die Definition
von Kultur anders aus. Besonders schwierig freilich ist die Darstellung der
israelischen Kultur; denn der junge Staat ist von den unterschiedlichsten
traditionellen, religiösen, nationalen und ideologischen Einflüssen geprägt.
Trotz dieser Schwierigkeiten wird im folgenden versucht, die israelische
Kultur zu charakterisieren, um Einsicht in aktuelle Tendenzen der israelischen Gesellschaft zu gewinnen. Die zentrale Fragestellung: „Multikulturelle Gesellschaft oder übergreifende Kultur“ wird im letzten Teil mit: „beides“ beantwortet. Eine eindeutigere Antwort läßt die gegenwärtige Situation
in Israel nicht zu; denn das Land spaltet sich weder in kleine Gruppen auf,
noch hat sich eine einheitliche Kultur herausgebildet, welche die Unterschiede der Einwanderer gänzlich aufheben würde.
1. Historischer Rückblick
Unter der osmanischen Herrschaft lebten in Palästina, im sog. „Alten Yishuw“, bereits vereinzelt Juden. Sie waren hauptsächlich Jemeniten, die vor
Repressalien geflohen oder religiösen Wortführern ins ‚Heilige Land’ gefolgt waren, um dort auf die messianische Erlösung zu warten. Die ersten
organisierten Einwanderungswellen werden von Historikern verschieden
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Charme I. Sucharewicz
datiert und in ihrem Ausmaß unterschiedlich eingeschätzt. Nach vorherrschender Meinung wird als Beginn der ersten großen Einwanderungswelle,
der ersten Aliya, die durch antijüdische Pogrome in Russland ausgelöst
wurde, das Jahr 1881 angegeben. Außer osteuropäischen Juden wählten in
dieser Zeit auch arabische Juden, welche gleichfalls unter ihren Regimen zu
leiden hatten, Palästina als Zufluchtsort. Die Zahl der Einwanderer in dieser
Zeit wird auf etwa 20.000-30.000 geschätzt. Die Einwanderer errichteten
landwirtschaftliche Siedlungen, die ihren sozialistischen Idealen entsprachen. Sie betrachteten sich als Pioniere, denen im Laufe der Zeit größere
Volksmassen folgen würden.
Den entscheidenden Wandel des Projekts der nationalen Wiedergeburt in
Palästina bewirkten die Einwanderer der zweiten Aliya der Jahre 1904 bis
1914. Ungefähr 35.000 bis 40.000 Juden, die zum großen Teil den erneuten
russischen Pogromen entflohen waren, folgten den zionistischen Aufrufen.
Die zumeist osteuropäischen Juden hielten am Aufbau landwirtschaftlicher
Siedlungen fest und gründeten die ersten Kibbuzim. Dabei verwirklichten
sie sowohl sozialistische Vorgaben als auch sicherheitspolitische Ziele, indem sie die Siedlungen, die auch der Verteidigung dienten, an strategisch
wichtigen Punkten errichteten. Die dritte Aliya setzte ab 1919 ein und endete 1923. 35.000 osteuropäische Juden fanden dabei den Weg ins Heilige
Land.
Erst die vierte Aliya bewirkte eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Zusammensetzung. In den Jahren 1924 bis 1929 emigrierten
viele Angehörige des Mittelstandes (Kleingewerbetreibende, Händler) aus
Polen und anderen europäischen Ländern. Das Besondere war, dass sie
nicht aus zionistischen Erwägungen – also ideologischen Gründen –, sondern aufgrund wirtschaftlicher Diskriminierung in ihrem Ursprungsland
auswanderten. Die Wahl Palästinas als Zielort hatte weitaus weniger mit religiöser Verbundenheit oder Traditionsbewusstsein zu tun, als mit der Tatsache, dass die USA (bis dato beliebtestes Fluchtland) kurz zuvor ihre Einwanderungsbestimmungen verschärft hatten. Circa 62.000 Menschen fanden ihren Weg nach Palästina. Mit der fünften Aliya in den Jahren 1932 bis
1938 erreichten 197.230 Menschen das Heilige Land. Die deutschen, tschechischen und österreichischen Juden, die noch rechtzeitig dem NS-Regime
entkommen konnten, entschieden sich für die urbanen Zentren des Landes.
Die israelische Entwicklung
79
Die Staatsgründung Israels im Jahre 1948 führte nicht zu einer Zäsur der
gesellschaftlichen Entwicklung, sondern bewirkte in gewisser Weise die vorläufige Festschreibung bestehender Einflüsse. Erst in der Folgezeit kam es
zu teilweise tiefgreifenden Wandlungen der israelischen Gesellschaft. Erste
Anzeichen der Umstrukturierung, die zum heutigen Bild der israelischen
Kultur erheblich beitrugen, waren insbesondere die Einwanderungswellen
der 80er und 90er Jahre aus Russland und Äthiopien, die demographisch
wie kulturell Verschiebungen zur Folge hatten. Bei den russischen Immigranten handelte es sich zum erheblichen Teil um Nichtjuden, die die Gelegenheit nutzten, ihr Heimatland zu verlassen. Dementsprechend war ihre
religiöse oder emotionale Bindung an die israelische Gesellschaft eher gering. Mittlerweile hat sich eine Art Symbiose eingestellt: auf der einen Seite
profitieren die osteuropäischen Neuankömmlinge von den günstigen Bereitstellungen (Unterkunft, Arbeit, Sprachkurse, etc.) der Regierung, die eine
bequeme Existenzgrundlage sichern; auf der andern Seite fand eine breite
akademische und künstlerische Schicht, insbesondere Ärzte und Musiker,
Eingang in die israelische Gesellschaft. Derzeit ist der Grad ihrer Integration ambivalent zu bewerten. Während einige mit uneingeschränkter Bereitschaft eine Anknüpfung an die Gesellschaft erstreben, scheint ein Großteil
die russischen Traditionen nicht aufzugeben, wie insbesondere sein Festhalten an der eigenen Sprache zeigt. Dementsprechend hat sich mittlerweile
eine Art russischer Subkultur etabliert, die oftmals fernab von der israelischen Kultur existiert.
Die äthiopischen Einwanderer hingegen stellten die israelische Gesellschaft anfangs vor ein gänzlich unbekanntes Phänomen. Denn erstmals
kam eine Gruppe ins Land, deren zivilisatorischer Grad sich drastisch von
der übrigen Gesellschaft unterschied. Viele der äthiopischen Einwanderer
kannten keine moderne Technologie und bekamen bei ihrer Einreise erstmals Flugzeuge und Autos zu Gesicht. Erstaunlicherweise ist es dennoch
rasch gelungen, sie an die Normen und Technologien der modernen Gesellschaft heranzuführen. Die zweite Generation der Äthiopier betrachtet sich
mittlerweile als vollständig integrierten Teil der israelischen Gesellschaft.
2. Definitionsversuch des Kulturbegriffs in Israel aus heutiger Sicht
Eine Definition der israelischen Kultur muss problematisch bleiben, weil
schon in der Bestimmung „Wer ist Jude?“ kein Konsens besteht. Während
80
Charme I. Sucharewicz
orthodoxe Juden eine religiöse Zuordnung streng nach dem talmudischen
Gesetz auslegen, hat es in Israel immer wieder Bestrebungen gegeben, dieses Gesetz zu liberalisieren, wenn nicht gar fallen zu lassen. So brachte ein
Knessetabgeordneter den Entwurf ein, es solle jedem selbst überlassen sein,
sich als Jude zu definieren. Bis heute konnte darüber noch keine Übereinstimmung erzielt werden, so dass der Minimalkonsens herrscht, dass zumindest die Mutter jüdisch sein müsse. Zudem ist die Unterscheidung zwischen jüdischer und israelischer Kultur bzw. zwischen Religiösen und Säkularen problematisch. Ebenso erschwert die Existenz israelischer Araber eine
genaue Zuordnung der vorherrschenden Kultur. Diese zum Teil eklatanten
Vorstellungsabweichungen werden auch in der bislang ungelösten Debatte
über eine einheitliche Verfassung erkennbar. Bis jetzt ist es der Regierung
nicht gelungen, auch nur ansatzweise eine Konstitution zu verabschieden,
so dass die Grundzüge der Gesellschaft nach wie vor nur durch einzelne
Gesetze mit verfassungsrechtlichem Rang vorgegeben werden.
Seit ihrer Existenz ist die israelische Gesellschaft von Heterogenität geprägt. Dass es bei all den Unterschieden der nationalen Herkunft, der
Glaubensintensität und der ideologischen Ausrichtung dennoch gelang, einen innerisraelischen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, dafür lassen sich
im wesentlichen drei Gründe benennen.
Einer der wichtigsten Faktoren für den starken israelischen – aber auch
universaljüdischen – Zusammenhalt ist historisch bedingt: Verfolgungen,
Pogrome und Antisemitismus führten dazu, dass die jüdische Kultur auch
in der Diaspora gepflegt wurde. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Israelis beruht daher keineswegs nur auf der Religion, sondern zum erheblichen
Teil auch auf dem historischen Leidensweg des Volkes wie der Vertreibung
durch die Ägypter, den Siegen der Philister und später der Ammoniter oder
der Zerstörung der beiden Tempel (586 v. Chr. durch die Babylonier, 70 n.
Chr. durch die Römer). All diese Erinnerungen des Schreckens übten über
viele Jahrhunderte eine historisch-gesellschaftliche Kraft aus, die zur
kollektiven Bindung führte.
Der Holocaust symbolisiert das gesamte Leid der Geschichte des jüdischen Volkes. Im Zuge der Säkularisierung wird das erfahrene Leid allerdings nicht mehr als göttliche Determination bzw. verdiente Strafe oder
Sühne interpretiert, sondern als profane Geschichte angenommen. Der säkulare Zionismus brach mit der Tradition, Judenverfolgungen als gottge-
Die israelische Entwicklung
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wolltes Schicksal wahrzunehmen. Die kollektive Leidensempfindung erfasste alle Bürger Israels, so dass unter sephardischen Juden mittlerweile die
gleiche Identifizierung mit den Opfern nachweisbar ist wie bei aschkenasischen Juden. Israelis orientalischer Herkunft – sie bilden mittlerweile fast
die Hälfte der israelischen Bevölkerung – waren im Gegensatz zu den Europäern vom Holocaust kaum betroffen. Sie litten vielmehr in den nordafrikanischen und westasiatischen Gesellschaften unter Anfeindungen in dem
Maße, wie der Konflikt zwischen Zionisten und Palästinensern die gesamte
arabische Welt erfasste und dort insbesonders in den 40er Jahren zu Judenverfolgungen führte. Als sich der zionistisch-arabische Gegensatz nach der
Staatsgründung zuspitzte, stieg auch die Intensität des Willens der orientalischen Juden, sich gegenüber der einstigen Heimat abzugrenzen.
Zum zweiten beruht die jüdische Identifizierung über die rein religiöse
Zuordnung hinaus auf dem Gefühl der Volkszugehörigkeit. Dies Gefühl mag
als wichtigster Schlüssel für den Überlebenswillen der jüdischen DiasporaGemeinden über lange Zeit gedient haben. Als im 18. Jahrhundert durch
Moses Mendelssohn die jüdische Aufklärung in beinahe allen europäischen
Ländern einsetzte, begann ein starker Trend zur Assimilierung, der bis heute insbesondere in Westeuropa anhält. Die Euphorie über die neu erlangten
Rechte der wirtschaftlichen und später auch politischen Gleichstellung ebnete den Weg für eine zunehmende Säkularisierung, während bis dato die
talmudischen Gesetze einen zentralen Stellenwert im jüdischen Alltag eingenommen hatten. Diese hatten zum einen der bewussten Abgrenzung von
der nichtjüdischen Umwelt gedient; zum anderen waren die religiösen Lehren der einzige Bereich gewesen, der ungehindert ausgelebt werden konnte.
Als im Zuge der Emanzipation den Juden dann fast sämtliche Berufswege
offen standen, und sie allmählich ins gesellschaftliche Leben integriert wurden, standen die religiösen Bindungen im Wege. In der Folgezeit unternahm ein Großteil der jüdischen Gemeinden den Versuch, sich der nichtjüdischen Umwelt äußerlich (Kleidung, Wohngebiet) und innerlich (Studien,
weltliches Wissen) anzupassen. Doch trotz der allmählichen Assimilierungstendenzen riss das einigende Band der Volkszugehörigkeit nie ab, wie etwa
die Solidarisierungsaktionen mit den verfolgten Juden in anderen Ländern
verdeutlichen.
Aus heutiger Sicht kommt noch ein dritter Faktor hinzu: die exponierte
geographische Lage des Staates Israel. Die israelische Identität wird nicht zu-
82
Charme I. Sucharewicz
letzt durch die äußere Bedrohung und die beachtlichen Aufbauleistungen
geprägt, die sowohl trotz als auch wegen der Bedrohung erbracht wurden.
Äußere Gefahren wirkten und wirken in dreifacher Weise nach innen positiv: integrierend, motivierend und mobilisierend. So ermöglicht die externe
Bedrohung die schnelle Integration von Neueinwanderern, die existentiell
wichtige Beiträge leisten wie etwa zur Vergrößerung der nach wie vor zahlenmäßig geringen jüdischen Bevölkerung oder durch die allgemeine Wehrpflicht. Die äußere Bedrohung durch die arabischen Nachbarn bzw. durch
die arabischen Israelis führt zur inneren Solidarisierung. So gilt – wie in den
meisten Ländern – traditionell der Primat des Konsenses in Kriegszeiten.
Weder parteiübergreifende Streitigkeiten noch andere Einflüsse vermögen
in Krisenperioden den innerisraelischen Zusammenhalt zu erschüttern. Die
Lehre, die man aus jahrtausendlangen Verfolgungen und Demütigungen
zog, lautet eindeutig: Nie wieder Opfer. Sie erklärt die außergewöhnlich
kompromisslose Einigkeit bei äußerer Bedrohung. Paradoxerweise liegt jedoch genau hierin eine Gefahr für das Weiterbestehen der israelischen Gesellschaft. Denn ein Minimalkonsens, der von äußerer Bedrohung linear
abhängt, bricht in Friedenszeiten auseinander. Da dem jungen Staat eine
Periode der Sorgenfreiheit jedoch noch nicht beschert war, bleibt der Testfall abzuwarten.
3. Errungenschaften und Probleme der israelischen Gesellschaft
Eine grundsätzliche Bilanz muß die heutige israelische Gesellschaft aus zwei
Perspektiven beurteilen. In einigen Bereichen kann dem Staat eine Vorbildfunktion zugesprochen werden. Es ist Israel gelungen, sich als einziger stabiler demokratischer Staat im Nahen Osten zu etablieren und – auch wenn
dies vor allem von der deutschen Linken und Rechten vermehrt angezweifelt wird – am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit festzuhalten. Ein weiterer
Grund gibt Anlaß zur Anerkennung der israelischen Leistungen: die hohe
gesellschaftliche und politische Bereitschaft zur Integration der Neueinwanderer. Jahr für Jahr werden in einem unvergleichlichen Kraftakt Neuankömmlinge sozial, politisch und wirtschaftlich integriert. Einwanderung
wird gemeinhin als moralisch wertvoll erachtet; der Begriff für Einwanderung „Aliya“ (Aufstieg) verdeutlicht dies. So entstehen fast monatlich wie
selbstverständlich neue Siedlungen, um den Immigranten schnellstmöglich
Wohnorte anzubieten. Dass dabei nicht ein sprichwörtlich gewordener mel-
Die israelische Entwicklung
83
ting pot als Vorbild dient, ist begrüßenswert. Das Ziel besteht nicht in einer
künstlichen Zwangsassimilierung, sondern in der natürlichen Eingliederung
in die Gesellschaft.
Der Gründer des modernen politischen Zionismus Theodor Herzl sprach
sich in „Der Judenstaat“ für die Beibehaltung von Sprachen und Wertvorstellungen der Einwanderer aus mittel- und westeuropäischen Ländern aus.
Auch wenn das Hebräische heute de jure die offizielle Amtssprache bildet,
so wird jeder aufmerksame Beobachter in Tel Aviv feststellen können, dass
dort russisch, deutsch, französisch und englisch wie selbstverständlich gesprochen wird, und dass ein marokkanischer oder irakischen Akzent ebenso
gewöhnlich geworden ist. Heutzutage existieren auf erstaunlich natürliche
Weise verschiedenste kulturelle, ideologische, politische und religiöse Traditionen nebeneinander: Orthodoxe, Sephardim, Aschkenasim, ehemalige Sozialisten und Kommunisten, arabische Christen, Muslime, Rumänen, Thais
und andere mehr. Das israelische Parlament, die Knesset, ist der anschaulichste Schauplatz dieser salad bowl. Kaum ein anderes Land weist derart
unterschiedliche kleine Splitterparteien auf, welche die zahlreichen Gruppierungen der israelischen Gesellschaft repräsentieren.
Zum zweiten gilt in Israel unangefochten der Wert der sozialen und familiären Bindungen. Die Einbindung der älteren Generation ist vorbildlich und
läßt auf Verbreitung hoffen. Während in den meisten Industriestaaten zu
Weihnachten die Selbstmordrate am höchsten ist, gilt es in Israel als selbstverständlich, an Festtagen Nachbarn, Alleinstehende und Bekannte einzuladen.
Bei allen Errungenschaften dürfen jedoch die Schattenseiten nicht übersehen werden. Noch scheint die Israelis ein einigendes Band zusammenzuhalten. Doch in den letzten Jahren haben sich innergesellschaftliche Spannungen intensiviert. Die oft nur latent beklagte Benachteiligung der sephardischen
Juden gegenüber den und durch die Aschkenasim ist nur einer der potentiellen Konfliktherde. Weitaus schwieriger dürfte sich das Verhältnis der säkularen Mehrheit gegenüber der zunehmend fanatisch werdenden orthodoxen
Minderheit gestalten. Ein systemimmanenter Fehler israelischer Politik liegt
in der niedrigen Sperrklausel (1,5 %) zum Einzug in die Knesset, der religiösen Parteien ein unproportional hohes Mitspracherecht in den Koalitionsregierungen ermöglicht. Momentan formieren sich Gegengewichte, wie die
Shinui-Partei, deren primäres Wahlkampfziel die Herausdrängung der Reli-
84
Charme I. Sucharewicz
giösen aus der Politik beinhaltet. Die Geschichte Europas hat gelehrt, dass
die Trennung von Staat und Kirche unabdingbare Voraussetzung für einen
stabilen Frieden ist. Es ist zu hoffen, dass diese Einsicht sich langfristig
auch in der muslimischen Welt durchsetzen wird. Für die weitere Entwicklung der israelischen Gesellschaft bleibt gleichermaßen zu hoffen, dass die
ratio über die religio siegen und damit eine Basis für eine im Kantschen
Sinne vernunftgemäße Politik geschaffen wird.
Der augenscheinlichste und explosivste Zündstoff liegt freilich im sich
verschärfenden israelisch-palästinensischen Konflikt. Zwar sind die Palästinenser
ein realer Bestandteil der Gesellschaft, der in der Praxis jedoch kaum integriert ist. Umgekehrt wird von Palästinensern eine friedliche Koexistenz
durch Anschläge auf die Zivilbevölkerung sabotiert. Bei der Suche nach Lösungen dieses Dilemmas sind allerdings oberflächliche oder einseitige Berichterstattungen, wie sie im Westen oft vorgenommen werden, wenig hilfreich. Hier kann nur eine unvoreingenommene historische Betrachtung dieses Konfliktes dessen Komplexität und die immer wiederkehrenden
Sackgassen verdeutlichen.
Für religiöse oder geschichtsbewusste Juden hatte der 1948 gegründete
Staat Israel einen kaum tolerierbaren Geburtsfehler: Er entstand nicht auf
dem einstigen biblischen Boden von Judäa und Samaria. Die Eroberungen
des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 machten aus Israel zwar geographisch
einen ursprünglich jüdischen, demographisch aber einen jüdisch-arabischen
Staat. Damit war der biblische Geburtsmakel beseitigt; er wurde jedoch
durch die moralische Bürde des Besatzerstatus ersetzt. Tragischerweise
machte sich Israel 1967 durch einen schuldlosen Verteidigungsangriff zum
Schuldigen. Daher bleibt die Lösung des Konfliktes mit der palästinensischen Bevölkerung die dringlichste Aufgabe, die sich der Politik Israels heute stellt.
Besprechungen
Bücher zum Thema
Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf
Globalisierung der Unsicherheit.
Arbeit im Schatten, Schmutziges
Geld und informelle Politik, Münster 2002 (Westfälisches Dampfboot), geb., 393 S., 24.80 EUR.
Das Buch ist eine Fortsetzung der
Arbeit über die „Grenzen der Globalisierung”, die die Autoren im gleichen Verlag veröffentlicht haben und
die bereits im Widerspruch 31 rezensiert wurde. An der ökonomischen
Theorie von Karl Marx orientiert, untersuchen Altvater und Mahnkopf in
dieser Arbeit nun die Entwicklung
der Globalisierung unter dem Aspekt
der Auflösung der Normen hin zu einer „Informalität“ der Arbeit, des
Geldes und der Politik. Unter „Informalität“ verstehen sie dabei die
Unabhängigkeit von den Regelwerken
und Vorschriften der staatlichen Institutionen, die durch die Prozesse
der Internationalisierung weitgehend
umgangen werden können. Diese
neuen Möglichkeiten der Informalität
dienen wirtschaftlichen Organisationen rückwirkend als Druckmittel, um
von den Nationalstaaten die Lockerung bzw. Auflösung ihrer bisherigen
sozialen Normen zu fordern. Für den
Einzelnen bringen die Informalitäten
so in erster Linie ein hohes Maß an
persönlicher und sozio-ökonomischer
Unsicherheit. Die gesellschaftlichen
Institutionen, die solche Sicherheiten
traditionell garantiert haben, werden
im Zuge der Globalierung mehr und
mehr geschwächt oder ganz aufgelöst.
Die Autoren beschreiben, wie in
diesem Prozess immer mehr Teile der
gesellschaftlichen Arbeit in Bereiche
verlegt werden, die gesetzlichen
Regelungen und sozialen Absicherungen nicht mehr zugänglich
sind; wie das Geld in verschiedener
Hinsicht immer weniger kontrollierbar wird: zum einen nimmt der Anteil
der
Schattenwirtschaft
(„Schwarzgeld”) zu und damit auch
der Bedarf an „Geldwäsche”; zum
anderen lösen sich auch die staatlichen Absicherungen der Währungen
auf, die so zunehmend zu Spielbällen
eines informellen Weltmarkts werden.
Als Folge entwickeln sich da, wo ein
Mangel an offizieller Tauschwährung
mit internationaler Geltung herrscht,
neue Binnentauschmärkte. In der
Politik hingegen werden die zentralen
Entscheidungen zunehmend weniger
von den gewählten Volksvertretern
und
immer
häufiger
von
wirtschaftlichen
Organisationen
gefällt.
Diese stattfindende Informalisierung mit Auflösung der Normen
muss jedoch, so die Autoren, für die
Individuen nicht nur Nachteile haben. Durch sie könnten verkrustete
soziale Strukturen aufgebrochen, das
Recht liberalisiert und die Gesell-
86
Bücher zum Thema
schaft insgesamt offener gestaltet
werden. Mit Bedauern müssen Altvater und Mahnkopf konstatieren, dass
die gegenwärtige Informalisierung jedoch fast ausschließlich zum Nachteil
der großen Mehrheit stattfindet: Soziale Netze werden aufgelöst, Einkommen werden unsicherer, die Lebensplanung wird erschwert oder völlig
unmöglich
gemacht;
die
Mitwirkung des Einzelnen an wichtigen Entscheidungen über und in den
demokratischen Instanzen wird mehr
und mehr zurückgedrängt.
Diese Abhandlung über eines der
wichtigsten Teilprobleme der Globalisierung verarbeitet das Material zahlreicher Untersuchungen und bietet
selbst umfangreiche Untersuchungen;
dabei verzichten die Autoren nicht
auf soziale und gesellschaftliche Bewertungen.
Percy Turtur
Dan Diner
Feindbild Amerika.
Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002 (Propyläen), geb., 238 S., 20.- EUR.
In den politischen Diskursen der Bundesrepublik Deutschland gilt eine antiamerikanische Weltanschauung offiziell als verpönt. Eine genauere Betrachtungsweise – so die These Dan
Diners, früher aktives Mitglied des
„Sozialistischen Büros“ in Frankfurt
und heute Professor für Neuere Geschichte in Jerusalem und Leipzig –
zeigt jedoch, dass sich trotz dieses institutionalisierten Konsenses tradierte
antiamerikanische Einstellungen se-
dimentiert haben und oft, zumindest
untergründig, das Bild der Vereinigten Staaten mitprägen. Überdies, so
eine weitergehende Überlegung Diners, zeigen gerade die Reaktionen
auf den 11. September, dass sich „angesichts eines mit dem Verfall der
Sowjetunion offenbar gewordenen
Paradigmenwechsels“ und damit des
Verlusts des Angebots eines einfacheren, verlangsamten Modernisierungsprozesses, „vor allem in Ländern und
bei Intellektuellen der vormaligen
Dritten Welt, insbesondere im Bereich des arabisch-muslimischen Kulturzusammenhangs, Haltungen herausbildeten, die sich nicht allein aus
einer durchaus mit ernst zu nehmenden Argumenten vorgetragenen Ablehnung amerikanischer Politik speisen“ können, sondern sich „ein Vorgang abspielt, der gewisse Ähnlichkeiten mit frühen Reaktionsmustern
europäischer Traditionsgesellschaften
Amerika gegenüber aufweist – freilich
mit erheblichen, den Stadien der jeweiligen Säkularisierung geschuldeten
Verschärfungen“ (10/11). So erblickt
Diner in den religiös motivierten Anschlägen des 11. September einen
„sakralen Akt“, in dem eine aufgrund
technologischer Unterlegenheit und
der Notwendigkeit, moderne soziokulturelle Produktionsbedingungen
schaffen zu müssen, unter Säkularisierungsdruck stehende Religionsgemeinschaft ein Zeichen ihrer unvergänglichen Superiorität gegenüber der
verruchten westlichen Zivilisation,
für die die USA als Synonym steht,
setzen wollte.
