Interdisziplinäre Fachtagung der Landesarbeitsgemeinschaft „Trauma und Flucht“ – Psychosoziale Zentren in BadenWürttemberg“ Workshop: „Traumatisierte Flüchtlingskinder“ Anna de Lenardis, Diplom-Psychologin Psychologische Familien- und Lebensberatung Caritas Ulm 1 Übersicht 1. Situation traumatisierter Flüchtlingskinder und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2. Traumafolgestörungen – Überblick und Störungsbilder 3. Zwischenfazit 4. Vorstellung des Projekts 5. Diskussion und Austausch Übersicht 1. Situation traumatisierter Flüchtlingskinder und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2. Traumafolgestörungen – Überblick und Störungsbilder 3. Zwischenfazit 4. Vorstellung des Projekts 5. Diskussion und Austausch Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder 4 Unsichtbares Leiden Kinder aus Flüchtlingsfamilien laufen oft nebenher. Sie gelten in den Familien als stark, gesund und haben häufig nur einen Auftrag: Hier in Deutschland „etwas zu werden“ 5 Die verschiedenen Belastungsebenen der Kinder • • • • • als Migrantenkinder als Flüchtlingskinder Eigene traumatische Erlebnisse oder extrem belastende Situationen ausgesetzt Als Kinder psychisch kranker Eltern Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kommt noch der frühe Verlust beider Elternteile hinzu 6 Bedürfnisse der Kinder • • • • Werden aus kulturellen Gründen nicht gesehen – sie müssen im Kollektiv funktionieren Psychische Bedürfnisse werden nicht artikuliert Gelten als stark (Parentifizierung) Fallen erst auf, wenn sie „Probleme“ machen 7 Hamburger Kinderstudie (C. Oelrich 2007) N=51, Alter 9 -19 Jahre, 49% m 51% w unselektioniert aus Beratungsstelle für Eltern, empirische Querschnittsstudie • 37% der Kinder waren unauffällig • 62,7% behandlungsbedürftige psychische Störung • 43, 1 % mehrere psychiatrische Diagnosen • 21% Verhaltensstörungen und/oder emotionaler Störungen • 19,6% gegenwärtiges Suizidrisiko • 15,6% psychosomatische Beschwerden 8 Hamburger Kinderstudie: Lebensumstände • • • Andauernde unsichere Aufenthaltssituation (Anzahl und Ausmaß der psychischen Auffälligkeiten nehmen mit der Länge der Duldungsdauer zu) Parentifizierung: je mehr familiäre Aufgaben, die üblicher Weise Erwachsene machen, desto größer das Ausmaß der psychischen Probleme 88% Angst vor der Abschiebung 9 Das Fazit dieser Studie Obwohl alle Kinder nach außen unauffällig erschienen und keine Behandlung im engeren Sinn bisher bekommen haben, zeigen zwei Drittel psychopathologische Auffälligkeiten. 10 Ressourcen dieser Kinder • • • • • • • • • Soziale Kompetenzen Hohes frühzeitiges Verantwortungsbewusstsein Anpassungsfähigkeit Offen für neue Herausforderungen Erfahrungen von Überlebensmomenten Ehrgeiz In ihrer Entwicklung häufig voraus Leben in zwei Kulturen Mindestens 2 Sprachen 11 Übersicht 1. Situation traumatisierter Flüchtlingskinder und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2. Traumafolgestörungen – Überblick und Störungsbilder 3. Zwischenfazit 4. Vorstellung des Projekts 5. Diskussion und Austausch Traumafolgestörungen Psychotrauma Akute Belastungsreaktion Anpassungsstörungen Posttraumatische Belastungsstörung Komplexe Störungen „Entwicklungstraumastörung“ Akute BR/PTBS – Kriterium A - Trauma ICD 10 ... kurz oder lang anhaltendem Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. DSM V (Personen >6 Jahre) Die Betroffenen waren über einen oder mehrere der unten genannten Wege Tod (tatsächlich oder angedroht), schwerwiegenden Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt: • Direktes Erleben des traumatisierenden Ereignisses, • Persönliches Miterleben, wie das traumat. Ereignis anderen zustößt, • Erfahren, dass das traumatisierende Ereignis einem engen Familienmitglied oder einem engen Bekannten zugestoßen ist. (tatsächlicher/angedrohter Tod durch gewaltsames Ereignis oder Unfall) • Wiederholte oder sehr extreme Konfrontation mit aversiven Details des traumatischen Ereignisses. Beispiele für traumatische Ereignisse • • Krieg, Terror Gewalttätige Angriffe auf die eigene Person (Vergewaltigung, körperlicher Angriff, Raubüberfall) Entführung, Geiselnahme Folterung Kriegsgefangenschaft, Lagerhaft Naturkatastrophen, Massenschadensereignisse Kindesmisshandlung, -vernachlässigung, -missbrauch Häusliche Gewalt Schwere Unfälle Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung Verlust einer nahestehenden Person unter schrecklichen Umständen Traumatische Erfahrungen sind nicht