WEGWEISER DURCH DIE ARCHITEKTURLANDSCHAFT CHARLOTTENBURG - WILMERSDORF Herausgeber: Projektagentur. Gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung von Bildung, Kultur und Umweltschutz (PA Berlin) mbh Projektteam: Herbert Bolz, Simone Brosch, Tatiana Demidova, Michael Jordan, Jutta Kindler, Georgios Nassioulas, Rainer Ritter, Ursèl Ritter, Andreas Schwarz, Peter Thelen Redaktion: Michael Jordan, Jutta Kindler, Ursèl Ritter Titelbild: Ursèl Ritter © 2008 Projektagentur Berlin Geschäftsstelle Charlottenburg-Wilmersdorf Helmholtzstr. 13/14, 10587 Berlin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Charlottenburg-Wilmersdorf _________________________________ Europa hat eine Fülle von sehenswerten Stadtbildern, die an Einzigartigkeit, Charme und Vielfalt nicht zu überbieten sind und es dem Besucher schwer machen, eine Wahl zu treffen. Doch es gibt kaum eine Stadt, die es an Vielseitigkeit mit Berlin aufnehmen kann, was sich aus der sehr eigenen Historie dieser Stadt ergibt. Während Metropolen wie Paris, Madrid, Rom und viele andere sich in den letzten hundert Jahren kaum verändert haben, blickt Berlin auf eine wechselvolle und turbulente Geschichte zurück. Bombenkrieg, politische Teilung, Insellage und schließlich die Wiedervereinigung veränderten das Gesicht der Stadt in rasanter, zum Teil positiver wie auch Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam 1 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf negativer Weise. Speziell der Fall der Mauer und die anschließende Wiedererlangung der Hauptstadtfunktion in den 90er Jahren lösten einen Bauboom aus, der Berlin zeitweise zur größten Baustelle Europas machte. Berlin ist wunderschön - Berlin ist abgrundtief hässlich, beides ist wahr, und die deutsche Hauptstadt vereint dieses Paradox auf mitunter bizarre, auch charmante, aber stets quirlige und lebendige Weise. 2 Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Unser Ziel ist es, den Besucher an sehenswerte Orte in Berlin zu führen, auch an solche, die sich abseits der touristischen Pfade befinden und in gängigen Reiseführern nicht zu finden sind. Da es unmöglich ist, die Fülle und Vielfalt, den Charme und die Einzigartigkeit der Dreimillionenstadt in eine einzige Broschüre zu packen, stellen wir die Berliner Architektur des Bezirks CharlottenburgWilmersdorf vor, der während der Teilung der Stadt eine Innenstadtfunktion für den Berliner Westen erfüllte und diese noch immer innehat. Wir laden Sie ein zu einem Rundgang durch diesen Bezirk und wünschen Ihnen viel Freude dabei. Beginnen werden wir mit unserem Rundgang am Fasanenplatz und seiner Umgebung, von dem es nachfolgend eine Menge Wissenswertes zu berichten gibt. Ihr Projektteam Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam 3 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Fasanenplatz _____________________________________________________________ Ein ungemein lauschiges Plätzchen ist der Fasanenplatz zwischen Schaper-, Ludwigkirch- und Meierottostraße. Auf dem Stadtplan wirkt er wie eine Ausbuchtung der Fasanenstraße, die nord- und südwärts verläuft. Der Platz wurde am 14.11.1901 nach dem Fasan aus der Familie der Hühnervögel benannt. Die Straße halbrund um den Platz ist für den Verkehr gesperrt. Rote Bänke laden zum Verweilen und Ausruhen ein. Der Platz ist vorwiegend mit großen Bäumen und Rasen begrünt und hat dadurch eine ruhige und sehr romantische Ausstrahlung. Fasanenplatz Dieser Eindruck wird durch die vorwiegend alte Bausubstanz noch verstärkt. In der Mitte des Platzes befindet sich eine moderne Wasserstele, 1987 von Rolf Lieberknecht erstellt. Von hier hat man einen malerischen Blick auf eine Backsteinvilla, heute Baudenkmal. 187880 von Friedrich Kleinwächter erbaut, diente das Gebäude seinerzeit als Lehrerhaus des Joachimsthaler Gymnasiums in der Bundesallee. Nach schweren Kriegsschäden wurde es vereinfacht wieder aufgebaut. Seit 1958 ist eine Kindertagesstätte dort untergebracht. Plan aus Wikipedia 4 Der Fasanenplatz ist städtebaulich der nordwestliche Eckpunkt der Carstenn-Figur, die 1870 von Johann Anton Wilhelm von Carstenn-Lichterfelde geplant und nach ihm benannt wurde. Die Eckpunkte bilden Fasanenplatz, Nürnberger, Prager und Nikolsburger Platz, gedacht als Repräsentations- und Schmuckplätze. Sie wurden als Grünflächen gestaltet und mit Wohngebäuden umgeben. Die Mittelachse bildet die Bundesallee, bis 1950 Kaiserallee genannt. Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Durch ihren Ausbau zu einer Hauptverkehrsstraße nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das innere Gefüge der Gesamtanlage weitgehend zerstört. Nun zurück zum Fasanenplatz. Galerien, Restaurants und ein Antiquitätengeschäft beleben den Platz auf angenehme Weise. Gebäude Fasanenplatz Bemerkenswert ist ein altes sehr schönes Gebäude entlang der Fasanenstraße, welches in die Häuserzeile integriert ist. In die Backsteinstruktur fügen sich Fenster mit halbrunden, weißen Einrahmungen ästhetisch ein und geschwungene schmiedeiserne Gitter runden das Bild ab. In einem der Nachbargebäude befindet sich die Galerie Bremer, eine alteingesessene Galerie. Im Anschluss an ihre Ausstellungsräume gibt es eine von Hans Scharoun entworfene Bar, die original erhalten ist. Die Galerie wurde am 13.10.1946 in der Meinekestraße von Anja Bremer gemeinsam mit Rudolf van der Lak eröffnet und zog 1955 in die Fasanenstraße. Nach dem Tod von Anja Bremer führte Rudolf van der Lak, von Insidern liebevoll Rudi genannt, die Galerie weiter und es ist ihm zu verdanken, daß die Galerie Bremer zu einem der unprätentiösesten kulturellen Treffpunkte Berlins wurde, in dem seit Jahrzehnten West-Berliner Kunstgeschichte geschrieben wird. Leider ist auch Rudi mit über 90 Jahren mittlerweile verstorben. Ohne ihn geht es nun weiter mit der Kunst. Auch die Bar ist noch immer brechend voll, doch hier wird der große Schwarze mit dem silbernen Haar, dem unbeschreiblichen Charme und den gut gemixten Cocktails sehr vermisst. Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 5 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Schaperstraße links: Seniorenstift rechts: Haus der Festspiele Nördlich vom Fasanenplatz kommend, erstreckt sich die Schaperstraße im Halbrund zur Bundesallee, darüber hinaus bis zur Spichernstraße (Nürnberger Platz als Teil der Carstenn-Figur). Auf der linken Seite der Straße dominiert zunächst Altbaustruktur, die durch ein modernes Gebäude mit hellblauen Sonnenrollos unterbrochen wird. Hier ist ein Seniorenstift untergebracht. Cafés und Bars Ecke Bundesallee beleben die Szene der Schaperstraße. Schauspieler der ehemaligen Freien Volksbühne verkehrten hier häufig. Der Architekt der 1962/63 entstandenen Freien Volksbühne war Fritz Bornemann (kürzlich mit 95 Jahren verstorben), auch Erbauer der Deutschen Oper in der Bismarckstrasse. Er verwendete eine StahlBeton-Skelettkonstruktion mit großen Glaseinsätzen. Etwas zurückversetzt, wirkt dieser glatte kubische Baukörper von intimer Eleganz. Die zurückliegende Vorderfront ist verglast, während die Seitenwände der den Theaterbau umschließenden Foyers mit Waschbetonplatten, auch im Innenbereich sichtbar, geschlossen werden. Im Zuschauerraum haben 1.000 bis 1.200 Besucher Platz. Es gibt nur einen Rang, der seitlich herumgeführt ist, so dass von allen Plätzen gute Sicht garantiert ist. Die eingeschossige Kassenhalle wurde weitläufig zum Raucherfoyer ausgebaut. Sie ist dem Haupttheaterbau etwas seitlich versetzt vorgestellt und mit dem Erdgeschossfoyer durch einen verglasten Gang verbunden. An der Westwand des Baus steht eine abstrakte Stahlplastik von Volkmar Haase (1962). 6 Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Rückansicht JoachimsthGymn., Haus der Festspiele Links neben der Freien Volksbühne ist die rückwärtige Ansicht des Joachimsthaler Gymnasiums zu sehen, einem mächtigen repräsentativen Bau, bestehend aus verschiedenen Bauabschnitten, die quer und längs stehend das Gelände in Plätze aufteilen. In zwei kleinen Glasschaukästen direkt an der Straße können bildende Künstler ihre Kunst zeigen. Neben einem Parkplatz weit nach hinten befindet sich das bekannte Spiegelzelt der „Bar jeder Vernunft“. Nacht für Nacht kann man hier Unterhaltung der extravaganten Art erleben sowie das kulinarische Angebot genießen. Kabarett neben Musicals, Lesungen oder Comedy-Shows, Sänger, Schauspieler und Künstler finden hier eine interessante Plattform. Das Original-Jugendstil-Spiegelzelt, von dem weltweit nur noch acht Stück existieren, wurde am 5. Juni 1992 mit bekannten Künstlern wie „Die Geschwister Pfister“, Meret Becker, Georgette Dee, Ars Vitalis und Otto Sander eröffnet. Dass das Haus bis heute besteht und auch teilweise kriselnde Zeiten überlebte, ist dem Einsatz vieler Künstler zu verdanken. Haus der Festspiele 2002 wurde sogar eine Dependance, nämlich das doppelt so große Veranstaltungszelt „TIPI“ im Tiergarten, eröffnet. Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 7 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Bundesallee Entlang der Bundesallee liegt langgestreckt zwischen Schaper- und Meierottostraße das Joachimsthaler Gymnasium, ein mächtiger gelber Backsteinbau, am Abend wirkungsvoll beleuchtet. Das 1875-1880 von Ludwig Giersberg und Johann-Eduard Jacobsthal nach Plänen von Johann Heinrich Strack im Stil der italienischen Hochrenaissance erbaute Gebäude wird als spätes Beispiel der Schinkelschule gesehen. Joachimsthaler Gymnasium Der 4-geschossige Bau hat zwischen zwei Risaliten eine 13-achsige Arkadenreihe, auf der sich obenauf, in der Höhe des dritten Stockes, Balkone erstrecken. Im mächtigen Mittelteil, mit reichem figürlichen Fassadenschmuck, befinden sich in zwei Nischen die vom Bildhauer Max Klein geschaffenen Skulpturen Platons und Aristoteles’. Sie verweisen auf die Ideale der humanistischen Bildung. Der Mittelrisalit schließt oben mit einem großen Dreiecksgiebel ab, in dessen Mitte sich ein Portrait des Kurfürsten Joachim Friedrich (1546-1608) befindet, der 1607 das Gymnasium in Joachimsthal gegründet hat. Bis 1912 war hier das Joachimsthaler Gymnasiums untergebracht, anschließend bis 1920 das Joachim-Friedrich-Gymnasium. Ab 1920 diente das Gebäude als „Stadthaus“ des Bezirksamtes Wilmersdorf. Nach schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus vereinfacht wieder hergestellt. In den Folgejahren diente es verschiedenen Zwecken, u.a. war es Stern’sches Konservatorium und Musikinstrumentenmuseum. 1995 bauten die Berliner Architekten Nalbach die Aula zum Konzertsaal um. Heute befinden sich hier Bereiche der Universität der Künste und die Musik- und Stadtteilbibliothek. Am Eingang ist eine Tafel angebracht, auf der an ehemalige Kommilitonen des Gymnasiums gedacht wird, die ihren Widerstand gegen den Nazi-Staat mit dem Leben bezahlten. 8 Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Bundeshaus Links vor dem Gebäude steht eine Gedenksäule von Eberhard Encke für Gefallene des Ersten Weltkrieges. Etwas zurückgesetzt daneben sehen wir von Fritz Klimsch (Neuguss 1920) das Bronzebildnis Gerhart Hauptmanns, nach dem auch die Grünanlage zur Meierottostraße hin benannt ist. Das Joachimsthaler Gymnasium steht unter Denkmalschutz. Vor dem Eingang sind zwei Gingkobäume gepflanzt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bundesallee befindet sich das Bundeshaus, heute Bundesverwaltungsamt, ein ebenfalls lang gezogener roter Backsteinbau aus der Gründerzeit. Das Bundeshaus wurde 1950 von Konrad Adenauer eingeweiht, seitdem heißt die ehemalige Kaiserallee Bundesallee. Sie verläuft von Süden nach Norden und heißt ab Schaperstraße bis Bahnhof Zoo Joachimstaler Straße. Sie ist ein Musterbeispiel Westberliner Verkehrspolitik. Nach der Entfernung der Straßenbahn 1961 ersetzte man diese durch mehrere Buslinien und später durch die U-Bahn. Gleichzeitig wurde die Allee, allerdings späterhin teilweise mit Mittelgrünstreifen versehen, autobahnähnlich ausgebaut. Zwischen Meierottostraße und Hohenzollerndamm befindet sich ein brückenartiger zweigeschossiger moderner Bürobau, mit blaugrün abgesetzten Fensterrahmen, der über die Pariser Straße gebaut wurde und an der Ecke Meierottostraße mit einem verspiegelten Bau endet. Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 9 Spichernstr. Ecke Pariser Straße Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Die Pariser Straße sollte so von der Bundesallee abgetrennt werden, um eine städtebauliche Korrektur vorzunehmen, nämlich den Knotenpunkt von sechs die Bundesallee kreuzenden Straßen zu entschärfen. Die gleiche Funktion hat auch das große moderne Gebäude zwischen Spichernstraße und Nachodstraße an der Bundesallee, in dem heute die Investitionsbank ihren Sitz hat und das genau über die Regensburger Straße gebaut wurde. Das Gebäude wurde 1971-74 von den Architekten Hendel, Haseloff und Hotzel erbaut. Der 12-geschossige Betonbau ruft durch seine abgerundeten Ecken, die braun eloxierte Aluminiumverkleidung und in annähernd gleichem Ton gefärbte Sonnenschutzverglasung der waagerecht durchgehenden Fensterbänder einen geschlossenen, gut designten Eindruck hervor. Das Gebäude wurde allerdings vor einigen Jahren modernisiert und erscheint nun in hellerem freundlicheren „Outfit“. Eine moderne Metallplastik vor dem Gebäude soll das Interesse der Bank für Kunst demonstrieren. 10 Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Investitionsbank Gebäude an der Bundesallee Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Die gesamte Bundesallee war vor dem Krieg hauptsächlich mit Altbauten und Villen ausgestattet, die im Zweiten Weltkrieg fast vollkommen zerstört wurden. Die Bebauung in den folgenden Jahrzehnten, ab Hohenzollerndamm Richtung Süden, wurde mehr oder weniger wahllos vorgenommen, so erscheint es jedenfalls. Zum Beispiel das ADAC-Haus, Ecke Güntzelstraße, macht keinen besonderen Eindruck neben den wenigen noch gut erhaltenen und zum Teil sehr schön sanierten Altbauten. Auch diverse neue Architektur, wie ein konkav geformtes Bürohaus Ecke Berliner Straße, kann den chaotisch wirkenden Gesamteindruck der Architektur in der Bundesallee auf beiden Seiten nicht besonders aufwerten. Der Blick von der Berliner Straße nach Norden oder in die andere Richtung zum Bundesplatz hin bekräftigt den einzigen Sinn dieser Straße, Verkehrsachse zu sein, von Nord nach Süd und umgekehrt. Von hier aus laufen wir wieder Richtung Norden bis zur Trautenaustraße, in die wir links einbiegen, um dieser lauten Achse den Rücken zu kehren, und um uns den Nikolsburger Platz anzusehen. Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 11 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf ... und hier ist er dann auch schon, der, ganz gegensätzlich zur lauten und hässlichen Bundesallee, nur zwei Minuten westlich dieser Achse, ruhig und still, ja nahezu inkognito daliegende immergrüne Nikolsburger Platz. Zuerst gönnen wir uns hier eine kleine Pause auf einer der Bänke, lassen die zauberhafte Idylle auf uns wirken und lassen den Blick in die Umgebung schweifen. Man kommt nicht umhin, seinen Blick länger bei dem Gebäude der Cecilien-Grundschule – dem repräsentativsten Bau an diesem Platz – ruhen zu lassen und diesem mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Auch gibt es neben den erwähnenswerten faktischen Beschreibungen auch noch Nostalgisches aus der Erinnerung einer Ehemaligen zu lesen. Hier erst einmal die Ansicht des imposanten Gebäudes, eingepackt in dichte Baumkronen, direkt am verkehrsberuhigten Platz, südöstlich vom Hohenzollernplatz. Das Ensemble besteht aus einer Anlage, die 1909/10 von Otto Herrnring (1858–1921) für das damalige Lyzeum errichtet wurde. Längere Zeit befanden sich in dem Gebäude die Johann-PeterHebel-Grundschule, auch als 2. Grundschule bezeichnet, sowie die Cäcilienschule, auch als 10. Grundschule bezeichnet. Am 15.1.1919 wurden in dem Schulhaus die beiden KPD-Politiker Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nach ihrer Verhaftung in der Zufluchtswohnung Mannheimer Straße gefangen gehalten. Heute erscheint in dem Namen der Schule die Schreibweise „e“ statt „ä“, dazu ist sie zu einer einheitlichen Ganztagsgrundschule – im Übrigen die erste ihrer Art im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf – geworden. 12 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Sie entstand im August 2003 nach der Zusammenlegung der zu diesem Zeitpunkt integrierten Hans-Fechner-Grundschule und der Cecilien-Schule. Benannt ist die Schule nach der Kronprinzessin Cäcilie, welche die ursprünglich im Gebäude befindliche höhere Mädchenschule persönlich einweihte. Die Schulanlage besteht aus einer 3-geschossigen Baugruppe mit zwei parallel verlaufenden Haupttrakten. Dazwischen befinden sich Lichthof, Wandelhalle, Treppenhaus und Nebenräume mit Giebeln. Im vorderen Haupttrakt liegen Aula, Turnhalle, Fachklassen und Wohnungen – im rückwärtigen Teil sind die Klassenräume angeordnet. Der Mauerwerksbau ist verputzt und wird durch Flächen, die in rotem Sandstein gehalten sind, verziert. Zusätzlich ist die Fassade mit Turmerkern und Korbbogenportalen gegliedert. Die architektonische Gestaltung enthält Anklänge an die beginnende Moderne sowie auch Reminiszenzen an die deutsche Renaissance. Die Schulanlage wurde 2003 renoviert und umgestaltet und steht unter Denkmalschutz. Was der Denkmalschutz jedoch auch 2003 nicht verhindern konnte, waren die massiven Eingriffe in die ehemals wunderschöne und sehr offene Innenraumgestaltung durch die Anforderungen an den Brandschutz. Früher tobten die Kinder über die riesige Treppenanlage des Haupteinganges in einen überdimensionalen Innenhof des ersten Schulgeschosses, mit Brunnen, Marmor, Glasüberdachung und einer den Brunnen kreisförmig einfassenden dicken Stützenreihe mit antiken Kapitellen. Von dieser Halle aus waren alle Klassenzimmer dieser Etage direkt zu betreten, das Lehrerzimmer lag schon immer etwas versteckter. Man musste neben der von der Halle abgehenden übergroßen Freitreppe durch einen kurzen Stichflur laufen, um durch einen Vorraum in das Sekretariat und dann in das Lehrerzimmer zu gelangen. Diese Freitreppe zum Obergeschoss und in das eigentliche Erdgeschoss öffnete damals die Hallen zu den Etagen hin, und obwohl alles aus massiven Materialien erbaut war, schien das Gesamtensemble der zwei Schuletagen leicht und barrierefrei. Die Geländer waren aus Mauerwerksbrüstungen mit bogenförmigen Öffnungen, so dass auch wir Kleinen immer den erwünschten Überblick bzw. Durchblick hatten. Kam man im Obergeschoss an, öffnete sich eine ähnliche Halle, die als Galerie den Blick auf den unteren Brunnen frei gab. Auch hier waren alle Klassenzimmer direkt zu betreten. Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz 13 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Keine Flure, keine Trennungen und Barrieren, es waren wunderschöne Innenräume! Oben wurde es schon unterteilter, da man die Türmchen und Dachbereiche erreichte, doch für die Kinder waren es genau diese Unterschiede, die für Spannung sorgten und den Schulbesuch hochinteressant machten. Heute nun, nach fast 100jährigem Bestehen, sind die massiven Eingriffe in diese Architektur zu bestaunen. Lässt man ein Gebäude wie es immer war, greift der Bestandschutz, verändert man die Nutzung und damit Bauliches, muss in diesem Falle „leider“ auch den heutigen Vorschriften entsprochen werden, was dieser Schule gänzlich nicht zu Gesicht steht! So durfte die Freitreppe nicht mehr „frei“ bestehen bleiben, ein Treppenhaus musste her und dieses zudem feuerbeständig gegenüber den umliegenden Räumen abgeschirmt sein. Die bogenförmigen Öffnungen in den Treppengeländern wurden geschlossen, die Brüstungen zu Wänden bis an die Decken vervollständigt und im jeweiligen Hallenbereich der Geschosse neue Wände erstellt. Diese neuen Wände stehen heute so, dass die kunstvollen Kapitelle der Stützen jeweils halbiert auf den Wandseiten zu sehen sind, Türen dieser neuen Treppenhaussituation profilieren sich in weißem Kunststoff und das Atrium mit Brunnen hat dadurch seine Wirkung fast gänzlich verloren. Dafür ist allerdings die Modernisierung des Schulhofes gelungen! Neben Abenteuerspielplatz und vielfältigen Sportmöglichkeiten für mehrere Mannschaften existieren Sandkästen für das Weitsprungtraining sowie Weichbelag für gesunde sportliche Betätigung auf dem kompletten, rund 1000 qm großen Hof. Wie hineingegossen findet man auf etwas höher gelegten Ebenen, angrenzend an die Nachbargrundstücke, neben dem Spielplatz noch kleine mit Treppchen zugängliche Plätze für allerlei sonstige Pausenbeschäftigungen. Die das Schulgrundstück eingrenzenden Mauern sind mit den künstlerischen Ergebnissen vieler Jahrzehnte geschmückt. Nach diesem Bogen von der Bundesallee zum Nikolsburger Platz laufen wir nun nur rund einhundert Meter weiter in Richtung Norden und landen am Hohenzollernplatz. 14 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Hohenzollerndamm - Hohenzollernplatz Von der Bundesallee führt der relativ begrünte Hohenzollerndamm in Richtung Hohenzollernplatz, Fehrbelliner Platz, Stadtautobahn und weiter nach Grunewald. Es ist eine breite doppelspurige Straße mit einem bis zur Fasanenstraße laufenden Mittelstreifen, auf dem reichlich Parkmöglichkeiten sind. Der Damm ist verkehrstechnisch die West-Ost-Achse, die dann ab Bundesallee nach Osten hin zur Nachodstraße wird. Altes und neues Abwasserpumpwerk Auf der linken Seite befindet sich das Abwasserpumpwerk, an dem besonders auffällt, dass es aus einem alten und einem neuen Gebäude besteht. 1903-1906 nach Entwürfen des Architekten Hermann Müller erbaut im Stil märkischer Backsteingotik, ist es Teil der 1906 in Wilmersdorf realisierten Kanalisation und befindet sich an der tiefsten Stelle des Einzugsgebietes. Das Mauerwerk ist mit roten Ziegeln verblendet, und das mit Zinnen und Putzblenden sowie Ziegelornamenten verzierte Gebäude wirkt sehr repräsentativ. Außerdem ist das Bauwerk mit breiten Giebeln gestaltet, die durch Rundbogenfenster gegliedert und unter einem Triumphbogenmotiv vereinigt werden. Die Fenster in der Innenhalle sind mit farbig glasierten Ziegeln eingefasst. Früher befanden sich hier in der großen Halle die Dampfmaschinen und Pumpen. Das Gebäude wurde während des Krieges 1943 stark beschädigt und 1947-1949 wieder aufgebaut. 1956/57 fanden Umbaumaßnahmen statt, und durch Maschinenleistungserhöhung konnte die Anlage das Einzugsgebiet von Schöneberg mit übernehmen, weil das dortige Pumpwerk stillgelegt wurde. Hier wird ein durchschnittlicher Abwasseranfall von 60.000 Kubikmeter pro Tag bewältigt. 1993/94 wurde direkt neben dem alten Gebäude nach den Entwürfen der Bauabteilung der Entwässerungswerke unter den Architekten Ackermann und Jaeger eine würfelartige freistehende zweigeschossige Halle aus Glas erbaut, die einen interessanten Kontrast zum alten Bauwerk bildet. Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 15 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf altes und neues Abwasserpumpwerk Das Hauptpumpwerk Wilmersdorf/Entwässerung der Berliner Wasserbetriebe ist jetzt hier untergebracht. Die alte Halle wurde 1999 geschlossen und nach einem Umbau 2001 als Restaurant und Bar unter dem Namen „Wasserwerk" wieder eröffnet. 400 Gäste haben auf 1015 Quadratmetern in diesem Denkmal geschützten Ambiente Platz. Im weiteren Verlauf des Hohenzollerndamms kommt man zum Hohenzollernplatz, an dem wir uns durch den Schlenker über den Nikolsburger Platz bereits befinden. Hier ist regelmäßig mittwochs und samstags Markttag. Man trifft sich, plaudert und kauft ein. Neben der Evangelischen Kirche befindet sich ein Delphinbrunnen von H. Bautz, dessen drei im Winkel übereinander gesetzte Delphine eine gute räumliche Wirkung erzielen. Der Brunnen ist durch Parkbänke großzügig eingerahmt. Kirche am Hohenzollernplatz Die Kirche am Hohenzollernplatz wurde 1930/33 von Fritz Höger erbaut und sorgte schon während der Bauzeit für Aufregung. Der Betonskelettbau ist an der Längswand verkleidet mit einer kleinteiligen, senkrecht gegliederten glatt gemauerten Klinkerhaut. Dieses Material verwendet Höger mit Vorliebe, während die Konstruktion für 16 Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf ihn eher nachgeordnetes Hilfsmittel und kein Gestaltungsmittel darstellt. Die dekorativen Zutaten der Fassade – vergoldete Klinker, vergoldete Fugen – haben allerdings bei den Vertretern der Materialreinheit Betroffenheit und Ablehnung ausgelöst. Die Diskrepanz zwischen dem straff gegliederten Baukörper und dem schönen Kupferdach und dem Innenraum ist auffällig. Die 13 Spitzbögen wirken sehr gotisch und der Architekt bezweckte damit eine besonders mystische Wirkung des Kirchenraumes, was der damals im evangelischen Kirchenbau geforderten Sachlichkeit nicht gerade entsprach. Die Fenster sind von dem Maler Achim Freyer gestaltet und haben in ihrer farblichen Schlichtheit eine stark meditative Wirkung. Regelmäßig gibt es an den Seitenwänden moderne Kunst zu sehen, was auf eine sehr aufgeschlossene und kulturell aktive Kirchenarbeit schließen lässt. Dieser Kirche gegenüber mündet die Fasanenstraße in den Hohenzollerndamm, auf der wir nun wieder zurück Richtung Norden, vorbei am Fasanenplatz weiter zur Lietzenburger Straße und zum Kurfürstendamm schlendern und so manches Interessante beäugen können. Rundungen werden in der Architektur immer wieder aufgenommen, wahrscheinlich aus dem Wunsch heraus, dem ständig wiederkehrenden Prinzip des rechten Winkels in der Architektur und Straßenführung etwas entgegenzusetzen. rechts: Villa Griesebach Dies wird besonders sichtbar bei einem modernen fast vollkommen verspiegelten Bürohochhaus in konvexer Form Ecke Fasanenstraße und Lietzenburger Straße. Nicht weit davon entfernt Richtung Kurfürstendamm taucht das runde Prinzip wieder auf. Der Altbau der Villa Grisebach hat einen runden Turm nach vorne zur Straße hin. Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 17 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf In der schönen Fasanenstraße gelegen, bildet die Villa Grisebach mit dem benachbarten Käthe-Kollwitz-Museum und dem Literaturhaus Berlin das sogenannte Wintergarten Ensemble, das so heißt, weil sich ein wunderbarer Wintergarten am Literaturhaus befindet. Die Villa ist 1891/92 von dem Architekten und Sammler Heinz Otto Grisebach für sich als Stadtvilla und Atelier erbaut worden. 1905 kam es zum Umbau, was die Innenraumgestaltung durcheinander brachte. Im Zweiten Weltkrieg erlitt das gesamte WintergartenEnsemble starke Beschädigungen. Danach bekam das Gebäude ein Notdach und seit 1976 stand die Ruine leer und verfiel immer mehr. Bürgerinitiativen bewirkten, dass die Villa nicht abgerissen wurde. Seit 1981 stellte man das gesamte Wintergarten-Ensemble unter Denkmalschutz. 1984 erwarb die Deutsche Bank die Villa und das Nachbargebäude und sorgte für eine sorgfältige Restaurierung. Seit 1986 befinden sich hier die Galerie- und Kunsthandlung PelsLeusden und das Auktionshaus Villa Grisebach. Gezeigt werden Kunstausstellungen, sowohl der klassischen Moderne als auch der zeitgenössischen Kunst (im Obergeschoss) sowie Kunstauktionen statt. Die Villa avancierte in kürzester Zeit zum weltweit führenden Auktionshaus für deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts. Hinter der Villa befindet sich ein Skulpturenpark mit Werken namhafter Künstler wie Gerhard Marcks, Horst Antes, George Rickey u.a. Beim Bau der Villa wurden einheimische Materialien verwendet. Die Gebäudearchitektur bildet drei Vertikalen. Links eine schmale Giebelfront, in der Mitte ein vorstehender runder Turm und rechts ein zurückgesetzter Trakt mit Eingangsloggia, darüber ein großes, über zwei Geschosse reichenden Fenster, hinter dem sich eine große Halle befindet. Schmiedeeiserne Fenster wurden von dem Hofkunstschlosser Paul Marcus gefertigt. Das Käthe-Kollwitz-Museum daneben enthält 119 Zeichnungen, Lithographien, Radierungen und Holzschnitte sowie dreizehn Bronzen der Künstlerin, darunter die "Muttergruppe“. Das Literaturhaus nebenan ist eine spätklassizistische Villa erbaut von Becker und Schlüter 1889-92. Ein Backsteinhaus mit Flachdach im Überhang, Säulen, Balkonen und einem Treppenaufgang vom Garten aus, der über eine kleine Terrasse zum prächtigen Wintergarten führt. 18 Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) Literaturhaus Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Das Haus war ursprünglich Privatbesitz, im Ersten. Weltkrieg diente es als Lazarett, später als Volksküche und Café. Es fanden schon immer musikalische und literarische Veranstaltungen statt. Auch verkehrten hier viele Literaten, Wissenschaftler und Künstler. Heute befindet sich ein Café-Restaurant in der unteren Etage und im Sommer kann man sehr schön draußen im Garten sitzen. In der ersten Etage liegen ein großer Veranstaltungsraum, ein Kamin- und der Tucholskyraum. Regelmäßig werden Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen veranstaltet. Die Fasanenstraße ist ein interessantes Beispiel für urbane Wohnqualität im Altbau, gepaart mit kleinen Läden und Restaurants. Nach der Überquerung der Lietzenburger Straße wird die Fasanenstraße im Niveau gehoben. Mode, Design, Galerien und das WintergartenEnsemble bestimmen das exklusive und außergewöhnliche Flair der Straße. Am Kurfürstendamm angekommen, biegen wir rechts ein und gelangen zum Kreuzungspunkt des Kudamms und der Joachimstaler Straße, der nördlichen Verlängerung der Bundesallee. Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design) 19 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Die magnetische Gewalt der Götter ____________________________________ Wenn Raumschiffe auf die Erde stürzen, verglühen sie meist unbemerkt in abgelegenen Gegenden wie Sibirien oder dem hessischen Vogelsberg. In Berlin suchten sich die Besucher erstmals einen Hauptstadtboulevard, mit verblüffendem Ergebnis: Die Außerirdischen entpuppten sich als exzellente Stadtplaner. Zwischen Kaufhausgewimmel, Hotels und Sonderangeboten ist Meinhard von Gerkan mit seinem Swissôtel erfolgreich gelandet. Wer sich dem Gebiet Kurfürstendamm Höhe Joachimstaler Straße von Süden oder Osten nähert, sollte dies nur tun, wenn er Zeit hat, denn er wird unweigerlich stehen bleiben und rätseln: Soll ich mich bedroht fühlen oder fasziniert? Denn unvermittelt taucht aus dem gleichförmigen Häusermeer eine gewaltige silbrig-schimmernde Metallmasse auf, ein gigantischer monolithischer Bau, in dessen Lamellen sich das gleißende Sonnenlicht spiegelt. Wie eine Science-Fiction-Vision erhebt sich der metallene Koloss zwischen Kaufhäusern und Café Kranzler, ein kafkaeskes Raumschiff aus fernen Galaxien, in plumper Eleganz auf die Erde hinabgestürzt. Und als ob der Gigant, der das ganze Areal zu erschlagen scheint, nicht bereits Blickfang genug wäre, wird seine 20 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Präsenz beim Blick auf den elegant geschwungenen Vorbau noch verstärkt. Irgendetwas zieht den Blick magisch gen Himmel, immer weiter hoch den Baukörper entlang, hin zu einer bizarren Szenerie, die unheimlich und faszinierend zugleich ist. Fast wie eine Mahnung trohnt eine majestätische Skulptur hoch oben auf dem Sockelbau des riesigen Gebäudes und kündet von göttlichen Grausamkeiten, mit einer Selbstverständlichkeit, als täte sie dies seit Jahrtausenden. Die Statuengruppe verleiht dem ohnehin surreal anmutenden Gebäude eine Ernsthaftigkeit und Tiefe, die wir bei modernen Gebäuden sonst niemals finden, und taucht den glänzenden Metallkörper in eine beinahe religiöse Aura. Und während die hoch oben wohnenden Geister eine albtraumhafte Ahnung auf den Boulevard hinabstrahlen, strömen direkt darunter Scharen schnatternder Hausfrauen mit kauflustigen Töchtern unablässig in das Gebäude hinein und plastiktütenbepackt wieder hinaus. Wühltisch meets Surrealismus. Bizarr, warum die Skulptur in Verbindung mit von Gerkans Bau eine derart kafkaeske Atmosphäre erzeugt. Denn die Szene aus der antiken Mythologie, die der Bildhauer Markus Lüpertz hier themati- Fotos und Text: Peter Thelen 21 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf sierte, ist gemessen an allen möglichen Schrecklichkeiten der Welt eigentlich recht harmlos. Im "Urteil des Paris", so der Name des Kunstwerks, geht es lediglich um Eitelkeit, Missgunst und zickige Frauen: Eris, Göttin der Zwietracht, wirft einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „für die Schönste“ unter die im Olymp feiernden Götter, aus Rache, weil sie nicht eingeladen war. Es kommt zum Streit unter drei Göttinnen, wer die Schönste sei, und der weise Zeus, in kluger Voraussicht sich auf zankende Weiber nicht einlassend, zieht sich aus der Affäre und bestimmt den sterblichen Paris, das Urteil zu fällen. Eigentlich eine Handlung, die eher an eine Soap Opera im Vorabendprogramm erinnert - nichts, wovor man Angst haben müsste. Doch die Statuengruppe entfaltet eine beinahe bedrohliche Wirkung über das gesamte Areal, und weder die bunt flimmernde Werbung zu Füßen der mahnenden Skulptur noch das lebendige Gewimmel der Menschenmassen unten auf dem Boulevard können die unheimliche Ausstrahlung der Lüpertz-Szenerie aufheben. Gerade die spannungsgeladene Mischung aus hauptstädtischer Geschäftigkeit, die eilend zwischen Kaufhäusern durch die Straßen strömt, und hoch oben auf dem gigantischen metallenen Raumschiff thronender tonnenschwerer Mythologie der Antike verleihen dem Ort einen in Worten schwer zu beschreibenden Widerspruch, der seine Energie unablässig über das Areal Ecke Joachimstaler Straße – Kudamm verströmt. 22 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Es muss klar gesagt werden: Ohne die Statuen von Lüpertz hätte das Gebäude sicherlich nicht dieselbe beeindruckende Wirkung, denn eine unsichtbare Kraft zieht den Blick des Betrachters zielsicher dorthin. Man fühlt sich unweigerlich an den Ausspruch des früheren Architektenpräsidenten Kaspar Kraemer erinnert, der über die Wiederaufstellung der Figuren auf der Berliner Schlossbrücke sagte: „Eines Tages standen diese wunderbaren Skulpturen wieder auf ihren Postamenten - die Brücke war verzaubert! Hier wirkt eine unglaubliche magnetische Gewalt.“ Und es ist genau die gleiche Kraft, das lässt sich mit Fug und Recht sagen, die auch Lüpertz' Statuen auf dem Swissôtel entfalten. Doch auch ohne die Gewalt der Götter hätte das Gebäude des Architektenbüro Gerkan, Marg und Partner eine beeindruckende Wirkung. Es verblüfft alleine deswegen, da es bereits durch seine gewaltigen Ausmaße völlig fehl am Platze wirken müsste, dies aber seltsamerweise nicht tut. Plump ja, doch fehl am Platze? Nein. Und wo steht geschrieben, dass plumpe Formen schlecht seien? Genau so wie Rubens kein Faible für magersüchtige Modelle hatte, sondern ausladende Formen bevorzugte, ist offenbar auch in der Baukunst das Erschaffen von Schönheit kein Privileg filigraner Bauten. Denn von Gerkan lehrt uns genau an dieser Stelle, dass auch ein massiger und scheinbar viel zu groß geratener Baukörper Grazie und Eleganz entfalten kann. Trotz seiner Schwerfälligkeit vollbringt das Gebäude etwas mit einer Leichtigkeit, das zeitgenössische Bauten sonst sehr ungern tun: Es fügt sich ein in einen bereits bestehenden urbanen Kontext, dominiert ihn sogar, ohne mit ihm gewaltsam zu brechen. Ein solches Bauwerk dürfte eigentlich in einer europäischen Stadt, selbst einer an Monumentalbauten reichen wie Berlin, kein harmonisches Gesamtbild erzeugen. Der gewaltige Silberling tut es aber. Von Gerkan gelang hier etwas, was er an anderen Orten vergeblich versuchte, und wo es ihm zum Teil sogar gänzlich misslang. Sein Berliner Hauptbahnhof mag eine technische Leistung sein, aber eine künstlerische? Zwei karge, gesichtslose Glasquader mit dem sterilen Charme banalster Investorenriegel - nicht zu vergleichen mit klassischen Bahnhofsgebäuden wie beispielsweise dem Frankfurter Hauptbahnhof, auf dessen Dach der mächtige Atlas höchstselbst thront, die ganze Welt auf seinen Schultern tragend. Ebenso darf von Gerkans Versuch, den zum Teil noch immer kriegszerstörten Altmarkt im Herzen Dresdens sinnvoll zu ergänzen, als Scheitern bezeichnet werden. Auch hier hätte der Architekt etwas mutiger das Diktat des starren Funktionalismus in Frage stellen kön- Fotos und Text: Peter Thelen 23 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf nen, mehr Phantasie und Verspieltheit wagend. Die Dresdner nennen seinen klobigen Bau spöttisch „Legohaus“, und nur widerwillig fügt dieser sich in den städtischen Kontext ein. Nicht so das Swissôtel in Berlin. Mit dem 2001 fertiggestellten Gebäude ist dem Architekten ein Parodoxon gelungen, eine seltsame Synthese von Schwerfälligkeit und Eleganz. Fast fühlt es sich an, als jage der metallene Riese dem Betrachter ein stumpfes Messer durch den Körper, das ihn zu seiner Verblüffung in Sekundenschnelle unversehrt wieder verlässt. Nicht die Schmerzen spürt man, sondern alleine den gewaltigen Ruck und die Energie, die von dem Gebäude aus- und durch den Betrachter hindurchgehen. Man wird sanft erschlagen und möchte es wiederholen. 24 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Ein Kuriosum bleibt die Frage, warum sich das Gebäude formensprachlich nicht mit den umliegenden wilhelminischen Altbauten und der 70er-Jahre-Moderne „beißt“ - denn es nimmt in keinster Weise Bezug auf irgendeinen am Kurfürstendamm bereits vorhandenen Baustil und dürfte somit eigentlich überhaupt nicht in den urbanen Kontext passen. Es ergibt aber genau dort, wo es steht, einen Sinn. Sicherlich liegt es auch daran, dass es sich um einen Kopfbau handelt, der der Ecke eine Fassung, einen Halt gibt. Der geschwungene Sockelbau verleiht dem Gebäude Eleganz, die Lamellenfassade das Relief; die Staffelung der Obergeschosse lässt die Silhouette weicher erscheinen. Ein Hauptgrund aber, warum das Gebäude nicht den typisch modernistischen „Bruch“ mit dem urbanen Kontext vollzieht, sondern eine beinahe „unmoderne“ Sanftheit vermittelt, liegt wohl in der simplen Tatsache, dass von Gerkan weitflächig eine konsequent runde Form wählte - etwas, das die noch immer dem starren Bauhausdenken verhaftete zeitgenössische Baukunst kaum favorisiert. Fast könnte man von Gerkans klare Absage an Kubus, Quadrat und scharfe Kanten als rebellischen Akt gegenüber der herrschenden akademischen Meinung auffassen. Zieht man dazu in Betracht, dass die zeitgenössische Architektenschaft noch immer Le Corbusiers Credo „die schmückende Kunst ist tot“ nahezu widerspruchslos befolgt, ist das Gesamtwerk am neuen Kudamm-Eck fast ein Tabubruch: Ein Bauwerk der Moderne – mit Fotos und Text: Peter Thelen 25 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf schmückender Kunst? Le Corbusier dreht sich im Grabe um, doch Aphrodite, Hera und Pallas Athene kümmert das wenig. Sie tänzeln unablässig im Sonnenschein auf den hohen Terrassen des Swissôtels, und verwandeln den Profanbau in eine Kathedrale. Ja, das Bauwerk ist anachronistisch - was keineswegs „nicht mehr zeitgemäß“ heißen muss. Es kann genau so gut heißen: noch nicht. Der Bauherr des Swissôtels, Hans Grothe, ist ein bundesweit bekannter Kunstsammler und Eigentümer der sechs Meter hohen und rund eine Million Euro teuren Skulptur "Urteil des Paris". Allerdings teilen nicht alle Grothes Faible für Lüpertz'sche Werke, denn der Bildhauer wurde wegen seiner Kunst schon regelrecht verfolgt und geriet sogar in handgreifliche Auseinandersetzungen mit aufgebrachten Bürgern. In Salzburg wurde seine Mozartstatue auf dem Ursulinenplatz von „Pornojäger“ Martin Humer mit rotem Lack geteert und gefedert, Humer handelte sich daraufhin eine Haftstrafe wegen Sachbeschädigung ein. In Bamberg wurde eine weitere Lüpertz-Statue gar geköpft, aber wieder instandgesetzt, und in Augsburg musste die Lüpertz-Skulptur „Aphrodite“, die bereits einen öffentlichen Platz geziert hatte, wegen wütender Bürgerproteste wieder entfernt werden. Bei ihrem Abtransport geriet der Künstler derart in Rage, dass er einen protestierenden Bürger mit der Faust attackierte, woraufhin er eine Klage wegen Körperverletzung erhielt. Auch wenn 26 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Lüpertz' Kunst nicht jedermanns Geschmack trifft - aufsehenerregend ist sie in jedem Fall. Auf dem Vorbau des Swissôtels in Berlin jedoch scheinen Lüpertz' energetische Phantome bislang relativ sicher zu sein vor Lack- und Farbbeutelattacken. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass der Künstler die kaum bedrohliche Szene aus der antiken Sagenwelt mit Absicht etwas „furchteinflößender“ gestaltet hat? Denn bisher haben sich kein „Pornojäger“ und keine wütende Bürgerbewegung an das Kunstwerk herangetraut. Eris, die Göttin der Zwietracht, hatte hier jedenfalls noch kein Glück. Vielleicht hat sie sich ja mit Zeus und den anderen wieder vertragen, genießt beim Biss in einen - natürlich goldenen - Apfel den Blick hoch oben vom Olymp herab auf Berlin, und der Friede ist wieder eingekehrt. Doch wer weiß - vielleicht erwacht in unserer Göttin beim Betrachten des Treibens unten auf dem Kudamm wieder die Lust, Schabernack zu treiben. Auch Götter gehen mit der Zeit, und diesmal zückt Eris keinen Apfel, sondern ihr Handy. Und während drei Berliner Haus- Fotos und Text: Peter Thelen 27 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf frauen in der Bekleidungsabteilung diskutieren, ob man quergestreifte T-Shirts tragen kann oder ob sie nicht doch zu dick machen, tippt Eris grinsend die SMS: „Glückwunsch, Jackpot gewonnen - für die Schlankste“, lehnt sich entspannt zurück und denkt: „Mal sehen, ob in 2000 Jahren wieder eine schöne Skulptur dabei herauskommt....