Diese, im Prozess der „Globalisierung“ universal gewordene, Synony-
Bücher zum Thema
misierung der USA mit einer „ohnehin zwiespältigen“ Moderne, vor allem ihrer dunklen Seite, spielt sich –
wie schon in der traditionellen dichotomischen Metaphorik von „Alter
Welt“ und „Neuer Welt“ anklingt –
bestimmend auf einer projektiven
Ebene ab: Wie ein positives Amerikabild für Zukunft steht, fungiert es
im Negativen – aus der Perspektive
auf
Herkunft
beruhender
Traditionsgesellschaften
–
als
Projektionsfläche
„eigener
Verfallsängste“ und „abgespaltener
Teile von Selbsthass“. In dieser
Ambivalenz betrachtet, repräsentiert
Amerika nicht das „Fremde“,
sondern das „Andere“. Da dieses Reaktionsmuster sich eben im europäischen Kulturraum herausgebildet hat,
ist es legitim, dass Diners Analyse
diesen ins Zentrum seiner Untersuchung stellt. Schwerpunktmäßig gilt
sein Interesse wiederum Deutschland, da, so die These Dan Diners, es
nicht nur aufgrund der negativen Erfahrungen zweier Weltkriege, sondern
auch einer traditionellen antiwestlichen Einstellung den Anschein habe,
„als ob das antiamerikanische Ressentiment in den politischen Mentalitäten Deutschlands tiefer sitze als anderswo in Europa“, beispielsweise
den klassischen westlichen demokratisch-bürgerlichen
Gesellschaften
Englands
Diners Untersuchung,
oder Frankreichs.die er bescheiden einen „polemischen Essay
ohne akademischen Anspruch“ nennt
– polemisch wohl im Sinne einer methodischen Zuspitzung –, verweist
unverkennbar auf das komplexe historiographische
Erkenntnismodell
seines grandiosen Hauptwerks „Das
87
Jahrhundert verstehen“ (siehe Rezension in: Widerspruch 35), auf den
Stellenwert, den er den sich in Bildern sedimentierenden und zu decodierenden „langen Gedächtnissen“
und Ungleichzeitigen beimisst. So
wird nachvollziehbar, warum Diner
die Wirkungen antiamerikanischer
Ressentiments oft als das Resultat
von Verdrängungen, Verkehrungen,
Abspaltungen, Wiederholungszwängen, Exkulpierungen oder narzisstischen Kränkungen deutet. Beispiele
wären etwa die assoziative Verknüpfung der Irakkriege mit den so bezeichneten „anglo-amerikanischen“
Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg, oft im Verbund auftretend mit
dem
ultrareaktionären
landserideologischen Klischee amerikanischer Wehruntüchtigkeit bei rein
technischer Überlegenheit oder die
Etikettierung
des
zweifelsohne
verbrecherischen Vietnamkriegs als
Nazi-Verbrechen, wie es in dem Slogan „USA/SA/SS“ zum Ausdruck
kam.
Diner ist sich der Problematik seines Ansatzes bewusst. Gerade angesichts der Verschränkung von „amerikafeindlicher Metaphorik als Ausdruck von Weltanschauung und
Ressentiment einerseits“ und empirisch oft gut belegter „Kritik an tatsächlich kritisierenswerten Auswüchsen in den Vereinigten Staaten, an
Missständen der politischen Kultur,
Sozialstruktur, Wirtschaftsgebaren“
(25) andererseits, erweist es sich als
erforderlich, in einer differenzierten
Analyse den kontextuellen Bezug
herauszuarbeiten,
um
zwischen
„blindem Ressentiment“ und reflek-
88
Bücher zum Thema
tierter „geschichtsbewusster Kritik“
unterscheiden zu können.
Seine auf breites Quellenstudium gestützten Untersuchungen führen den
Historiker in die Romantik zurück,
um von dort aus die Traditionen und
Wirkungen
amerikafeindlicher
Stereotype bis in die Gegenwart zu
verfolgen. Grundmuster sind der
Vorwurf des Utilitarismus und
Materialismus, die manichäisierende
Gegenüberstellung von Kultur und
technisch-rationalistischer Zivilisation
und ein darauf basierender Überlegenheitsdünkel sowie die Klage um
den Niedergang gewachsener Werte
und Autoritäten und die Verwerfung
liberaler Anaschauungen. Die typische „Denunziation der Phänomene
der Zirkulation als Ursprung allen
Unheils“, die schon bei Werner Sombart einem Verständnis von „Kapitalismus“ entspricht, das nicht als Produktionsverhältnis bestimmt ist, weist
eine signifikante Affinität von Antiamerikanismus und Antisemitismus
auf, die bereits Max Horkheimer erkannte.
Die auf die „Neue Welt“ projizierten Modernisierungs- und Entfremdungserfahrungen evozieren Bilder,
die in ihrer Ambivalenz von Amerikabegeisterung und -feindlichkeit keinen Widerspruch bilden. So betrachtet
Dan Diner die Weimarer Republik als
„einerseits in hohem Maß industriell
und kulturell amerikanisiert“, andererseits als „eigentliches Treibhaus
ideologisch aufschießender Amerikafeindlichkeit“ (41). Selbst die Nazis,
die im Amerikanismus den Ausdruck
„jüdischer Weltherrschaft“ erblickten
und in bekannter Dünkelhaftigkeit
dem „verjudeten und vernegerten
Mischvolk“ jede Fähigkeit absprachen, konnten ihre Bewunderung für
amerikanische Technik und Massenkultur nicht verhehlen.
Obwohl Diner einer linken, von der
Aufklärung inspirierten Betrachtungsweise Amerikas attestiert, komplexer
und ambivalenter zu sein als die einer
rückwärtsgewandten
Kulturkritik,
deckt er, trotz des unterschiedlichen
Bezugsrahmens von „Herkunft“ und
„Gesellschaftskritik“, Befangenheiten
in „oft den selben Codes“ und in
„gleichen oder ähnlichen Bildern“
auf. Diese in der Tat frappierenden
Parallelen finden sich beispielsweise
gleichermaßen bei Heine, Clara Zetkin, dem frühen Enzensberger oder
anderen Kursbuchautoren wie in einer „antiimperialistischen“ nationalistischen Umdeutung des Zweiten
Weltkriegs in der DDR.
Diner ist dennoch weit davon entfernt, einem idealisierten Bild Amerikas zu erliegen. Sieht er doch gerade
jenes über sich hinausweisende amerikanische Zukunftsmodell einer multiethnischen und multikulturellen „universalen Republik“, das sich einer
Verhaftetheit in Herkunft und Tradition überlegen weiß, durch eine in der
Folge des 11. September in Gang gesetzte territoriale Politik gefährdet,
die sich im Inneren in der Gestalt einer – allerdings, so Diner, nicht wesenstypischen – repressiven Staatlichkeit, außenpolitisch im Bestreben,
Territorialitäten zu schaffen, sowie in
einer unilateralistischen Tendenz der
Verbindung von isolationistischer
und interventionistischer Politik äußert.
Bücher zum Thema
Georg Koch
89
90
Bücher zum Thema
Terry Eagleton
Was ist Kultur? Eine Einführung
aus dem Englischen von H. Fliessbach, München 2001 (C.H. Beck),
engl. Br., 190 S., 17,50 EUR.
Titel und Gliederung des Buches versprechen eine Einführung. Es beginnt mit der Etymologie des Wortes,
einer kurzen Geschichte des Begriffs,
den Krisen, denen das gegenwärtige
Interesse an der Kultur entspringt
sowie den Methoden des Zugangs
(„Versionen der Kultur“). Im Hauptteil werden drei Probleme diskutiert,
die die Aktualität und Brisanz des
Begriffs ausmachen: „Kultur in der
Krise“, „Kulturkriege“ und „Kultur
und Natur“. Den Schluss bildet ein
Plädoyer für die Ausbildung einer
gruppen- oder klassenübergreifenden
„gemeinsamen Kultur“, das sich gegen T.S. Eliots Aufspaltung in eine
(ästhetisch-geistige) Kultur der Elite
und eine („Habitus“-) Kultur der
Massen wendet und Raymond Williams Definition der Kultur als das
„kollektive Produkt aller“ (166) weiterdenkt.
Tatsächlich ist das Buch zugleich
weniger und mehr als eine Einführung. Weniger, weil es zwar eine Reihe
von Kulturtheorien zitiert – Eagleton
bezieht sich auf Herder und Schiller,
Nietzsche und Freud, vor allem aber
auf englischsprachige Autoren wie
Coleridge, Matthew Arnold, F.R.
Leavis, R. Williams, T.S. Eliot u.a. –
aber nicht eigentlich entfaltet und
diskutiert. Der Leser bleibt über die
Reichweite, die philosophischen Hintergründe, die ideologische Stoßrichtung weitgehend im Unklaren; ihre
Kenntnis wird eher vorausgesetzt als
dass sie vermittelt würde. Mehr, weil
Eagleton über eine bloße sachliche
Einführung hinaus vor allem im eigenen Namen spricht, d.h. eine eigene
Kulturtheorie darlegen möchte, deren
philosophische Grundlagen zwischen
einem undogmatischen Marxismus
und einem ebenso undogmatischen,
„abgebrühten“ Postmodernismus angesiedelt sind.
Bezeichnend für Eagletons Marxismus ist, dass er die drei hauptsächlichen Kulturbegriffe, die das 19. Jh.
hervorgebracht hat – Kultur als utopische Kritik der kapitalistischen Zivilisation; Kultur im Plural als Bezeichnung nationaler Lebensformen;
Kultur als „höhere“ Kultur, d.h. als
Kunst und Philosophie – dialektisch
miteinander verbinden möchte. Damit wird Kultur zu einer Art „immanenter Kritik“, die zugleich von der
Gesellschaft produziert und gegen die
Gesellschaft (in ihrer bestehenden
Form) gerichtet ist, d.h. „der Gegenwart den Spiegel vorhält und sie an
Normen misst, die sie selbst hervorgebracht hat“ (35). Bezeichnend für
Eagletons Postmodernismus ist, dass
er die Kultur als Lehre von der Differenzierung des Menschen versteht, als
Gegenbewegung und Protest gegen
die egalisierenden Tendenzen der modernen Ökonomie, Politik und Wissenschaft.
Eine andere Dialektik sieht Eagleton in der Gegenwart am Werk, in
der sich das Besondere der westlichen Kultur zum Allgemeinen der
globalen Kultur erhebt. Je mehr der
Westen „jede Alternative zu sich
selbst niederwalzt“, desto schwächer
Bücher zum Thema
wird am Ende seine eigene Identität;
indem sich ein System absolut setzt,
verschwindet es und zerfällt in unendliche Differenzen. „Postmodernismus ist das, was geschieht, wenn
das System bis zu dem Punkt anschwillt, wo es alle seine Gegensätze
in sich aufzuheben scheint und daher
kein System mehr ist.“ (103)
Auf verschiedenen Ebenen macht
Eagleton auf das prinzipiell Widersprüchliche des Kulturbegriffs aufmerksam: als zugleich deskriptiver
und normativer Begriff; als zugleich
Ausdruck und Kritik der Gesellschaft; als zugleich Verbindendes,
d.h. Bewusstsein der eigenen Identität
und Trennendes, „wofür man tötet“
(57); als Spiritualität, Esoterik („hohe
Kultur“) und als Ware oder Konsum
(„Massenkultur“); als Kultur oder absoluter Wert und als Kultur des alltäglichen Umgangs miteinander, d.h.
als Komplex von Sitten, Gebräuchen,
Überzeugungen und Praktiken einer
bestimmten Gruppe von Menschen.
Die zwischen so unterschiedlichen
Disziplinen wie Philosophie und Soziologie, Politik und Geschichte,
Ethnologie und Kunst geführte Diskussion schwankt zwischen einem
außerordentlich weiten (Kultur = alles, was vom Menschen produziert
ist) und einem überaus engen Kulturbegriff („Firmenkultur“, „Polizeikultur“ etc.). Eagleton sieht und benennt
das Problem wohl. In seinen Ausführungen kommt er aber letztlich auch
nicht darüber hinaus, dafür ist seine
Darstellung zu unsystematisch, zu
wenig begrifflich.
Beachtenswert ist die Bestimmung
des Verhältnisses von Kultur und
91
Natur. Eagleton argumentiert sowohl
gegen die Naturalisten, die die Kultur
als Funktion der Natur begreifen und
auf die jeweiligen Naturverhältnisse
zurückführen, als auch gegen die Kulturalisten, die die Natur für restlos
aufhebbar und in Kultur überführbar
halten. Seine These: Der Mensch ist
„zwischen Kultur und Natur eingezwängt“, die „Natur (ist) durch Kultur geprägt“ aber „auch resistent gegen sie“ (139/140). Einerseits schießt
die Kultur in ihrer Beherrschung der
Natur über das hinaus, was der
Mensch zum Überleben benötigt,
gewinnt ein Eigenleben und sogar ein
Potential der Selbstzerstörung; andererseits wird die Natur zur letzten
Einspruchsinstanz gegen die Unterdrückung, die in jeder Kultur auch
enthalten ist.
An sich selbst, so Eagleton, ist die
Kultur unpolitisch; politisch wird sie
erst unter konkreten historischen Bedingungen, im Zusammenhang mit
dem Kampf um Hegemonie und Widerstand (171).
Die Stärke der essayistischen, oft assoziativen Schreibweise des Buches
liegt in ihrem Witz. Man freut sich
über geistreiche Metaphern und Vergleiche, über Seitenhiebe auf Tony
Blair und die „besseren Tage“ der
britischen Labour Party, auf die „pathologische Angst der Amerikaner
vor dem Rauchen“ (126) – Eagleton
führt sie auf die Fetischisierung des
Körpers zurück, der sich dem amerikanischen Traum der kulturellen
Selbstschöpfung des Menschen entzieht – oder auf Richard Rorty, der
sein Fett abkriegt, wo immer er im
Text auftaucht. Oft schlägt das Geist-
92
Bücher zum Thema
reiche allerdings auch ins Manierierte
um. Wenn Eagleton den Horazschen
Satz „Nichts Menschliches ist mir
fremd“ aktualisiert und in den Satz
umformuliert „Jede Bananenrepublik
ist heute imstande, unseren Profit zu
gefährden“ (69), mag das zwar brillant sein, man versteht aber nicht
recht, was er eigentlich besagen soll.
Konrad Lotter
Heinz Kimmerle
Interkulturelle Philosophie zur
Einführung
Hamburg 2002 (Junius), 167 S.,
11.50 EUR.
Im vorliegenden Buch gibt H. Kimmerle, bis 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Grundlagen der interkulturellen Philosophie an der Universität
Rotterdam und Beirat der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie,
einen einführenden Überblick über
dieses neu entstandene Gebiet. Ein
solches sei, wie Kimmerle einleitend
schreibt, in der Tatsache begründet,
dass die verschiedenen Kulturen heute „weniger denn je hermetisch voneinander abgegrenzt“ (7) sind. Die
Globalisierung macht die Beschäftigung mit anderen Kulturen schlicht
notwendig.
Was aber ist interkulturelle Philosophie, und wie versteht sie sich? Etabliert hat sie sich nicht zuletzt aus der
Frustration, dass die „offiziellen Vertreter der westlichen Philosophie ...
nur selten bereit zu sein (scheinen),
sich für die Denkweisen in anderen
Kulturen zu öffnen und mit ihnen in
Austausch zu treten“ (8). Insofern re-
sultiert sie aus der Kritik am traditionellen Eurozentrismus der Philosophie, die nicht nur provinziell um die
Beantwortung der von ihr selbst gestellten Fragen kreist, sondern die
auch in kolonialer Tradition „andere
Kulturen ... als unfähig erachtet, die
besondere geistige Anstrengung der
Philosophie zu vollbringen“ (8 f.).
Dieser kolonialen Tradition setzt die
interkulturelle
Philosophie,
so
Kimmerle, einen „Begriff der Philosophie“ entgegen, „bei dem diese mit
dem Menschsein und menschlicher
Kultur als solcher in einem wesensmäßigen Zusammenhang steht“ (127).
Folglich vollzieht sich interkulturelles
Philosophieren nicht im intrakulturellen Monolog, sondern im interkulturellen Dialog, dessen Ansätze Kimmerle paradigmatisch anhand der Dialoge mit östlichen, islamischen,
lateinamerikanischen, afrikanischen
und anderen Philosophien vorstellt.
In diesem Sinne ist also das Projekt
einer interkulturellen Philosophie als
eine entschiedene Öffnung und Erweiterung des „philosophischen Gesprächs“ zu verstehen, das im Prinzip
alle Kulturen einbezieht.
Zweitens aber ist interkulturelle Philosophie auch das Nachdenken über
solches Tun. Ist sie und versteht sie
sich als Teilgebiet der Kulturwissenschaften, das sich nicht, wie die Philosophie selbst, mit den harten Themen
der Logik, der Sprache oder des Seins
befasst, sondern sich auf dem offenen und weiten Feld exotischer Kulturen tummelt, deren Denkweisen sie
untersucht? Oder versteht sie sich als
eine Art Universalphilosophie, die zeigen
will, dass das Philosophieren an jedem
Bücher zum Thema
Ort, in allen Kulturen Heimat hat?
Oder ist sie gar eine Art Metakritik
der Philosophie, die deren Ansprüche
auf Wahrheit und Letztbegründung
zurückweist?
Eigenartigerweise nimmt Kimmerle
solche Metakritik zwar auf, wenn er
zu ihren Ahnen Heidegger, Adorno
und Wittgenstein als Kritiker der Philosophie zählt – was zumindest Heidegger dazu geführt hatte, sein eigenes Denken nicht mehr „Philosophie“ nennen zu können –; mit seiner
These jedoch, Philosophie sei gar keine „europäisch-westliche Angelegenheit“ (44), sondern gehöre zum
„Menschsein“ überhaupt und sei daher in allen Kulturen zuhause, fällt er
hinter deren Kritik der Philosophie
wieder zurück. Kimmerle versteht
„als Philosophie jede Deutung der
Welt und des menschlichen Lebens
..., die mit dem Anspruch auf rationale
Begründbarkeit unternommen wird“
(54; H.v.m.) – ohne allerdings zu erläutern, was dieser Ausdruck unabhängig vom Kontext der europäischen Philosophie bedeuten könnte,
und ohne in solchem Anspruch – anders als jene Kritiker – ein Problem
zu sehen.
Die Folge solcher Verortung der
Philosophie im Menschsein überhaupt ist, wie mir scheint, eine Aporie
im Konzept der interkulturellen Philosophie, wie Kimmerle es vorstellt.
Denn weil es, antikolonialistisch, nachweisen will, dass alle Kulturen fähig
seien und waren, die „besondere geistige Anstrengung der Philosophie zu
vollbringen“ (9), wird in den verschiedenen Kulturen das aufgesucht,
was jenem Begriff von Philosophie
93
entspricht, und worüber das philosophische Gespräch geführt werden
kann. Auf der anderen Seite aber
leugnet Kimmerle ausdrücklich nicht,
dass es in anderen Kulturen „auf
Dauer Unverstandenes“ (14) gebe,
und dass solches „nicht Verstehbare
im Kontext einer fremden Kultur gegebenenfalls stehen zu lassen und zu
respektieren“ (15) sei. Damit aber
wird eben dieser Kontext ‚zerrissen’,
weil in ihm das, worin sich der „Anspruch auf rationale Begründbarkeit“
zeigt, säuberlich von dem getrennt
wird, was als fremd und nicht verstehbar erscheint; obgleich in diesem
Kontext selbst solches nicht oder
nicht auf diese Weise getrennt ist.
Kimmerle will, so scheint mir, alle
Welt zu Philosophen machen, indem
er das Allgemeinverständliche vom
Spezifischen der jeweiligen Kultur als
dem Fremden, Unverständlichen,
Nicht-Dialogfähigen abtrennt. Praktisch äußert sich dies Trennverfahren,
wenn er insbesondere in seiner Darstellung des islamischen Kontexts
wenig Verständnis für das Fremdartige des Fundamentalismus aufbringt,
umso mehr aber für einen ‚liberalen
Islam’, der sich weniger theologisch
als philosophisch artikuliert. Solches
Vorgehen mag – aus westlicher Sicht
– ja aus mancherlei Gründen als gerechtfertigt erscheinen; aber es ist
fraglich, ob es dem selbst gesetzten
Anspruch dient, das ‚Gespräch’ der
Kulturen zu fördern, oder ob es dieses nicht vielmehr blockiert. Könnte
der Grund solcher Aporie in dem
Umstand liegen, dass Philosophen
geneigt sind, die Lösung der Weltprobleme in der Philosophie zu su-
94
Bücher zum Thema
chen; dass andere Kulturen dies jedoch nicht so sehen?
So erscheint es dem Rezensenten als
offene Frage, ob die sich etablierende
interkulturelle Philosophie die Gegenwart der Philosophie in aller Kultur beschwört, wie Heinz Kimmerle
dies tut; oder ob sie nicht einen Standpunkt jenseits aller Kulturen einzunehmen hätte, der von R.A. Mall so
schillernd als der einer „orthaften
Ortlosigkeit“ bezeichnet worden ist,
und der in den Denkweisen der Kulturen nach Verbindendem und Trennendem, nach ihren ‚Überlappungen’
wie nach ihren ‚Verpackungen’,
sucht.
Trotz dieser gleichsam internen Kritik ist Kimmerle mit dem Band ein so
umfassender wie kompakter Überblick über den derzeitigen Stand dieses neuen Zweigs der Philosophie gelungen, dass er nicht zuletzt wegen
der darin verarbeiteten Literatur jedem Interessierten nur empfohlen
werden kann.
Alexander von Pechmann
Robert Kurz (Hg)
Marx lesen.
Die wichtigsten Texte von Karl
Marx für das 21. Jahrhundert,
Frankfurt 2000 (Eichborn), Ln.,
431 S., 25.90 EUR.
Marx ist tot, begraben, ...und vergessen? Die den Neoliberalismen geschuldete Globalisierung boomt,
schwingt von einem Höhepunkt zum
höheren. So scheint es, jedenfalls
schien es so. Ganz überraschend kam
der Absturz nicht; außer viel Gier
und Geschwätz gab es nur wenig
Substanz. Der Neoliberalismus ist
vielleicht noch nicht ganz tot, aber
Marx regt sich schon wieder, vom
Scheintod erweckt durch die verlustreichen Erfolge der new economy, aber
auch durch den Abtritt der einstigen
Apologeten. Folgt man Robert Kurz,
steht Marx vor einem Comeback aus
schierer Not-wendigkeit. Diesem Revival der abgesungenen Theorie
Marx‘ zum Durchbruch zu verhelfen
und damit (s)einen Beitrag zur Überwindung der gerade im 20. Jahrhundert unsäglich gewordenen Krise des
Kapitalismus zu leisten, fühlt sich der
als Präsentator und Kommentator,
gelegentlich auch als Interpret und
Übersetzer
agierende
Autor
verpflichtet. Wodurch man sich
zugleich
in
die
alt-vertraute
Problematik der ‚richtigen‘ MarxRezeption hineinversetzt fühlt, die
mit dem erfolgreichen Comeback
erneut erblühen dürfte. Totgesagtes
lebt
Kurz
eben
nimmt
länger.
allerdings in Anspruch,
den ‚anderen‘, den ‚negativen Systemkritiker‘, kurz den ‚unbekannten‘
Marx aus den hinterlassenen riesenhaften Textmassen zu extrahieren.
Auf der Strecke bleibt dadurch der
die Geschichte der vergangenen 150
Jahre prägende, von Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie und Realsozialismus geradezu zwanghaft verkürzte
‚Marx des Marxismus‘, der kaum
noch etwas zu sagen hat. Der ‚unbekannte Marx’ weist dagegen explizit
über jene ‚abgeschlossene‘ Epoche
hinaus, weil er an uneingestandene
Tabugrenzen der Moderne rührt, die
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsform niemals zu bewältigen
Bücher zum Thema
sein werden. Ganz einfach ist dieses
doppelschichtige Verständnis nicht
aufzulösen, aus vielen Gründen, vor
allem aber, weil Marx sich selbst nicht
immer ganz treu war – weil er sich
(als opportunistischer Tagespolitiker?) nicht immer treu sein wollte,
oder aber weil er seine Widersprüchlichkeit nicht immer in voller Konsequenz erkannte; ein anspruchsvolles
Unterfangen, das Autor wie Leser
fordert, dessen Dialektik Marx jedoch
gewissermaßen selbst herausfordert.
Um Licht in die nicht leicht zu
durchschauenden Zusammenhänge
zu bringen, geht Kurz von einem
‚doppelten‘ Marx aus, dem ‚exoterischen‘ Chefideologen eines nur vordergründig antikapitalistischen Klassenkampfes und dem ‚esoterischen‘
Theoretiker, der den Kapitalismus
durch die kategoriale Kritik seiner elementaren
Wesensbestimmungen
(wie Arbeit, Wert, Geld, Ware, Markt,
Recht, Staat etc.) als Fetisch entlarvt.
Diesen Marx als ‚okkulten‘ Denker zu
apostrophieren, der klaren Aussagen
oft widerstand, wäre allerdings treffender; denn an der (widersinnigen)
Verbreitung von Geheimwissen dürfte ihm kaum gelegen haben.
Kurz zeichnet den ‚exoterischen‘
Denker Marx als ModernisierungsTheoretiker, der durch seine Analyse
und Agitation der (in Deutschland)
noch unterentwickelten kapitalistischen Produktionsweise zu deren allmählicher Reifung beitrug. In dieser
Sicht gerät die Auseinandersetzung
zwischen Proletariat und Bourgeoisie
zum Klassenkampf wie zugleich zum
Motor der kapitalistischen Modernisierung und Durchsetzung, auch
95
wenn diese im Gegensatz zur Perzeption der Protagonisten gestanden haben mag. Jedenfalls war die Auseinandersetzung nicht gegen den Kapitalismus, vielmehr auf die politische,
rechtliche, soziale, kulturelle Emanzipation der Arbeiterschaft im Kapitalismus gerichtet. Geradezu paradox
trat dies als nachholende Entwicklung
in den östlichen (später auch südlichen) kapitalistischen Peripherien zutage, die sich als ‚antikapitalistischer
Entwicklungskapitalismus‘
(oder
Staatskapitalismus) darstellten, wobei
die marxistischen Arbeiterparteien die
beiden diametralen Funktionen gleichzeitig wahrzunehmen hatten.
