Quersumme 2/2014 - Christine Broll

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Arbeitswelten
Quersumme 2 / 14 – Seite 16
In einer Welt ohne Reibungsverluste
Tobias Amann (l.) und Andreas Kailer an einem Rheometer mit Tribologiemesszelle.
Andreas Kailer setzt eine Probe für einen
Schwingreibverschleißtest in den Tribometer.
Für die Entwicklung eines flüssigkristallinen Schmierstoffs erhielt dieses Team den Preis des Stifterverbands
für die Deutsche Wissenschaft: Holger Kretzschmann (Nematel), Werner Stehr und Susanne Beyer-Faiß
(Dr. Tillwich GmbH), Andreas Kailer und Tobias Amann (Fraunhofer IWM) (v.l.n.r.). Fotos © Dirk Mahler
Seit mehr als zwei Jahrzehnten gab es
auf dem Gebiet der Schmierstoffe keine grundlegenden Innovationen mehr.
Jetzt hat ein Konsortium mit Beteiligung
des Fraunhofer IWM in Form von flüssigkristallinen Fluiden neue, hocheffiziente Schmierstoffe entwickelt – und damit
die Voraussetzung für fast reibungsloses
Gleiten geschaffen.
Als Dr. Tobias Amann im Freiburger Techni­
kum des IWM den ersten Reibungsversuch
mit ­einem flüssigkristallinen Fluid auswertet,
glaubt er zuerst an einen Fehler im Messgerät.
Zwanzig Stunden lief der Standard-Reibungs­
versuch, bei dem ein kleiner Metallzylinder auf
einer Metallplatte hin und her gerieben wird.
Als Schmierstoff dient eine Probe des Flüssig­
kristalls. Mit einem Standardschmierstoff hät­
te Tobias Amann bei diesem Versuch einen Rei­
bungskoeffizient von ungefähr 0,1 gemessen.
Jetzt liegt der Wert bei 0,005. Kann das sein?
Tobias Amann macht weitere Versuche und er­
hält Gewissheit: Flüssigkristalle können die Rei­
bung um den Faktor 200 reduzieren und haben
damit ein großes Potenzial als Schmierstoff.
Die Proben hatte Tobias Amann 2008 von
Dr. Rudolf Eidenschink, einem Spezialisten für
Flüssigkristalle, erhalten. Eidenschink, mittler­
weile verstorben, war damals Geschäftsfüh­
rer der Nematel GmbH in Mainz und verfolgte
die Idee, Flüssigkristalle als Schmierstoff einzu­
setzen. Bei Automobilkonzernen in Deutsch­
land und in den USA hatte er für seine Pläne
eine Abfuhr erhalten. Als er schließlich mit dem
IWM in Freiburg Kontakt aufnahm, stieß er auf
offene Ohren.
Flüssigkristalle befinden sich in einem Zu­
stand zwischen flüssig und fest. Während sich
Moleküle in Flüssigkeiten ganz zufällig bewe­
gen, ordnen sie sich in einem Flüssigkristall zu
einer kristallähnlichen Struktur an. Dadurch ha­
ben Flüssigkristalle ganz besondere, richtungs­
abhängige Eigenschaften. Bei den Flüssigkris­
tallanzeigen (Liquid Crystal Display, LCD) nutzt
man den Effekt, dass Flüssigkristalle die Pola­
risationsrichtung von Licht beeinflussen, wenn
eine elektrische Spannung angelegt wird.
Zwischen flüssig und fest
Als Schmierstoff eignen sich Flüssigkristal­
le, die aus stäbchenförmigen Molekülen beste­
hen. Wenn Dr. Andreas Kailer, stellvertretender
Leiter des Geschäftsfelds Tribologie am IWM,
den Effekt beschreibt, greift er gerne zu einem
Bild: »Gibt man den Flüssigkristall als Schmier­
stoff zwischen zwei Oberflächen, die sich ge­
geneinander bewegen, stellen sich die Stäb­
chen eng nebeneinander auf – wie Männchen
auf einer großen Ebene.« Im Reibspalt liegen
viele solcher Ebenen übereinander. Da die Ebe­
nen in sich sehr stabil sind, sich aber leicht ge­
geneinander verschieben lassen, wird die Rei­
bung auf ein Minimum reduziert.
Nachdem Tobias Amann die sensationell­
niedrigen Reibwerte bei den Flüssigkristallen
gemessen hat, macht er genauere Untersu­
chungen: Im Nachgang der Reibversuche analy­
siert er den flüssigkristallinen Schmierstoff und
die Oberflächen mit spektroskopischen Metho­
den. »Beim Reibprozess bilden sich an der Me­
talloberfläche Komplexverbindungen aus den
organischen Flüssigkristallmolekülen und dem
Eisen. Diese sogenannten Chelatkomplexe re­
duzieren den Verschleiß«, erklärt der PolymerExperte, der am IWM über die flüssigkristallinen
Schmierstoffe promovierte. Mit dem Raster­
elektronenmikroskop entdeckt Amann auf den
Metallteilen eine feine Rillenstruktur in Reib­
richtung: Wieder eine gute Nachricht, denn die­
se verhindert ein Abfließen des Schmierstoffs.