auf diese Ereignisse beschränkt! Traumatisierung als direktes Opfer, Zeuge/Helfer, oder indirekt (z.B. Angehörige, Therapeut) Einfluss des Traumas - Einmalig vs. wiederholt Interpersonell vs. Naturgewalt Universell vs. persönlich Zeuge vs. Opfer vs. indirekt Täter bekannt vs. Elternteil vs. Fremder Art des Traumas Traumafolgestörungen Psychotrauma Akute Belastungsreaktion Anpassungsstörungen Posttraumatische Belastungsstörung Komplexe Störungen „Entwicklungstraumastörung“ Akute psychische Reaktionen auf traumatischen Stress • Akute Belastungsreaktion („Psychischer Schock“) - außergewöhnliche psychische oder physische Belastung - Beginn innerhalb von Minuten, meist innerhalb von Stunden/2-3 Tagen abklingend nicht länger als 4 Wochen - Initial „Betäubung“: Bewusstseinseinengung, reduzierte Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur Reizverarbeitung, Desorientiertheit - Dann soz. Rückzug (z.T. Regungslosigkeit) oder Unruhe/Agitiertheit (bis hin zu Flucht, Umherirren) - meist vegetative Paniksymptome (Herzrasen, Schwitzen, Erröten) - z.T. Erinnerungslücken • Akute Belastungssymptome sind eine normale Reaktion! • Wenn Belastungssymptome länger als einige Tage oder Wochen anhalten, sollte an eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gedacht werden! DSM V: Diagnostische Kriterien der PTSD Traumatisches Erlebnis Wiedererleben (auch im im Spiel) (auch Spiel) Kognitive/affektive Symptome Vermeidung Hyperarousal Hyperreaktivität > 4 Wo. psychosoziale Beeinträchtigung www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/proposedrevision.aspx?rid=165# Neu: irritierbar, aggressiv, waghalsig, selbstbeschädigend DSM V – Kriterium B: Wiedererleben Eines (oder mehrere) der folgenden, mit dem Trauma assoziierten Symptome (Beginn nach dem Auftreten des traumatisierenden Ereignisses): 1. Wiederholte, unwillkürliche und aufdrängende Erinnerungen an das traumatische Ereignis. 2. Wiederholte Albträume, bei denen Inhalte oder Gefühle des Traums mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind. 3. Dissoziationen (z.B. Flashbacks), in denen sich der Betroffene so fühlt oder sich so verhält, als ob das traumatisierende Ereignis wider stattfinden würde. Bei Kindern (älter als 6 J.) können die Symptome 1-3 in etwas veränderter Form auftreten: • Symptom 1: Auch wiederholte Spiele, die das traumatisierende Ereignis oder Aspekte davon als Inhalt haben • Symptom 2: Auch Albträume ohne erinnerbaren Inhalt • Symptom 3: Auch trauma-spezifisches Nachstellen in Spielen DSM V – Kriterium B: Wiedererleben 4. Ausgeprägtes oder anhaltendes seelisches Leiden bei Konfrontation mit (inneren oder externen) Reizen, die das traumatische Ereignis symbolisieren oder die einem Aspekt des traumatisierenden Ereignis ähnlich sind. 5. Deutliche physiologische Reaktion auf (innere oder externe) Reize, die das traumatische Ereignis symbolisieren oder die einem Aspekt des traumatisierenden Ereignis ähnlich sind. • Bei Kindern unter 6 Jahren müssen die emotionalen Reaktionen nicht ausschließlich negativ sein – von Neutralität/Gleichgültigkeit bis positiv anmutende Aufregung (excitement) wird alles berichtet! DSM V – Kriterium C: Vermeidung • Anhaltende Vermeidung von Stimuli, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind, wie zum Beispiel eine Vermeidung (oder der Versuch zu vermeiden) von mit dem traumatisierenden Ereignis verbundenen belastenden – – – – Erinnerungen, Gedanken, Gefühlen, sowie von externen Bedingungen (wie z.B. Personen oder Orten) mit dem traumatisierenden Ereignis verbundene Gedanken oder Gefühle hervorrufen. DSM V – Kriterium D: Kognitive/Affektive Symptome • Negative Veränderungen in mit dem Trauma assoziierten Kognitionen oder Affekten, wie zum Beispiel 1. die Unfähigkeit, wichtige Aspekte des traumatischen Ereignisses zu erinnern,* anhaltende oder übersteigerte negative Überzeugungen bzw. Erwartungen in Bezug auf die eigene Person, andere Personen oder “die Welt”.* Anhaltende veränderte Gedanken über die Ursache oder die Folgen des traumatischen Ereignisses. 2. 3. • *Aus Kriterien für Kinder unter 6 Jahren entfernt DSM V – Kriterium D: Kognitive/Affektive Symptome 4. 5. 6. 