Dieser ‚exoterische’ Marx, der von
seinen Apologeten bewusst reduziert
wurde auf den bloß immanenten Kritiker des Kapitalismus, gehört spätestens seit der Geschäftsaufgabe des
ersten kommunistischen Großversuchs der Geschichte an, hat Bedeutung nur noch insoweit, als er verschränkt und vermengt bleibt mit der
Analyse des ‚esoterischen’ Theoretikers, dem Kurz angesichts der Misere
des globalen Kapitalismus befreiende
Kompetenz zumisst. Sehr viel interessanter als der ‚exoterische’ Marx,
der über Lassalle in die revisionistisch-reformistische Praxis der Sozialdemokratien führte, mit der die Arbeiterbewegung im Kapitalismus geradezu aufging, ist also der
Theoretiker der finalen kapitalistischen Krise, der von Kurz so genannte ‚esoterische‘ Marx, der die
stummen Apriori des warenproduzierenden Systems zum Gegenstand seiner Analyse macht.
Dieser ‚esoterische‘ Marx kritisiert
96
Bücher zum Thema
nicht mehr die dem Kapitalismus
immanenten Mängel, er kritisiert den
Kapitalismus prinzipiell, als ein System, das in der Befolgung seiner Ansprüche an einem objektiven inneren
Selbstwiderspruch zerbrechen muss.
In der Deutung Kurz‘ ist der zentrale
Begriff dieser Kritik der des ‚Fetischismus‘, weil Marx damit die
Rationalität
des
scheinbar
Selbstverständlichen zum Fremden,
Falschen und Erklärungsbedürftigen
macht; dadurch wird die kategoriale
Kritik der kapitalistischen Ökonomie
möglich und nötig. Besondere
Bedeutung erlangt dabei, was Marx
als
‚automatisches
Subjekt‘
bezeichnet,
die
kapitalistische
‚Fetisch-Gottheit‘, die aus Gründen
der Konkurrenz zwingend fordert,
den größten Teil des in Geld
zurückverwandelten Mehrwerts wieder in den kapitalistischen Reproduktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter zu reinvestieren. Die Erweiterung
der Produktion um dieses Zwanges,
eines irrationalen Selbstzwecks willen,
wirkt nicht nur destruktiv auf Mensch
und Natur, denen tote, ökonomisierte
Dinge gegenübertreten, die als axiomatische Selbstverständlichkeit behandelt werden, sie führt auch dazu,
dass abstrakte Arbeit überflüssig
wird; die Grenze der Arbeitsgesellschaft aber ist logisch identisch mit
der
Kurz
Grenze
siehtdesdiese
Kapitalismus.
Grenze mit der
mikroelektronischen
Revolution
schon bald erreicht – aber was dann?
Es ist – zu – einfach, zu sagen, an die
Stelle von Fetisch-Verhältnissen müsse gesellschaftliches Bewusstsein,
müsse ein von selbstbestimmten Institutionen organisierter Entschei-
dungsprozeß jenseits von Markt und
Staat, müsse das Ende der kapitalistisch erzeugten Großkatastrophen,
die Überwindung der kapitalistischen
Zumutungen an die Menschen und
die Natur treten. Denn dabei steht
nicht nur infrage, wie die – von Marx
nicht mehr gelieferte – Blaupause in
concreto aussehen könnte, es geht
insbesondere um das soziale Subjekt,
das diese Veränderungen bewirken
könnte. Denn auf die Selbstzerstörung des Kapitalismus, die durch den
Bezug auf dessen logische Grenzen
suggeriert wird, zu warten, hieße die
Großkatastrophen geduldig hinzunehmen; und wohin die Reformulierung einer kritischen Theorie führt,
für die der Autor plädiert, bleibt bis
auf weiteres offen.
So überzeugend die Analyse, so
frustrierend die angebotenen Optionen. Die fehlende Perspektive, die
freilich auch der hier übergangene
‚revolutionäre‘ Marx nicht wirklich
hätte zu bieten vermögen, stimmt jedenfalls nicht gerade hoffnungsfroh,
auch weil die Akzeptanz einer wiederbelebten Marx-Rezeption, insbesondere durch die jüngeren Generationen, auf die der Autor ein wenig
baut, verloren gehen könnte. Zu dieser fehlenden Akzeptanz beitragen
dürfte auch, dass Robert Kurz auf
den ‚ökologischen‘ Marx, den es zumindest in rudimentären Aussagen
gibt, vollständig verzichtet hat.
Die Rezeption wird – unnötig – aber vor allem dadurch erschwert, dass
Kurz es nicht versteht oder nicht für
nötig hält, Marx, den schon viele Generationen kaum richtig zu verstehen
gelernt haben, klar und verständlich
Bücher zum Thema
darzustellen. Damit sind selbstverständlich nicht die zahlreich abgedruckten Text-Passagen aus Marxschen Werken gemeint, die der
Schrift den – nicht nur appellativ gemeinten – Titel gaben, sondern die
diesen Auszügen vorangestellten
Kompilationen und Interpretationen
des Autors, die häufig so schwer verständlich sind wie die Texte Marx‘,
die zudem zumindest für Einsteiger
kaum auffindbar sein dürften, weil
Kurz auf den Bezug zu Standardausgaben (MEW oder MEGA) verzichtet.
Dieser Einwände ungeachtet: ‚Marx
lesen‘ lohnt sich immer wieder!
Bernd M. Malunat
Werner Seppmann
Das Ende der Gesellschaftskritik? Die ‚Postmoderne’ als Ideologie und Realität, Köln 2000
(Papyrossa), geb., 300 S., 18.41
EUR.
Werner Seppmann, Jahrgang 1950,
hat auf dem zweiten Bildungsweg
Philosophie und Sozialwissenschaften
studiert und viele Jahre mit dem Marxisten Leo Kofler, der stets den theoretischen Ansätzen von Georg
Lukács verpflichtetet blieb, zusammengearbeitet. Seit einiger Zeit ist er
Mitherausgeber der ‚Marxistischen
Blätter’. Nachdem er bereits nach
dem Ideologiecharakter des StrukturMarxismus und nach der realen und
Bewusstseinsmäßigen Irrationalisierung und Brutalisierung der spätbürgerlichen Gesellschaft erfolgreich gefahndet hat, widmet er sich in seiner
97
neuesten Publikation dem Phänomen
der Postmoderne.
Seppmann findet hierbei den gesellschaftlichen Resonanzboden, als dessen Ideologie die Postmoderne fungiert, in der objektiven Realität des
Spätkapitalismus, dessen Ökonomie
sich als sämtliche gesellschaftliche Segmente subsumierende Teilrationalität
präsentiert. Diese realen Entfremdungszustände, Irrationalismen, Brüche und Ambivalenzen werden subjektiv im regressiven Alltagsbewusstsein verankert und unreflektiert als
naturläufige hingenommen: „Der entwickelte Kapitalismus als eine Vergesellschaftungsweise, die die Rationalität in den Teilbereichen extrem gesteigert hat, das Zusammenspiel der
technischen wie auch der sozialen
Kräfte aber dem blinden Zufall überantwortet, bringt permanent Entfremdung und verdinglichte Bewußtseinsformen hervor. Obwohl die
handelnden Menschen intensiv aufeinander bezogen sind, dominiert bei
ihnen der Eindruck der sozialen Isolation. Die Wahrnehmung des Anderen bleibt durch die Konkurrenzsituation geprägt, ... durch die Wirkungen
des Warenfetischismus erleben die
Menschen das von ihnen selbst konstituierte und reproduzierte Sozialverhältnis ‚als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen’
(Marx). Die soziale Welt wird als bedrohlich und lebensfeindlich erfahren... Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus erscheinen den
Menschen auf der Ebene des Alltagsbewußtseins als „naturförmig“ und
unüberwindbar.“ (157)
Diese Handlungstendenzen und Be-
98
Bücher zum Thema
wusstseinsmechanismen werden von
den postmodernen Denkern nun
wiederum auf der Ebene der Theorie
perpetuiert und als quasi menschliche
Konstanten und fundamentale Schranken verewigt, indem der gesellschaftliche Kontext ihrer Genese ignoriert
wird. So schlägt die vermeintliche
Kritik an gesellschaftlichen Zuständen durch die Verabsolutierung von
(mitunter berechtigten) Erkenntnisschranken und Partialerkenntnissen
sowie der Ontologisierung gesellschaftlicher Tendenzen in etwas um,
was der Lukács der “Zerstörung der
Vernunft“ die indirekte Apologetik
genannt hätte (und somit in der Tradition der anti-aufklärerischen, ultrakonservativen bis präfaschistischen
Philosophie von Schlegel über Nietzsche bis Heidegger steht). Seppmann
erarbeitet diesen undialektischen Lapsus als ein zentrales Merkmal postmodernen Denkens und zeigt dies
u.a. an Derrida, Lacan, Lyotard, Beaudrillard und Foucault: „Weil von
den Menschen ... die gesellschaftliche
Realität als perspektivloser Zustand
erlebt wird, sind direkte Formen der
Apologie nicht mehr möglich. Das
machtfunktionale Bewußtsein erfüllt
seine stabilisierende Rolle ..., indem
es das sozial erzeugte Mißbehagen als
Konsequenz einer prinzipiellen Absurdität und Ausweglosigkeit der
menschlichen Existenz verklärt und
auf diesem Weg die bestehende Gesellschaftsform von ihrer Verantwortung für den aggressionsgeprägten
und ungerechten Zustand der Welt
entlastet. Weil der Fortschritt bürgerlich nicht mehr gedacht werden kann,
wird er pauschal negiert.“ (153) „...
nach dem Verständnis Foucaults (hat
sich) jeder Befreiungsversuch immer
als eine raffiniertere und intensivere
Form der Unterdrückung und Reglementierung erwiesen.“ (227)
Weiterhin setzen nach Seppmann
die Postmodernen vor die aktuellen
Krisenphänomene einfach nur positive Vorzeichen, indem sie zwar an
reale Tendenzen anschließen, aber
aufgrund ihrer Fokussierung auf das
Moment vor dem Zusammenhang
und auf die Differenz vor der Totalität den gesellschaftlich produzierten
Rahmen übersehen und die Zusammenhänge verdrängen statt zu durchdringen. Ihre Beschreibung der Phänomene verlässt daher die Gefühlsebene nicht, sondern bestätigt diese
und verabsolutiert sie; sie verschafft
dem resignativen Alltagsbewusstsein,
das die aus der sozialen und ökonomischen Ohnmacht resultierenden
Ängste mit hedonistischen Freiheitsphantasien kompensieren muss, nicht
nur lebensphilosophischen Trost, sondern auch „wissenschaftliche“ Weihen. Damit aber wird genau jener
disponible, fungible und regressive
Subjektivitätstypus theoretisch zum
Vorbild erklärt, der exakt zur herrschenden gesellschaftlichen Situation
passt, in der die Krisenmomente der
spätkapitalistischen Gesellschaft auf
das Individuum abgewälzt werden. In
einer verdinglichten, dem Warenfetischismus unterstehenden Welt perpetuieren also die Postmodernen diese
Zustände in der Theorie und affirmieren sie als Fundament individueller Selbstbestimmung: „Den Menschen ... wird nahegelegt, zu lernen,
mit den Widersprüchen zu leben, die
Bücher zum Thema
soziale Bedrohung als etwas unveränderliches zu akzeptieren und sich
den wechselnden Ansprüchen anzupassen.“ (66) „Es vollzieht sich ... die
ideologische Unterwerfung in einer
Form, die von der Psychoanalyse als
Identifikation mit der Ursache des
Leidens beschrieben wird: Um sich
von der krisengeprägten Wirklichkeit
zu “emanzipieren“, passt sich das
postmodern konditionierte Bewußtsein ihr an.“ (66) Ein Plädoyer für eine dialektische Gesellschaftstheorie,
die im Sinne von Karl Marx (aus dem
die Postmoderne ja gerne eine hegelianisierenden Popanz macht) fähig ist,
die postmodernen Kritikmomente in
einen objektiv-realen wie theoretischen
Konstituierungszusammenhang zu bringen, und somit diese erst
adäquat in Geltung setzt, beschließt
das Buch.
Es ist schade, dass Seppmann eher
einen allgemeinen Überblick über den
gesellschaftlichen Zusammenhang und
die ideologischen Fallstricke der Postmodernen gibt, ohne eine genaue
Auseinandersetzung mit den einzelnen Denkern zu wagen (wie dies z.B.
Lukács’ „Zerstörung der Vernunft“
ausführlich unternommen hat). Auch
wären dem Buch ein Namensregister
sowie Fußnoten mit präzisen Literaturangaben zu gönnen gewesen; und
ich wage die Behauptung, dass kluge
Gedanken durch zahlreiche Ausrufezeichen nicht besser und referierte
dumme Ausführungen durch den inflationären Gebrauch von Anführungsstrichen nicht dümmer werden.
Dennoch ist mit dem Buch, wie mit
dem von Alan Sokal und Jean Bricmont sowie Terry Eagletons Schrif-
99
ten über Ideologie und Ästhetik, ein
bedeutender Anfang einer aktuellen
Kritik der kritischen Kritik gemacht
worden, dessen Lektüre, wie die aller
Publikationen von Werner Seppmann, dringend empfohlen wird.
Reinhard Jellen
Charles Taylor
Die Formen des Religiösen in
der Gegenwart. IWM-Vorlesungen zu den Wissenschaften vom
Menschen, aus dem Englischen v.
Karin Wördemann, Frankfurt/
Main 2002 (Suhrkamp),
102 S., 8 EUR.
Charles Taylor (geb. 1931) umkreist
in seinen Werken immer wieder das
Thema der menschlichen Identität.
Beginnend 1975 in seiner umfangreichen Untersuchung zu Hegel („Hegel“, „Hegel and Modern Society“)
betonte er die Notwendigkeit einer
Revision des modernen liberalistischen Menschenbildes, in dem das
Individuum völlig unvermittelt und
aus freien Stücken seine Identität
formieren soll. Mit der Aufforderung,
menschliche Identität im „kulturellen
Milieu“ zu verankern, schwenkte er
mit den Publikationen „What's
Wrong with Negative Liberty?“, vor
allem aber mit „Sources of the Self“
in die Phalanx kommunitaristischer
Kritik am liberalen unencumbered self
(uneingebetteten/unverankerten
Selbst) ein.
Später in den späten 80er und 90er
Jahren betonte er – ähnlich wie Honneth, aber unabhängig von diesem –
den Begriff der Anerkennung (recogni-
100
Bücher zum Thema
tion) als identitätsbildendes Moment.
Anerkennung bezog er dabei auch
politisch auf das Selbstbestimmungsrecht kultureller Gruppierungen und
ging sogar so weit, in seinem Kampf
für die Unabhängigkeit Quebecs gegen den kanadischen Premierminister
Trudeau anzutreten.
Auch der vorliegende Band „Formen des Religiösen“ behandelt das
Thema der kulturellen Verankerung
menschlicher Identität, diesmal unter
dem Blickwinkel religiöser Überzeugungen. Dabei knüpft Taylor an die
Fragestellungen an, die bereits in
„Sources of the Self“ aufgeworfen
und behandelt wurden. Dort wurde
nach der Fundierung einer Ethik ohne theistische Basis – genauer: nach
dem Ende theistischer Systeme – gefragt und die neuen moralischen
Quellen in dem festgemacht, was
Taylor expressivistische (expressivist)
Formen von Moral nannte. In „Formen des Religiösen“ wird dieser Ansatz wieder fruchtbar gemacht.
Formen des Religiösen ist eine Ausarbeitung von Vorlesungen, die Taylor am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen im Jahr 2001
hielt. Ausgangslage und Quelle Taylors Überlegungen ist die 1902 erschienene Schrift des Pragmatisten
William James (1842-1910) „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ (Varieties of
Religious Experiences), die heute noch
in den USA als wegweisende Kulturtheorie angesehen wird.
Über die Hälfte des Buches sind
James’ Theorie der Religion gewidmet. Darin versucht Taylor ihn als
„Philosoph der Schwelle“ zu entdecken, der die Moderne als einen Ort
beschreibt, in dem „Sinnhorizonte“
verloren gingen/gehen. James antwortete, so Taylor, mit einer Theorie
von Religiosität, deren wirklicher Ort
klar auf Seite „der individuellen Erfahrung und nicht im körperschaftlich verfassten Leben“ lag. Wenngleich James die Religion als Ganzes
gegen jeden Agnostizismus verteidigen wollte, seine Ansichten über deren Verortung sind für Taylor dennoch modern: die Trennung von Gesellschaft, Staat und Religion wird
nicht nur anerkannt, sondern auch
propagiert.
Im Rückgriff auf James’ laizistische
Theorie, die Religion als Ort persönlicher Erfahrung angesehen, sieht
Taylor zwei Tendenzen:
1. das öffentliche Leben unterliegt
einer immer stärker werdenden Säkularisierung, oder anders formuliert:
der soziale Rahmen duldet zunehmend weniger die Wiederspiegelung
bestimmter Glaubensüberzeugungen;
2. Spiritualität im Sinne personaler
Religion schafft immer weniger kollektive Bindungen, oder anders formuliert: Religiosität wird zunehmend
personaler und individueller.
In der Ableitung seiner eigenen expressivistischen Theorie von Religiosität bedient sich Taylor einer geschichtlich-systematischen Methode.
Er betrachtet die historischen Paradigmen von Religiosität nach dem
Verhältnis Individuum, Gesellschaft
und Religion:
1. Vor-Durkheimsche Auffassung von
Gesellschaft und Religion: in dieser
noch verzauberten Welt ist das Sakrale allgegenwärtig. Gottes Vorsehung
und Plan ist in Gesellschaft und
Bücher zum Thema
Kosmos unmittelbar präsent.
2. Paläo-Durkheimsche oder barocke
bzw. katholische Auffassung von Gesellschaft und Religion: hier ist das
Sakrale nur mehr im politischen Gemeinwesen präsent und zwar als Idee
der sittlichen Ordnung (Locke). Die
Kirche als körperschaftlicher Ausdruck des Sakralen selbst ist mit der
Gesellschaft deckungsgleich. Die Zugehörigkeit zur Kirche wird mit der
Zugehörigkeit zur Gesellschaft als
politisch-sittlichem System gleichgesetzt.
3. Neo-Durkheimsche oder protestantische Auffassung von Gesellschaft und Religion: hier taucht zum
ersten Mal das Moment der individuellen Wahl von Religion auf. Mit ihr
aber auch die Idee, dass es religiöse
Überzeugungen geben kann, die nicht
den Anspruch erheben, in einer körperschaftlichen Struktur für alle Menschen zu enden. Denominationen wie
die Methodisten verstanden sich bewusst als Kirche für Wenige, eben
nur für die, die die gleichen individuellen Erfahrungen teilten. Ergebnis
war das, was Bellah „civil religion“
nannte. Die Trennung von Kirche
und Staat war ihr historisches Ergebnis.
4. Post/Nicht-Durkheimsche,
expressivistische oder moderne Auffassung von Gesellschaft und Religion:
In den Durkheimschen Auffassungen
war noch das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Religion
konstitutiv: das Individuum definierte
sich zu einer Gesellschaft zugehörig,
indem es religiöse Überzeugungen
mit ihr teilte und diese Überzeugungen an einem Gott, einer Vorsehung
101
festhielten. In der modernen expressivistischen Form von Religion wird
das Moment der individuellen Wahl
noch mehr gestärkt und es schwindet
das Moment der Konfessionalität.
Der Einzelne erlebt Spiritualität als
Je-Eigenes – unabhängig von der Spiritualität anderer – und er erlebt es
ohne den Rahmen des Sakralen sei es
Kirche oder Staat.
Größter Katalysator der expressivistische Auffassung von Religion ist
für Taylor die heutige individuelle
Konsumkultur, insbesondere die Jugendkultur seit den 60er Jahren. Hier
wurde die Ablehnung des Sakralen,
der großen Beziehungsrahmen wie
Kirche und Staat, mit dem Verweis
auf das Recht auf individuelle Wahl
und Selbstbestimmung begründet.
Der Begriff des Privaten wurde als
das Recht definiert, eigene Wahlentscheidungen zu treffen, aber auch als
die Pflicht anderer, diese unbedingt
zu akzeptieren („Prinzip der Nichtverletzung“).
Was die heutige Spiritualität selbst
betrifft, sieht sich Taylor weltweit in
seiner These radikaler Individualisierung bestätigt: konfessionelle Religionen befinden sich auf dem Rückzug,
die Zahl derer, die an etwas persönlich Göttliches glauben, steigt.
In diesem neuen Band erfasst Taylor ein vorderhand soziologisch abgehandeltes Thema auch in seiner
historischen Dimension und erschließt so neue gesellschaftsphilosophische Horizonte des Themas.
Trotz des unbestreitbaren Faktums,
dass die Bedeutung konfessioneller
Religion in der Moderne schwindet,
erscheint Taylors Verortung neuer
102
Bücher zum Thema
Gemeinschaftlichkeit und Religion im
Konsum als recht vorschnell. Sind
doch die horizontalen Bindungen
freiwilliger Assoziationen zu schwach
und in Staat und Gesellschaft zu unwirksam. Würde Taylor diese Schwäche expressivistischer Religiosität anerkennen, dann müsste er zum Ergebnis kommen, dass das Religiöse in
der Gegenwart selbst auf dem Rückzug ist. Das jedoch mag man vielleicht für den Westen behaupten
können; für andere Regionen der Erde ist es keineswegs schon entschieden.
Wolfgang Melchior
Slavoj Zizek
Die Tücke des Subjekts
Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp),
geb., 548 S, 32,80 EUR.
Die Globalisierung verlangt nach
Schriften, die aufs Ganze gehen.
Großtheorien sind wieder gefragt.
Überall gibt es mittlerweile Arbeitsgruppen zum „Empire“, dem neuen
Buch von Hardt und Negri. Das ist
gut so. Aber es gibt ein Buch, das
noch viel besser ist: „Die Tücke des
Subjekts“ von Slavoj Zizek, Professor
für Philosophie in Ljubljana. Leider
fehlt im deutschen Titel der Untertitel: „The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology“.
Das Buch beginnt mit einer Anspielung auf ein mehr als 150 Jahre altes
Werk, das damals die Welt erschüttern wollte. „Ein Gespenst geht um
in der westlichen Wissenschaft, das
Gespenst des cartesianischen Subjekts.
Um es auszutreiben, haben sich alle
wissenschaftlich-akademischen
Mächte zu einer heiligen Allianz zusammengeschlossen...“ (7) Was dann
folgt ist in der Tat so etwas wie ein
kommunistisches Manifest; aber eines
der speziellen Art, ein kommunistisches Manifest des Subjekts: „Es geht
... nicht darum, zum Cogito in der
Weise zurückzukommen, in der dieser Begriff das moderne Denken beherrscht hat (in Form eines sich
selbst transparenten, denkenden Subjekts also), sondern seine vergessene
Rückseite ans Licht zu bringen...“ (8)
Zizeks Frage lautet in der Tat, was
heute Subjektivität noch bedeuten
kann, warum wir auf diese Vorstellung zurückgreifen müssen, wenn wir
– angesichts des globalisierten
Kapitalismus und seiner Folgen –
auch nur ansatzweise wieder politisch
werden wollen. Um dabei jedoch
weder in die Rolle des Hofnarren zu
verfallen, dessen wahre Aussagen
folgenlos bleiben, noch in die des
Schurken, der in der Geste absoluter
Ehrlichkeit – wie ein echter Realo –
zynisch den freien Markt verteidigt,
müssen wir uns um eine dritte
Haltung, ein tertium datur umsehen.
„Vielleicht“, meint Zizek, „können
die Konturen dieses tertium datur
mittels einer Bezugnahme auf das
grundlegende ‚Vermächtnis Europas’
aufgezeigt werden“ – ohne dass dabei
jeder selbstbewusste Linken sofort
nach der Pistole greift und beginnt,
„Beschuldigungen
auf
den
protofaschistischen eurozentristischen
Kulturimperialismus abzufeuern“. Ist
es möglich, „sich eine linke
Aneignung
der
europäischen
politischen Tradition vorzustellen?“
(286) Genau das macht Zizek. Dass
Bücher zum Thema
zek. Dass das auf knapp 550 Seiten
nicht ohne Gedränge und Verknappung möglich ist, versteht sich von
selbst.
Das Buch gliedert sich in drei Teile:
Erst begibt er sich auf die Spuren des
deutschen Idealismus (Heidegger, Hegel, Kant), dann befasst er sich mit
der französischen post-althusserschen
politischen Philosophie (Badiou, Ranciere, Laclau und Balibar) und setzt
sich schließlich mit den Cultural bzw.
Gender Studies (Butler, Giddens,
Beck) auseinander.
Gehen wir mitten hinein in Zizeks
Ansatz. Hegels Wahrheit des absoluten Subjekts ist für ihn, Zizek, nichts
weiter als das Nichts. Warum? „Dieses
Nichts steht letztlich für das Subjekt
selbst, das heißt, es ist der leere Signifikant ohne Signifikat, der das Subjekt
repräsentiert. Das Subjekt ist somit
nicht direkt in der symbolischen
Ordnung enthalten: Es ist gerade als
der Punkt in ihr enthalten, an dem
die Signifizierung zusammenbricht.“
Durch das Subjekt als leeren Signifikanten werde jedoch „das Subjekt
nicht einfach in dessen Netzwerk eingebaut; vielmehr wird gerade sein
Ausschluss (signalisiert durch die
Tatsache, dass es für diesen Signifikanten kein Signifikat gibt) darin inkludiert, wird dadurch markiert, registriert.“ (154 f.) Es gibt also kein
substantielles Subjekt für Zizek. Es
ist das Nichts; aber gerade dies bedeutet nicht, dass es unerheblich oder
„bedeutungslos“ wäre. Denn dieses
ausgeschlossene Nichts sind wir
selbst; die, die markiert, registriert
werden. Wie das? – Ersetzen wir im
vorigen Zitat das Wort „Netzwerk“
103
durch „Gesellschaft“, dann wird der
Gedanke deutlicher: Wir sind, was
wir werden; und wir werden, was wir
sind, durch die Gesellschaft. Wir
schreiben uns in dieses Nichts ein
durch das, wie wir mit Gesellschaft
umgehen, und wie sie mit uns umgeht. Bei Hegel ist dieser Prozess auf
philosophischer Ebene durch das
Verhältnis von absoluter und konkreter Allgemeinheit gekennzeichnet.