Mit diesen positiven Ergebnissen und
zwei Industriepartnern startet das IWM 2010
Detailaufnahme des Optimol-Tribometers.
ein BMBF-Projekt. Die Nematel GmbH liefert
die Flüssigkristalle, die Dr. Tillwich GmbH Wer­
ner Stehr entwickelt aus den Flüssigkristallen ei­
nen praxistauglichen Schmierstoff. »Die ersten
Proben mit Flüssigkristallen wurden bei Tempe­
raturen unter 0 °C bereits fest«, erinnert sich
Susanne Beyer-Faiß, Chemikerin bei Tillwich.
Für den Einsatz im Automobilbereich müssen
Schmierstoffe aber bei Temperaturen zwischen
minus 40 und plus 120 °C stabil sein. Außer­
dem dürfen sie nicht durch Luftsauerstoff oxi­
diert werden.
Weg in die Anwendung
Sabine Beyer-Faiß hat viel Erfahrung mit
Additiven, die Schmierstoffen Stabilität verlei­
hen. In unzähligen Experimenten testet sie die
unterschiedlichsten Kombinationen aus Flüs­
sigkristallen und Additiven. Gleichzeitig baut
ihr Kollege Werner Stehr einen speziellen Prüf­
stand, auf dem er die gegen null gehende Rei­
bung mithilfe von Lasertechnik berührungslos
messen kann.
In Freiburg testet Tobias Amann unter­
dessen verschiedene von Nematel hergestell­
te Flüssigkristalle in Reibversuchen mit unter­
schiedlichen Materialien wie Eisen, Kupfer und
Keramik. Sein Ergebnis: Flüssigkristalle zeigen
die beste Wirkung in Gleitlagern aus Eisen.
Auf den Prüfstand bei Tillwich kommen
daher radiale Gleitlager, bei denen sich eine
runde Achse in einer Hülse dreht. Werner Stehr
ist von den niedrigen Reibwerten tief beein­
druckt, gibt aber zu bedenken: »Bis zum brei­
ten Einsatz der flüssigkristallinen Schmierstoffe
in der Praxis ist es noch ein weiter Weg.«
In einem neuen BMBF-Projekt haben sich
die Partner auf diesen Weg begeben – mit Be­
teiligung möglicher zukünftiger Kunden wie
der Uhrenfabrik Kieninger und der Robert
Bosch GmbH. »Die neue, unkonventionelle He­
Tobias Amann zeigt zwei Millimeter des flüssig­
kristallinen Schmierstoffs.
rangehensweise ist, dass Gleitlagerwerkstoff
und Schmierstoff parallel entwickelt und auf­
einander abgestimmt werden«, so IWM-Grup­
penleiter Andreas Kailer. Im Fokus stehen Gleit­
lager aus gesintertem Metall, die in ElektroKlein­motoren von Autos verbaut sind, zum
Beispiel in der Lichtmaschine, dem Scheiben­
wischermotor oder dem Gebläse der Klima­
anlage. In modernen Autos befinden sich zwi­
schen zwanzig und fünfzig dieser Motoren.
Allein bei Bosch werden pro Jahr rund 50 Milli­
onen Sintergleitlager produziert.
Angst, dass sie auf ihrem Weg von der
Konkurrenz überholt werden, brauchen die
Projektpartner nicht zu haben. Sie sind welt­
weit die einzige Gruppe, die neue, flüssigkris­
tallbasierte Tribosysteme entwickelt. Und sie
sind sicher, dass auf den Straßen bald Autos rol­
len, bei denen sich die Gleitlager fast reibungs­
los drehen – und damit Energie und Ressourcen
sparen. Christine Broll
Flüssigkristalline Schmierstoffe
BMBF-Projekt KMU-innovativ: Projekt­
partner: Fraunhofer IWM, Freiburg; Nematel
GmbH, Mainz; Dr. Tillwich GmbH Werner
Stehr, Horb-Ahldorf; Januar 2010 – Dezem­
ber 2011
Auszeichnung: Wissenschaftspreis des Stif­
terverbandes – Preis für Verbundforschung
2014
Geplanter Einsatzbereich der Schmierstoffe: Sintergleitlager in Elektro-Klein­motoren in Autos, z. B. Lichtmaschine, Schei­
benwischer, Klimaanlage.
Kontakt: Dr. Andreas Kailer, stellvertreten­
der Leiter des Geschäftsfelds Tribologie am
Fraunhofer IWM, Freiburg, andreas.kailer@
iwm.fraunhofer.de
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