7. • Anhaltend negatives Gefühlserleben, wie z.B. Angst, Schuld, Schamgefühle. Deutliche Verminderung von Interesse oder sozialen Aktivitäten. ( unter 6 Jahre: eingeschränktes Spiel) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen. ( unter 6 Jahre: sozialer Rückzug generell) Eingeschränkte Wahrnehmung von positiven Affekten (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden. Kriterien 5, 6, 7 sowie Vermeidung bei Kindern unter 6 Jahren zu beobachten, gehören jedoch per so zu den seltenen Symptomen einer PTBS daher 1 Symptom ausreichend für Diagnose DSM V – Kriterien E (Hyperarousal) und F-G • Deutliche Veränderungen in der Erregbarkeit und den Reaktionen, wie z.B. • Reizbarkeit oder Wutausbrüche (sehr häufig bei Kindern unter 6 J), • leichtsinniges oder selbstzerstörerisches Verhalten, • Hypervigilanz, • Schreckhaftigkeit, • Konzentrationsstörungen, • Schlafstörungen. • • • • Kriterien F-G: Die Beschwerden (B-E) dauern für mindestens 1 Monat an, verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen und • sind nicht besser durch Substanzeinfluss oder eine andere Erkrankung erklärbar. PTBS: Risiko- und Schutzfaktoren -Risikofaktoren: - weibliches Geschlecht junges Lebensalter wdh. Traumatisierung längere/stärkere Traumaexposition Traumatyp: interpersonell ausgeprägte akute Belastungssymptome, erhöhte Herzrate vorherige psych. Störung (Angst) psych. kranke Eltern Mangel an soz. Unterstützung bei Katastrophen: TV, verzögerte Evakuation, extreme akute Panik •Protektive Faktoren: - gute Stressbewältigungsfähigkeiten - weniger psychopathol. Symptome der Eltern - angemessene elterliche Unterstützung - Resilienz (Widerstandsfähigkeit) Aber: nicht jede Belastung macht krank! • Auch schwere, existentiell bedrohliche Ereignisse können bewältigt werden! • 70-80% aller eine Krebserkrankung überlebenden Kinder und Jugendlichen sind psychisch unauffällig. • 80-90% aller minderjährigen Unfallopfer haben keine längeren seelischen Probleme. • „Unverwundbare“ Kinder können schwerste langjährige Misshandlungen und Vernachlässigung oder Kriegsund Flüchtlingserfahrungen überstehen und psychisch gesund bleiben. Übersicht 1. Situation traumatisierter Flüchtlingskinder und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2. Traumafolgestörungen – Überblick und Störungsbilder 3. Zwischenfazit 4. Vorstellung des Projekts 5. Diskussion und Austausch Vier Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe • • • • Bedürfnis nach sicheren Bindungen Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz Selbstwirksamkeit Lustgewinn / Unlustvermeidung Annäherungsschemata dienen dabei der Erfüllung dieser Bedürfnisse, Vermeidungsschemata, dienen der Verhinderung von Enttäuschungen im Bezug auf die Bedürfnisse 29 Was brauchen Flüchtlingskinder • • • • • • • • • Sicherheit Sichere Bindungen Selbstwirksamkeitserfahrungen Abbau von Dauerstress in den Familien Akzeptanz und Ermutigung Ausgleich für Verlust von Kontrolle Identitätsfindung gute Sprachkenntnisse oft: Behandlung 30 Resilienz fördern • • • • • • • Optimismus fördern Akzeptanz erlebbar machen Zielorientierung stärken Fördern, ihre Opferrolle zu verlassen Verantwortung für sich stärken Aktive Zukunftsplanung Förderung von Freundschaften und sozialen Netzwerken 31 Konsequenzen für die Unterstützung von Flüchtlingskindern • • • Elternarbeit: Unterstützung der Eltern, möglichst sichere Bezugspersonen für ihre Kinder zu sein Teilhabe von Kindern in Abläufen, Regeln etc.: Vermeidung von Ohnmachtserlebnissen („Es wird mit mir gemacht“) - wo möglich. Sehr vorsichtiger Umgang mit den traumatischen Erlebnissen: Gefahr von Retraumatisierungen. 32 Übersicht 1. Situation traumatisierter Flüchtlingskinder und unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2. Traumafolgestörungen – Überblick und Störungsbilder 3. Zwischenfazit 4. Vorstellung des Projekts 5. Diskussion und Austausch Vorstellung des Projekts „Psychotherapeutische Unterstützung für traumatisierte Flüchtlingskinder und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ Psychologische Familien- und Lebensberatung Caritas Ulm 34 Konzept des Angebots für Flüchtlingskinder und Jugendliche bei der Caritas in Ulm • Einzelfallhilfe: Diagnostik, Therapie, Arbeit mit Bezugspersonen, ggf. Stellungnahmen. Wichtig: Beziehungsorientiert, kultursensibel und dolmetschergestützt. • Aufsuchende therapeutische Arbeit in einer Sammelunterkunft • Gruppenangebote (s.u.) • Vernetzungsarbeit • Unterstützung von Fachpersonal und Ehrenamtlichen Derzeit geplante Gruppenangebote • • • • Kunsttherapeutisches Gruppenangebot Psychodrama-Spielgruppe Erlebnispädagogische Gruppe Gruppenangebot für Jugendliche zum Umgang mit Wut und Aggression Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!