Konsequenterweise trägt daher Zizeks zweiter Teil den Titel „Die zersplitterte Allgemeinheit“. Denn durch
nichts wird die gegenwärtige Phase
der Weltgeschichte auf der Ebene des
Subjekts klarer gekennzeichnet, als
dass die Allgemeinheit in (nicht
mehr?) verbundene „Unter-Allgemeinheiten“, in „Subkulturen“ zerfällt. Für Zizek ist es daher klar, dass
„der wahre linke Universalismus keine Rückkehr zu irgendeinem neutralen allgemeinen Inhalt bedeutet (zu
einem allgemeinen Begriff der
Menschlichkeit o. ä.); vielmehr bezieht er sich auf ein Allgemeines, das
nur in seinem partikularen Element
zu existieren beginnt ... in einem Element, das strukturell deplatziert,
‚aus den Fugen’ ist. Innerhalb eines
gegebenen gesellschaftlichen Ganzen
ist es genau dasjenige Element, das
daran gehindert wird, seine volle partikulare Identität zu aktualisieren, die
für seine allgemeine Dimension
steht.“ (312)
Im 19. Jahrhundert noch hatte ein
solches spezielles „Element“ die
Kraft, in ihrer konkreten Allgemeinheit der wahren, absoluten Allgemeinheit zum Durchbruch zu verhelfen. Dieses Element war das Ge-
104
Bücher zum Thema
spenst, das das „Kommunistische
Manifest“ meinte. „Um Marx’ klassisches Beispiel aufzunehmen, steht
‚Proletariat’ nicht deshalb für die allgemeine Menschheit, weil es die am
tiefsten stehende und am meisten
ausgebeutete Klasse wäre, sondern
weil deren bloße Existenz ein ‚lebendiger Widerspruch’ ist, das heißt, weil
es die grundsätzliche Schieflage und
Inkonsistenz des kapitalistischen gesellschaftlichen Ganzen verkörpert.“
(312 f.) – Heute jedoch sehe die Sache etwas anders aus. Als Beispiel für
ein solches zeitgenössisches „Element“ dient Zizek eine der schillerndsten Randgruppen unserer Zeit:
„Lange Zeit glaubten die Befürworter
der sexuellen Befreiung, die sexuelle
Repression der Monogamie sei für
den Kapitalismus notwendig. Heute
wissen wir, dass der Kapitalismus
Formen ‚perverser’ Sexualität nicht
nur tolerieren, sondern diese auch aktiv auslösen und ausbeuten kann...
Und wenn dasselbe Schicksal die queeren Forderungen erwartet? („queer“
meint die Identitäten all derer, die
quer zur sog. ‚Normalität’ stehen; W.
H.) Das augenblickliche Wuchern
von unterschiedlichen sexuellen Praktiken und Identitäten ... ist alles andere als eine Bedrohung des gegenwärtigen Regimes der Biomacht (um
Foucaults Begriffe zu verwenden).
Gerade diese Form von Sexualität
wird durch die derzeitigen Bedingungen des globalen Kapitalismus erzeugt, die klarerweise jenen Subjektivitätsmodus favorisieren, der durch
multiple wechselnde Identifikationen
charakterisiert ist.“ (314 f.) Wer heute
also nicht in die Falle unbewusster
Affirmation tappen will, weil er immer noch der Ansicht ist, dass das,
was ist, falsch und inhuman und daher abzuschaffen sei, wird sich im
Bemühen, das eigene „Nichts“ zur
Konstruktion des eigenen Ichs mit
Inhalten zu füllen, nach anderen
Quellen umsehen müssen.
Zizek knüpft dazu an den Streit um
die ‚Frankfurter Schule’ an und stellt
uns vor die „Wahl zwischen Adorno/Horkheimer und Habermas“. Dessen Bruch mit Adorno und Horkheimer bestehe darin, dass er den
Grundbegriff der Dialektik der Aufklärung zurückgewiesen hat. Für ihn
werden Phänomene wie totalitäre
politische Regime oder die Entfremdung des modernen Lebens nicht
durch die dem Projekt der Aufklärung innewohnende Dialektik hervorgerufen, sondern durch dessen inkonsequente Realisierung. Im Gegensatz dazu halten Adorno und
Horkheimer an dem dialektischen
Verfahren fest, die beunruhigenden
Exzesse dieses Projekts selbst als die
symptomatischen Punkte zu lesen, an
denen sich die Wahrheit des gesamten Projekts zeigt: Für sie besteht die
„einzige Möglichkeit, die Wahrheit irgendeines Begriffs oder Projekts zu
erreichen, ... darin, sich der Stelle zuzuwenden, an der das Projekt fehlging.“ (479)
Im Kapitel über die politische Ökonomie, dem spannendsten und auch
verständlichsten Teil des Buches mit
dem bezeichnenden Titel „Um die politische Ökonomie geht es, Dummkopf!“ spricht Zizek dann aus, worin
der Kern des heutigen „globalen Projekts“, das fehlgeht, besteht, und was
Bücher zum Thema
ihm, also Zizek, eigentlich am Herzen
liegt: die Erneuerung der alten Forderung, den Kapitalismus endlich abzuschaffen. Bei all den Fragen um eine
zweite Moderne, eine nicht vollendete Moderne, die Anerkennung der
Subkulturen und der sog. „Patchwork-Identitäten“ wurde nämlich
vergessen, was gleich geblieben ist.
„Anstatt also die neuen Freiheiten
und Verantwortlichkeiten zu bejubeln, die uns die ‚zweite Moderne’
beschert hat, ist es viel wichtiger, sich
darauf zu konzentrieren, was sich in
dieser ganzen globalen Verflüssigung
und Reflexivität gleich bleibt und genau diesem Im-Fluss-Befindlichen als
Antriebsmotor dient: die unerbittliche
Logik des Kapitals... Weit davon entfernt, mit dem Abgrund seiner Freiheit konfrontiert, das heißt, mit der
Bürde der Verantwortung beladen zu
werden, die von keiner helfenden
Hand der Tradition oder der Natur
gemildert werden kann, ist das heutige Subjekt vielleicht mehr denn je im
Griff eines unerbittlichen Zwanges,
der in der Tat sein Leben bestimmt.“
(490)
Nun ist freilich die Forderung, den
Kapitalismus abzuschaffen, weil er
ein inhumanes System darstellt, nicht
neu. Dazu bedurfte es und bedarf es
der Individuen, die das wollen wollen.
Dies zweifache „wollen“ drückt aus,
dass dieses Wollen kein einmaliger
Akt, den das Individuum eines Morgens vollziehen könnte. Es hat vielmehr zutiefst mit dem zu tun, was
das Individuum sich selbst ist, was es
aus sich als dem leeren, dem randständigen und irgendwie doch dazu-
105
gehörigen, Signifikanten macht. Warum die Freiheit nicht einfach gewählt werden kann, zeigt Zizek klar
auf: Er zeigt, in welche Sackgassen
wir geraten, wenn wir „Freiheit“ meinen und die Frage des Subjekts als
bereits gelöst oder überflüssig erachten.
„Die Tücke des Subjekts“ ist ein
großes und wichtiges Buch. Allen, die
am herrschenden System etwas auszusetzen haben, sei es mit Nachdruck
ans Herz gelegt. Allerdings hat die
Sache einen kleinen und einen großen
Haken. Der kleine ist, dass zumindest
die deutsche Ausgabe kein Namensregister und kein Literaturverzeichnis
besitzt. (Und ich dachte, auch der
Suhrkamp-Verlag hätte inzwischen
Computer.) Bei weiteren Auflagen
muss dies berücksichtigt werden. Der
große Haken ist, dass es sehr schwer
zu lesen und zu verstehen ist. Man
braucht Zeit und Muße und einiges
an Vorwissen. Vor allem braucht man
eine gute Kenntnis der Theorie
Jacques Lacans, auf die auf fast jeder
Seite Bezug genommen wird. Zizeks
Buch verlangt daher mehr „Übersetzungsarbeit“ als Hardts und Negris
„Empire“. Alle Gegner der Globalisierung sollten es trotzdem versuchen. Warum? Weil vor der Handlungsanleitung noch immer die Analyse kommt, und weil man dann auch
Hardt und Negri besser versteht.
Denn in diesem Fall geht es um nicht
mehr oder weniger als um die Analyse dessen, was wir sind: Subjekte.
Wolfgang Habermeyer
Kim Lan Thai Thi
„Warum ging Bodhidharma
gen Osten?“
Ein Koan zur Lehrbiografie
Wenn ich die Augen zumache und versuche, einen Moment an den Ursprung meines Geisteslebens zurückzudenken, so sehe ich mich zunächst
als Kind im Schoß meiner Großmutter schlummern – es war kein dogmatischer Schlummer nach Kantischer Art, sondern ein sinnlich angenehmerer
–, ihrer singend rezitierenden Stimme zuhörend: „Nhan chi so tinh ban thien,
tinh tuong can tap tuong vien“. Es war der erste Satz im Buch der Lehre von
Konfuzius. Er besagt, daß die menschliche Natur im Ursprung gut ist, daß
diese gute Natur jedem innewohnt, und erst die Erfahrung den Menschen
von ihr entfernt!
Natürlich habe ich in jenen Stunden nichts davon verstanden. Mir ist nur
für immer die sanfte Stimme der gutmütigen alten Dame von der königlichen Familie Vietnams aus der Kaiserstadt Hue im Herzen zurückgeblieben. Das Wort „Thien“ – GUT – klang wohltuend wie der direkt in mein
Ohr dringende warme Herzschlag der lieben Frau. Es war gut und beruhigend wie jener tiefer Gongklang aus der Pagode nahe unserem Haus, der
jeden Abend das Rezitieren des Meta-sutras – des Sutras des Mitgefühls –
meiner Mutter vor dem Einschlafen begleitete. Rezitierte Buddhistische
Sutren und das gesungene konfuzianistische Lehrbuch liegen meinem Herzen-geist (Tam) zugrunde, ohne daß ich zunächst davon begrifflich etwas
verstanden hatte. Doch Jahre später stellte ich mit angenehmem Erstaunen
fest, daß mich meine Großmutter bereits in meiner Kindheit neben vielen
Wiegenliedern in die konfuzianische Lehre und meine Mutter in die buddhistische Lehre eingeführt hatten. Beide Frauen waren Witwen, deren Männer als Opfer des vietnamesischen Krieges früh verstorben waren. Sie haben mich aber einerseits nach der Überlieferung des von Menzius traditionell ausgelegten Konfuzianismus sowie andererseits des Amidismus der
buddhistischen Mahayana-Richtung sanft in den Schlaf gewiegt. – Die andere Hälfte der Lehre des Konfuzius, die zu Menzius’ Interpretation gegen-
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
107
sätzliche Auslegung des Tzuanzu, nach der die menschliche Natur vom Ursprung böse ist, erfuhr ich erst später am Gymnasium im Unterricht der
traditionellen chinesisch-vietnamesischen Geistesgeschichte, aber auch in
der politisch-philosophischen Debatte im gesellschaftlichen Leben einer
Vietnamesin, deren Land das gleiche Schicksal des ehemaligen Deutschlands erfuhr, geteilt in zwei von gegensätzlichen Ideologien beherrschten
Hälften: einer sozialistischen und einer kapitalistischen.
Ich bin also in einem Land geboren, dessen Geschichte von verschiedensten kulturellen Strömungen getragen ist: aufgrund der 1000 Jahre langen
chinesischen Herrschaft wurde das geistige Leben der Vietnamesen bis zum
9. Jhdt. durch den Konfuzianismus und den Taoismus bestimmt; und
gleichzeitig beeinflußte der Buddhismus die vietnamesische Lebensanschauung mit der Lehre von der Befreiung vom Leiden, sprich: vom Leiden
eines unterdrückten Volkes. Während der tausendjährigen Unabhängigkeit
wurde so trotz Fremdherrschaft das ungebrochene Nationalbewußtsein
immer wiederhergestellt. Danach wurde während der fast 100 Jahre langen
französischen Kolonialherrschaft (von 1884 bis 1954) der Einfluß der westlichen Zivilisation unvermeidbar; aber gleichzeitig prägte der ununterbrochene nationale Befreiungskampf im vietnamesischen Geist jene Sehnsucht
nach Selbständigkeit und Behauptung der kulturellen Unabhängigkeit. Mit
der Teilung Vietnams (1954) in das kommunistisch-demokratische Nordvietnam und das republikanische Südvietnam entbrannte dann während eines halben Jahrhunderts die Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus,
der geistigen Grundlage des Aufbaus und des Kampfs gegen den amerikanische Imperialismus, und dem von den sog. neo-kolonialistischen amerikanischen Mächten unterstützten Kapitalismus. Zu den „Opfern“ dieses
Konfliktes kann man die vietnamesische Tradition des Geistes zählen.
Ich bin also in einer der bewegtesten Perioden der Geschichte meines
Landes herangewachsen: in den 40er Jahren erklärte Ho Chi Minh die Unabhängigkeit Vietnams von der französischen Kolonialherrschaft, die erst
1954 mit dem Sieg von Dien Bien Phu auf der Konferenz in Genf anerkannt wurde. 1954 mußte der König Bao Dai unter dem Druck der Amerikaner und Franzosen abdanken, und sein eigener – zunächst auch von den
Amerikanern aufgestellter – Ministerpräsident Ngo Dinh Diem übernahm
die Rolle des Staatsoberhaupts von Südvietnam. Die ideologische Ausei-
108
Kim Lan Thai Thi
nandersetzung zwischen Nord und Süd nahm deutlich eine kriegerische
Gestalt an.
Ich bin aber auch in einer Stadt geboren, die hundert Jahre lang das feudale Zentrum des traditionellen, kulturellen und geistigen Lebens darstellte:
die Kaiserstadt Hue in Zentralvietnam, deren Lebensstil zum Teil mein
Denken beeinflußte. An einem solchen Ort war es nicht ungewöhnlich, neben dem politischen Trubel die Frage nach der menschlichen Natur zu erörtern oder zu besingen, wie meine Großmutter es getan hat; denn das
Streben der Menschen in dieser Stadt war, allen wirtschaftlichen und politisch-gesellschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz, auf das Ideal als Lebensziel gerichtet, sich nach dem Vorbild des Konfuzius zum Philosophen
ausbilden zu lassen. „Philosoph“ ist hier jedoch eher als „der Weise“ nach
asiatischer Vorstellung, nicht aber als rein intellektueller Denker zu verstehen.
Als Kind einer traditionell buddhistisch-konfuzianischen Großfamilie kaiserlicher Abstammung sah ich mich an dieser Lerntradition orientiert. Zunächst aber erlebte ich Enttäuschungen angesichts der Unterentwicklung
des Landes. Unsere Zuflucht in den alten Lehren zu suchen, lehnten wir
junge Menschen ab. Es bot sich an, sich mit dem Marxismus und anderen
westlichen Denkrichtungen auseinanderzusetzen. Die Begegnung mit der
westlichen Kultur geschah bereits in der Schule, wo wir unsere Fächer nach
französischem Erziehungsmuster auswählen und uns zum Abitur vorbereiteten mußten. Ich kann heute keine Erklärung für meine eigenartige Entscheidung geben, erst Mathematik und dann Philosophie gewählt zu haben.
Ich war die einzige Frau meiner Klasse, die sich für das Studium der Philosophie – so unpraktisch und unökonomisch – entschied. Aber ich weiß,
daß mich in dieser Zeit die Konfrontation mit der westlichen Philosophie
sehr bewegte. Sie überzeugte mich zunächst mit Descartes’ Denkweise,
„klar und deutlich“ zu denken; und besonders die Methode der Analyse
und das systematische Denken schienen mir den richtigen Weg zur Wahrheit zu zeigen. Damals artikulierte sich die Sehnsucht nach einer totalen und
endgültigen Lösung auf allen Gebieten des Lebens meiner Heimat: individuell-existentiell, sozial und politisch; der Durst und der Hunger nach einem vollkommenen Wissen, das allein die Philosophie in ihrer klassischen
Bedeutung zu befriedigen vermochte. Es war eine durch und durch berechtigte Hoffnung, die ich während des Philosophiestudiums an der philoso-
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
109
phischen Fakultät der Universität Hue hegte und pflegte. Der Lerneifer war
wie selbstverständlich. Die Erwerbung einer Licence en Lettre in Philosophie umfaßte die verschiedensten Gebiete der westlichen Philosophie: Metaphysik, Logik, Ethik, Staatsphilosophie, Soziologie, Psychologie, Psychopathologie und Geschichte der Philosophie; während die östliche Philosophie stiefmütterlich und fast wie eine Nebensache behandelt wurde. Der
Einfluß der westlichen geistigen Strömungen von der griechischen Philosophie über Descartes, Kant, Hegel, Marx bis zum französischen Positivismus
und Heideggers Existentialismus war gewaltig. Die Auffassung, es gebe nur
EINE Philosophie, nämlich die westliche Philosophie, klang aus dem Mund
der in Frankreich ausgebildeten vietnamesischen Professoren wie ein blindes Dogma der Kirche.
Zu dieser Zeit wäre ich sogar bereit gewesen, meine eigene kulturelle Identität zu verleugnen, wenn mich nicht 1963 das politische Engagement in
einer studentischen Bewegung, die sich gegen die Diskriminierung des
buddhistischen Glaubens der Südvietnamesen durch das Diem-Regime zugunsten des Katholizismus richtete, zu meinem eigenen Ursprung zurückgeholt hätte. Ich war damals Gründungsmitglied des Studentenvereins des
Buddhistischen Sanghas in Hue, als das Verbot verkündet wurde, dass
Buddhisten zu Buddhas Geburtstag ihre Flagge nicht mehr vor dem Haus
als Zeichen der Begrüßung der Geburt von Gautama Buddha zeigen durften. Dieser gewaltlose Hungerstreik für die Gleichberechtigung der 85%
Buddhisten der südvietnamesischen Bevölkerung kostete mich zwar 3 Monate Haft ohne Gerichtsurteil; er brachte mir jedoch ungewöhnlich viele
Einsichten in die buddhistische Lehre, die ich bis dahin nur der Familientradition gemäß ausübte, ohne in der Gewaltlosigkeit (ahimsa) und im Mitgefühl (meta) für den Mitmenschen die buddhistischen Tugenden zu erkennen.
Diese Zeit des Engagements gab mir die wundervolle Gelegenheit, das Wesen des vietnamesischen Buddhismus in seiner wahrhaftigen Lebendigkeit
zu erfassen, in der das ethische Handeln nicht vom theoretischen Wissen zu
trennen ist, sie vielmehr die Ganzheit des Seins ausmachen. Zum ersten
Mal wurde ich mir zu dieser Zeit der Verblendung des Einflusses der westlichen Philosophie bewußt; und ich ahnte, eine Reise zur Rückkehr nach innen anzutreten, die auch als eine „Reise nach Osten“ zu verstehen ist. Ich
widmete mich bei bekannten Mönchen im Land dem Studium des Buddhismus.
110
Kim Lan Thai Thi
Diese „Reise nach Osten“ wurde nach dem Absolvieren der Licence en
Lettre in Philosophie und einem sich anschließenden Jahr der Lehrtätigkeit
für Philosophie am Gymnasium mit einer anderen verkoppelt und begleitet,
nämlich mit der „Reise nach Westen“: 1965 bekam ich vom DAAD ein Stipendium für das Studium in Deutschland. Das Merkwürdigste dieser Studienreise verdient hier vor allem Erwähnung: gerade am Standort Deutschland nahm ich Abschied von der westlichen Verblendung, von Griechenland, vom dogmatischen Marxismus und von Hegel, – Hegel, der die
chinesische Philosophie als „Kindheit der Philosophie“ betrachtet hatte. Ich
begann mit Hegel – um mit Hegels Hochmut über die chinesische Philosophie zu sprechen – Hegel zu vergessen! Nichts wie raus aus dem Nebel des
dogmatischen Schlummers, des Mißverständnisses der Philosophie von Ost
und West!
„Der dicke Nebel im Gebirge Lo Son und die hohen Wogen auf dem Fluß Triet Giang!
Nicht dorthin reisen zu können machte mich unendlich krank
Nun bin ich dort angekommen und entdecke nichts Besonderes außer
Dem dicken Nebel in Lo Son und den hohen Wogen von Triet Giang!“
So heißt es in den berühmten Versen von To Dong Pha, einem ZenDichter der Tangzeit.
Doch für mich war es das höchste Glück, an der deutschen Quellen, befreit von allen Vorurteilen, die größten deutschen Philosophen untersuchen
zu können. Dabei konnte ich nach und nach den Wesensunterschied zwischen westlichem und östlichem Denken entdecken, der gerade in den philosophischen Schlüsselbegriffen besteht. Denn die Asiaten legen keinen
Wert darauf, ein System der Ontologie festzulegen. Eine ontologische Begründung dient ihnen nur dazu, das ethische Handeln zur Wirksamkeit zu
bringen, d.h. zu realisieren. Allein aus diesem Grund ist die ontologische
Begründung von funktionaler Bedeutung, und zwar derart, daß sie sich in
das Nichtsein der Dinge erschöpft, d.h. aus der aktiven Teilnahme am
Werdeprozeß der Dinge zur Ganzheit der Wirklichkeit. Im westlichen
Denken aber wird das Sein in Sein und Nichts gespaltet, und so das Nichts
zur Tragödie verdammt. Im chinesischen Denken aber besteht kein Sein;
und daher auch nicht das fatale Nichts eines Nihilismus.
Das Tao, der „Weg“, ist als Grundlage des Werdens nicht zu trennen vom
„Te“, der ethischen Realisierung. In diesem ethischen Handeln besteht kein:
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
111
„es soll ...“ als Grundsatz. „Te“ ist vielmehr als die Verwirklichung des Taos, als dessen andere Seite, zu sehen. Beide bilden eine dynamische Einheit,
so daß aus dem „In-Bewegungsetzen“ des Tao das ethische Handeln sich
vollzieht und umgekehrt; gerade in dieser ethischen Realisierung zeigt sich
das Tao im Licht. Die Morallehre des „Te“ verdient daher eine Erklärung,
gehört zur Sprache, zum Lernen. Das Tao zu realisieren, ist am besten im
Schweigen. Beide, Tao und Te, liegen der Natur des Menschen zugrunde,
sind Weg und Tun eines Menschen, der Inbegriff von Menschlichkeit und
Sittlichkeit.
Daher sollen wir beim Begriff „Mensch“ nicht dem des „Individuums“
verfallen, der ja der Grund der Schwierigkeit ist, das Obengesagte über Tao
zu verstehen. So bedeutet das chinesische Schriftzeichen „yen“ sowohl
„Mensch“ als auch „zwei“ oder „Mensch und Mitmensch“; „Ich und Du“
sind nach der buddhistischen Auffassung eins. Im Denken des Konfuzius
besteht keine Unterscheidung zwischen dem „ästhetisch Unverbindlichen“
und dem „ethisch Verbindlichen“, oder, um mit Jaspers zu sprechen, „dem
Schönen und dem Guten“. Das Schöne ist nicht schön, ohne gut zu sein;
und das Gute ist nicht gut, ohne schön zu sein. Musik und Ritus fordern die
Entfaltung der Natur des Menschen. Und das Wissen um die Einheit von
Tao und Te bedeutet das Wissen der Ganzheit des Seins.
Dieses Wissen kann nicht als begriffliches Wissen betrachtet werden, sondern als eine Art von „pris de conscience“, vom Bewußtsein des Ganzen.
Es ist verschieden von der westlichen Philosophie, die mit Nachdruck das
Bewußtsein, nicht aber das Bewußtwerden betont. Im buddhistischen und
chinesischen Sinne ist dies Bewußtwerden nicht ontologisch zu verstehen,
so als werde hier ein Objekt oder ein Subjekt wie ein Begriff gebildet. Vielmehr ist das Tao, das ‚Reale’ oder der ‚Grund der Immanenz’, die Bezeichnung für etwas, das mit einer solchen Evidenz bereits vorliegt, daß wir es,
obwohl wir es – oder besser: –, weil wir es immer vor Augen haben, nicht
mehr sehen.
Diese Evidenz verdeutlicht ein Zen-Dialog:
Ein Schüler fragt Meister Chao Chou: „Was ist der Weg?“
Chao Chou: „Er liegt vor deinen Augen.“
Der Schüler fragt: „Was ist der wahre Weg?“
Chao Chou: „der alltägliche.“
112
Kim Lan Thai Thi
In diesem Sinne sagt Wittgenstein: „Möge Gott dem Philosophen die Fähigkeit geben, einzudringen in das, was vor allen Augen liegt.“
Gerade in der Auffassung des Grundes besteht der Unterschied zwischen
westlicher und östlicher Philosophie: im gewöhnlichen Sinn wird der Begriff des „Grundes“ wie der Hintergrund eines Bildes oder wie das Kapital
als Reserve benutzt. Wie aber kann man dieses Reale unter dem BegrifflichMonumentalen der künstlichen Zusammenstellungen westlicher Philosophie erfassen? Entrinnt damit der Philosophie nicht etwas Wesentliches;
und ist der Plan der Immanenz mit Deleuze nicht doch stillschweigend als
die Idee des Chaos verstehen, wie er dies in „Qu’est ce que la Philosophie“
beschreibt ? Im chinesischen Denken heißt Tao der Weg, der nicht zur
Wahrheit führt, sondern den wir passieren; er ist der Weg der Vitalität, der
Lebensfähigkeit und der Fahrbarkeit: der Philosoph konzipiert; aber der Weise überquert!