“ 28 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Vom Swissôtel kommend, machen wir einen Abstecher zur Gedächtniskirche, die und deren Umgebung wir uns etwas genauer anschauen wollen. Der Breitscheidplatz Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde um das Jahr 1895 gebaut und ist das Wahrzeichen der Stadt Berlin West schlechthin sowie ein deutlicher Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt. Selbst in der heutigen Zeit, mit der Entstehung des Potsdamer Platzes und den somit neu gesetzten Akzenten für die Stadt Berlin, hat dieses Berlin West, mit seinem Breitscheidplatz und den so vielen anderen Sehenswürdigkeiten drum herum, kaum an Attraktivität verloren. Hier sieht man die Ruine der schönen alten Kirche, so wie sie in den 50er Jahren restauriert wurde. Nördlich und südlich der alten Kirche sieht man die neuen Kirchenräume, so wie sie nach dem Entwurf von Egon Eiermann 1963 gebaut wurden. Viele Anwohner und Touristen aus aller Welt gehen hier an den Sonntagen zur Andacht und nehmen an der Messe teil. Fotos und Text: Georgios Nassioulas 29 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Der Breitscheidplatz, der Kurfürstendamm, in frühester Zeit ein kurfürstlicher Reitweg, die Straßen um den Platz herum, die Menschen und noch so vieles mehr haben im Laufe der Jahrhunderte ihr Aussehen verändert. Früher fuhr um den Platz herum die Pferdebahn, und die Straßen entlang bimmelte die Straßenbahn. Als schließlich die Autos die Straßen eroberten, waren Pferde, Pferdebahnen und Straßenbahnen unmodern. Es wurde umgebaut, entsprechend wurde der Platz auch verändert. Gegenüber der Gedächtniskirche, heute Platz des Europa-Centers, stand früher das Romanische Café, wo sich die Gläubigen nach der Messe zum Kaffee trinken trafen. Hier verkehrten auch viele Künstler: Unter die Christen mischten sich Anarchisten und Bohémiens. Baum am Breitscheidplatz Ein wichtiger Komplex direkt neben der Kirche ist das Europa-Center mit seinem Gesamt-Ensemble, dann das zurückgesetzte 22-stöckige Markeas-Bürohochhaus. Beide wurden Nachahmungs-Prototypen. Gebaut wurde hier ab 1963 (Hentrich, Petschningg und Partner mit Egon Eiermann und Werner Düttman). Auf dem Sockel aus drei zum Teil unterirdischen Geschossen erheben sich die interessanten Gebäudekomplexe. An der nördlichen Seite des Breitscheidplatzes, an der Budapester Straße, sieht man das Langhaus, ein fünfstöckiges Ensemble aus den Fünfziger Jahren, das an den Tierpark angrenzt: Laden an Laden, unter Arkaden, große Schaufenster, Bücher- Schuh- und Bekleidungsläden, Imbisse und Ähnliches. Gleich nebenan findet man das Weltkugelpanorama sowie auf der anderen Seite das berühmte Kino „Zoopalast“, ein Anziehungs- und Vergnügungstreffpunkt für Filmgenießer nicht nur während der Filmfestspiele. In dem sehr schönen Hochhaus neben dem Zoopalast, auf dessen Dach sich das Markenzeichen der Firma Bayer dreht, haben sich die 30 Fotos und Text: Georgios Nassioulas Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf verschiedensten Firmen eingemietet. Im Erdgeschoss des modernen Bürohochhauses sind wunderbare Läden zu finden. McDonalds, Donuts, Cafés etc. An der südlichen Seite des Breitscheidplatzes, von der Hardenbergstraße bis zum Kurfürstendamm hin, erstreckt sich dann noch ein interessantes neungeschossiges Bauwerk, das Hotel Boulevard mit seinem Dachcafé. Benettons, das Chinesische Schiff und manch anderes Vergnügliche findet man hier noch. In dem Satellhaus waren früher auch der Gloriapalast, ein weiteres bekanntes Kino, und eine Konditorei untergebracht. Am Kurfürstendamm gegenüber der Gedächtniskirche sind auch noch das Marmorhaus, das Rotondahaus und das Hugendubelhaus. Beim Marmorhaus wie beim Rotondahaus findet man heute Mode. Im Eckhaus gegenüber dem Rotonda hat sich die Großbuchhandlung Hugendubel niedergelassen. Der Breitscheidplatz sowie der Kurfürstendamm selbst entwickelten sich rasch zur wertvollsten Lage Berlins. Hier entstanden Wohnhäuser und Geschäftshäuser in allen erdenklichen Stilen und Stilgemischen. Von Mode, Schmuck, Leder und Pelz für die gehobenen Ansprüche über Ramschläden, Arztpraxen und Supermärkte bis hin zu Cafés und Restaurants ist hier alles zu finden. Der neu gestaltete Breitscheidplatz bei Regen Und weiter geht’s in Richtung Nordwesten zum Bahnhof Zoo, dem ehemaligen Hauptbahnhof der Westseite dieser Stadt. Fotos und Text: Georgios Nassioulas 31 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Bahnhof Zoologischer Garten _______________________________________________ Bahnhofsansicht Der Bahnhof Zoologischer Garten ist ein Treffpunkt und eine interessante Attraktion neben der Gedächtniskirche im Zentrum WestBerlins. Wer weiß, wie viele Tränen von Liebenden hier vergossen wurden, wie viele Stunden schöne Damen auf ihre Geliebten zu warten hatten. Der Bahnhof Zoologischer Garten, der 1882 für die Stadtbahn eröffnet wurde und der Fernbahnhof West-Berlins war, führt heute Linien der S-Bahn, der U-Bahn und der Regionalbahn zusammen. Die Architektur ist schlicht und interessant. Vor dem Bahnhof warten Taxis und Busse, um den Besucherstrom aufzunehmen und jeden an seinen Bestimmungsort zu bringen. Früher stand ein dichter Wald auf dem heutigen Bahnhofsareal, der abgeholzt wurde. Es wurde immer tiefer vorgestoßen, bis der Klang mit der Natur harmonisierte. Man hörte nun nur noch den hart aufsteigenden Klang des Zuges. Klak klak. Klak Klak.... Man hörte den Zug, die Erde bebte, ouh, oh mein Gott, und alles war eins geworden: Natur und Zug! 32 Fotos und Text: Georgios Nassioulas Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf ... ein Stück zurück und durch die Kantstraße in Richtung Westen geht es nun zum Savignyplatz, dem, wie ich meine, urbansten Kiez im Bezirk Charlottenburg, um den herum sich Tag für Tag und Nacht für Nacht alles tummelt, was Beine hat. Entwurfsplan von Erwin Barth 1926 Dieser Platz ist etwas ganz Besonderes! Hier lassen sich Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit und Kultur in genüsslicher Weise vereinen. Nimmt man auf den Bänken der Gartenanlage Platz, sitzt man im Sommer am Südrand, eingerahmt von bogenförmig berankten Kletterhilfen, schattig kühl, am Nordrand sonnig warm, und vergisst leicht, dass dieser schöne Stadtplatz durch die recht breite und stark befahrene Kantstraße in zwei Hälften zerteilt wird, was immer schon, wie man am Entwurfsplan sehen kann, so geplant war. Der Blick schweift über wunderschöne alte Gebäude, über das sich am Südrand entlang schiebende Stadtbahnviadukt, den zahlreichen Baumbestand mit dessen üppigen, auswuchernden Kronen, über die langstielig angelegten Blumenrabatten sowie über die saftig grünen Rasenflächen. Man staunt über die immer währende Betriebsamkeit auf diesem Platz und um ihn herum. 1887 erhielt er seinen Namen; und dies nach dem Juristen Friedrich Karl von Savigny, der von 1779 bis 1861 lebte und mit seiner bemerkenswerten Schaffenskraft das preußische Leben beeinflusste. Heute erscheint der S-Bahnhof Savignyplatz in der Liste der geschützten Denkmale, der Platz selbst wird als Gartenbaudenkmal und Stadtplatz geführt. Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 33 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Der Kiosk am Westrand der Südhälfte, aus gusseisernen Teilen, verziert in grün, mit bereits dunkel patiniertem Kupfer gedecktem Turmdach steht selbstverständlich auch unter Denkmalschutz. Er wurde gebaut 1905 von Alfred Grenander, dem schwedischen Architekten, der ab 1900 für die Gestaltung der UBahn, deren Farbgebungen, für Verzierungen von Stahlteilen im Bahnverkehr, für einige Brücken in unserer Stadt und Sonstiges die Bahn betreffend gesorgt hat. Dieses Kleinod zu zeichnen und dabei die Sonne zu genießen, macht viel Spaß. Hier stehen ebenfalls noch zwei alte Wohn- und Geschäftshäuser, die Hausnummern 5 und 9/10 direkt am Platz, unter Denkmalschutz. Es ist wirklich spannend hier auszuruhen und sich umzusehen ohne sich zu beeilen. Vieles ist zu entdecken und Unscheinbares aufzudecken. Dort gibt es „Adolf“ – ein Relikt aus alten Zeiten –, nämlich ein Ladengeschäft für Hauswirtschafts- und Eisenwaren, in dem man Nägel und Schrauben noch einzeln kaufen kann, und in dem man den Satz „Haben wir nicht“ vergessen kann. Ein Stück weiter das Elektrolädchen, in dem man alles bekommt, was im Haushalt an Elektrozubehör benötigt wird. Unter den Wölbbögen des Viadukts haben sich Kneipen, Restaurants, Eis-, Nippes- und Buchhändler eingerichtet. Und – es gibt eine Restaurantterrasse neben der anderen, in welche Richtung das Auge auch wandert. Sitzt man also auf einer dieser Bänke, kommt einem alles auf diesem Platz so viel größer, so erhaben vor. Die üppige Bepflanzung der Blumenrabatten auf der Nordhälfte, der vielzählige alte Baumbestand mit seinen dichten Kronen, die von wildem Wein und Efeu berankten Bögen über den Sitzbänken und das die Südhälfte beherrschende, vorbei kriechende Urviech, namens Viadukt, geben einem das Gefühl von der Einheit und Zusammengehörigkeit der beiden Platzteile. So, dass die Kantstraße mit ihrem Verkehr weniger störend empfunden werden kann, als man objektiv zu glauben bereit sein würde. 34 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Vielleicht ist es ja auch der nackte Knabe, der eine störrische Ziege am Halsband zerrt, von dem sich der Blick wegen der vielen lebensechten Details nicht mehr lösen kann, und von dem es gleich zwei spiegelbildlich aufgestellte Abgüsse gibt. Vielleicht sind es die beiden, die vom Verkehr ablenken. Jedenfalls hat der Platz etwas Gemächliches, etwas Urgemütliches, etwas Gediegenes und viel Beruhigendes, trotz aller Geschäftigkeit, allen Trubels und allen Straßenlärms. Der S-Bahnhof Savignyplatz, der auf den Wölbbögen des Stadtbahnviadukts gelegen ist, wurde am 01. August 1896 als letzter Haltepunkt der Stadtbahnstrecke in Betrieb genommen. Nach heutiger Linienführung bedient die Station Strecken von Spandau nach Wartenberg oder Strausberg Nord, von Wannsee nach Ahrensfelde, vom Bahnhof Grunewald zum Flughafen Schönefeld und damit natürlich auch alle wichtigsten Umsteigebahnhöfe. Die ganze Stadt ist von hier aus bequem und auf schnellstem Wege erreichbar. Sternförmig gehen die Grolmanstraße, die Knesebeckstraße, die Carmerstraße und die Kantstraße vom Savignyplatz ab bzw. überqueren ihn. Die Grolmanstraße ist schon 1874 auf einer Stadtkarte mit diesem Namen, dem des Militärs Karl Wilhelm Georg von Grolman, verzeichnet und verlief von der Bismarckstraße bis zum „Platz C“, dem hier betrachteten, seit 1887 umbenannten Savignyplatz. 1884 wurde auch ihre Verlängerung bis zum Kurfürstendamm ebenso benannt. Im Norden endet sie allerdings heute an der Goethestraße. Hier wird sie durch ein bebautes Grundstück unterbrochen und heißt bis zur Bismarckstraße seit 1967 „Straße am Schillertheater“. Die Knesebeckstraße wurde am 07.05.1866 benannt. Sie erhielt ihren Namen nach dem aus altmärkischem Uradelsgeschlecht stammenden Militär Karl Friedrich Freiherr von dem Knesebeck, der von 1768 bis 1848 lebte. Sie verlief zwischen Kurfürstendamm und Hardenbergstraße. Um 1892 erhielt auch ihre Verlängerung Richtung Süden bis zur Lietzenburger Straße den gleichen Namen. Die Carmerstraße ist die dritte und kürzeste, vom Nordrand des Platzes abgehende Straße, die bis zum Steinplatz führt. Sie erhielt ihren Namen 1892 von Johann Heinrich Casimir Freiherr von Carmer, einem Juristen und um 1800 amtierenden preußischen Justizminister. Die größte und den Platz teilende Straße ist die Kantstraße, eine überaus verkehrsreiche Ost-West-Ader, die von der Joachimstaler Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 35 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Straße, nahe Bhf-Zoo, bis zum Amtsgericht von Charlottenburg, und weiter als „Neue Kantstraße“ bis zum Bhf-Witzleben verläuft. Ihren Namen erhielt sie 1887 nach dem großen Philosophen Immanuel Kant. Trotz der vielen denkmalgeschützten Bauten ist zu erkennen, dass diese Straße schon immer bis heute ein Stiefkind des Wiederaufbaues und einer urbanen Stadtbildpflege gewesen ist. Grundsätzlich herrscht in der gesamten Umgebung des Savignyplatzes ein schauderhaftes, den Blick des Betrachters oft irritierendes architektonisches Durcheinander, und so mancher mag auf seinem Spaziergang an den unterschiedlichsten Gebäuden innehalten und sich fragen, wohin sich der Geist des Stadtplanungsamtes bei Erteilung der Baugenehmigungen verflüchtigt hat, ob gestern oder heute! Diese Frage drängt sich dem Betrachter dieser Umgebung immer wieder auf! Zu erwähnen ist, dass im letzten Krieg 37% aller Häuser in Charlottenburg, gegenüber 25% in der gesamten Stadt Berlin, zerstört wurden, da die britische RAF ihren Luftangriff am 23.09.1940 gezielt auf diesen Bezirk gerichtet hat. Heute bekommt man den Eindruck, dass der Wiederaufbau sowie spätere Lückenschließungen, etliche Modernisierungsobjekte sowie Wohnungsneubauten oder auch Prestigebauten eher von Aspekten wie Wohnungsbedarf in Nachkriegszeiten, spezifische Finanzschwächen, desinteressierte Gebäudeinhaber, wachsendes Verkehrsaufkommen, Parkraumnot, Profitgelüste gieriger Investoren und individuelle Profilneurosen geprägt sind als von einer verantwortlichen, dauerhaften und ausgewogenen Stadtbildpflege. Neben vielen zum Glück heute unter Denkmalschutz stehenden privaten Miethäusern in allen Straßen um den Savignyplatz, mit allen Zeichen alter Baukunstwerte, seien hier als wichtige und herausragende Orte in der Umgebung dieses Stadtplatzes zu erwähnen: das Theater des Westens mit dem Siegesboten Marathon auf dem Dach, das Renaissance-Theater und die Vagantenbühne, der Delphi-Filmpalast, Skulpturen wie der gestürzte Krieger und die Kaskaden vor dem Kant-Dreieck, der Weltbaum II auf dem Bahnhof und noch einiges mehr – bereits umfassend und mit allen Einzelheiten in den verschiedensten Medien dokumentiert. Schlendert man aber über den Platz und in die abgehenden Straßen hinein, zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer, ist es dennoch angenehm zu erleben, wie neben all diesen architektonischen Besonderheiten und den so oft erschreckenden Ausmaßen neuzeitlicher „Baukunst“ der urbane Lebensraum dennoch funktioniert. Außer in der breiten Kantstraße ist die ebenerdige Situation über den Augen von dicht beieinander stehenden, dicken, ausladenden Baumkronen überdeckt, so dass eine Betrachtung von Gebäuden 36 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf manchmal nur in Ausschnitten möglich ist – welch ein Glück das sein kann, zeigen später noch einige Fotos! Zu ebener Erde tobt jedenfalls das Leben! Da brennt der Himmel bis in die frühen Morgenstunden, und jeder genießt diesen Kiez! Jeder findet für die abendliche Muße, das nächtliche Vergnügen, den individuellen Einkauf oder die schnelle oder auch notwendige Besorgung alles, was er braucht – und kann zwischendurch einen Espresso auf der einladenden Straßenterrasse genießen – einfach zum Wohlfühlen! Die Gastronomie in diesem Kiez ist so ausgeprägt wie an keinem anderen Platz dieser Stadt. Vom Rotlichtmilieu mit allen Schattierungen der Berliner Unterwelt über die Boxerszene, Chicky-MickyLokale, eins neben dem anderen, bis hin zu allen nur erdenklichen Nationalitäten der Fresskultur – und, jeder Wirt freut sich über die klingende Kasse! Meinen Platz in der Sonne verlassend, schaue ich in die Grolmanstraße. Kein einziger Parkplatz ist hier mehr zu ergattern. Anwohner, Gäste, Geschäftsleute und Lieferanten – alle suchen händeringend einen Abstellplatz für das Blechvehikel. Doch damit leben wir Berliner in einem derart urbanen Kiez gerne! … Und gleich daneben wandert der Blick in die Knesebeckstraße, die zwar breite Bürgersteige und einen Fahrdamm für vier LKW nebeneinander präsentiert, doch die Parkplatzprobleme sind die gleichen wie in allen diesen Straßen. Überall herrscht reges Treiben. Man trifft sich, man hält ’nen Klönschnack beim gepflegten Espresso, man macht Geschäfte, man flirtet, man frisst sich durch die internationale Küche, man lässt sich sehen und wird gern gesehen. All das scheinen Berliner wie auch hungrige und erlebnisfreudige Berlingäste gleichermaßen zu genießen und Tag für Tag