Im buddhistischen und chinesischen Denken ist der Weise derjenigen, der
sich in der richtigen Mitte befindet; einem Standort der Immanenz, wo alle
Möglichkeiten, auch die extremsten, offen sind, wo keine Position festgelegt
wird, sondern sich der Wechsel, der Widerspruch vom einen Pol zum anderen, ohne Behinderung vollziehen kann. Der Weise ist offen für jedes „so
sein“ und „also“. Nach taoistischer Auffassung ergreift der Weise das Tao
in der Art, wie es kommt, erscheint, passiert, in seinem „Von sich selbst so
sein“; also beliebig und je nach dem, wie ein hervorgebrachter Klang. Es
wird nicht mehr gesucht zu wissen, indem wir dauernd die Objekte zu determinieren versuchen, sondern sich spontan bewußt zu werden – des
Grundes der Immanenz, der das Denken mit dem Sein verbindet.
Meine Rückkehr zum Osten auf der Reise nach Westen war Moment der
Verinnerlichung der eigenen Philosophie. Sie ist wie ein Spiegel, in dem die
eigene Philosophie zur Schau gestellt wird und woraus die schöpferische
Kraft zum sinnvollen Dialog hervorgebracht werden soll. Während der Untersuchung der Transzendentalphilosophie Kants, die ich als Thema meiner
Dissertation wählte, konnte ich neben meiner Bewunderung für diesen Philosophen die unüberwindbare Kluft zwischen der Theorie und der Praxis,
zwischen Denken und Sein feststellen, die die Krise der westlichen Philosophie in ihrer Verarmung und Erstarrung mitverursacht. Sie beugt sich,
wie ein zeitgenössischer französischer Philosoph feststellt, im Erstarrtwer-
„Warum ging Bodhidharma gen Osten?“
113
den auf ihre eigene Falten. Europa bleibe „von der Weisheit nur noch der
Schutt oder die Hirtengötter wie Pyrrhon, Montaigne und den Stoikern.“1
Diese Erstarrung ist auch der Grund meines Nachdenkens über meine jetzige Lehrtätigkeit an der Münchner Universität: wie kann ich den Studenten
die Vitalität der Philosophie von Ost und West vermitteln; es ihnen ermöglichen, das Vermögen der Heilung durch vollkommenes Wissen zu erschließen und nicht in der Krankheit der konzeptuellen Erstarrung zu verharren? Einige bescheidene Schritte habe ich im Lauf der Lehrjahre gemacht – von manchen Kollegen als nicht zur Philosophie gehörend
getadelt. Aber die fünf Minuten „ruhig zu sitzen und auf das Atmen zu achten“ vor dem Beginn der Diskussion und die Wochenenden mit Meditation
und Begegnung im Gespäch wurden von den Studenten immer auf- und
angenommen als zu den fruchtbarsten Momente ihres Philosophiestudiums
gehörend.
Die Weisheit muß passierbar sein. Die Liebe zur Weisheit und Wahrheit
sollte mehr denn je entfaltet werden, besonders in dieser Zeit, in der Macht
und Haß wie noch nie mit erschreckendem Geschrei die Welt beherrschen.
1 Francois Julien, Le sage est sans idee ou l´autre de la Philosophie, S. 9, editions du
seuil, 02/1998, aus der Reihe „L´ordre philosophique“
Besprechungen
Neuerscheinungen
Hannelore Bublitz
Judith Butler. Zur Einführung
Hamburg 2002 (Junius), brosch.
155 S., 12.50 EUR.
Die Macht befindet sich genau dort,
wo das Subjekt sich authentisch und
souverän wähnt (20). Soziale Tatsachen ..., Effekte diskursiver Praktiken
... rufen den Anschein hervor, dass es
sich um Natur handelt, die unabhängig und vor aller Kultur existiert (26
f.). Die Trennung von Natur und
Kultur löst sich ... auf (30). Diese Sätze enthalten in nuce die Themen, mit
denen Judith Butler sich auseinandersetzt. Was dabei auf der Strecke
bleibt, sind scheinbare Gewissheiten.
Dass weitere Handlungsspielräume
jenseits gesellschaftlicher Konventionen zu gewinnen sind, zeigt Hannelore Bublitz in ihrem Überblick über
Butlers Werk.
Ein Ansatzpunkt für Butlers Überlegungen ist der Körper, der für uns
– entgegen landläufiger Meinung –
nicht biologisches Urgestein ist (39).
Vielmehr materialisiert sich in ihm
Gesellschaft und ihre symbolische
Ordnung. Er unterliegt Schematisierungen, Bildern, Glaubens- und Wissenssystemen, wobei die Regeln der
Wissensproduktion in Beziehung zu
den Machtverhältnissen in der Gesellschaft stehen (42). So wird die
Zwei-Geschlechtlichkeit als anatomisch-biologische Kategorie durch
Einfügung polarisierender Zäsuren in
einem Kontinuum von Geschlechtsmerkmalen erreicht (60). Dies geschieht über Sprechakte, die zitatförmig Konventionen wiederholen und
sich auf ihre Autorität berufen. Die
so
hergestellten
(Geschlechts)Normen werden performativ bestätigt. Performative Sprechakte sind
Handlungen; sie spiegeln oder festigen nicht nur eine gegebene soziale
Wirklichkeit oder Machtstruktur,
sondern sie rufen das, was sie benennen, ins Leben (33).
In der Formung des biologischen
Körpers entsprechend der kulturell
definierten Vorstellung eines Geschlechtskörpers sieht Butler den wesentlichen Mechanismus einer diskursiven Macht. Diese Macht wirkt in
der Verfestigung von Begriffen, Kategorien und Klassifikationen zu einem behaupteten körperlichen Natursubstrat und wird als solche nicht
mehr sichtbar (51). Vielmehr scheint
es umgekehrt, als ob gesellschaftliche
Vorstellungen sich aus biologischen
Fakten ergäben.
Der Körper als Naturtatsache – das
ist die Voraussetzung, die Butler
durch ihr Dekonstruktionsverfahren
in Frage stellt (44). Diese Einsicht,
dass die angebliche ‚Natur’ immer
schon Ergebnis – und nicht Voraussetzung – kultureller Erkenntnis ist,
bildet, wie Hannelore Bublitz hervorhebt, wie keine andere ein unüber-
Neuerscheinungen
windbares Hindernis für die Aufnahme der Butlerschen Thesen (56).
Denn der Körper gilt als das Authentische, als die Bastion, die als das subjektiv Widerständige unwiderstehlich
erscheint und gegen die Zwänge von
Kultur und Gesellschaft verteidigt
wird – auch von Feministinnen.
Weswegen Butlers Ablehnung der
Unterscheidung von Sex und Gender,
die sich aus ihrer Theorie konsequent
ergibt, ihr nicht zuletzt aus dem feministischen Lager heftige Schelte
eingebracht hat.
Was Butler in Bezug auf den Körper durchexerziert, führt sie auch bei
der Auseinandersetzung mit dem
Subjekt bzw. mit der Psyche fort. Sie
geht davon aus, dass gesellschaftliche
Diskurse dem Subjekt vorgängig sind,
es übersteigen und es ohne sein Wissen hervorbringen. Subjektivierung
erscheint als paradoxe Machtform:
Der Entwurf, die Bildung des Subjekts als reflexive Instanz und seine
Unterwerfung unter Konstruktionsweisen und Technologien der Macht
bilden einen Vorgang (98). Der Diskurs ist also die produktive, die
gleichzeitig erzeugende und unterwerfende Macht, die dem Individuum
eine soziale Existenz gibt (101).
Nach Butler erzeugen Diskurse aber
auch selbst Widerstände gegen sie
bzw. gegen die Machtstrukturen, deren Produkt sie sind. Normen, Rituale und Konventionen verändern sich,
indem sie dekontextualisiert werden
und damit Bedeutungen und Funktionen erhalten, für die sie gar nicht
bestimmt waren (95). Das kulturell
konstituierte Subjekt ist demnach in
der Lage, das kulturell vorgegebene
115
„Drehbuch“ umzuschreiben (87).
Dabei wird das Wort in der neuen
Anwendung, die sein früheres Wirkungsgebiet zerstört, zum Instrument
des Widerstands (97).
In derartigen Ausführungen sehen
einige Kritikerinnen Butlers nur einen
„semiotischen Guerillakrieg“ (118).
Bei der Rezeption von Butlers Theorien ist gerade im deutschsprachigen
Raum darauf hingewiesen worden,
dass vor allem die historischgesellschaftliche Fundierung ihrer
machttheoretischen Analysen mangelhaft sei. Hannelore Bublitz gibt
Judith Butler in einem Interview Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Sie
setzt damit das „i“-Tüpfelchen auf
einen klar dargestellten Überblick über Butlers Grundgedanken. So ist
das Buch zu einer äußerst gelungenen
Einstiegshilfe in deren Werk geworden.
Jadwiga Adamiak
Manfred Frank
Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp),
brosch., 279 S., 11.- EUR.
Im Gegensatz zu Selbsterhaltung,
Selbstbestimmung oder gar Selbstbewusstsein zählt der Ausdruck „Selbstgefühl“ sichtlich nicht zum Arsenal
der Schlüsselbegriffe philosophischer
Moderne. Obwohl, wie die anderen
erwähnten Termini, ebenfalls in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
geprägt
–
mithin
in
jener
geistesgeschichtlich
höchst
entscheidenden Epoche, in der sich der
116
Neuerscheinungen
Spannungsbogen von „Kritik und
Krise“ (Reinhart Koselleck) als die
basale Bedingung explizit modernen
Philosophierens herauskristallisierte –
hat das Thema des Selbstgefühls seither offenbar nur eine marginale Rolle
gespielt.
Für das mehr oder minder spurlose
Verschwinden des Selbstgefühls aus
dem philosophischen Diskurs lassen
sich eine Reihe ganz unterschiedlicher Gründe benennen. Zweifelsohne die Hauptursache für diese Entwicklung liegt jedoch in der eigenartigen Ambivalenz, ja enigmatischen
Abgründigkeit, die den semantischen
Gehalt dieser Begriffskonstruktion
ausmacht und ihren Gebrauch im
Rahmen rationaler, diskursiv überprüfbarer Argumentation außerordentlich erschwert.
Sinnigerweise war es ausgerechnet
jene schillernde Unschärfe und idiosynkratische Verschlossenheit, welcher, hauptsächlich in der deutschsprachigen Philosophie ab 1770, der
Ausdruck Selbstgefühl seine, allerdings nur zeitweilige, Popularität verdankte. Denn die beiden maßgeblichen Protagonisten dieses philosophischen Begriffs, Johann Gottfried
Herder und Friedrich Heinrich Jacobi, schufen diesen Terminus zumal
deshalb, weil dadurch jenes „unvordenkliche“ und letztlich numinose
Fundamentalprinzip artikuliert werden
konnte, das es erlaubte – dem ernüchternden Befund von Kants Metaphysikkritik zum Trotz – die disparaten Sphären von Wissen und Glauben, Reflexion und Intuition,
Epistemologie und Ontologie (wieder) miteinander zu verschmelzen.
Der von Jacobi und Herder entworfene Interpretationsansatz übte vor
allem auf die Dichter und Denker der
deutschen Romantik eine kaum zu
überschätzende Faszination aus.
Schien ihnen doch, vermöge dieses
Begriffes, die gleichermaßen ihrer
philosophischen wie ästhetischen
Produktion zugrundeliegende Synthese von Poesie und Wissenschaft, subjektiver Innerlichkeit und transzendentaler Spekulation nun auch theoretisch
abstrakt
legitimierbar.
Insofern gestattet der philosophisch
eher dunkle Begriff des Selbstgefühls
zumindest einen erhellenden und aufschlussreichen Einblick in die deutschen (Denk-)Verhältnisse um 1800.
In seiner jüngsten Publikation setzt
sich Manfred Frank, ein ebenso ausgewiesener Kenner der romantischen
Geisteswelt wie der modernen Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis
Sartre und darüber hinaus, mit dem
rätselhaften Sujet „Selbstgefühl“ auseinander. Der in Tübingen lehrende
Philosoph möchte darin nicht bloß
eine ausgreifende Sondierung der
wechselvollen Rezeptionsgeschichte
dieses Ausdrucks vornehmen, sondern, wohl erstmalig im deutschen
Sprachraum, zudem in eine konzentrierte Debatte der systematischen
Problemkonstellationen eintreten, welche dieser wunderliche Gegenstand
aufwirft. Hierzu bietet sich nach
Frank insbesondere die Kommentierung einer Textsammlung an, die ihm
zufolge „den bedeutendsten philosophischen Beitrag der Frühromantik“
darstellt: die 1797 von Novalis angefertigten „Fichte-Studien“. Mag auf
den ersten Blick die Wahl Franks
Neuerscheinungen
auch abseitig und esoterisch anmuten, so weiß der Autor sie sehr wohl
plausibel zu machen. Stellen doch die
„Fichte-Studien“ des 25-jährigen
Friedrich von Hardenberg, die aus
seiner intensiven Auseinandersetzung
mit Fichtes „Wissenschaftslehre“ hervorgegangen sind, ein philosophisches Projekt vor, das sich dezidiert
von Fichtes rationalistischer Konstruktion des „Ich“ abwandte und das
Selbstgefühl in den Rang einer, nein
der philosophischen Grundkategorie
überhaupt erhob: „Die Filosofie ist
ursprünglich ein Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die filosofischen Wissenschaften.“
Ungeachtet des eindrucksvollen
Kenntnisreichtums von Manfred
Franks
„historisch-systematischer
Erkundung“ hinterlässt die Lektüre
des Buches dennoch einen zwiespältigen Eindruck. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass es zwar einerseits eine immense Fülle begriffsgeschichtlicher
Details,
philosophiehistorischer Verweisungszusammenhänge und eine hochdifferenzierte, bisweilen allerdings geradezu scholastisch anmutende Beweisführung vor dem Leser aufhäuft, aber
andererseits ebenso naheliegende wie
gleichzeitig grundsätzliche Fragestellungen entweder nur streift oder
gleich völlig ausspart. So thematisiert
der Verfasser das eklatante Solipsismusproblem jeder auf das Selbstgefühl gegründeten Aussage genauso
wenig wie die daraus notwendig resultierende Grundsatzfrage, ob nicht
allein schon deshalb das Selbstgefühl
als ein philosophisch ernstzunehmender Begriff ausscheidet.
117
Indem Manfred Frank dieserart die
Existenz „eines ungegenständlichen
Selbst- und Seinsgefühls“ schlichtweg
hypostasiert, bleiben die Ausführungen seiner Abhandlung insgesamt im
Bannkreis idealistischer Selbstbespiegelung befangen. Insofern trifft ironischerweise auf seine Veröffentlichung
zu, was er selbst im Hinblick auf die
philosophische
Diskussion
des
Selbstgefühls abschließend konstatiert: „Blickt man auf die neueste Literatur zur Debatte, so deutet alles
darauf hin, dass das Geheimnis noch
nicht gelüftet ist. Ja, es sieht nicht
einmal so aus, als sei – begriffliche
Verfeinerungen abgerechnet – ein
wesentlich tieferes Problemverständnis erreicht worden.“
Thomas Wimmer
Otfried Höffe (Hg.)
Aristoteles: Politik
Reihe: Klassiker Auslegen,
Bd. 23, Berlin 2001 (Akademie
Verlag), 218 S., 19.80 EUR.
Sechs Jahre nach dem Band zur Nikomachischen Ethik ist in der von Otfried Höffe herausgegebenen Reihe
Klassiker Auslegen nun auch ein Band
zur Politik des Aristoteles erschienen.
Der Kommentar enthält zwölf Aufsätze von zehn Autoren, von denen
drei in englischer Sprache verfasst
sind. Ähnlich wie der 1991 von David
Keyt und Fred D. Miller, Jr. herausgegebene Companion To Aristotle’s Politics fokussiert der kooperative Kommentar auf die zentralen Begriffe und
Argumentationen von Aristoteles’ Politik. Noch stärker als sein Vorgänger
118
Neuerscheinungen
folgt er dabei deren Aufbau und ordnet die enthaltenen Texte exakt den
kommentierten Büchern und Kapiteln zu. Gerade da Aristoteles’ Werk
höchstwahrscheinlich ein „loosely
connected set of essays“ (Keyt/Miller) darstellt, ist diese Vorgehensweise
besonders angemessen.
Otfried Höffe, der Herausgeber des
Bandes, hat neben dem Einführungstext und einem Aufsatz über Aristoteles’ Politische Anthropologie auch den
Schlusstext verfasst. Darin wendet er
sich gegen die „Versuche, Aristoteles
zum Ahnherrn des Kommunitarismus zu machen“. Im Gegensatz dazu
interpretiert er Aristoteles als „Vordenker des politischen Liberalismus“,
als welcher er sich „in seiner Platonkritik, in der Betonung von Freiheit,
Gleichheit und Gerechtigkeit und in
seinem Plädoyer für den ,Rechtsstaat’“
erweist (11).
Diese Interpretation ist keineswegs
unproblematisch. So lehnt Aristoteles, wie Höffe selbst einräumt, die
politische Freiheit „im negativen
Sinn“ (189) ab, die als Willkürfreiheit
den Bürgern erlaubt, so zu leben, wie
sie wollen. Auch die von Aristoteles
thematisierte und von Höffe zur Unterstützung seiner Interpretation angeführte „positive politische Freiheit,
die demokratische Partizipation“
(191) der Bürger, die im Wechsel regieren und regiert werden, versteht
Aristoteles keineswegs als gleiche
Freiheit. So schließt Aristoteles in
den Büchern VII und VIII, in denen
er seine Wunschpolis thematisiert, die
Mehrzahl der männlichen Bevölkerung, die Bauern, die Handwerker
und die Tagelöhner, vom Bürgerrecht
und damit von der politischen Partizipation aus (Frauen und Sklaven von
Natur bleiben wegen der von Aristoteles angenommenen anthropologischen Ungleichheit sowieso außen
vor). Aristoteles’ zentrales Argument
für diesen Ausschluss, dass die arbeitenden Bevölkerungsschichten keine
Muße und deshalb einen Mangel an
den für das politische Leben
erforderlichen Tüchtigkeiten haben,
ist auch für seine Reflexionen über
Verteilungsgerechtigkeit
in
der
politischen Sphäre aus Buch III relevant. So teilt Aristoteles bei der Frage
nach der gerechten Verteilung von
Ämtern und Ehren keineswegs die
demokratische Auffassung der Freigeborenen, dass deren Freiheit allein
ein relevantes Wertkriterium und
damit ein legitimer Anspruchsgrund
auf Ämter und Ehren ist. Als einen
solchen erkennt er letztlich nur die
Tüchtigkeit eines Bürgers an,
insbesondere
die
ethischen
Tüchtigkeiten in Verbindung mit der
Klugheit. Wie bereits erwähnt,
können diese Tüchtigkeiten für ihn
allerdings nur von den Wenigsten, die
über die nötige Muße verfügen,
vollkommen verwirklicht werden
kann. Die sich daraus für Aristoteles
in der Wunschpolis ergebende
Partizipationsbeschränkung ist für
ihn somit auch ein Gebot der Gerechtigkeit, was es nochmals erschwert, ihn als „Vordenker des Liberalismus“
Eckart Schütrumpf
zu interpretieren.
bemerkt in seinem Aufsatz über Verfassungen und politische Institutionen (IV 1-16) zurecht,
dass Verfassungen, die wie Aristoteles’ Wunschpolis von der Tüchtigkeit
bestimmt sind, zu seiner Zeit bereits
Neuerscheinungen
der Vergangenheit angehören (122).
Dessen ist sich Aristoteles wohl bewusst. So äußert er nach einem kurzen Abriss über die geschichtliche
Verfassungsentwicklung: „Da gleichzeitig die Staaten auch größer wurden, so kann heute wohl nicht mehr
leicht eine andere Staatsform entstehen als die Demokratie“ (1286 b 2022). Da Aristoteles die Augen vor der
zeitgenössischen Realität nicht verschließen will, wählt er nach der Auslegung von Schütrumpf in den Büchern IV-VI der Politik einen „ganz
neuen Ansatz der Verfassungsbetrachtung“ (122). Diese Bücher differenzieren für Schütrumpf also nicht,
wie häufig interpretiert wird, die in
Buch III entwickelte Verfassungstheorie, sondern sind ein verfassungstheoretischer Neuansatz. Sie enthalten
„grundsätzliche methodische Erwägungen“, die für Schütrumpf sogar
„den wichtigsten Beitrag des Aristoteles zu seiner politischen Philosophie
darstellen“ (135). Grundprinzipien
des neuen Ansatzes sind für ihn etwa,
dass „die praktische Intention und
die Rücksicht auf das Realisierbare
dominierend“ sind und dass der „Gesetzgeber und leitende Politiker, von
denen in Pol. III nur ganz am Rande
die Rede war“, als die zentralen Persönlichkeiten politische Reformen
durchführen sollen. Dabei orientieren
sie sich nicht „an den Prinzipien distributiver Gerechtigkeit, sondern an
dem, was nützlich und angemessen
ist“ (122f.). Auch wenn Schütrumpfs
Interpretation einige bedenkenswerte
Argumente für sich geltend machen
kann, ist damit noch nicht das letzte
Wort zu der Frage über den inneren
119
Zusammenhang der acht Bücher der
Politik gesprochen.
Manuel Knoll
Otfried Höffe
Gerechtigkeit. Eine philosophische
Einführung, München 2001
(C.H. Beck), 126 S., 7.50 EUR.
Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie in Tübingen
sowie Herausgeber der Reihe „Denker“ im Beck Verlag und hat in letzter Zeit die Bücher „Demokratie im
Zeitalter der Globalisierung“ (1999)
und „Kleine Geschichte der Philosophie“ (2001) veröffentlicht. Mit „Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung“ soll auf 126 Seiten eine
„kultur- und epochenübergreifende
Einführung in Begriff und Geschichte“ „von der Frühzeit des Menschen
bis in das heutige Zeitalter der Globalisierung“ und eine „historisch und
systematisch kompetente Darlegung“
eines „zentralen Grundsatzes des
menschlichen
Zusammenlebens“
vorgelegt werden.
Wer meint, es bräuchte ein übermenschliches Genie, um auf so gedrängtem Platz eine sowohl umfassende wie adäquate Darstellung des
Themas Gerechtigkeit zu geben, die
zum einen zeitlich die Entwicklung
vom Altertum bis in die Gegenwart
nachzeichnet und zum anderen semantisch die Dimensionen der Begriffe Gerechtigkeit, Skepsis, Naturrecht, Verfahrensgerechtigkeit, Justiz,
politischer Gerechtigkeit, Menschenrechten, Strafgerechtigkeit, soziale Ge-
120
Neuerscheinungen
rechtigkeit, Toleranz und globale Gerechtigkeit auslotet, und die bei all dem
dies noch verständlich macht, mag
sich gleich wieder beruhigen: Das
Buch schafft dies in keiner Weise.
Bei der Lektüre fällt erst einmal der
Hang auf, größtenteils im Guido
Knopp’schen Theorie-Light-Format
nur knapp und dogmatisch zu dozieren statt den Gegenstand, wie es einer philosophischen Einführung
wohl
anstände,
argumentativbegründend zu entwickeln. So beschränkt sich Höffe von vornherein
darauf, die verschiedenen gerechtigkeitstheoretischen Positionen nur
darzulegen, ohne ihren semantischen
Gehalt zu überprüfen. Mag dies bei
der Darstellung ephemerer gerechtigkeitsgeschichtlicher Theoreme aus
Platzgründen noch angehen, so gerät
dies bei der Beschreibung elementarer und aktueller Gerechtigkeitsmodelle wie der Verteilungs- und
Tauschgerechtigkeit, der Menschenrechte, der Freiheits-, Sozial- und
Kulturrechte, der sozialen Gerechtigkeit und der globalen Gerechtigkeit
zu einem nicht unbeträchtlichen Fiasko: Dort, wo die Darstellung konkret werden müsste, werden keine
Untersuchungen unternommen, sondern nur die von Sachwissen weitgehend befreiten Theoreme und eine
über aller Empirie schwebende
Wunschliste präsentiert, die dem Leser, der um das Verständnis ringt,
was Gerechtigkeit bedeuten könnte,
nicht gerade erleichtert. Man hat oft
den Eindruck, dass anstelle einer philosophischen Einführung in das
Thema Gerechtigkeit die privaten
Vorstellungen des Autors zu diesem
Sujet (die wohl einer dezidiert konservativ-liberalen Auffassung des Gegenstands entsprechen) gegeben werden. Und auch diese werden – als ob
es keine anderen Positionen geben
könne – nur dargelegt und – wo überhaupt – argumentativ höchst
zweifelhaft untermauert.
So möchte man beispielsweise doch
den Sinn erfahren, wenn zum Thema
der „sozialen Gerechtigkeit“ Höffes
Plädoyer für einen „Paradigmenwechsel“ weg vom Verteilungs- hin
zum Tauschprinzip, das sein gesamtes
Buch durchzieht, mit der „Binsenwahrheit“ begründet wird, dass „die
zu verteilenden Mittel ... erst erarbeitet und im Fall der Arbeitsteilung
wechselseitig getauscht werden müssen“, um dann der weiteren Voraussetzung zu bedürfen, dies gelte freilich nur, „solange man keinen nur
ökonomischen Tauschbegriff“ verwendet (85). Abgesehen von dem logischen Trick, erst einen ökonomischen
Tauschbegriff einzuführen (und ihn
mit der Arbeitsteilung gleichzusetzen), um dann mit einem nicht-ökonomischen, der von Marcel Mauss
entlehnt wird, fortzufahren, übersieht
Höffe die andere, nicht minder gültige Binsenwahrheit, dass zumindest in
warenproduzierenden Gesellschaften,
bevor überhaupt produziert wird, die
Mittel zur Produktion schon verteilt
sind. Was wiederum zur Folge hat,
dass die einen mit ihrem Einkommen
ihren Lebensunterhalt bestreiten
müssen, während die anderen ihr
Vermögen zur Aneignung der durch
die Arbeit erzeugten Profite verwenden können. Dies aber müsste doch
seinerseits Konsequenzen fürs The-
Neuerscheinungen
ma der sozialen Gerechtigkeit haben.
Nun soll der „argumentationsstrategische Vorteil“ des Tausches darin
bestehen, „daß die Verteilungsprinzipien umstritten sind, der Grundsatz
der Tauschgerechtigkeit, die Gleichwertigkeit im Geben und Nehmen
dagegen nicht“ (68). Er sei, wie Höffe
versichert, „entwicklungsgeschichtlich ... zunächst innerhalb der Familie
und der Großfamilie“ aufgetaucht
(69, vgl. auch 87), – während der Rest
der Welt, der allerdings mit dem profanen ökonomischen Tauschbegriff
operiert, meint, zumindest in der Familie finde kein Warentausch statt.
Höffe, so scheint es, setzt ständig
Tausch und Warentausch in eins. Und
der Verdacht liegt nahe, dass er mit
seiner Absicht, den Tauschbegriff
nicht nur ökonomisch zu deuten, genau diesen universalisiert. Er hat die
Formen des Tausches offenbar schon
dermaßen internalisiert und anthropologisiert, dass er nun gezwungen
ist, ihn gleichsam als ‚Naturtatsache’
auch auf soziale Beziehungen
anzuwenden, die von sich aus keiner
Logik des Warentauschs unterliegen.
Er ordnet so den Lebenshorizont der
Menschen vollständig dem Tauschprinzip unter.
Ein weiterer Vorteil der Tausch- vor
der Verteilungsgerechtigkeit soll sein:
„Während jeder Verteilung wegen ihrer Asymmetrie ein maternalistischer
oder paternalistischer Charakter anhaftet, besteht das Grundmuster der
Kooperation unter Gleichen in der
Wechselseitigkeit, also dem Tausch.“
(86) Das mag so sein. Aber davon,
dass in der Marxschen Theorie etwa
die Menschen in der Zirkulations-
121
sphäre des Tausches zwar in der Tat
gleich, in der Produktionssphäre aber
ungleich sind, und dass die Gleichheit
innerhalb der Tauschlogik genau von
dieser Ungleichheit abstrahiert, die
dann aufgrund ihrer Gleichbehandlung in eine potenzierte Ungleichheit
umschlagen kann, von solchen Gerechtigkeitsproblemen ist Höffes Argumentation weitgehend befreit. Was
es für seine Theorie der Tauschgerechtigkeit bedeuten könnte, wenn
sich ergäbe, dass der Zirkulation real
die Produktionssphäre vorgeordnet
ist, in der die Mittel bereits ungleich
verteilt sind, so dass die einen arbeiten, die anderen aber arbeiten lassen,
d.h. schon die Produktion eine Frage
der Verteilung ist, die nicht mit der
bloßen Arbeitsteilung zusammenfällt,
darüber zerbricht sich Höffe zumindest in diesem Buch nicht den Kopf.
Er rät stattdessen, nicht zu übersehen, „daß Sozialleistungen nicht bloß
die Entmachtung von Solidargemeinschaften kompensieren, sondern sie
auch verursachen können. Im übrigen sind auch berechtigte Sozialleistungen nur in Ausnahmefällen ohne
Gegenleistung als Geschenk berechtigt. Denn im Unterschied zur Menschenliebe ist die Gerechtigkeit auf
Wechselseitigkeit ausgelegt. Im Rahmen seiner Möglichkeiten ist deshalb
kommunale Arbeit des Sozialhilfeempfängers nicht unangemessen, zumal sie seine Selbstachtung – man
verdient sich die Hilfe – steigern
kann.“ (77)
Darüber hinaus meint Höffe: „Die
soziale Gerechtigkeit gebietet schon
deshalb keine gleichen Ergebnisse
(‚Ergebnisgerechtigkeit’, besser: Er-
122
Neuerscheinungen
gebnisgleichheit), weil man sie aus eigener Verantwortung auch verspielen
kann. Auch verlangt sie, weder Unterschiede der Begabung noch des
Arbeitseinsatzes zu verleugnen.“ (88)
Soziale Differenzierungen, so muss
man dies verstehen, entstehen offenbar ausschließlich durch unterschiedliche Begabung und Fleiß. Höffe
wechselt so nach Belieben die unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion;
er changiert von ‚abstrakt gleich’ zu
‚konkret ungleich’, wie es ihm paßt:
Sind die sozialen Hierarchien erst einmal aus den unterschiedlichen Befähigungen abgeleitet („Herr und
Knecht“ würden „neutraler“ durch
„Menschen mit unterschiedlicher
wirtschaftlicher Begabung“ ausgedrückt; 62), kann der abstrakte Begriff der Tauschgerechtigkeit etabliert
werden, der die sozialen Hierarchien
ignoriert.
Zum Schluss beschwört Höffe, der
sich wundert, dass global der Reichtum ungleich verteilt ist und „erstaunlicherweise oft die ressourcenreichsten Länder unter Armut leiden“
(105), für die Fragen der globalen
Gerechtigkeit die gute alte Weltrepublik des Immanuel Kant, die „ein politisches Ideal“ sei, „dessen Verwirklichung nicht nur gerechtigkeitstheoretisch geboten ist, sondern zu dem die
Weltgesellschaft schon tatsächlich unterwegs ist“ (105), und fordert eine
„anamnetische Gerechtigkeit“ ein:
„Die Fairneß gegen die Opfer verlangt von der Weltgesellschaft, sich
nicht mit der Erinnerung an einige
besonders gravierende Verbrechen zu
begnügen und sie keinesfalls selektiv
wahrzunehmen. Daß gewisse Geno-
zide tief ins Weltgedächtnis eingegraben, andere dagegen kleingeredet oder verdrängt werden, ist ein elementares ‚anamnetisches Unrecht’ an den
Opfern.“ (109) In Sachen Völkermord, scheinen die Ausführungen
nahezulegen, sollen sich andere erst
einmal um ihre Balken im Auge
kümmern, bevor sie sich über die
deutschen Splitter Sorgen machen.
Ähnlich politisch-praktische Vorschläge weiß Höffe auch in Fragen
der Einwanderungspolitik zu machen:
„Weder dürfen friedliche Ausländer
schon an der Grenze – von den Staatsorganen oder mit staatlicher Duldung
– beraubt, willkürlich ins Gefängnis
geworfen oder gar versklavt werden,
noch dürfen sie, einmal ins Land eingelassen, dem Schutz des Zivil- und
Strafrechts entzogen werden.“ (103)
Alles in allem: Das in edler Geisteseinfalt
geschriebene
politische
Pamphlet als eine kompetente philosophische Einführung in das Thema
Gerechtigkeit zu verkaufen, ist von
einem verlegerischen samuraiesken
Wagemut, dem man höchste Bewunderung zollen muß. Deshalb: Jeder,
der erfahren will, wie eine philosophische Einführung nicht sein sollte,
muss einen Blick in dieses Büchlein
wagen.
Reinhard Jellen
Gerd Irrlitz
Kant Handbuch.
Leben und Werk, Stuttgart /
Weimar 2003 (Metzler-Verlag),
562 S., 49,90 EUR.
Irrlitz befasst sich nur beiläufig in sei-
Neuerscheinungen
seiner Vorrede mit der Perspektive
des Handbuches: es soll Kants Gesamtwerk als Einheit umreißen. Das
Lehrbuch bietet neben der Biografie
und der Beschreibung des geistigen
Klimas, in dem Kant lebte, eine
chronologische Zusammenfassung
von Kants Werken und den seiner
Zeit aktuellen Stand der philosophischen Diskussion. Den übersichtlich
gegliederten Abschnitten fügt Irrlitz
stets einige Hinweise auf Sekundärliteratur bei. Anhand des Stichwortverzeichnisses im Anhang kann man
die kantischen Schlüsselbegriffe jeweils in deren werkgeschichtlichen
Zusammenhang aufsuchen. Zusätzlich wird in dem Kapitel über die
„Kritik der reinen Vernunft“ aufschlussreich Kants Sprache und deren Leitbegriffe beschrieben.
Irrlitz zeichnet das Kant-Handbuch
als einziger Autor. Neben der Problematik dieses Unterfangens, nämlich
der Gefahr der Überforderung des
Verfassers, hat dies doch den Vorteil,
dass dem Leser ein ständiger Perspektiven- und Paradigmenwechsel
verschiedener Autoren erspart bleibt.
Irrlitz schränkt seine Darstellung auf
Kants Werk und dessen zeitgenössische Einflüsse ein. Diese Enthaltsamkeit erscheint auf den ersten Blick
sinnvoll, auch wenn sie denjenigen
politischen Aspekt von Kants Werk
beschneidet, der vor allem in Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte
interessant und mit eben dieser verwachsen ist. Dass aber der außergewöhnliche und extreme geschichtliche Anspruch – tatsächlich ernst genommen – kaum zu verwirklichen ist,
wird von Irrlitz bedauerlicherweise
123
nicht thematisiert.
Kurios erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Kants Stellung zur Französischen Revolution
als Antithese von Nietzsches hundert
Jahre späterer Verkündigung der ewigen Wiederkunft: „Eine Eigentümlichkeit der Kantschen Auffassung
der Französischen Revolution besteht
auch darin, dass er wohl meinte, solche wesentlichen Ereignisse der
Weltgeschichte geschehen eigentlich
nur ein Mal. Danach ist deren zeitgemäßes Erfordernis im öffentlichen
Bewusstsein
(‚Enthusiasmus‘)
schlechthin so verankert, dass sich
die Resultate der ursprünglichen Erneuerungsform in anderen Staaten
auf reformerischem Wege weiter
verbreiten.“ (41)
Am Vergleich zur historisierenden
Aufführungspraxis alter Musik mag
die geschichtsphilosophische Problematik des Kant-Handbuches deutlicher werden: Wie viel Mühe kostet
die Rekonstruktion alter Musikstücke,
angefangen bei den Instrumenten
und deren Stimmung, der Akustik,
der zeitgenössischen Aufführungspraxis, den Hörgewohnheiten jetzt
und damals und der unterschiedlichen Auffassung von Dynamik – um
nur einige Faktoren zu nennen. Das
Ergebnis solcher historisch-kritischen
Exekution ist im Idealfall Befremdung, Wahrnehmung der geschichtlichen Distanz, oder auch die Tatsache, dass man sich in eine andere Zeit
versetzt fühlt. Über weite Strecken,
wie auch im gelungen biografischen
Teil des Handbuchs, in dem Irrlitz
gekonnt den historischen Raum der
Aufklärung im kantischen Königs-
124
Neuerscheinungen
berg evoziert, gelingt dies. In solchen
Bereichen stellt er eine solche bewusste Distanz her, die die geschichtliche Vermittlung begünstigt. Andere
Stellen des Handbuchs sind kaum
verständlich ohne eine genaue
Kenntnis der Originaltexte oder deren Parallellektüre. Für Kantinteressierte ist das Buch in jedem Fall lesenswert.
Michaela Homolka
Ulrike Kleemeier
Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges
Berlin 2002 (Akademie Verlag),
geb., 339 S., 49.80 EUR.
Kleemeiers Buch ist aus einer Habilitationsschrift hervorgegangen, überarbeitet und mit Mitteln und Unterstützung der Clausewitz-Gesellschaft
gedruckt worden. Wie es sich im wissenschaftlichen Diskurs gehört, will
sich Kleemeier dem „Krieg“ distanziert und objektiv nähern, einen „adäquaten Kriegsbegriff“ vorschlagen
(20). Damit verbundene Reflexionen
über Begriffsbildungen sind Garnitur.
In der Einleitung wird kurz eine
Begriffsgeschichte abgehandelt, in der
wichtige Autoren und Fragen wie die
nach dem gerechten Krieg nicht fehlen dürfen. Kleemeier benennt ihr
Raster, mit dessen Hilfe sie die von
ihr behandelten Autoren untersuchen
wird: Ob Clausewitz in die Reihe von
Platon und Hobbes gehört? Auf S. 32
glimmt eine Ahnung vom Zeitbezug
der Theorien und Rechtfertigungssysteme zu Kriegsfragen auf, denen
dann jedoch nirgends nachgegangen
wird. Wie denn überhaupt die brisanten politischen Fragen mit Gegenwartsbezug in den Fußnoten zu verschwinden scheinen.
Intensiv wird Platon diskutiert. Die
in der „Politeia“ dargestellte Theorie
der Gerechtigkeit wird bezüglich der
„Wächter“ aber nur auf die Kategorie
der „Krieger“ verengt. Wie nebenbei
werden militärische Wörter wie
„Waffengang“ und „Streitkräfte“ in
die Darstellung eingespeist. Kleemeiers Analyse legt nahe, Militärs, die
philosophieren, wären die besseren
Herrscher, weil sie nicht mit der
Maßlosigkeit des Erwerbsstrebens
verquickt seien. (Gen. Reinhardt,
Gebirgsjäger, promovierter Philosoph
und Mitglied der ClausewitzGesellschaft könnte sich über diese
Ehrerbietung nur freuen.) Wird hier
argumentativ ein neues Pflänzchen
des Militarismus gehegt und gepflegt?
Wen würde es wundern, wo inzwischen doch Bomberpiloten „zur Arbeit fliegen“. Ist dies das moderne
„wahre Soldatentum“, das Kleemeier
verteidigt (99)? Wozu der Mann am
Laptop beim Durchspielen verschiedener Strategien „Tapferkeit“ benötigt, entzieht sich der Ahnung des
Rezensenten.
Moderne „Rechtfertigungen“ wie
die, ein Krieg könne als „Strafaktion“
gegen ungerechte Staaten aufgefaßt
werden, können mit Platon (nach
Kleemeier) argumentativ begründet
werden. (73) Gleiches gilt für den
Krieg gegen Zivilbevölkerungen, sofern diese ein verbrecherisches Regime getragen haben. Ob dies eine
Aufregung wert gewesen wäre?
Die bei Platon vorhandenen Ansät-
Neuerscheinungen
ze, das maßlose Erwerbsstreben als
Quelle der Kriegsbereitschaft zu sehen, wären wert, weiter verfolgt zu
werden. Ob das Streben nach maximalem Gewinn und die Zusammenballung von Macht in Wirtschaftsorganisationen nicht in der Lage sind,
alle „Werte“ auszuhebeln?
Eingehend werden Hobbes „Naturgesetze“ des menschlichen Handelns
diskutiert. Die Aporie, ein mechanistisches Selbstverständnis mit Verpflichtungen zu Verhaltensweisen zu
verbinden, kann auch Kleemeier
nicht überzeugend auflösen. Streckenweise liest sich Hobbes „Modellkrieg“ wie das erste Hintergrundbild
des Homo oeconomicus. Kleemeier
arbeitet heraus, daß das Soldatentum
in Hobbes’ gedanklichem Rahmen
keinen Platz haben könnte; sie zeigt
aber nicht, was daraus folgen kann:
Militär als Staat im Staate, besondere
Belohnungen für Soldaten, wie etwa
für deutsche Generäle unter Hitler.
Schließlich gilt, daß der eigene Tod in
einem „egoistischen Grundmodell
des Menschen“ keine wählbare Alternative ist. Hier wird es deshalb notwendig, zu Clausewitz überzugehen,
der die soldatischen Tugenden kennt
und intensiv würdigt.
Auch Hobbes sollte man nicht kritiklos darstellen, sondern die von ihm
beobachteten kriegerischen Zustände
mit den geschichtlichen Fakten vergleichen. Es gab nie einen Krieg aller
gegen alle, Kriege waren immer
Handlungen von Organisationen, ob
Fürsten oder Gesellschaften, Kirchen
oder Königen. Insofern sind sie an
die Voraussetzung der Konzentration
von Macht gebunden. Organisations-
125
handeln in anthropologische Beschaffenheit umzudeuten, ist ein immer
wieder angebotenes ideologisches
Mittel („Seht, ihr seid nicht besser“),
um in individuelle Schuld umzubiegen, was Ausfluß kollektiven Handelns ist.
Philosophische Grundfragen einer
„Theorie des Krieges“, im Altertum
beginnend über Hobbes bis Clausewitz, zu diskutieren, ist gewagt, wohl
aber Programm. Die beiden ersten
bieten als prominente Philosophen
den ehrwürdigen Hintergrund, um
über Philosophie sprechen zu können
und damit Clausewitz aufzuwerten.
Aus Clausewitz, den man nach der
Darstellung Kleemeiers wohlwollend
als Verfasser einer Managementlehre
der Kriegsführung betrachten könnte,
wird offen erkennbar ein Vehikel, um
den Beruf des Soldaten mit kritischer
politischer Komponente ins rechte
Licht zu rücken. Generäle erhalten
hier den Status intuitiv genialer Unternehmer Schumpeterschen Typus
(„schöpferische Zerstörung“).
In der mangelnden kritischen Distanz der Texte Kleemeiers wird dem
Rezensenten deutlich, für welche edlen Helden das Herz der Professorin
schlägt. Jedenfalls wird v. Weizsäckers verzweifeltes Ringen um „Wege
aus der Gefahr“ in den 80er Jahren
mit seinem Blick auf die Studien über
„Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“
nicht einmal mehr im Literaturverzeichnis erwähnt. Kleemeier rehabilitiert die soldatische Gedankenwelt,
die sich offenbar seit Clausewitz bis
in die Bundeswehr hinein erhalten
hat. Und dies, obwohl sich Clausewitz’ Äußerungen wie „Kampf bis
126
Neuerscheinungen
zum letzten Blutstropfen“ auch für
den „totalen Krieg“ des Dritten
Reichs haben instrumentalisieren lassen. Unerfindlich bleibt für mich, wie
man so unbefangen über Krieg,
Kriegsführung, Kriegstheorie, Charakterstärke und Mut im Krieg reden
kann, wenn man nur ein wenig über
die Leiden im Krieg, über spezifische
Waffentechnologien, Optimierung der
„Tötung von Weichzielen“ erfahren
hat. Für Clausewitz jedenfalls hat die
Angst nur den Rang eines „Störfaktors“ im „reinen Krieg“.
Was bringt dies Buch?
– Das Reden über Krieg wird nüchtern, distanziert, fußnotenartig. Irgendwie gewöhnt man sich daran. Man
kann in Gesprächen einspielen, schon
Platon habe gesagt, dass...
– Wie in der Weimarer Republik
werden Platon und Hobbes zur höheren Weihe des Militärs benutzt, damals zur Untermauerung des totalitären Staates.
– Ich erkenne keine philosophische
Analyse, sondern ein erneutes Umgraben der Traditionsbestände mit
einhergehender Entgeschichtlichung.
Ob Clausewitz den Weberschen
Machtbegriff vorweg genommen hat,
ist sehr unwichtig zu wissen.
– An einigen Stellen könnte man sagen, Platon habe vorweg gedacht, im
Krieg werde das erste Opfer die
Wahrheit (Als ob das was hülfe!).
– Clausewitz wird drastisch aufgewertet und fast liebevoll als „der General“ tituliert.
Ich fürchte, man wird das Buch in
nicht fernen Tagen in die Literatur
zur „geistigen Mobilmachung“ einordnen müssen.
Die Autorin ist klug und hat sich einen neuen Markt gesucht. Die sich
um die Bundeswehr entwickelnden
Vereine und Organisationen bedürfen ab und an der tieferen Besinnung
durch Vorträge, die sich mit den zitierten Koryphäen trefflich garnieren
lassen. Wundersam ist nur, warum
nicht auf Kant „zurückgegangen
wird“. Oder sind solche Auslassungen Programm?
Heutige Soldaten suchen nach seelischer Aufrüstung, nicht nach dem
Säen von Zweifeln an ihrer Existenzberechtigung. Und so ist es nur folgerichtig, wenn dem Reservistenverband
etwas zur Tapferkeit bei Clausewitz
vorgetragen werden kann (Quelle:
VII. Forum Junger Reserveoffiziere
im Sanitätsdienst, Sprecher: Hauptmann L. Bresan, Referat: PD Dr. habil. U. Kleemeier). Oder sind sie es
gar leid, von Politikern in ihrem
Können gegängelt zu werden?
Wolfgang Teune
Manuel Knoll
Theodor W. Adorno –
Ethik als erste Philosophie
München 2002 (Fink-Verlag),
brosch., 264 S., 24.90 EUR.
Auf dem Umschlag von Manuel
Knolls Studie über Adornos Moralphilosophie ist eine Reproduktion des
berühmten Guernica-Gemäldes von
Pablo Picasso zu sehen. Gemalt hat
es der kubistische Avantgardist und
Kommunist als Reaktion auf die faschistischen Bombenangriff der spanischen Stadt Guernica 1937. In dem
monumentalen Bild steckt allerdings
Neuerscheinungen
mehr als nur das Antikriegsbild, das
heute gerne unbedarft von der Friedensbewegung nutzbar gemacht wird.
Picassos Bild ist zugleich und vor allem lesbar als Kritik einer Dialektik
der Aufklärung: im Schein der Lampensonne winden sich die Opfer der
Gewalt, im Lichtkegel der Aufklärung
schlägt Vernunft in Barbarei um. Ein
Jahrzehnt später veröffentlichen Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno ihre ‚Dialektik der Aufklärung’
genannten philosophischen Fragmente. In der akademischen AdornoRezeption wurde die darin entfaltete
Geschichtsphilosophie als Grundfigur einer Philosophie gedeutet, die
die dringliche Frage, wie und ob nach
Auschwitz noch Philosophie möglich
ist, nur negativ beantworten kann –
indem Philosophie in der ‚Ästhetischen Theorie’ mündet. So wurde die
späte Ästhetik Adornos zum Höhepunkt eines Denkens, dass doch eigentlich keine Höhepunkte kennt.
Sowenig Picassos Guernica auf seine
„Ästhetik“ reduzierbar ist (nach der
es heute zum farblich passenden
Wohnzimmerschmuck gemodelt wurde), wenngleich es doch nur vermittels der Ästhetik sich entschlüsselt, so
versucht Knoll, Adorno vom engen
Interpretationskorsett des Ästhetischen zu befreien, um in der Fluchtbahn eben des Ästhetischen ein anderes, bislang vernachlässigtes Kernmotiv seines Denkens freizulegen: eine
Ethik als erste Philosophie. „Da die
Aufgabe der Ästhetik für Adorno
darin besteht, den Wahrheitsgehalt
der Kunstwerke durch die auf die
umfassende philosophische Theorie
gestützte Interpretation zu gewinnen,
127
unterstellt er sie gleichermaßen dem
Primat der Ethik. Seine Ästhetik lässt
sich demzufolge als materialistische
und utopisch hedonistische Ästhetik
unter dem Primat der Ethik charakterisieren“ (248), resümiert Knoll.
Von erster Philosophie und vom
Primat der Ethik bei Adorno zu sprechen, ist nicht unproblematisch, auch
deshalb, weil seine kritische Theorie
eigentlich unter dem Vorzeichen einer letzten Philosophie steht. Das
bestätigten auch die bisherigen Untersuchungen zum Thema, vor allem
Gerhard Schweppenhäusers ‚Ethik
nach Auschwitz’, in der Adornos Ansatz als „negative Moralphilosophie“
gekennzeichnet wird. Doch Knoll unternimmt es, diesen Ansatz zu radikalisieren, indem er zeigt, dass sich gewissermaßen die negative Philosophie
der Moral begründet im Primat einer
ethischen, wenn auch verstellten Forderung an Praxis, dem neuen kategorischen Imperativ, dass Auschwitz
sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.
Ethik als erste Philosophie meint,
Adorno als materialistischen Theoretiker zu lesen, der den Impuls seines
Denkens im Abschaffen des Leidens
und in einer Verteidigung des Hedonismus findet. Ethik als Kern der
Philosophie Adornos zu verstehen
und nicht als einen systematischen
Aspekt, heißt bei Knoll schließlich,
Adornos kritische Theorie der Gesellschaft als durchaus auf verändernde Praxis angelegte, zumindest dahin
utopisch zugespitzte zu interpretieren: im Sinne einer hedonistischen
Sozialutopie.
Primat der Ethik zielt auf Kritik; als
128
Neuerscheinungen
Selbstkritik der Vernunft ist diese Ethik wesentlich Praxis des Denkens.
Und solches Denken ist im Sinne des
Knollschen Begriffs der Ethik Objektivation des Leidens: das leistet Philosophie wie Kunst (und hier geht es
auch um das Guernica-Bild Picassos),
die sich in einer kritischen Geschichtsphilosophie konzentrieren (so
das Kapitel IV über „Geschichtsphilosophie als Erkenntnis der Gründe
des Leidens und der Ungerechtigkeit“). In den darauffolgenden Kapiteln entwickelt und aktualisiert Knoll
Adornos Philosophie, gerade als ethische, als radikale Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, deren utopischer Gegenentwurf weit über die
bloße
Abschaffung
des
Verwertungszusammenhangs
hinausweist und trotzdem beim
dringlichsten bleibt: ein Leben ohne
Angst und ohne Hunger.
Adorno galt die Möglichkeit von
(sozialer) Praxis auf unabsehbare Zeit
vertagt. Wenn Knoll gleichwohl als
den ethischen Kern der kritischen
Theorie Adornos das praktische Motiv freilegt, argumentiert er nicht nur
mit Adorno gegen ihn, sondern verteidigt ihn vor allem gegen seine
Liebhaber.
Roger Behrens
Martha C. Nussbaum
Konstruktion der Liebe, des
Begehrens und der Fürsorge.
Drei philosophische Aufsätze, übers. von J. Schulte, Stuttgart
2002 (Reclam), 233 S., 5.60 EUR.