wie Abend für Abend mit Wonne zu wiederholen. Zwischendrin sind’s die Hotels, Pensionen, die Kücheneinrichtungen, die Möbelgeschäfte, die Hüte, die Weine und Spezialitäten aus aller Herren Länder, Naturkostlädchen, Zinnfigurenhändler, das Nützliche wie Stempel und Druckartikel, der Trödel, die Antiquität, Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 37 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf der Zeichenbedarf, die Drogerie, die Apotheke und die Wäscherei, die Backwaren, das Postamt um die Ecke, Papier und Schreibwaren, die Bücher, der Friseur und die Copyshops, die sowohl dem Anwohner als auch dem Gast oder dem Flaneur eine gelungene Mischung in einem äußerst urbanen und funktionierenden Stadtkiez bieten. Die wunderbaren 60er Jahre – die Gebäudeflucht ab der Ecke Kantstraße mit Sparkasse und Einrichtungshaus (Bild links) und – der legendäre „Zwiebelfisch“ in der Einmündung der Grolmanstraße! Immer voll, immer angesagt! Geöffnet bis morgens um 6 Uhr! – tolles Publikum! (Bild rechts) In dieser Grolmanstraße gibt es nur noch wenig alte, reich verzierte Bausubstanz, doch das Eckhaus Goethestraße zeigt uns noch etwas davon. Auf dem Bild rechts eine besonders anschauenswerte Loggia dieses Wohngebäudes. Hier zeigt sich das Mietshaus mit spitzem Winkel auf der Ecke Goethe-/Grolmanstraße – ist das eine Pracht?! Und gegenüber finden wir Altes und Neues sehr fragwürdig direkt nebeneinander. Man kommt nicht umhin, sich wie schon erwähnt zu 38 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf fragen, ob die Stadtplanung zum Zeitpunkt der rechten Erbauung gerade geschlossen in einen Gruppenurlaub gestartet war! Läuft man daran vorbei und schaut an den Fassaden hinauf, wird einem bewusst, wie der so üppige und gesunde Baumbestand einem die Sicht nach oben versperrt, und diese sündhafte Bauart dadurch tatsächlich nicht sofort ins Auge fallen muss. Dieses Beispiel moderner Architektur steht zum Glück recht allein und nicht direkt neben einem Prachtexemplar alter Baukunst. Ich stehe davor und denke, wie langweilig es wohl innen für den Nutzer sein muss, wenn es schon außen nichts bietet, was zum Eintreten veranlasst. Hier dann doch lieber zwei einladende Beispiele für die Gastronomie dieser Kiezecke, das „mar y sol“ und das ehemalige „Shell“ in der Knesebeckstraße, mit ihren wunderbaren Terrassen und dem tatsächlich guten Essen. Nach dem Genuss eines Espressos auf einem dieser lauschigen Terrassenplätze will ich mich nun wieder den Highlights der alten Baukunst zuwenden, die hier doch an vielerlei Stellen der Umgebung noch zu finden sind, und die fraglos zur urbanen Kiezstimmung beitragen. Hier ein paar Beispiele mit ihren eindrucksvollen Fassaden... Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 39 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf ... neben Hauseingängen, wie sie schöner nicht sein können – und erst das Innenleben! Jedes Detail ist von Meisterhand mit Liebe hergestellt. Manchen Hauseingangstüren ist leider nur noch wenig von der Hochkultur der Jahrhundertwende geblieben, und ich fühle Traurig- 40 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf keit bei der Betrachtung der verwitternden, defekten und nur noch spärlich vorhandenen Details dieser kunstvollen Epochen. Mit diesen traurigen Gedanken an bessere Tage des Baugewerbes gehe ich noch einmal zurück zum „fehlenden Stadtplanungsgedanken“ – wenn Sie hieran vorüber laufen, wird Ihnen gewahr, was ich damit meine: Dieses Fassadenbild ist eines der Beispiele für die Sünden der Moderne! Es spiegelt das neue Begehren der 70er Jahre wider, Stahlbeton, Rastermaße und Fertigteile im Wohnungsbau – phantasielos, gleichförmig und minimiert auf die Anzahl der Wohneinheiten. Doch ausgerechnet in dieser Straße hätte man nicht in der Form experimentieren dürfen! In diesem alten Kiez, in der Nähe der wunderschönsten Gebäudefronten – einfach unverantwortlich! Hier ist zu vermuten, dass die Macht der Investoren und der politische Wind dafür gesorgt haben, dass das Stadtplanungsamt seine sonst so „vorbildlichen“ Ziele vergessen hat. Betrachte ich solche Gebäude, fällt mir wieder gleich ein, dass das Innenleben für den Bewohner äußerst betrüblich und die Wohnungsgrundrisse ähnlich uniform gestaltet sein müssen – eine bedrückende Vorstellung! Allerdings kann man in den Gebäudefluchten dieses Kiezes auch Wohnhäuser sehen, die mit viel Bedacht und Behutsamkeit saniert wurden, manchmal sogar mit einfachsten und preiswerten Methoden. So erkennt der Betrachter zwar das Alter des Gebäudes, findet jedoch kaum mehr Stuckelemente auf der Fassade, außer eben an der Hauseingangstür, die dafür akribisch aufgearbeitet wurde. Auch sind noch alte schmiedeeiserne Balkon-Brüstungsgeländer zu sehen, die restauriert oder sogar neu hergestellt wurden. Man kann auch individuelle und wohlgeformte Balkonplatten, halbrund mit neuen, nachgearbeiteten Geländern sehen. Dazu diese achtsam restaurierten Hauseingänge, neue profilierte Gesimsbänder hier und dort und das Bild ist abgerundet. Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 41 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Trotz heute verhältnismäßig glatter Fassade erkennt man noch die Liebe zum Detail und eine behutsame und der Geschichte des Hauses angepasste Modernisierung. Alles das findet man in einem bunten Gemisch, neben willkürlich scheinenden, offenen Höfen und futuristisch anmutenden HotelAnfahrtsportalen mit Edelstahl-Glas-Überdeckungen, so lang, wie der Bürgersteig breit ist. Am Ende der Knesebeckstraße auf der Ecke Hardenbergstraße befindet sich das Renaissance-Theater. Ist der Anblick dieses Gebäudes für uns Berliner nur Gewohnheit, oder ist es tatsächlich so hässlich? Selbst die „große Kunst“ des nachträglichen Anbaues wirkt wie ein Fremdkörper. Doch diese Bewertung überlasse ich gern jedem anderen Betrachter, denn letztlich zählt hier nur, dass sich der Besuch der künstlerischen Darbietungen allenfalls lohnt! Die erste Vorstellung nach dem Krieg fand hier am 27.05.1945 mit „Der Raub der Sabinerinnen“ statt. Seither ist es ein beliebtes und stark frequentiertes Theater mit stets ausgesuchten und hochinteressanten Programmen. Nicht, dass man denken könnte, das wären nun schon alle Bausünden, die ich bisher erwähnt habe! Es gibt derer noch einige, die ich gern aufzeigen möchte, schon, um den zukünftigen Betrachter zu sensibilisieren, ihm die Augen zu öffnen und ihn zu bitten, sich einzumischen, wann immer und wo immer es ihm möglich gemacht wird! Es ist unsere Stadt – und sie sollte nicht so aussehen wie in einigen meiner Beispiele! Besonders hervorzuheben sind hierbei Gebäude, die unter dem Druck der Parkraumbeschaffung in diesem Kiez entstanden sind, und von denen gleich zwei im südlichen Teil der Knesebeckstraße stehen: 42 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Man betrachte den Anschluss an eines der schönen alten und behutsam sanierten Gebäude gleich links neben einem solchen Parkhaus. Die übelste und brutalste Baulückenschließung zur Beseitigung der Parkraumnot in dieser Straße ist schon beim Fotografieren schmerzlich. Mir drängt sich der Wunsch auf, die genehmigende Stelle des zuständigen Bauamtes könnte heute noch schadenersatzpflichtig gemacht und zum Abriss und Neubau aus eigener Tasche verpflichtet werden. Der Neubau gegenüber der einmündenden Mommsenstraße, im Bild unten, wäre gerade noch zu vertreten, wenn er nicht neben diesem Altbau stünde, auch hier kann der subjektive Eindruck entstehen, dass es hätte besser gemacht werden können. Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 43 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Doch zurück zur Ästhetik – denn es gibt eben auch schöne Anblicke – Wunderwerke alter Baukunst im spätabendlichen Licht! Das linke Bild zeigt eines dieser Wunderwerke in der Knesebeckneben dem Eckhaus zur Mommsenstraße, das mit reich verzierten, stark profilierten Fenster-, Tür- und Schaufensterelementen aus Holz gerade restauriert und fertig gestellt wurde. Jedes hochwertige Detail des Fassadenschmucks ist wieder hergestellt worden, auch der Dachausbau passt zur antiken Fassade. Und rechts ein wirklich individuelles Althaus auf der Ecke Mommsen-/ Bleibtreustraße, mit Türmchen, Erkern und tausend anschauenswürdigen Details. Die behutsam sanierten Altbauten erfreuen das Auge mit alten und neuen Details, schlicht und dennoch wirkungsvoll, wie man auf den beiden nächsten Bildern erkennen kann. Hier lohnt es sich, stehen zu bleiben und sich an jeder Kleinigkeit zu erfreuen. Das rechte Bild zeigt das Gebäude, in dem sich der 44 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf „Vagabund“ befindet, eine stadtbekannte Schwulenbar für Nachtschwärmer jeden Geschlechts, doch eben nur für die nächtlichen Amüsements bis in die Morgenstunden. Hier brennt der Himmel hinter verschlossener Tür! Bittet ein Gast läutend um Einlass, wird er mit einem Gesichtsprüfungstürchen auf des Eintretens würdig kritisch beäugt. Ist dies geschehen und der Gast unter gestrengen Maßstäben als angenehm befunden, wird er überschwänglich freundlich mit viel ChiChi eingelassen. Tage danach muss das nicht unbedingt wieder so sein, denn der Einlass richtet sich sehr nach den Launen der jeweiligen Herren der Pforte! Tagsüber wirken nur die purpurfarbenen Markisen und nichts und niemand rührt sich mehr. Ein Imbisswagen am Ende der Knesebeckstraße, Ecke Kudamm, lieferte dem Liebhaber der Currywurst lange Zeit eine nette Gaumenfreude, dies ist leider wegen der nicht mehr erwünschten Standplätze heute vorbei. Früher gab es am Savignyplatz direkt gegenüber dem alten Kiosk Jahrzehnte lang die beste Currywurstbude weit und breit, an der man den Magen nach dem Stress im Büro oder einiger späten Trinkfreuden Tag und Nacht beruhigen konnte. Leider gibt es auch die nicht mehr, denn sie ist dem städtischen Bedürfnis zum Opfer gefallen, derartige Buden aus Berlins Stadtbild zu verbannen. Eine Genehmigung für diesen ehemaligen Standort wird es nicht mehr geben, dafür dient allerdings jetzt der alte Kiosk diesem Zweck, dessen Betreiber seine Sache auch nicht schlecht macht, wie ich mit meiner Vorliebe für diese Delikatesse bereits mehrfach schmecken durfte. Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 45 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Zu guter Letzt will ich noch einige von all den vielen vorzufindenden, wundervollen Eingangsportalen und Eingangstüren zeigen, die wahrlich jeden Blick auf sich ziehen, die jeden staunen lassen ob dieser kunstvollen Details, und bei denen es sich lohnt, ein wenig zu verweilen und genauer hinzusehen: Rundherum ein lohnenswerter Anlaufpunkt, dieser Savignyplatz und seine Umgebung! Ich persönlich liebe diesen Kiez! Mit zwanzig träumte ich davon, hier zu wohnen, doch es sollten noch weitere zwanzig Jahre vergehen, bis ich endlich in die Nähe der Mommsenstraße ziehen konnte. Heute lebe ich hier, laufe mit meinem Hund durch die Straßen und erfreue mich an jedem neuen Geschäft und an jeder positiven Veränderung. Ich sitze in der Eisdiele und lasse die Sonne auf mein Haupt scheinen, schlendere über den nahegelegenen Wochenmarkt am Karl-August-Platz oder gehe schnell zu meinem kleinen Elektrolädchen in der Grolmanstraße, weil ich wieder einmal mein Licht im Wohnzimmer vervollständigen muss. 46 Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Braucht die Arbeit eine Pause, ist die Bank neben dem nackten Knaben und seiner Ziege geradezu prädestiniert, auf ihr ein halbes Stündchen der Sonne entgegen zu blinzeln. Bevor wir nun vom Savignyplatz aus weiter durch die nördlich abgehende Carmerstraße schlendern, die uns zum Steinplatz führt, von dem mit Sicherheit viel Interessantes zu berichten sein wird, machen wir noch einen kleinen Abstecher um die Ecke in die Bleibtreustraße, in der sich die Joan-Miró-Grundschule befindet, und in der noch so manch Sehenswertes wie Lukullisches festgehalten werden kann. Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin 47 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Joan-Miró-Grundschule _______________________________________________________ Wer die Bleibtreustraße 43 passiert, denkt wohl kaum daran, dass sich hinter dieser unscheinbaren Gebäudesituation die größte und architektonisch wie historisch bemerkenswerteste Schulanlage des gesamten Bezirks verbirgt. Die Schule befindet sich zum allergrößten Teil im Blockinneren und kann nur über eine zu passierende Pforte erreicht werden. Wer das Glück hat, außerhalb der regulären Schulöffnungszeiten auf das Grundstück zu gelangen, dem erschließt sich ein imposanter Gebäudekomplex, welcher ab 1888 von dem Architekten Paul Bratring erbaut wurde. Es handelt sich um ein viergeschossiges Schulgebäude, das in den Formen des sog. Akademischen Historismus errichtet wurde. Auf dem Schulgelände befinden sich neben drei Turnhallen auch vier Spiel- und Sportplätze. Die Mauerwerksbauten wurden mit roten Ziegeln verblendet, die gliedernden Gebäudeteile heben sich mit schwarzen Glasurziegeln ab. In den Jahren 1964 bis 1968 wurden in Verbindung mit einer Modernisierung kleine Umbauarbeiten vorgenommen. Das Schulgebäude ist selbstverständlich denkmalgeschützt. Namensgeber der Schule ist Joan Miró (1893-1983), ein bekannter spanischer Maler und Bildhauer. Zunächst war in dem Gebäudekomplex die 19. und die 20. Gemeindeschule beheimatet. Danach beherbergten die einzelnen Gebäude verschiedenen Nutzer; u.a. wurden sie von einem Gymnasium mit Realschule (1903), einem Lazarett (1. Weltkrieg), der Schlüter-Oberschule für Jungen (1938), einem Krankenhaus für Kinderlähmungskranke (1939) sowie der Ostpreußen-Hauptschule (bis 1969) genutzt. 48 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Diese Schule hat wunderschöne Gesichter, eine riesengroße, sich durch den großen Hinterhof schlängelnde Anlage, mit roten Backsteinfassaden, Türmen, Gesimsen und einladenden Spiel- und Sportflächen auf den zwischen den Gebäudetrakten befindlichen Flächen. Aber man schaue selbst: Hier der Haupteingang im Innenbereich mit seinen angrenzenden Fassaden, den Klinkermustern aus Glasurziegeln, den einladenden Torbögen sowie dem auf dem Bild leider nur angerissen erkennbaren Ausschnitt dessen, was man einen Spielplatz für Kinder nennen kann (linker Bildrand). Die vielen unterschiedlichen Innenansichten wirken wie im Kirchenbau, wie an einem Schloss oder einer Ritterburg, in diesem akademischen Historismus sind eben genau diese Stilelemente verwendet – eindrucksvoll – oder? Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz 49 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Das untere linke Bild zeigt den Eingang ins Verwaltungsgebäude, der direkt vom Savignyplatz/Knesebeckstraße aus zugänglich ist, wohingegen der kleine, unscheinbare Eingang auf dem Bild unten rechts derjenige ist, der eigentlich in den Haupttrakt der Schule führt und auf den man von der Bleibtreustraße aus direkt zu läuft. Hiernach fahren wir fort mit einer kleinen fotografischen Dokumentation ganz besonders zu erwähnender Gebäude der Bleibtreustraße, deren Architektur sich – alt wie neu – sehen lassen kann! 50 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Steht man vor dem Eingang der zuvor beschriebenen Joan-MiróGrundschule, ist es nur zu empfehlen, ein paar Schritte nach links zu gehen und sich die Bleibtreustraße 45 intensivst anzuschauen! Dieses Gebäude ist ein um 1900 entstandener Wohnungsbau, dessen gerade erst abgeschlossene, aufwendige und dazu musterhafte Modernisierung sich anzusehen wirklich lohnt. Beige, karminrot, Metall und grün am werksseitig patinierten Kupfer sind vorherrschende Farben und harmonieren miteinander an allen Fassaden. Über der eingeschossigen Überdachung des Schuleinganges rechts neben dieser Hausfassade wurde der Seitenflügel raffiniert zur Straßenfront so geöffnet, dass zwei Geschosse mit verglasten Fronten sichtbar werden. Hier muss schon einiges an wohlwollender Amtseinstellung zur gewünschten Modernisierung gezeigt worden sein, um den Nachteil einer Baulasteintragung zu Lasten des Schulgrundstückes akzeptabel werden zu lassen! Fenster im Giebel auf der Grundstücksgrenze bedeuten immer eine Wertminderung des angrenzenden Grundstückes, da straßenseitig nie mehr Giebel an Giebel, also in geschlossener Bauweise mit voller Breitenausnutzung in voller Höhe gebaut werden könnte, ohne diese Öffnung in der 45 wieder zu schließen! Hier sind sich Ämter und Eigentümer jedoch offensichtlich einig geworden, und dieser kleine Kunstgriff erscheint als außerordentlich reizvoll an dem sonst so glatten überstehenden Brandwandgiebel der Nr. 45. Die Geländer der Balkonbrüstungen oder der französischen Austritte sind individuell so hergestellt, dass die schachbrettartig eingelegten quadratischen Metallplättchen im Sonnenlicht funkeln und den Betrachter zu mehr Aufmerksamkeit auffordern. Gebräuchlich bei hochwertigeren Modernisierungen sind manches Mal dekorative Kugeln auf Balkon- oder Erkerbrüstungen, hier hingegen sind es keine Kugeln, sondern tropfenähnliche massive Körper, die obendrein mit einem diagonal eingeritzten Rhombenraster verziert sind. Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin 51 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Die Fenster und Eingangstüren leben in diesem wunderschön warmen Karminrot und kommunizieren mit dem Rot der Markisen über dem Bistro „Café Bleibtreu“ und dem „Ali Baba“, der ältesten Pizzeria im Hause. Geht man erst auf den Hof und betrachtet die Gebäudeteile, so kann man nicht genug bekommen von den vielen Raffinessen, derer sich der Architekt zu bedienen in der Lage befand, um die Funktionen in diesem Hause zu gewährleisten, oder sie erst richtig interessant zu machen. Der im Quergebäudestumpf versteckte Aufzug, die Öffnungen in den Hauswänden, die Brücken aus leicht wirkenden Materialien, über die man vom Aufzug in die Etagen gelangt, die vor die Fassade gehängten Laubengänge mit diesen im Sonnenlicht glitzernden Brüstungsgeländern, die Dachgauben, die aussehen wie kleine Häuschen auf dem Dach, jedes anders! Hier lohnt es sich, jedes Detail länger zu betrachten! ... Und hier die Rückfront mit der imposanten senkrechten Öffnung mit den Zugangsbrücken über diese Öffnung zu den Wohnungen im Seitenflügel. Diese Lösung der neu geschaffenen Wohnungseingänge und des immer Probleme bereitenden Einbaues von Aufzügen in Altbauten ist eine äußerst raffinierte und gekonnte Variante, die sich auch an der Fassade positiv niederschlägt und die im Übrigen vom Schulgrundstück aus anzuschauen ist. 52 Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf ... Als Krönung dann auch noch die Rückfront des anderen Seitenflügels auf der Grenze zum Schulgrundstück, deren ansehnliche und formschöne Balkone wohl einzigartig für einen Hinterhaustrakt sein dürften! Das Gegenüber steht zwar recht dicht, doch dafür ist das rot verklinkerte Schulgebäude sehr imposant und zudem vom üppigen Grün der Schulhofbepflanzung unterbrochen. ... Meine Hochachtung für den Eigentümer, der seinen Nutzern eine überaus liebevolle, ganz offensichtlich auch nutzerfreundliche und dem Betrachter eine das Stadtbild besonders veredelnde Modernisierung geliefert hat!! ... Schließlich als letzten Beweis für durchdachte architektonische Wirkungen an diesem Gebäude – der schon eingangs angedeutete Giebel über der Eingangsüberbauung des Schulgebäudes. Hier ist den Räumen im Seitenflügel auf individuelle Weise räumliche Öffnung und Tageslicht gegeben worden, ohne dass auf die Verbindung zum Vorderhaus verzichtet werden musste. Leider ist die Eingangsüberbauung der Schule rechts im Bild nicht wirklich gelungen, hier hätte ein wenig mehr Mühe in die bauliche Anpassung gut getan, doch ist das in den 70ern wohl rundherum eher selten gelungen. Die spartanische Gleichförmigkeit, ja Ideenlosigkeit dieser Ära ist sicherlich vielerorts wieder zu erkennen. Allerdings sind sowohl die Einwirkungen der Nachbargebäude als auch die wunderbar kräftigen und üppigen Baumkronen tatsächlich so Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin 53 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf eindringlich, dass diese architektonische und stadtplanerische Fehlentscheidung zum Glück nur bedingt ins Auge fällt. So wird nach Betrachtung des linken Nachbarn der Blick ganz schnell auch auf das rechte Nachbargebäude gelenkt, das noch zum Bestand der Schulanlage gehört. Ein derart schöner alter Klinkerbau muss sich einfach sofort in jedermanns Blickfeld schieben. Nun gönne ich mir erst einmal eine Pause im „Ali Baba“, die sich immer lohnt, wie man glauben darf! In dieser Pizzeria, einer der ältesten Berlins, findet man die wohlschmeckende, reich belegte und preislich akzeptable italienische Pizza noch wie vor 20 Jahren, auch stückweise zum Mitnehmen, allerdings längst nicht mehr durch italienisches Personal kredenzt. Frisch gestärkt will ich nun noch ein paar mehr der wunderschönen Bauten aufzeigen, die sich in dieser Straße befinden, hier ein ganz besonders schönes Exemplar alter, gekonnter und repräsentativer Baukunst: Die Schaufenster sind neueren Datums, doch hat sich der Architekt hierbei über nichts hinweg gesetzt, sondern hat genauestens darauf geachtet, dass mit der Erneuerung Altes noch deutlicher wird. 54 Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Einfach ein Prachtexemplar, dessen Details einen zum längeren Hinschauen bewegen! Allerdings sollte man den Blick nicht eine Sekunde lang in die rechte Nachbarschaft rücken lassen. Am rechten Bildrand (vorherige Seite unten rechts) kann man vage erkennen, was ich meine. Dieser Neubau aus den 70er Jahren ist eine Todsünde von Architekten und Stadtplanern, wie man sie nicht anders nennen kann. Leider sind diese Todsünden, wenn einmal gebaut, über Jahrzehnte präsent und nicht so einfach zu beseitigen. Links neben dem Hauseingang dieses prachtvollen Altbaues steht das kleine Türmchen der Portierloge, das neuerdings mit zwei Stühlen und einem Caféhaustischlein einem Eiscafébetreiber und seinem Gastpärchen als Domizil dient. Der angrenzende lange schmale Raum beinhaltet einen ebenso langen Tresen mit allerlei Köstlichkeiten, und wenn die Sonne scheint, gibt’s auch noch ein paar Plätzchen auf dem Trottoir – ein Kleinod! Zum Naschen nur zu empfehlen! Dann muss ich auch schnell noch einmal auf die andere Straßenseite zurück, denn hier ist etwas ähnlich „Süßes“ zu empfehlen, nämlich links neben der eben beschriebenen Hausnummer 45. Hier wurde in einem Treppenabstellraum kleinster Dimension unterhalb einer sehr großen und imposanten Hauseingangstreppe ein winziges Gasthäuschen, das NIBs, eingerichtet, das einem den Genuss besonderer Schokoladengetränke mit kleinen Teigköstlichkeiten beschert. Das sind neben den insgesamt recht guten Restaurants und den vielen unterschiedlichsten Geschäften in dieser Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin 55 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Straße, ob rauf bis zur Pestalozzi- oder runter bis zur Lietzenburger Straße, die beiden absoluten Highlights, hinsichtlich romantischen Genusses! Auch der folgende Altbau, Bleibtreu- Ecke Mommsenstraße, ist ein sehr ansehnlicher und interessanter Beleg alter Kunst, an dem das Auge länger festhalten möchte, um alle Details intensiv wahrzunehmen. Zu guter Letzt möchte ich aber auch noch eine sehr gelungene Neubausituation zeigen, die eine in den 90er Jahren abgerissene ersetzt hat, und in der sich zudem ein legendäres Kino befand, das „Filmkunst 66“. Als es damals hieß, der Altbau würde abgerissen und ein neues Wohnhaus würde gebaut, bangten alle Anwohner um ihr Kiezkino. Klein, gemütlich, mit hervorragendem Betreiber, der immer die beste und individuellste Filmauswahl präsentierte – so wurde es von jedem Anwohner, ja von jedem Berliner geliebt und war aus der Savignyplatzumgebung nicht weg zu denken. Was immer tatsächlich den Grund geliefert haben mochte, der Finanzierende hatte jedenfalls ein Herz für dieses Kino. Es wurde übernommen und in das neue Wohnhaus integriert. Die Ansichten Niebuhr- wie Bleibtreustraßen seitig wirken warm und wohnlich, wie es von einem Mietshaus erwartet werden will. Bei dem Anblick dieser klar und dennoch sehr ansprechend gestalteten Fassaden könnte man in den Gedanken ans Umziehen verfallen. Es ist schon toll, gegenüber die Pizza, Zilles Alt-Berliner Bier- und Frühstückslokal, Cafés, Restaurants, Bäcker und Apotheker gleich nebenan zu wissen, der S-Bahneingang nur einen Steinwurf entfernt und das Grün der Baumkronen unter der Nase, wenn man seinen Balkon betritt. Das nenne ich „Wohnwert“! 56 Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Wie gut dieser Neubau gelungen ist sieht man auch an den Anschlüssen an die Altbaunachbarn, sehen Sie selbst, auf den nächsten Fotos habe ich es festgehalten. In der jeweils linken Fotohälfte ist der Altbau zu sehen, erbaut um 1900, auf der rechten Seite der Neubau, erbaut um 1990. Das könnte man als eine angenehme Symbiose bezeichnen. Auch die Geschäfte im Erdgeschoss zeigen sich, als hätten sie schon immer zusammen gehört. Zudem ist es ein schönes Gefühl, an dieser Ladenzeile entlang zu laufen, oder gar in die Läden einzutreten, da es viel Außergewöhnliches zu sehen und zu erstehen gibt. Nun, nach diesem Abstecher in die Bleibtreustraße wieder zurück zum Savignyplatz, denn unser Spaziergang führt uns jetzt weiter durch die Carmerstraße in Richtung Steinplatz. Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin 57 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf - und da wären wir auch schon am Steinplatz _____________________________________________________________ Der kleine Erholungsplatz an der Hardenbergstraße wurde 1885 nach Heinrich Freiherr Friedrich Karl vom und zum Stein benannt. Entsprechend den zeitgemäßen Vorstellungen wurde er als Erholungsplatz mit geometrischem Grundriss angelegt und erhielt eine raumbildende Bepflanzung mit Bäumen und umrahmenden Sträuchern. Auf dem Platz findet man neben den Gedenksteinen für die Opfer des Nationalsozialismus (1953) und des Stalinismus (1951) auch die Büste des Freiherrn von Stein. Sie wurde 1987 als Geschenk des Deutschen Städtetages zur 750-Jahr-Feier Berlins aufgestellt. Der Staatsmann leitete ab 1807 mit der Gesetzgebung zur Bauernbefreiung die nach ihm und Karl August Fürst von Hardenberg benannten "liberal-demokratischen" Reformen in Preußen ein. Neben dem mit Naturstein verkleideten Geschäftshaus der Hoechst AG Farben aus den 50er Jahren findet man hier das Geschäftshaus der Verwaltung der Deutschen Bundesbank, ein Gebäude jüngeren Datums. Aus der Jahrhundertwende sind zu erwähnen das Wohnhaus Steinplatz 3 und das Hotel am Steinplatz, 1906 bis 1907 im Jugendstil erbaut. Gegenüber dem Eckhaus der ehemaligen Filmbühne, einem Gebäude aus der Nachkriegszeit mit Cafeteria im Erdgeschoss, und dem allseits beliebten und stark frequentierten Zeitungskiosk befindet sich die Universität der Künste, deren älteste Vorgängerinstitution, die „Academie der Mahler-, Bildhauer- und Architecten-Kunst“, 1696 gegründet wurde. Obgleich ihr jetziges Domizil erst um die Jahrhundertwende erbaut wurde, gehört sie somit zu den ältesten Hochschulen. Die ehemalige Hochschule der Künste, kurz HdK genannt, erhielt im Jahre 2001 den Titel Universität, heute wird sie kurz als UdK bezeichnet. Die vom alten Hochschulnamen stammende Abkürzung ist ebenfalls noch verbreitet und nach wie vor im hauseigenen Logo vorhanden. Neben der UdK findet man den Konzertsaal. Der herausragende 50er-Jahre-Bau von Paul Baumgarten gilt als Auftakt der Moderne im Nachkriegsberlin. Heute ist dieses Haus Zentrum der Fakultät Musik 58 Text: Georgios Nassioulas Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf an der UdK Berlin. Hier finden die Proben und Konzerte des Symphonieorchesters statt, Konzertexamina werden absolviert und Wettbewerbe ausgetragen. In den sechziger Jahren war der Konzertsaal Heimstatt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung Herbert von Karajans. Mit seinem Foyer wird der Saal, der wie nur wenige Räume in Berlin den authentischen Stil seiner Zeit bewahrt hat, spielfertig vermietet. Die Miethöhe hängt von den veranschlagten Eintrittspreisen ab und richtet sich darüber hinaus nach den in Anspruch genommenen Leistungen, wie z. B. zusätzliche Technik und Dienstleistungen (Einlasspersonal, Garderobenkräfte und Tonmeister). Im oberen Foyer werden die Gäste vor der Veranstaltung und in der Pause oder bei Empfängen bewirtet. 1336 Plätze Foto aus der Homepage der UdK Nicht zu vergessen: Die Mensa der TU Berlin gegenüber dem Steinplatz an der Hardenbergstraße - nicht nur Studenten treffen sich hier in den neugestalteten Räumen. Man findet hier ein Reisebüro, einen Zeitungsladen, Internetplätze und natürlich eine sehr moderne Cafeteria. Nach der vollständigen Renovierung im Jahre 2005 präsentiert sich die Hauptmensa der Technischen Universität Berlin in einem zeitgemäßen und freundlichen Ambiente. Man bekommt hier immer etwas Leckeres und Bekömmliches. Ich selbst besuche sie gerne. Unweit dieser Mensa, noch in der 1865 nach dem preußischen Politiker und Reformer Karl August Fürst von Hardenberg (17501822) benannten Hardenbergstraße in Richtung Ernst-Reuter-Platz laufend, findet man Ecke Knesebeckstraße das RenaissanceTheater mit dem Entenbrunnen. Das Theater entstand nach Plänen des auf Theaterbauten spezialisierten Berliner Architekten Oskar Kaufmann in den Jahren 1926 und 1927 durch den Umbau eines bereits bestehenden Gebäudes. Das ehemalige Vereinshaus, 1901 bis 1902 von Reimer & Körte errichtet, wurde 1919 von Otto Berlich Text: Georgios Nassioulas 59 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf zum Kino teilumgebaut. Daraus entstand das Theater von Oskar Kaufmann. Oskar Kaufmann (1873-1956) war in Berlin unter anderem für den Bau des Hebbel-Theaters, der Volksbühne am heutigen RosaLuxemburg-Platz und des Theaters am Kurfürstendamm verantwortlich. Mit dem Ausbau des Renaissance-Theaters schuf er ein Musterbeispiel eines intimen Theaters. Das Intarsienwandbild im Innenbereich geht auf César Klein (1876 - 1954) zurück, es gilt als einziges gerettetes Zeugnis seines Könnens. Klein entwarf u. a. Glasfenster für den Lichthof des Warenhauses Wertheim wie auch Mosaiken und Deckengemälde im Theater am Kurfürstendamm und in der Kroll-Oper. Das Renaissance-Theater ist vielleicht das einzige vollständig erhaltene Art-Déco-Theater Europas. Von außen fällt im Eingangsbereich der halbrunde zweigeschossige Vorbau mit den über beide Geschosse reichenden rundbogigen Fenstern auf, deren blaue Verglasung von der Künstlerin Hella Santarossa entworfen wurde. Im Inneren beeindrucken die expressionistische Formenvielfalt sowie die von César Klein geschaffenen Intarsien, die im Balkonbereich Szenen der Commedia dell´arte zeigen. Eröffnet wurde das Theater 1922 mit dem Stück „Miss Sara Sampson“ von Gotthold Ephraim Lessing. 1933 schloss das Theater. In den Jahren von 1936 bis 1938 wurde es durch Ernst Bechler zum Verwaltungsgebäude umgebaut und diente als Sitz der Reichsschrifttumskammer. Erst am 27. Mai 1945 nahm man den Spielbetrieb wieder auf. 1946 erfolgte eine einfache Instandsetzung. Eine weitere Restaurierung nahm erst 1985 Michael Lindenmeyer vor. Dabei wurde auch die blaue Verglasung eingebaut. Das traditionsreiche kleine Theater mit 545 Plätzen war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bühne für anspruchsvolle Unterhaltungskunst mit namhaften Schauspielern wie etwa Olga Tschechowa, Helene Weigel, Tilla Durieux, Curt Goetz, O. E. Hasse, Otto Sander und Hubert von Meyerinck. Seit 1995/96 wurde unter der Direktion von Horst-H. Filohn, beraten von Hans Magnus Enzensberger, ein Konzept für einen Spielplan entwickelt, in dem die internationale Gegenwartsdramatik den Akzent setzt. Mit dem halbrunden, zweigeschossigen Vorbau des Eingangsbereichs und den markanten schlanken, über beide Geschosse reichenden Rundbogenfenstern, mit der expressionistischen For- 60 Text: Georgios Nassioulas Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf menvielfalt im Zuschauerraum und den besonders im Balkonbereich geschaffenen Intarsien aus vielfältigen kostbaren Materialien, den seit Mitte der 90er Jahre installierten Leuchten, wie auch mit dem Foyer und den Wandelgängen, die in den Originalfarben restauriert wurden, ist dieses Theater etwas Besonderes. Vor dem Eingang befindet sich der Entenbrunnen aus dem Jahre 1911 von August Gaul. Auf einem zweifach gestuften niedrigen Sockel ruht ein Brunnenbecken aus Muschelkalk, aus dessen Mitte sich ein steinerner Pilz erhebt, über dessen Spitze Wasser austritt und in das Becken rinnt. An den beiden schmalen Seiten des Bassins befinden sich je eine Dreiergruppe Enten in verschiedenen Haltungen. Auch das schöne Haus, in dem lange Jahre die Buchhandlung Kiepert ihr Domizil hatte, steht an dieser Ecke, auf der anderen Seite der Knesebeckstraße. Das Haus gilt als ein gelungenes Beispiel für moderne Architektur oder auch der „Architektur der Moderne“. Heute ist hier unter anderem die Fachbuchhandlung Lehmanns ansässig. Auf der gegenüberliegenden Seite der Hardenbergstraße sieht man das Ensemble der Technischen Universität Berlin. Die heutige Technische Universität wurde 1878 bis 1884 als Technische Hochschule erbaut. Weiter geht es auf unserem Weg durch die Fasanenstraße in nördliche Richtung, vorbei an der Bundesbaudirektion und dem neuen Gebäude der UdK-Bibliothek, wo wir die Straße des 17. Juni und die Charlottenburger Brücke erreichen. Um etwas ganz Wichtiges und Wunderschönes, doch häufig Ignoriertes aus Berlins Architekturgeschichte nicht zu vergessen, machen wir einen Abstecher nach Osten zu einem imposanten Bauwerk, das uns nun als nächstes vorgestellt wird. Text: Georgios Nassioulas 61 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Athen? Klassisches Hellas? Denkste - det is Berlin. Aufgrund der zahlreichen Bauwerke, deren Schöpfer sich bewusst am antiken Griechenland orientiert hatten, wird Berlin auch "Spree-Athen" genannt. Wer also 62 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf beim obigen Bild spontan an Akropolis & Co. dachte, lag gar nicht so falsch. Wenn auch mit "Spree-Athen" eher auf Berlins historischen Kern im Bezirk Mitte verwiesen wird, finden sich diese Spuren auch an vielen anderen Stellen Berlins - so eben auch in Charlottenburg. Das Eingangstor in die frühere Stadt Charlottenburg, heute Grenze zwischen Berliner Bezirken. Ansicht von Westen. Sicher sind Charlottenburger Schloss, Kurfürstendamm und all die anderen Highlights sehenswert. Doch Charlottenburg hat ebenso Fotos und Text: Peter Thelen 63 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf eine Fülle sehenswerter Bauwerke, Denkmäler, Straßen und Plätze zu bieten, die fast kein Tourist je zu Gesicht bekommt, und die auch in der Literatur kaum behandelt werden. Eines davon ist das Charlottenburger Tor Fast jeder kennt das Brandenburger Tor, wandert es doch auf den Cent Stücken täglich von Sizilien bis zum Polarkreis durch sämtliche Geldbeutel Europas. Doch wer kennt außerhalb Berlins das Charlottenburger Tor? Niemand - der kleine Bruder des Brandenburger Tors ist fast unbekannt. Dies wollen wir ändern. Das Charlottenburger Tor, heute praktisch in der City Berlins gelegen, lag noch im 19. Jahrhundert weit draußen vor den Toren Berlins. Denn Charlottenburg war damals eigene Stadt, und ebenso wie Berlin Sitz der preußischen Könige. Das Charlottenburger Tor war damals die "Entrée" nach Charlottenburg und bildete somit früher die Stadtgrenze. Seit Charlottenburg in den 20er Jahren nach Berlin eingemeindet wurde, bildet es die Grenze zum benachbarten Berliner Bezirk Tiergarten. Berliner Luft über dem Charlottenburger Tor 64 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Charlottenburger Tor, nördlicher Flügel, Ansicht von Westen. Links das Ernst-Reuter-Haus Erbaut wurde das Charlottenburger Tor 1907/08 von Bernhard Schaede. Ursprünglich befanden sich auf den Pfeilern allegorische Bronzeskulpturen von Georg Wrba, die jedoch im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden bzw. verschollen sind. Ebenso befanden sich ursprünglich zwei mächtige Sandsteinkandelaber am westlichen Abschluss des Tores, die wegen schwerer Schäden nach Kriegsende abgebrochen wurden. Erst wenige Monate vor Erstellung dieses Artikels wurde die erfreuliche Nachricht amtlich bestätigt: Die historischen Kandelaber werden wieder aufgebaut. Die beiden überlebensgroßen Bronzestandbilder des Stadtgründers Friedrich I. sowie seiner Gemahlin Sophie Charlotte mit dem Modell des Charlottenburger Schlosses von Heinrich Baucke sind erhalten und zieren nach wie vor die westliche, dem Tiergarten zugewandte Seite. Fotos und Text: Peter Thelen 65 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Charlottenburger Tor von Norden, mit den Statuen Friedrichs I. und Sophie-Charlottes Das Tor bildet mit der Charlottenburger Brücke eine architektonische Einheit. Die ursprüngliche massive Gewölbebrücke war reichhaltig künstlerisch ausgestaltet und wurde Ende der 1930er Jahre von Richard Ermisch durch einen Neubau ersetzt. Auch das Tor selber wurde in diesem Zeitraum verändert: Seine beiden Flügel standen ursprünglich enger zusammen und wurden 1937 im Zuge der 66 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Planung einer „Via Triumphalis“ vierzehn Meter weiter auseinandergerückt. Königin Sophie-Charlotte, nach der die frühere Stadt und der heutige Berliner Bezirk Charlottenburg benannt wurde. In ihrer rechten Hand ein Modell des Schlosses Charlottenburg In Berlin ist alles möglich: Hier hüpfen auch schon mal freche Gören im Minirock völlig respektlos um preußische Könige herum: Fotos und Text: Peter Thelen 67 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Südflügel des Tores, Ansicht von Norden. Dahinter der Tiergarten. Charlottenburger Tor und Straße des 17. Juni, Ansicht von Westen 68 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Straße des 17. Juni _______________________________________________________ Die große Ost-West Achse, die sich vom Theodor-Heuss Platz schnurgerade und kilometerweit über Ernst-Reuter-Platz und Siegessäule bis zum Brandenburger Tor hinzieht und von dort aus in die berühmten "Linden" übergeht, führt auch direkt durch das Charlottenburger Tor hindurch. Der noch heute benutzte Begriff Ost-WestAchse, der die gesamte Linie Kaiserdamm/Bismarckstraße/Straße des 17. Juni/Unter den Linden bezeichnet, wurde von den Nationalsozialisten geprägt, die die Straße zu Paradezwecken benutzten. Der Bereich zwischen Ernst-Reuter-Platz und Brandenburger Tor hieß früher "Charlottenburger Chaussee" und wurde 1953 umbenannt in "Straße des 17. Juni". Straße des 17. Juni - Sicht vom Ernst-Reuter-Platz zum Charlottenburger Tor; rechts das Hauptgebäude der TU Berlin, links davon weitere Institute der Uni (Fachbereich Mathematik u.a.) im typischen Stil der 60er und 70er Jahre Fotos und Text: Peter Thelen 69 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Im Hintergrund die Siegessäule; das Charlottenburger Tor ist von Werbeträgern verdeckt Hitlers unbemerkte Hinterlassenschaft Die Lampen rechts im Bild, von den Berlinern spöttisch "NaziLeuchten" genannt, stammen noch von Hitlers Chefarchitekten Albert Speer. Speer entwarf im Auftrage Hitlers ein wahnwitzig-megalomanisches Modell einer Hauptstadt "Germania", zu der Berlin umgestaltet werden sollte. Die Ost-West-Achse war Teil dieses Konzepts und sollte als Prachtstraße direkt auf völlig überdimensionierte Monumentalbauten in Berlin-Mitte zuführen. Die Geschichte entschied jedoch anders - "Germania" wurde nicht gebaut, statt dessen wurde Berlin in Schutt und Asche gebombt. So sind diese unscheinbaren Lampen am Rande eines Boulevards das einzige Relikt, das an diesem Ort von nationaler Verblendung, Weltherrschaftswahn und kollektivem Irrsinn des 20. Jahrhunderts übrig blieb. Sie sind als authentische Zeitzeugnisse Teil der Geschichte Berlins - unabhängig davon, wie man die jeweilige Epoche bewertet. Architektur ist immer auch Ausdruck von Herrschaft und spiegelt die jeweiligen Machtverhältnisse und Gesellschaftssysteme wider. Speziell die Straße des 17. Juni ist ein hervorragendes Beispiel hierfür und zeigt, wie sich Bauwerke und Bauweise ändern, wenn sich Machtverhältnisse, politische Systeme und Gesellschaftsformen ändern. 70 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter 71 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf 72 Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter 73 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf 74 Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter 75 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf 76 Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter 77 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf 78 Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Ernst-Reuter-Platz _______________________________________________________ Platzansicht Der Ernst-Reuter-Platz wurde 1953 zu Ehren des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter benannt und verbindet die Hardenbergstraße, Straße des 17. Juni, Marchstraße, Otto-Suhr-Alle und Bismarckstraße miteinander. In dem Kreisverkehr kann man die Professoren in ihren Lamborghinis erkennen. Nicht selten sieht man auch einen Universitätsprofessor auf dem Fahrrad um den Platz rasen. Im Jahre 1902 gab es hier mit dem Bau des U-Bahnhofes eine Umgestaltung mit Mittelinsel. 1945 wurde dann der Platz durch das Bombardement zerstört. Des Platzes heutige Form geht nun auf den 1955 ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb und dessen Sieger Bernhard Hermkes zurück. Obwohl der Ernst-Reuter-Platz natürlich nicht zu den attraktivsten Orten der Stadt gehört, hat er etwas Besonderes. Zu allen Himmelsrichtungen hin ist hier der Blick offen. Die modernen Bauten wirken angenehm. Foto und Text: Giorgios Nassioulas 79 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Das Diktat der Kuben, Kisten und Klötze _______________________________________________________ Der Ernst-Reuter Platz - wegweisend oder Bausünde? In den 60er und 70er Jahren war es Mode, möglichst überdimensionierte und monoton wirkende Bauten zu errichten, gleichgültig ob für Wohn-, Geschäfts- oder öffentliche Nutzung. Die Einfallslosigkeit, mangelnde Sensibilität sowie komplette Ignoranz gegenüber dem Genius Loci kompensierten diese Bauten problemlos durch ein Übermaß an Dimension und Quantität. Beispielhaft für die Architektur dieses Zeitraums ist der Ernst-ReuterPlatz. Obwohl einige seiner Bauten bereits in den 50ern entstanden, wurde dieser Baustil vor allem typisch für die 60er und 70er Jahre. Viele der Gebäude des Ernst-Reuter-Platzes erhielten einen Preis und stehen heute unter Denkmalschutz; die Platzanlage wird in der Fachliteratur ausschließlich gelobt und gepriesen als "herausragendes städtebauliches Ensemble der deutschen Nachkriegsmoderne". So findet man in der Literatur häufig Beschreibungen wie die folgende für die Bauten des Platzes: „Die Fassade (wird) durch Fensterbänder und dunkle Brüstungsfelder als horizontal verlaufende Gestaltungselemente gegliedert. Rhytmisierende Wandpfeiler dienen als vertikale Gestaltungselemente.