Die in Chicago lehrende feministi-
sche und politische Philosophin
Martha C. Nussbaum wurde in
Deutschland lange als Geheimtipp
gehandelt. Das lag u.a. daran, dass bis
vor kurzem wenige ihrer Schriften
übersetzt vorlagen. Der vom Reclamverlag edierte Band Konstruktion der
Liebe, des Begehrens und der Fürsorge
macht nun die Autorin in Deutschland sicher weiter bekannt, stellt aber
auch nur eine Auswahl des EssayBandes Sex and Social Justice vor, den
die Autorin 1999 in den USA veröffentlichte. Zuvor erschien auf
Deutsch als Buch nur Gerechtigkeit oder
Das gute Leben (Suhrkamp 1999), das
ebenfalls eine Sammlung von Aufsätzen ist, die vor allem Nussbaums politische Ethik offeriert. Um den politischen Liberalismus der Gegenwart
weiterzuentwickeln, rekurriert Nussbaum in Abgrenzung zu MacIntyres
Tugendethik einerseits kritisch auf
Aristoteles und eine Ethik des guten
Lebens; andererseits bezieht sie sich
positiv auf eine „menschliche Natur“,
was in der Ethik lange als verpönt
galt. Schließlich geht es ihr um die
Grenzen rationalistischer Konstruktionen deontologischer (gesetz- und
pflichttheoretischer) Moralen und um
ihre Vermittlung mit dem gesellschaftlichen Kontext.
Die neueren Arbeiten Nussbaums
greifen mehr in die feministische Debatte ein. Nussbaums Verständnis
von Feminismus ist durch fünf Merkmale gekennzeichnet: Internationalismus, Humanismus, Liberalismus, ein
Interesse an der sozialen Prägung von
Präferenzen und Wünschen sowie
das Interesse am mitfühlenden Verstehen. Der Zusammenhang dieser
Neuerscheinungen
Merkmale geht im deutschen Band
allerdings etwas verloren. Leider
wurden nur drei der insgesamt fünfzehn Essays in die deutsche Auswahl
übernommen, so dass Nussbaum
mehrfach auf die anderen Essays
verweisen muss, um den Zusammenhang ihrer Überlegungen anzudeuten.
Dies steht im Kontrast zu den
durchweg differenzierten und vielschichtigen Argumentationen der Essays.
Der Eingangsessay Die feministische
Kritik des Liberalismus verteidigt den
Liberalismus gegen feministische
Frontalangriffe, die Nussbaum für
unangebracht hält, da sie die Leistungen der liberalistischen Tradition verkennen. Dies verwundert zunächst,
wo doch die Zeiten neoliberaler Globalisierung Frauen keine Emanzipationsgewinne zu bringen scheinen.
Nussbaum bezieht sich allerdings
nicht auf den „ganzen“ Liberalismus,
sondern nur auf eine bestimmte
Spielart. Persönlichkeit, Autonomie,
Rechtsansprüche, Würde und Selbstachtung sind Begriffe und gleichzeitig
normative Bezugspunkte einer liberalen Tradition, an die Nussbaum anknüpfen will. Diese sieht sie in der
zentralen Anschauung des Liberalismus von der Gleichwertigkeit aller
Menschen begründet. Der Liberalismus sei deshalb nicht nur gegen den
Feudalismus, sondern gegen alle sozialen Ordnungen gerichtet, die sich
auf moralisch belanglose Kriterien
(Hautfarbe, physische Stärke/Schwäche, Geburt ...) beziehen. Nussbaums
feministischer Liberalismus bzw. liberalistischer Feminismus fügt diesen
moralisch belanglosen Kriterien das
129
Merkmal „Geschlecht“ hinzu. Allerdings solle – im Gegensatz zur Tradition – Gleichheit nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Privaten
gelten.
Dieser
„radikale
Liberalismus“ helfe nach Nussbaum
gerade auch den Frauen, die als Teil
der Familie keine Achtung als Einzelperson erfahren.
Auch wenn dies zu wünschen wäre,
erscheint problematisch, dass Nussbaum auf einen (zugeschnittenen) Liberalismus setzt, dessen Kritik der
Repression wohl nicht zu hintergehen, aber für die Probleme moderner
Macht vielleicht zu einfach ist. Dies
macht gespannt auf den nächsten Essay.
Der Aufsatz Verdinglichung liest sich
wie ein Kommentar zur bekannten
Formel des kategorischen Imperativs
von Kant, demzufolge jede Person
„jederzeit zugleich als Zweck sich
selbst“ und „niemals bloß als Mittel zu
gebrauchen“ ist. Dieses Instrumentalisierungsverbot gilt jedoch nur insoweit, als die zweite Person von der
ersten ausschließlich als Mittel gebraucht wird. Jemanden als Mittel für
eigene Zwecke zu gebrauchen ist daher durchaus statthaft; dann nämlich,
wenn er/sie zugleich als Selbstzweck,
d.h. als kommunikatives Subjekt, behandelt wird, das Stellung nehmend
in meine Zwecke eingreifen kann. Da
Verdinglichung im feministischen
Kontext allein negativ konnotiert
wurde (Frauen werden von Männern
instrumentell wie austauschbare Dinge nur zur sexuellen Befriedigung behandelt), versucht Nussbaum eine
Differenzierung des Begriffs. Anhand
literarischer wie journalistischer Bei-
130
Neuerscheinungen
spiele – von D.H. Lawrence über James Joyce bis hin zum „Playboy“ –,
in denen Personen dargestellt werden, die zur sexuellen Befriedigung
anderer Personen verdinglicht werden, diskutiert sie, ob es Verdinglichungen geben kann, in denen zwar
Instrumentalisierung
oder
Austauschbarkeit stattfindet, die aber
dennoch als „gutartig“ bestimmt
werden kann. Ihre These ist, dass der
soziale Kontext der Beziehungen
zwischen verdinglichendem Subjekt
und verdinglichtem Objekt entscheidet, ob es sich um eine „gutartige“
oder um eine „schändliche“ Verdinglichung handelt. „Gutartige“ finden
sich nach Nussbaum z.B. bei Lawrence’ Lady Chatterley, da sich die
Romanfiguren dort zwar oft auf ihre
Geschlechtsteile reduzieren, aber diese Reduktion in einen Kontext wechselseitiger Achtung und symmetrischer Verdinglichung eingebettet ist.
„Gutartige“ Verdinglichungen, so
Nussbaum, seien nicht nur unvermeidlich, sondern auch ein bereicherndes Element des menschlichen
Sexuallebens. „Schändliche“ Verdinglichungen hingegen bestünden immer
dann, wenn das Objekt dauerhaft (und
nicht nur punktuell) instrumentalisiert
bzw. der Zerstörung anheim gegeben
wird und der soziale Kontext nicht
von wechselseitiger Achtung geprägt
ist.
Nussbaums Analyse der (sexuellen)
Verdinglichung ist insbesondere gegen ein zu grobschlächtiges Verständnis des Phänomens im amerikanischen Feminismus (Andrea Dworkin, Catherine McKinnon) gerichtet.
Bei ihrem Versuch zu differenzieren,
übergeht sie allerdings, dass der Verdinglichungsbegriff auch eine über
den unmittelbaren sozialen Kontext
hinausweisende Bedeutung besitzen
kann. Ihre eher handlungstheoretischen auf die Einzelnen orientierten
Argumente unterstellen, dass eine Person eine andere verdinglicht. Eine
Verdinglichung der gesamten Interaktion und Subjektpositionen durch eine allgemeine gesellschaftliche Form
bleibt unthematisiert.
Der abschließende Essay, der auch
dem Buch den Titel gibt, beschäftigt
sich mit der Konstruktion der Liebe, des
Begehrens und der Fürsorge. In einer Reihe von Beispielen aus verschiedenen
Epochen und Kulturen geht es
Nussbaum in diesem wohl interessantesten der drei Aufsätze um die soziale Prägung von Gefühlen und Verhalten. Zwar sei die Prägung durch einen biologischen Rahmen begrenzt,
dieser aber sei doch sehr weit. Sie
zeigt, wie Gesellschaften Regeln für
die Gefühlsäußerungen aufstellen,
wie normative Urteile über Gefühle
variieren und so auch die Benennung
in Taxonomien grundsätzlich verschieden ist. Schließlich betont Nussbaum, dass auch die individuelle Lebensgeschichte die Gefühle der einzelnen beeinflusst, und dass die
Varianzen innerhalb einer Kultur
nicht unterschätzt werden dürfen.
Entgegen einer Trennung von Gefühl
und Verstand tritt Nussbaum für die
kognitive Analyse der Gefühle ein,
die aber, gerade in Bezug auf das Begehren, nicht von als natürlich gelten
könnenden Rahmenbedingungen zu
lösen sind.
Die Konsequenzen dieser allgemein
Neuerscheinungen
bleibenden Einschränkung führt Nussbaum an dieser Stelle nicht weiter
aus; man kann hier nur auf ihre Gifford Lectures über Emotionen verweisen. Auch hinsichtlich der Konstruktion des sexuellen Begehrens wie
auch der Geschlechtskörper („Körperteile interpretieren sich nicht
selbst“, 201) bleiben ihre Ausführungen eher anregend, und ihre normativen Appelle sind nicht fundamental
neu. Festzuhalten ist aber, dass in der
Zwischenzeit auch Positionen, die
wie Nussbaum positive Subjektphilosophie betreiben, die Einsichten von
Foucault, Butler u.a. aufgenommen
haben, und dass so die Geschlechterdebatte auf einer neuen Stufenleiter
geführt werden kann.
Unabhängig von den Positionen, die
Nussbaum vertritt, sind ihre gebildeten Essays gerade der Geschlechterforschung in Deutschland zu empfehlen, die derzeit eher Vorgärten
einzäunt und beackert, als sich an allgemeine Fragestellungen wie denen
von Nussbaum zu versuchen.
Fritjof Bönold / Norbert Walz
Richard Rorty
Wahrheit und Fortschritt
Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp),
kart./br. 515 S., 15.- EUR.
„‚Es gibt keine Wahrheit.’ Was könnte das heißen? Warum sollte irgend
jemand dergleichen behaupten?“ Mit
diesen für viele Philosophen immer
noch ketzerischen Sätzen lässt Richard Rorty seine Ausführungen über
Truth and Progress (1998) beginnen, einer Sammlung von Aufsätzen aus
131
den 90er Jahren, die in deutscher Übersetzung nun auch als Taschenbuch vorliegen. In drei Abschnitten
beschäftigt sich der amerikanische
Philosoph mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Wahrheit, mit
den Perspektiven moralischen Fortschritts sowie dem möglichen Beitrag
einer pragmatisch orientierten Philosophie zu einem richtig verstandenen
Fortschritt.
Die Quintessenz dieser Überlegungen könnte man so zusammenfassen:
Werden die oben aufgeworfenen Fragen im Geiste intellektueller Redlichkeit ernst genommen und wohl erwogen, dann könnte die Relativierung
alter Wahrheitsansprüche geradewegs
zu einem Medium menschlichen
Fortschritts werden. Dazu hat die Philosophie endlich von einer Obsession
Abschied zu nehmen, die wirkmächtig am Anfang ihrer langen abendländischen Geschichte steht: von der
Platonischen Vorstellung, das wahre
Wesen der Dinge ergründen zu müssen. Man mag diesen Willen zur
Wahrheit verstehen – sein Ziel wird
er niemals erreichen können. Dem
„An-sich-Sein der Dinge“ kommt
menschliche Vernunft nicht näher. In
Auseinandersetzung u.a. mit Hilary
Putnam, John Searle und Charles
Taylor wendet sich Rorty gegen die
Korrespondenztheorie der Wahrheit
in ihren verschiedenen Varianten. Es
gibt keinen archimedischen Punkt,
von dem aus unser Denken die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
nachweisen könnte. Die Anwendungsbedingungen
des
Begriffs
Wahrheit sind notorisch relativ. Konsequenterweise verzichtet Rorty denn
132
Neuerscheinungen
auch seinerseits darauf, eine Definition von „Wahrheit“ vorzulegen. Es
geht ihm allein um die Zurückweisung falscher Wahrheitsansprüche –
in bewusst „despektierlichem“ Ton,
wie Rorty mit der ihm eigenen Ironie
anmerkt. Das muss keineswegs zu einem totalen Relativismus führen.
Auch philosophischer Fortschritt ist
so noch möglich, nur eben nicht als
Annäherung an ewige Wahrheiten. Er
zeigt sich vielmehr in einem Zuwachs
an Phantasie und Kreativität im Umgang mit den verschiedenen Perspektiven. Und nicht zuletzt vermag er
dem zentralen politischen Ziel des
Liberalen zu dienen: einem kulturellen
Wandlungsprozess, dem Wandel unserer „geistigen Gewohnheiten“ hin
zum von Rorty seit langem propagierten Ideal einer Kultur der Toleranz
und der Vermeidung von Grausamkeit.
Diesem moralischen Fortschritt
widmet sich Rorty im zweiten Abschnitt des Buches. Dass es im westlichen Kulturkreis zu einer allgemeinen Anerkennung der Menschenrechte gekommen ist, hat nichts mit
einem Fortschritt der Vernunft zu
tun, im Zuge dessen man im Okzident einer moralischen Wahrheit näher gekommen sei als in anderen,
weniger „vernünftigen“ Kulturen.
Menschenrechte muss man nicht
letztbegründen, sondern durchsetzen.
Die Frage, ob es solche Rechte wirklich gibt, ist, so Rorty, „witzlos“, das
beständige Bemühen um deren philosophische Fundierung die Obsession
von „Quasiplatonikern“. Wenn immer wieder versucht wird, die Achtung vor der Würde des Menschen
normativ-anthropologisch zu begründen, also aus der Behauptung einer spezifisch menschlichen Eigenschaft abzuleiten, dann ist das zum
einen ein naturalistischer Fehlschluss,
zum anderen geht es an den Quellen
moralischen Handelns völlig vorbei.
Das Einzige, aber unendlich Wichtige, was Philosophie zum moralischen
Fortschritt beitragen kann, ist es, unsere moralischen Intuitionen zu „resümieren“, bewusst zu machen und
so zu stärken. Mit letztbegründeten
Einsichten hat das nichts zu tun. Unser Zuwachs an moralischem Wissen
– das heißt für Rorty: eine Erhöhung
unserer Empfindsamkeit – ist daher
nicht der Beschäftigung mit Moralphilosophie zu verdanken, sondern
vielmehr dem „Hören trauriger und
rührseliger Geschichten“. „Onkel
Toms Hütte“ hat zur Stärkung von
Mitgefühl und Menschlichkeit ungleich mehr beigetragen als alle moralphilosophischen Traktate zusammen. Dass ein solches moralisches
Lernen, wie auch die westliche Menschenrechtskultur im besonderen, auf
ganz bestimmte kulturelle Kontexte
angewiesen ist, gesteht Rorty zu. Umso wichtiger ist es gerade dann, alle
falschen Hoffnungen auf kontextunabhängige
Begründungen
aufzugeben und eine solche Kultur in ihren „geistigen Gewohnheiten“ zu
pflegen und zu stärken. Man könnte
auch sagen: Nicht die Platonische
Schau ewiger Ideen, sondern das Aristotelische Ethos der politischen
Gemeinschaft verbürgt die Gerechtigkeit.
Man kann trefflich darüber streiten,
ob es zwischen Letztbegründung und
Neuerscheinungen
Nonkognitivismus nicht doch einige
bedenkenswerte Zwischenformen moralphilosophischer Evidenz geben
könnte. Für seine Sicht der Dinge
kann Rorty aber das entscheidende
pragmatische Argument geltend machen: Nach dem Kriterium der „Leistungsfähigkeit“, also dem des erfolgreichen Verhinderns von Leiden und
Grausamkeit, sind die „traurigen Geschichten“ ungleich wichtiger für den
moralischen Fortschritt. Wenn es uns
wirklich um den leidenden Menschen
geht und nicht um den Sieg im Wettstreit der analytisch saubersten Begrifflichkeiten (die ja doch nie „wahr“
sein werden), dann in der Tat sind
nicht die von Platon auserkorenen
Kontrahenten, die Sophisten und rationalen Egoisten, das Problem, sondern – in Rortys entwaffnender Anschaulichkeit – der alle Disputation
verweigernde Nationalsozialist oder
„der ritterliche und ehrenwerte Serbe,
nach dessen Ansicht die Muslime
nichts anderes sind als beschnittene
Hunde“. Vielleicht müsste Rorty
dann aber auch konsequenter Weise
hinzusetzen: Sie sind nicht nur unser
„Problem“, sie sind – was ein ironischer Liberaler nicht gerne hört – unsere Feinde.
Rorty wirbt für seine pragmatische
Auffassung von Philosophie, wie
auch für den „Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“, in einer gedanklichen Leichtigkeit, die nicht mit
Beliebigkeit zu verwechseln ist. Dennoch muss er die Frage beantworten,
was nach all dem unter Philosophie
(noch) zu verstehen ist. Philosophen
sind für Rorty Personen, „die Platon,
Kant und die übrigen Autoren des
133
abendländischen Kanons lesen und
über die in diesen Texten aufgeworfenen Fragen nachdenken“ – die aber, so könnte man mit Hegel variieren, nicht mehr der Versuchung erliegen, ein nur Bedingtes, Endliches
zu einem falschen Absoluten zu erheben. Weil es aber ein „wahres“ Absolutes für Rorty erst recht nicht geben kann, hat sich der Philosoph in
den notorischen Begrenzungen seines
allzu endlichen Geistes einzurichten.
Letzte Antworten gibt es hier nicht
mehr zu finden. Umso wichtiger aber
ist es, sich den „vorletzten“ Fragen
menschlicher Existenz undogmatisch
zu stellen.
Christian Schwaabe
Michael Ruoff
Schnee von Morgen –
Das Neue in der Technik
Würzburg 2002 (Königshausen &
Neumann), 140 S., 12.- EUR.
Wie will man über das Neue schreiben? Zunächst bleibt gar nichts anderes, als über das Alte zu schreiben
bzw., im Sinne von Hegels Eule der
Minerva, die ihren Flug erst in der
Abenddämmerung beginnt, das zu
thematisieren, was nicht mehr neu ist,
was es aber mal war, beispielsweise
als die Allmacht Gottes dem abgeschlossenen Kosmos der Antike die
Chance zu Neuem eröffnete. Oder
als der Künstleringenieur der Renaissance begann, sich kreativ zu entfalten. Oder als bei Marx die Maschine
der historischen Entwicklung auf
neue Sprünge verhalf.
Doch Michael Ruoff beschränkt
134
Neuerscheinungen
sich in seiner ausgezeichneten Analyse des Neuen in der Technik keineswegs auf solche Aspekte des Historischen. Wie aber soll man über das
schreiben, was noch kommt, was sich
aber nicht berechnen, ja nicht mal
wirklich erahnen lässt, nämlich über
das Unbestimmte? Dazu tragen weder die Innovationsforschung noch
jedwede Spielart von Fortschrittstheorien bei. Statt dessen befragt Ruoff
die Technik als ein System, dessen
zentrales Merkmal der Offenheit den
Weg zum Neuen aufschließt. Insofern entsteht das Neue aus einer systemischen Entwicklungsfähigkeit der
modernen Technik, die sich ob ihrer
Offenheit indes schwerlich prognostizieren lässt. Trotz solcher begrifflichen Anklänge verliert sich Ruoff
glücklicherweise weder zu sehr in der
Systemtheorie selbst noch umkreist
er bloß vage einen notorisch dunkel
bleibenden Begriff von Emergenz.
Vielmehr stützt er sich primär auf
den pragmatischen Informationsbegriff Ernst von Weizsäckers.
Wohin führt die Analyse? Natürlich
kann Ruoff am Ende keine Auskunft
darüber geben, was denn nun nach
eingehender Betrachtung en detail
das Neue sei. Hätte er das Neue auf
einen Begriff gebracht, dann wäre es
schlicht nichts Neues mehr. Er beschränkt sich auf eine Topologie des
Unbestimmten – ein Wort, das das
Neue charakterisieren soll, in dem
sich das Mögliche anweist. Daraus
erwachsen allerdings nicht unerhebliche Konsequenzen für die Technik
und jedes technikphilosophische Denken. Denn wenn sich das Neue als
unbestimmt erweist, dann lässt sich
nicht voraussagen, wohin die technische Entwicklung sich wenden wird.
Technik als gegenüber dem Neuen
offenes System schwächt nicht nur
die
Prognosekapazität,
sondern
macht vor allem die Gestaltbarkeit
der Zukunft durch Vorausplanung
immer fragwürdiger – um die es in
der Technik doch ursprünglich mal
ging.
Diese Tendenz verschärft sich
noch, wenn die neuen Technologiewissenschaften wie die Genetik immer umfänglicher in natürliche Prozesse und Gegenstandsbereiche eindringen, so dass sich mit ihrer
steigenden Komplexität zunehmende
Kontingenzen verbinden. Der sich
immer stärker vergrößernde Wissenszuwachs erhöht nicht die Prognosekapazität, sondern schwächt sie, weil
mit immer mehr Informationen auch
notwendigerweise immer mehr Verknüpfungsmöglichkeiten
zwischen
diesen Informationen entstehen, die
sich immer schwieriger vorausberechnen lassen. Das erklärt auch, warum Francis Bacon als erfolgreichster
Utopist aller Zeiten den instrumentell
hochgerüsteten Zukunftsforschern
des 20. Jahrhunderts überlegen bleibt.
Schnee von Morgen trifft hier einen
sehr sensiblen Nerv der Zeit. Das
Problem der Informationsgesellschaft
erscheint nicht mehr als verselbständigte instrumentelle Vernunft Horkheimers, nicht mehr als schlichte
technische Herrschaft über das Denken Heideggers, nicht mehr als ethische Gestaltbarkeit des technischen
Fortschritts im Dienste einer zukünftigen Menschheit bei Hans Jonas.
Derartige Diagnosen im 20. Jahrhun-
Neuerscheinungen
dert haben sich entweder überlebt
oder realisiert und stören nicht mehr.
Bis auf weiteres aber könnte die zunehmende Kontingenz der technischen Entwicklung stören, das Neue,
nach dem sich alle sehnen, und das
doch alle Planungen zunichte macht.
Oder sollte uns Ruoffs Diagnose hoffen lassen?
Hans-Martin Schönherr-Mann
135
136
Neuerscheinungen
Peter Trawny
Die Zeit der Dreieinigkeit
Untersuchungen zur Trinität bei
Hegel und Schelling, Würzburg
2002 (Königshausen & Neumann), 229 S., 29,50 EUR.
In Zeiten der Unsicherheit liebt man
bekanntlich den Halt gebenden
„Blick zurück“. Der Autor des vorliegenden Buches, seiner überarbeiteten Habilitationsschrift, bekennt denn
auch im Vorwort freimütig, dass die
„Zeit der Dreieinigkeit“, die dem
Buch den Titel gab, vergangen ist:
„Ich betrachte mein Buch als eine Erinnerung an ein Denken, das [noch]
behaupten konnte, ‚bei sich zu Hause
zu sein’“ (8). Nun hat ein solch distanzierender Zugang zur Thematik
und Problematik der Hegelschen und
Schellingschen Philosophie, zumindest im deutschsprachigen Raum, den
Vorteil, nicht ‚aktualisieren’ zu müssen und sich den Kämpfen der Schulen zwischen und um Hegel und
Schelling entziehen zu können. Sie
kann sich insofern ‚vorurteilsfrei’ ihrem Untersuchungsgegenstand zuwenden. Dass dem Autor dies letztlich nur teilweise gelungen, zeigt das
Ende seiner Untersuchung.
Trawny gelingt zur anstehenden
Thematik ein überzeugender Zugang
und Einstieg: der ontologische Gottesbeweis, der aus dem Begriff Gottes auf dessen Existenz schließt.
Denn dieser Beweis ist für beide Philosophiekonzeptionen zentral. Für
Hegel ist Gott „eben dies, dass sein
Begriff und sein Seyn ungetrennt und
untrennbar sind.“ (34) Er ist so die
„absolute Realität“ (ebd.). Für Schel-
ling, der gerade durch die Kritik am
„ontologischen Argument“ seine eigene „positive Philosophie“ bestimmt, ist es zumindest in historischer Hinsicht „für die ganze neuere
Philosophie bestimmend geworden“
(SW I, 10, 14). Trotz dieser Differenz
unternehmen es beide, Hegel wie
Schelling, diesen ‚bewiesenen’ bzw.
‚sich beweisenden’ Gott als den christlichen, d.h. den dreieinigen, Gott auszulegen.
Für Hegel, dem Trawny sich zuerst
zuwendet, drückt der ontologische
Gottesbeweis, wenn auch unvollkommen, das Prinzip der Philosophie
aus: nämlich dass Vernunft ist. Dies
aber müsse so trinitarisch gedacht
werden, so wie der Christengott dreieinig ist. Was in der christlichen Religion in der Dreieinigkeit von Vater,
Sohn und heiligem Geist vorgestellt
werde, sei in der Logik als „Sphäre
der immanenten Trinität zu denken“
(50; H.v.m.). Trawny widerspricht
nun zurecht den Ansichten, Hegel
habe seinen Begriff vom „Begriff“
gleichsam nachträglich auf das christliche Gottesbild angewandt, um ihn
dadurch zu erläutern oder aus ihm
die Trinität Gottes abzuleiten (50). Er
konstatiert demgegenüber ein anderes, engeres Verhältnis zwischen Logik und Religion und spricht vom
„theologischen Motiv, das Hegels
‚Wissenschaft der Logik’ von Anfang
an begleitet“ habe (45). Er macht dies
an Hegels „Lehre vom Begriff“ bzw.
dessen „drei Momenten“, der Allgemeinheit, der Besonderheit und der
Einzelheit, fest und zitiert: „Das Allgemeine ist daher die freye Macht; es
ist es selbst und greift über sein An-
Neuerscheinungen
deres über; aber nicht als ein gewaltsames, sondern das vielmehr in demselben ruhig und bey sich selbst ist. Wie es
die freye Macht genannt worden, so
könnte es auch die freye Liebe, und
schrankenlose Seeligkeit genannt werden,
denn es ist ein Verhalten seiner zu
dem Unterschiedenen nur zu sich selbst, in
demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt.“ (45) Wenn Trawny dazu anmerkt, dass dies Zitat „an das
Verhältnis von Gott Vater und Sohn
erinnert“ (ebd.), dann ist dies zu wenig. Wer nur etwas mit der Trinitätsdebatte vertraut ist, erkennt in diesem
Begriff vom Allgemeinen unschwer
eine der möglichen Lösungen des
Trinitätsproblems: der Vater als die
freie Macht, die den Sohn, das von
ihm gezeugte Andere, „übergreift“
und durch den heiligen Geist, die
Liebe, im Anderen zugleich bei sich
bleibt.
Darüber hinaus wäre es für eine Untersuchung der Trinität bei Hegel
zweifellos angebracht gewesen, wenn
Trawny diesem Verhältnis von Logik
und Religion nicht nur anhand Hegels Lehre vom Begriff, sondern auch
seiner Methode überhaupt nachgegangen wäre. Er zitiert zwar Hegels
Diktum: „Die Logik ist insofern metaphysische Theologie, welche die
Evolution der Idee Gottes in dem
Äther des reinen Gedanken betrachtet“ (49); aber er zieht daraus nicht
die Konsequenz, in Hegels Dialektik
selbst das christliche Trinitätsmotiv zu
erkennen. Denn wenn Hegel in der
Einleitung zu seiner „Wissenschaft
der Logik“ die Methode der Wissenschaft so beschreibt, dass das Andere
oder das „Negative“, wie er hier sagt,
137
nicht das „abstrakte Nichts“ des
Parmenides ist; es aber auch weder
das platonische ‚Mehr oder Weniger’
noch das, was neuplatonisch dem Einen ‚ausfließt’; wenn es aber auch
nicht – jüdisch – dem Einen, der
schlicht bei sich ist, und auch nicht –
spinozanisch – dem All-Einen zukommt; sondern wenn Hegel dieses
Andere als die „bestimmte Negation“
bestimmt, in die das Eine oder „Positive“ „fort-geht“, „über-geht“ oder
„sich ent-zweit“; es in dieser „EntZweiung“ aber bei sich bleibt, und im
Resultate daher „wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert“, –
dann kann nicht nur diese Art der
Negation als Negation der Negation,
sondern auch Hegels Überzeugung,
dass diese Methode die „wahre“ sei,
gar nicht anders verständlich gemacht
werden, als dass für ihn eben das
christlich Trinitarische das an und für
sich Wahre ist. So verstanden hat
Hegels Dialektik nicht nur ein „theologisches Motiv“, sondern ist in ihrem Fundament christlich. Sie widerspricht darin sowohl dem heidnischen wie dem jüdischen Denken des
Absoluten. Trawny stellt diesbezüglich zwar zurecht fest, dass für Hegel
„ein Gott jenseits der Logik ... kein
oder jedenfalls nicht der christliche
Gott ist“ (50); aber er verdeutlicht
nicht, dass der christliche Gott in der
Logik, er diese Logik selbst ist.
Diese, wie mir scheint, mangelnde
Durchdringung mag daran liegen,
dass Trawny ein anderes Interesse
verfolgt, dass nämlich in solchem
Denken sich für Hegel zugleich auch
heilsgeschichtlich „die Zeit erfüllt“
(Galater 4, 4). Denn für ihn ist die
138
Neuerscheinungen
Zeit und die Geschichte eben dies,
dass der dreieinige Gott nicht nur
vorgestellt und verehrt wird, sondern
im menschlichen Geist zum Bewusstsein seiner selbst kommt. Daher ist
für Hegel die jetzige Zeit, die Gegenwart, die „Zeit der Dreieinigkeit“.
Der „mittlere und spätere“ Schelling
hingegen verhält sich kritisch gegenüber dem ontologischen Gottesbeweis. Trawny stellt den Einwand, den
er in „Zur Geschichte der neueren
Philosophie“ formuliert hat, überzeugend dar: ein Gott, der existieren
muss, ist kein freier Gott; denn er kann
nicht nicht existieren. Für Schelling
ist Gott daher nicht einfach das Sein,
sondern der „Herr des Seyns“. Er ist
nicht nur das notwendig Existierende, sondern „das frei wollende Wesen“ (133). Trawny folgert daraus,
dass sich für Schelling das Göttliche
nicht, wie bei Hegel, in der Struktur
des Logischen, sondern im Faktischen,
in der Geschichte als dem Handeln
Gottes offenbart.
Unklar lässt Trawny allerdings, worein nun Schelling das ChristlichTrinitarische solcher Geschichte
setzt. Besteht es, wie er in den „Weltaltern“ schreibt, in dem geschichtlichen Faktum, dass ‚wir’ in ‚unserem’
Kulturkreis „von Kindheit auf“
christlich denken und „seine Lehren
für das ganze Leben eine fast unabweisbare Gegenwärtigkeit erhalten“
(136)? Oder gilt, dass es das Christliche schon „von Ewigkeit her“ gegeben habe, „noch ehe eine Welt da
war“ (137), so dass eine gleichsam
vorgeschichtliche Trinität anzunehmen wäre? Wie aber verträgt sich dieser Gedanke mit der Geschichtlich-
keit göttlicher Offenbarung? Oder
aber ist es so, dass Geschichte überhaupt nur christlich, d.h. trinitarisch,
gedacht werden könne, weil „jede Geschichte, die dies wirklich ist, ... drei
große Unterscheidungen (hat), nämlich Anfang, Mitte und Ende, oder:
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (140 f.)? Und will Schelling
damit sagen, dass die Geschichte
zwar objektiv nur faktisch ist, dass sie
aber als begriffene, als System, allemal nur christlich sein könne?
Trawny lässt dies im Dunkeln. Er
macht vielmehr mit Hinweis auf W.
Schulz deutlich, dass dieses Ungelöste
ein Strukturelement der Schellingschen Spätphilosophie selbst sei.
Denn während Hegels Philosophieren sich als System erfüllt, habe
Schelling solche Einsichtigkeit verneint „und die ‚Gründung’ des Ganzen in der ‚grundlosen Freiheit’ Gottes anerkannt.“ (189) Von Hegel her
gebe es deshalb keine Möglichkeit,
sinnvoll nach der Zukunft zu fragen,
da für ihn die Gottesherrschaft nichts
ausstehendes, sondern wirklich ist.
Für Schelling jedoch, dem das Zukünftige Strukturmoment von Geschichte ist, sei die Zukunft offen.
Seine „Philosophie der Offenbarung“
verherrlicht nicht die Gegenwart,
sondern begreift sie als „zerrissene
Welt“ und ihr Heil als noch ausstehend. Sie sei „grundsätzlich eine eschatologische, also auf Zukunft bezogene
Philosophie. Zeit und Geschichte werden
grundlegend von der Zukunft her verstanden.“ (181) Darum aber sei für Schelling auch nur dasjenige Christentum,
das die Erfüllung der Zeit in der Zukunft erblickt, die „wahre Religion“
Neuerscheinungen
(181). Während Hegel also Geschichte von Jesus her denkt, durch den die
göttliche Vernunft wirklich geworden
sei, denkt Schelling sie vom Parakleten, dem Künder des kommenden
Zeitalters, her. Dieses Zukunftsbezugs wegen aber sei, lässt Trawny
durchblicken, das Schellingsche Denken der Gegenwart adäquater.
Am Ende seines Buches verlässt der
Autor seine historische Untersuchung
und geht so weit, dem gegenwärtigen
Denken die jesuanische Botschaft
vom kommenden Gottesreich – ganz
unabhängig von aller Trinitätsdiskussion – als zukünftiges Denken anzuempfehlen. Wenn, so Trawny, die gegenwärtige „Pluralisierung und Globalisierung der Wohn- und Denkräume ... die Kennzeichen einer
radikal gottverlassenen und d.h. nihilistischen Welt sind, dann ist jedes
Nachdenken über Gott eine bloß
sentimentaler Beschäftigung“ (210).
Wenn es aber eine Heilung in der
Zeit gebe, dann komme sie aus der
Zukunft; ein einzigartiges Zukunftswissen aber enthalte die Predigt Jesu;
denn diesem Wissen habe sich „noch
keine philosophische Theorie ... als
überlegen erwiesen“ (211).
Dieser schließliche Distanzverlust
zum Gegenstand bzw. das Schwanken zwischen historischer Untersuchung und aktualisierender Anempfehlung macht Trawnys Buch zweideutig. In der ersten Hinsicht bleibt
manches, wie ich zumindest anhand
Hegels Logik angedeutet habe, oberflächlich und vieles unausgeführt.
Hinsichtlich des letzteren jedoch,
Trawnys Empfehlung der „frohen
Botschaft“ als Heilmittel der Gegen-
139
wart, bräuchte es eingestandenermaßen dieses Werks „zur Trinität bei
Hegel und Schelling“ gar nicht.
Alexander von Pechmann
Christoph Türcke
Erregte Gesellschaft.
Philosophie der Sensation,
München 2002 (C.H. Beck), geb.,
327 S., 29.90 EUR.
„Der Drang, neue Gesellschaftstypen
auszurufen, ist ein typisches Merkmal
der Sensationsgesellschaft und ist
nicht neu.“ (9) Die kapitalistische Gesellschaft reproduziert ihre Existenzgrundlage immer wieder neu, indem
sie ständig neue Bereiche kapitalistischer Akkumulation hervorbringt
und bis in die letzten Winkel der
Menschheit und in immer mehr Bereiche der menschlichen Lebenswelten
vordringt, um sie der Warenproduktion zu unterwerfen. Dies hat zur Folge, dass das Erscheinungsbild der kapitalistischen Gesellschaft sich in
immer schneller werdenden Zyklen
verändert. Die Versuche, diese Phänomene zu beschreiben und zu typologisieren, zählen Legion. Nun versucht sich Türcke am Wandel der öffentlichen Kommunikation. Sein
Anspruch ist hoch. In Guy Debords
„Die Gesellschaft des Spektakels“ sieht er
die Vorformulierung eines Grundgerüsts einer zu analysierenden erregten
Gesellschaft. Türcke will allerdings in
kritischer Absicht über Debord hinausweisen, indem er den immanenten Zusammenhang von Ästhetisierung und deren gesellschaftlicher
Grundlage als etwas grundsätzlich
140
Neuerscheinungen
Zusammengehöriges versteht, was
eine gründliche Reflektion der Begriffe erforderlich mache.
Das Buch ist der Versuch, dem
Phänomen der massenmedialen Reizüberflutung anhand des Begriffs des
Sensationellen analytisch beizukommen. Türcke arbeitet zunächst die
Besonderheiten des Sendungszwanges, sowohl der Nachrichtenproduzenten als auch der Rezipienten, aus.
Im Prozess, in dem zu Anfang die
Nachricht einmal etwas mitteilte, was
wichtig war und nun wichtig ist, weil
sie mitteilen kann oder zu können
beansprucht, veranschaulicht Türcke
für diese Sphäre die kapitalistische
Warenlogik. Den Sendern stehen die
Rezipienten gegenüber, die aus dem
Einerlei herausragen wollen, in dem
sie zunehmend dazu gezwungen sind,
sich durch das Sensationelle bemerkbar zu machen. Leider verliert Türcke
sich dann aber im nebulösen Jargon
Heideggers, statt seiner erfreulich unzeitgemäßen Präferenz für die kritische Theorie nachzugehen. Zu oft
wird der mäandernde Begriff des
„Da“ (44) bemüht, um in weitläufigen Beschreibungen der existentiellen
Verortung des Individuums im Gesellschaftlichen auf die Spur zu
kommen. Auch das „Umkreisen“ der
„schillernde(n) Bedeutungsvielfalt“
des heideggerschen „Da“ (78) trägt
zur Analyse der vorgetragenen Phänomene nichts bei. Ärgerlicherweise
werden einige überbewertete Ereignisse, wie die vorgeblich angestiegene
Gewaltbereitschaft von Halbwüchsigen an Schulen, das mittlerweile fast
in Vergessenheit geratene Sendeformat Big Brother, S-Bahnsurfing und
schließlich der vollkommen konstruiert wirkende Zusammenhang
von Tatoo, Piercing und Amok als
Ausdrucksformen „prometheischer
Wut“ (72) bemüht. Hier sitzt Türcke
dem kulturpessimistischen Geraune
über vermeintliche, manchmal auch
tatsächliche, niemals aber die Jugend
beherrschende Trends und vorübergehende Hipps auf, ohne dabei über
das tatsächliche Ausmaß der beschriebenen Phänomene Rechenschaft abzulegen.
Originell und anschaulich reflektiert
Türcke aber dann den Begriff des
Sensationellen. Er entwickelt – ausgehend von de Cusas Verknüpfung
des Staunens und der Seltenheit in
der sensatio (93) – die Ausrichtung J.
Lockes und G. Berkeleys auf die Sensation als Grundlegung des begreifenden Denkens und legt die SubjektObjekt-Dialektik zwischen sinnlicher
Reflektion und Sensation dar. Bei
Berkeley sieht Türcke das „esse est
percipi“ bereits ausformuliert, das im
Zwang zum globalen Sendezwang zu
überraschendem Wahrheitsgehalt gefunden habe. (105) Schließlich sei in
Berkeleys „Kurzschluss“ der Herleitung der Existenz Gottes aus der Überwältigung des Geistes durch die
unmittelbare Sensation eine Parallelität zur heutigen Situation zu ziehen,
in der die Sensation Weltsinn ist.
Freilich sieht Türcke den Gott in der
elektronischen Apparatur säkularisiert. In diesem Abschnitt, wie auch
in der historischen Reflektion über
den Zusammenhang vom entstehenden Weltmarkt des Merkantilismus
und dem Aufstieg der Nachricht zur
Ware, gewinnt die Türckesche Argu-
Neuerscheinungen
mentation an Stringenz. Aufregend
ist die Archäologie, die Türcke im
besten Sinne kritischer Theorie hinsichtlich des Sensationellen betreibt.
Am Beispiel des Briefschreibers J. H.
Campes legt er die europäische Rezeption der Französischen Revolution als Entstehung einer Weltöffentlichkeit dar. (112) Hier trete die Verschränkung von emanzipatorischen
Elementen und der Überreizung und
Abstumpfung vor dem Hintergrund
der Nachrichtenüberflutung zum ersten Mal nachvollziehbar zu Tage.
Im großartigen Kapitel einer kritisch
gewendeten psychoanalytischen und
neurologischen Grabung menschlicher
Historie arbeitet Türcke die grundlegenden Mechanismen des Wiederholungszwanges und der traumatischen
Gewalterfahrung als Stifterin des Gedächtnisses heraus, die den Schritt
des audiovisuellen Schocks zur absoluten Sensation anzeigt. Weniger überzeugend ist allerdings sein Versuch,
der Marxschen Fetischkritik am Warencharakter die zusätzliche Dimension
einer
theologisch-metaphysischen Doppelbewegung im Prozess der Abbildung moderner
Bildproduktion zu verleihen, um von
ersten photographischen Versuchen
die Brücke zum modernen „Bildschock“ (177) zu schlagen.
Als generelles Problem stellt sich,
dass selbst in Zeiten der Reizüberflutung doch immer sowohl die Potenz
und das Interesse als auch die Möglichkeit und Kompetenz einer Wirklichkeitsaneignung
besteht.
Mir
scheint dies ein Residuum menschlicher Neugierde zu sein, vor dem
auch die Übermacht der elektroni-
141
schen Medien ihren Schrecken verliert. So bleiben denn auch Türckes
Ausblicke auf die politisch praktische
Dimension recht dünn. Er versucht
zwar am Beispiel der symbolischen
Aktionen von Greenpeace das Gegenfeuer zur Herrschaft der Reizflut und
des Bildschocks darzustellen; vielleicht wäre hier jedoch eine ausführlichere Reflektion der Praxis der „Tute
Bianche“ (321) ertragreicher gewesen.
Kurz streift er auch noch den Terrorangriff auf New York. Eine kritische
Analyse der wohldurchdachten Ästhetik der Praxis dieser Gruppen hätte zudem fruchtbar sein können, um
das grundsätzlich Andere einer emanzipatorischen Bewegung herauszustellen. Freilich ist dies weniger
Türcke anzukreiden als vielmehr
Ausdruck der derzeitigen Abstinenz
sozialrevolutionärer
emanzipatorischer Praxis.
Hieran lässt sich auch am besten der
Unterschied zu Guy Debords Gesellschaft des Spektakels festmachen, das
einer der Glutpunkte des massenhaften Aufbegehrens der 60er Jahre war
und dadurch von selbst über sich hinausgewiesen hat. Davon sind wir
heute weit entfernt. Dies merkt man
Türckes Buch an, das eher eine Zusammenstellung verschiedener begrifflicher Reflektionen und essayistischer Überlegungen zum gegenwärtigen Zustand und zur Entstehung des
aktuellen Zustandes gesellschaftlicher
Kommunikation ist.
Jonas Dörge
142
Neuerscheinungen
Rainer E. Zimmermann
Subjekt und Existenz. Zur Systematik Blochscher Philosophie,
Berlin und Wien 2001 (Philo-Verlag), brosch., 282 S., 27.50 EUR.
Mit seinem Beitrag ‚Kognition als
Selbstlektüre der Natur‘ (Widerspruch 29) hat Rainer E. Zimmermann einen bündigen Umriss seines
systematisch-theoretischen Projekts
gezeichnet: es geht ihm als Naturwissenschaftler und Philosoph gleichermaßen um die Übersetzung der Kantischen Frage „Was ist der Mensch?“
in eine radikal materialistische Denkfigur, nach der im Menschen eine
sich selbst lesende und erkennende
Natur zu sich selber kommt. Als Naturwissenschaftler und Mathematiker
verfolgt Zimmermann hierbei den
Ansatz einer Theory of Everything,
in kosmologischer Hinsicht etwa gut
verständlich in Lee Smolins ‚Warum
gibt es die Welt?‘ (München 1999)
nachzulesen, die er philosophisch mit
der Linie der „Aristotelischen Linken“ stützt. Inwiefern dabei schon
mittelalterliches Denken beiherspielt,
ist in dem von Zimmermann herausgegebenen Band „Naturphilosophie
im Mittelalter“ (Cuxhaven/Dartford
1998) und der zusammen mit KlausJürgen Grün herausgegebenen Zeitschrift „System & Struktur“, vor allem der Sonder-Doppelnummer zum
800. Todestag von Averroes, erschienen unter dem Titel ‚Hauptsätze des
Seins. Die Grundlegung des modernen
Materiebegriffs‘
(Cuxhaven/Dartford 1998), nachzulesen.
Auch durch die idealistische Philosophie führt diese Kraftlinie des qualita-
tiven und dialektischen Materiebegriffs: Zimmermann spricht davon,
dass Denken Materieform ist. Für
Schellings Naturphilosophie hat er
dies in „Die Rekonstruktion von
Raum, Zeit und Materie“ (Bern, Berlin et al. 1998) entwickelt.
Unschwer ist zwischen den Namen
Aristoteles, Averroes und Schelling
der Name Ernst Blochs zu finden,
der den Materiebegriff bisher am radikalsten konzipierte (vgl. dazu die
posthume Schrift ‚Logos der Materie‘, Frankfurt/Main 2000). In „Subjekt und Existenz“ widmet sich
Zimmermann nun dem Blochschen
Denken, unternimmt es, es in seiner
Systematik zu ergründen und Parallelen zu anderen Philosophien, insbesondere Sartres, nachzuzeichnen. Das
Buch soll zugleich Einführung sein;
und ist es auch nicht unbedingt dem
Neuling unvermittelt anzuraten, so
sind doch ein Glossar der griechischen und lateinischen Begriffe, ein
Verzeichnis ausgewählter Blochzitate
und die kleine Chronologie Blochs
eine gute Hilfe, um sich in dem Buch
wie in der kritischen Philosophie
Blochs zu orientieren.
Der vielleicht zentralste Begriff der
Blochschen Philosophie, an dem
Zimmermann hier seine Systematik
entwirft, ist die Ontologie des Nochnicht-seins; mit dieser Ontologie ist
der Materiebegriff als prozessual zu
verstehen, beziehungsweise ist auch
das Verstehen prozessual zu begreifen (noch einmal: Denken ist Materieform). Bei Bloch heißt der Anfang
der Philosophie: „Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir
erst.“ Das sind die ersten Spuren, die
Neuerscheinungen
Zimmermann zum subjektiven Ausgangspunkt macht. Die Entfaltung
der Systematik der Blochschen Philosophie impliziert derart den Blick auf
die Logik des Blochschen Denkens,
auf die material-materialistische Logik
selbst – als Systemphilosophie. Sie
führt im Ausblick an die Ränder des
Horizontes einer Philosophie der
Zukunft, einer „Rückgewinnung der
Metaphysik“: als „Theorie der universalen Evolution“, schließlich als
„Identität der Geschichte an ihrem
Ziel“.
Paradoxerweise und nicht ohne
Problematik steht diese materialistische Systemphilosophie im Schatten
der materialistischen Kritik des Antisystems; Systemphilosophie will an
Totalität utopisch retten, was sich im
20. Jahrhundert realgeschichtlich im
Terror offenbarte. Eine Theorie der
universalen Evolution muss auch auf
die Dialektik der Aufklärung reflektieren, darf das Grauen nicht zynisch
in den Weltplan subsumieren. Zimmermann macht zum methodischen
Postulat die Emergenz, die Insichtnahme des Welthaften. Dringend zu
diskutieren ist, ob dies nicht korrigiert
werden muss durch den objektiven
Ausdruck, die Sichtverstellung des
Verblendungszusammenhangs. Wäre
also mit Blochs Transzendieren ohne
143
Transzendenz als Utopie der Weltheimat (und zwar als Reflex auf die
Heimatlosigkeit des Menschen) nicht
vielmehr ein Emergieren ohne Emergenz zu reflektieren? (In dieser Hinsicht hatte ja Günther Anders an
Bloch eine ähnliche Kritik geübt wie
an Heidegger, die beide, der eine humanistisch-progressiv, der andere faschistisch-reaktionär die Welthaftigkeit der Existenz postulieren.)
Zimmermann betont den „PatmosAspekt“ der Blochschen Philosophie,
das potenziell Rettende: „Fundierte
Hoffnung wird vor allem durch die
treue Betrachtung der Tendenz klug.“
(53) Die Tendenz wird hier von der
„Erbschaft dieser Zeit“ aus betrachtet, in der Mitte der 30er Jahre; schon
ein halbes Jahrzehnt später zerbricht
diese Tendenz im blanken Terror, der
bis heute in jede Hoffnung seine
Wunde schlägt. Die Forderung nach
einer Identität der Geschichte an ihrem Ziel ist als theoretisches Programm nur dann haltbar, wenn die
Identität der Geschichte mit ihrer Vergangenheit zu ihrem Recht kommt:
Erst in diesem Eingedenken des eben
Nichtidentischen wird es möglich, die
Welt zu reparieren (Tikkun, und nicht
Heimat).
Roger Behrens
AutorInnen
JADWIGA ADAMIAK, Dipl.-Volkswirtin, Journalistin, München
ROGER BEHRENS, M.A.,
Lehrbeauftragter am Institut für
Allgemeine Erziehungswissenschaft
der Universität Hamburg
FRITJOF BÖNOLD,
Dipl.-Pädagoge, Doktorand der
Pädagogik, Nürnberg
JONAS DÖRGE,
Politikwissenschaftler, Kassel
WOLFGANG HABERMEYER,
Dr. phil., freier Mitarbeiter des Bayr.
Rundfunks, Lehrbeauftragter für
Ethnologie an der LMU, München
MICHAELA HOMOLKA, Dr. phil.,
Kirchseeon
REINHARD JELLEN, M.A., Doktorand
der Philosophie, München
MANUEL KNOLL, Dr. phil.,
Lehrbeauftragter am für Politische
Wissenschaft der LMU und der
Hochschule für Politik, München
ALEXANDER VON PECHMANN,
Dr. phil., Lehrbeauftragter für
Philosophie an der LMU und VHS
München
HANS-MARTIN SCHÖNHERR-MANN,
Dr. phil., Dr. rer. pol. habil., Privatdozent für Politische Philosophie,
München
CHRISTIAN SCHWAABE, Dr. phil.,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Geschwister-Scholl-Institut für
Politische Wissenschaft der LMU,
München
CHARME INA SUCHAREWICZ, M.A.,
Studentin der Politischen Wissenschaften am Geschwister-SchollInstitut der LMU, München
WOLFGANG TEUNE,
Unternehmensberater, Monheim
KIM LAN THAI-THI, Dr. phil., Lehrbeauftragte für komparative europäisch-buddhistische Erkenntnistheorie
an der LMU München
GEORG KOCH, M.A., Antiquar und
freier Autor, München
MOHAMED TURKI, Dr. phil.,
Dozent für Philosophie an der
Universität Tunis
KONRAD LOTTER, Dr. phil.,
Privatgelehrter, München
PERCY TURTUR, M.A.,
freier Autor, München
BERND M. MALUNAT, freiberufl.
Politikwissenschaftler, München
NORBERT WALZ, M.A.,
Doktorand der Philosophie,
Nürnberg
WOLFGANG MELCHIOR, M.A., Doktorand der Philosophie, Unternehmensberater, Publizist, München
THOMAS WIMMER, M.A., freier Autor
und Herausgeber, München
Impressum
Widerspruch
Münchner Zeitschrift für Philosophie
23. Jahrgang (2003)
Herausgeber
Münchner Gesellschaft für
dialektische Philosophie,
Tengstr. 14, 80798 München
Redaktion
Jadwiga Adamiak, Reinhard Jellen,
Manuel Knoll, Georg Koch,
Wolfgang Melchior (Internet),
Konrad Lotter (verantw.),
Alexander von Pechmann,
Franz Piwonka, Percy Turtur
Verlag
Widerspruch Verlag,
Tengstr. 14, 80798 München.
Tel & Fax: (089) 2 72 04 37;
e-mail: [email protected]
Erscheinungsweise
halbjährlich / ca. 500 Exemplare
Gestaltung: Percy Turtur, München
ISSN 0722-8104
Preis
Einzelheft: 6.- EUR
Abonnement: 5.50 EUR ( zzgl. Versand)
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geben nicht unbedingt die Meinung der
Redaktion wieder. – Für unaufgefordert
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WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Nr.39
Kritik der Globalisierung
außereuropäische Perspektiven
Afe Adogame:
eine afrikanische Perspektive
Oliver Kotzlarek:
Zur Kritik der Moderne in
Lateinamerika
Norbert Walz:
Die Erlösung der Natur
Raúl Claro Huneeus:
Das „Memorandum“ der Heinrich-Böll-Stiftung
Thies Boysen / Markus Breuer:
Ausverkauf der Ethik?
Ram Adhar Mall:
zwischen Asien und Europa
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