“ (Berliner Bezirkslexikon Charlottenburg-Wilmersdorf) Was in der Fachsprache wirkt, als handele es sich um beeindruckende und aufwendig gestaltete Bauwerke, ist in der Realität sehr viel ernüchternder. Der Platz vermittelt eine Kälte, Sterilität und Seelenlosigkeit, die nur von Plattenbausiedlungen in Berlin-Ost übertroffen werden. Die Gebäude wurden im starren Funktionalismus entworfen, d.h. es finden sich praktisch keine Gestaltungselemente außer monotoner Rasterfassade, strengem rechtem Winkel und der Grundform des Kubus bzw. des Quaders. Ornamente sind auch hier, gemäß der noch heute gültigen Loos-Doktrin, streng verboten - eine Ideologie, die zeitgenössische Architekten noch heute nahezu widerspruchslos befolgen. Wer sich nicht daran hält, wie beispielsweise die Patzschkes, als sie das Berliner Hotel Adlon nachbauten, bekommt Drohanrufe und Schmähungen in Feuilletons. Die Moderne duldet keinen Widerspruch - und Ornamente hat der moderne Mensch (was immer das sein mag) gefälligst nicht schön zu finden. Schön sind: Kubus, Quadrat, rechter Winkel. 80 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Monotone Architektur – es herrschen Kubus, Quadrat und rechter Winkel Nun könnte man entgegnen: Das Empfinden, ob ein Platz oder ein Bauwerk schön ist oder nicht, sei subjektiv. Es gibt aber ein relativ einfaches Indiz, das diese Behauptung widerlegt und aufzeigt, dass dieser Platz nicht nur subjektiv, sondern objektiv von sowohl den Besuchern der Stadt als auch den Berlinern selber als wenig attraktiv angesehen wird: Und das ist die Tatsache, dass niemand diesen Platz aufsucht, um an ihm zu verweilen. Man überquert ihn, um von Nord nach Süd oder von Ost nach West zu gelangen, doch es scheint fast niemand so recht an den Ort selber zu wollen. Dass der Platz keine Aufenthaltsqualität hat, ist, wenn man so will, eine "messbare" Tatsache anhand der Menschen, die hier verweilen, besser: nicht verweilen. Tausende von Studenten strömen täglich mehrmals von der nahe gelegenen Universität in die Eingänge der Untergrundbahn und wieder zurück, überqueren den Platz, verlassen ihn aber so schnell sie können. Das Argument, der Verkehr mache diesen Platz unattraktiv, scheint wenig überzeugend: Es gibt zahlreiche Straßen und Plätze in Berlin mit kaum weniger, dafür genau so nervendem Verkehr, seien es die berühmten "Linden", der Wittenbergplatz oder der Kurfürstendamm, allesamt laute und verkehrsreiche Orte, an denen sich Café an Café reiht, Restaurant an Restaurant. Dort sitzen die Leute dennoch zu Hauf im Freien, aufgrund der simplen Tatsache, dass die jeweiligen Orte aufgrund ihrer Architektur menschengerecht und - ein von Architekten vermiedenes Wort - "schön" sind. Der Ernst-Reuter-Platz mag alles mögliche sein - aber "schön"? Dies ist sicher die unangemessenste aller möglichen Beschreibungen. Fotos und Text: Peter Thelen 81 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Zerdehnte Fläche ohne Verweilqualität Obgleich dieser Architekturstil und die ihr zugrundeliegende Ideologie in diesem Abschnitt scharf kritisiert und zum Teil auch spöttisch behandelt wird, soll diese Kritik nicht als einseitig missverstanden werden. Man muss fairerweise sagen, dass der Funktionalismus und die dahinterliegende Ideologie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung durchaus eine Legitimation hatte. Damals galt dieser Baustil als etwas Neues, Bahnbrechendes. Seine Essenz war der Bruch mit allem, was vorher da gewesen war: der Bruch mit der Vergangenheit und der Konvention. Dies schien zum damaligen Zeitpunkt auch richtig und ergab aus damaliger Sicht einen Sinn. Das Problem besteht nicht darin, dass diese Ideologie aus heutiger Sicht als Fehler angesehen wird. Problematisch ist, dass in der Architektenschaft diese Ideologie aufrechterhalten wird und noch heute als Grundlage für Bauen und urbanes Planen gilt. Mit anderen Worten: Die Architektenschaft hat aus den Fehlern der 60er und 70er Jahre nicht gelernt, es wird unbeirrt weiter im starren Funktionalismus gebaut, und alleine der Nutzen eines Gebäudes soll seine Form bestimmen. Was zum einen nicht nur unsinnig ist, da die Nutzung eines Gebäudes sich mehrmals ändern kann - aus Speichergebäuden und Fabriken werden Hotels, aus Hotels werden Finanzämter, aus Palästen werden Verwaltungen der örtlichen Krankenkasse. Vor allem aber ist die Ideologie des Funktionalismus fatal für den größeren Kontext, nämlich für das städtische Gefüge und somit vor allem für das Stadtbild. Diese Ideologie beruht maßgeblich auf der Bauhaus-Theorie von Walter Gropius, den Dogmen von Le Corbusier und vor allem dem bereits erwähnten Loos’schen Credo 82 Fotos und Text: Peter Thelen Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf „Das Ornament ist ein Verbrechen“, eine Schrift von Adolph Loos aus dem Jahre 1908. Eine Formensprache, die sich auf Bauhaus und Loos beruft, konnte bereits in den 60er Jahren, also über 50 Jahre nach Loos, eigentlich nicht mehr „modern“ sein. Kann sie es im 21. Jahrhundert - über 100 Jahre später? Wohl kaum. Doch noch immer gilt der Funktionalismus als „modern“. Architekten, die sich für zeitgenössisch und avantgardistisch halten, argumentieren noch immer mit dem Leitsatz Form follows function, einer Theorie von Louis Sullivan, die noch älter ist als die von Adolph Loos - nämlich nicht letztes, sondern vorletztes Jahrhundert. Abgesehen davon, dass auch dies kaum Grundlage „modernen“ Bauens sein kann, haben die meisten Architekten, die sich auf Sullivan und seine Chicagoer Schule berufen, Sullivan mit Ausnahme des Satzes „Form follows funcion“ niemals gelesen. Der amerikanische Volksmund hat daraus übrigens gemacht: Form follows fiasco. Man lasse sich durch die Farbaufnahmen nicht täuschen - bei gutem Wetter mit strahlender Frühlingssonne, farbigen Blumenbeeten und Menschen, die den Platz säumen (weil sie müssen), wirkt so manche Architektur farbiger, lebendiger und qualitativ hochwertiger als sie ist. Gute Architektur erkennt man daran, dass sie auch an einem kahlen, öden Herbsttag im November mit Regen und tristem grauen Himmel noch fasziniert. Warnung: Besuchen Sie den Ernst-Reuter-Platz nicht im Herbst, wenn Sie zu Depressionen neigen. Die Architektenschaft findet den Entwurf von Bernhard Hermkes noch immer wegweisend - die restliche Bevölkerung findet ihn abweisend Fotos und Text: Peter Thelen 83 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Ludwig-Cauer-Schule Vom Ernst-Reuter-Platz aus geht unser Weg weiter durch die OttoSuhr-Allee in Richtung Nordwesten. Mit unserem Interesse an repräsentativen öffentlichen Gebäuden machen wir einen weiteren kleinen Abstecher und biegen rechts in die Cauerstraße ein, wo sich das heutige Gymnasium befindet, das seinen Namen nach dem bekannten Berliner Pädagogen Ludwig Cauer (1792-1834) hat. Cauer war Direktor der Cauer’schen Erziehungsanstalt, die von 1826-1834 an der Berliner Straße (heute Eckgrundstück Otto-SuhrAllee/Cauerstraße) ihren Sitz hatte. Als das Schulgebäude für den Schulbetrieb zu eng geworden war, entstand 1897-1899 auf dem hinteren Grundstücksteil an der Cauerstraße der repräsentative Schulneubau. Dieser Neubau wurde nach Entwürfen des Landesbauinspektors Poetsch und des Regierungsbaumeisters Haubach realisiert und beheimatet bis heute die Ludwig-Cauer-Schule. Das Schulhaus ist dreigeschossig und lang gestreckt. Im rückwärtigen Bereich befindet sich nördlich ein weiterer Seitenflügel. Das Äußere der Schule weist historisierende Schmuckformen auf. In der Eingangshalle befinden sich toskanische Säulen mit einem 84 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Kreuzgratgewölbe. Im ersten Obergeschoss gibt es eine weitere Säulenhalle. Die Aula liegt im zweiten Obergeschoss. Auf dem Schulgelände befinden sich der Schulhof mit Sportflächen, der Schulgarten sowie eine Turnhalle. Das Schulgebäude steht unter Denkmalschutz und wurde vor kurzem vollständig renoviert. Der Schulzugang befindet sich allerdings nicht an der Cauerstraße, sondern im rückwärtigen Bereich an der Loschmidtstraße. Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz 85 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Damals war’s – malerische Geschichten aus dem alten Dorf Lietzow 86 Zeichnung: Tatiana Demidova Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf - und die Bilder erzählen eine Geschichte! Zeichnung: Tatiana Demidova 87 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Alt-Lietzow _______________________________________________________ Wir spazieren weiter die Otto-Suhr-Allee entlang. Vor uns leuchtet von ferne die Kuppel des Schlosses Charlottenburg und rechts davor reckt sich der prächtige Rathausturm empor. Doch wir wollen uns dem Rathaus von hinten nähern. Unser nächstes Ziel ist Alt-Lietzow. Das Dorf wurde 1239 erstmals in einem Dokument erwähnt unter dem Namen Lucene, später hieß es mal Lietze, dann Lützow oder Lützen. Über die Herkunft des Dorfnamens streiten sich die Gelehrten. Am wahrscheinlichsten ist die Herleitung aus dem Slawischen: Lietze war die Bezeichnung für die possierlichen Tauchhühner, die sich überall in der Spree tummeln. Auch der Lietzensee ist nach dem Vogel benannt, ebenso das Sommerschlösschen Lietzenburg, das 1699 für die Kurfürstin Sophie Charlotte erbaut worden war – ohne Kuppel, ohne Anbauten, aber immerhin schon mit einem französischen Barockgarten inmitten von Rübenäckern. 1590 wohnten in Alt-Lietzow ganze sechs Bauern, die unter der Kuratel der Nonnen von St. Marien in Spandau standen. Außer den Gehöften existierte hier nur eine Dorfkirche. Von der einstigen ländlichen Idylle mit Schweinen und Gänsen ist nichts mehr übrig. Alt-Lietzow ist heute ein eher verborgener, etwas verschlafener Stadtplatz. Umrahmt wird der ovale ehemalige Dorfanger von einigen mehr oder weniger historischen Gebäuden. Als erstes fällt ein hellroter Klinkerbau aus dem 19. Jahrhundert ins Auge: die alte Feuerwache Alt-Lietzow, die nunmehr vom „Malteser“Hilfsdienst genutzt wird. 88 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Auf der östlichen Seite des Platzes haben die evangelischen Christen 1960 ihre Kirche errichtet: einen avantgardistischen Bau in Form einer skandinavisch anmutenden Hütte, dessen Dachseiten bis zum Boden reichen, daneben ein kleiner freistehender Glockenturm und das Stein auf Stein gemauerte Gemeindehaus samt Kindertagesstätte. Die großformatigen Glasflächen geben dem ganzen Ensemble Transparenz und Licht, beleben den einstigen Dorfanger auf freche und dennoch harmonische Weise. Das attraktivste Haus am Platze ist das Charlottenburger Standesamt, Alt-Lietzow 28. Es gehört zu den 100 schönsten Standesämtern Deutschlands. Den spätklassizistischen Bau ließ der reiche Holzhändler Carl Kogge 1866 als Stadtvilla errichten. Der Bauherr bestand ausdrücklich darauf, dass sich sein Architekt den preußischen Baumeister Karl-Friedrich Schinkel zum Vorbild nahm. Das ist in diesem Fall sehr gut gelungen. Besonderes Merkmal dieses kleinen architektonischen Schmuckstücks: die geflügelten Löwinnen unter dem Dachgiebel zur Gartenseite. Ihr männliches Gegenstück ruht steinern auf der westlichen Seite des einstigen Dorfangers. Fotos und Text: Michael Jordan 89 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Ein Stück vom eigentlichen Platz entfernt stoßen wir auf einen massiven roten Backsteinbau. Es handelt sich dabei um das ehemalige Kloster „Vom Guten Hirten“. Nach der Auflösung dieser Einrichtung diente der mehrteilige Bau zwischenzeitlich auch mal als Ausbildungsstätte für Gefängnisaufseherinnen. Heute beherbergt der Gebäudekomplex die katholische Herz-Jesu-Kirche samt Gemeindezentrum. Hier predigte in der Nazizeit der Pfarrer Bernhard Lichtenberg gegen den Antisemitismus der Machthaber. Er starb auf dem Transport in ein Konzentrationslager. Wenn wir weiter entlang der Rückfront des Rathauses spazieren, kommen wir zu einem großen Parkplatz, an dessen Kopfende ein moderner Zweckbau thront, in dem noch vor einigen Jahren ein Squash-Center Fitness zu verbreiten suchte. Seitdem dieser Sport aus der Mode gekommen ist, hat sich hier ein Supermarkt etabliert, der sich verzweifelt darum bemüht, in dieser Nischenlage Geschäfte zu machen. Bevor wir das nun gänzlich unidyllische Alt-Lietzow verlassen, zeigen wir noch ein paar malerische Darstellungen des Dorfes und schleichen uns hiernach durch die Hintertür ins Rathaus. 90 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Zeichnung: Tatiana Demidova 91 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Das Rathaus _______________________________________________________ Wenn der Besucher das Rathaus betritt, fühlt er sich erst einmal ganz klein: Die Höhe der Räume wirkt in der Tat überwältigend. Das ist Wilhelminismus pur: Jeder, der Amtsräume besuchte, sollte sich klar darüber sein, dass er hier ein Untertan des Kaisers sei. Das ist heute im Sitz des Bezirksamtes und der Bezirksverordnetenversammlung natürlich in Wirklichkeit längst nicht mehr so. Aber die Architektur des hohen Hauses spricht diese Sprache. Und dann die schweren, mit Ornamenten aus Eisen und Messing verzierten Türen! Man kriegt sie kaum auf. Wenn sie dann hinter einem zufallen, krachen sie wie die zusammengeschlagenen Hacken eines preußischen Feldwebels zur Kaiserzeit – nur unendlich viel lauter, denn es hallt hier wie in einer Tropfsteinhöhle. Die Angestellten haben einige dieser massiven Ruhestörer mit Puffern und Stoppern versehen, um den Bombenkrach ein wenig zu entschärfen. Schaut man sich die Türen etwas genauer an, ist man bald schon mit ihnen versöhnt: Die schmiedeeisernen Jugendstilverzierungen sind, ganz im Gegensatz zur massiven Konstruktion, sehr elegant und zeigen eine zauberhafte Leichtigkeit! Wir durchqueren das Rathaus nun durch lange, nicht enden wollende Flure, in deren labyrinthischen Abbiegungen und nochmaligen Abbiegungen man sich leicht verlaufen kann. Endlich erreichen wir den Vordereingang (unseren Ausgang), schreiten über eine majestäti- 92 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf sche Treppe hinab, öffnen noch einmal eine der Riesentüren und gelangen schließlich über eine steinerne Freitreppe auf den Boden des Alltags zurück. Wir stehen auf der Otto-Suhr-Allee und gucken nach oben auf die beeindruckende Rathausfassade. Nein, so geht das nicht! Wieder sind wir zu klein. Also überqueren wir die zweispurige Straße. Aus dem gehörigen Abstand haben wir endlich das gesamte Rathaus im Blick: Was für eine prächtige Fassade! Das Charlottenburger Rathaus wurde 1899 bis 1905 nach den Entwürfen der Architekten Reinhardt und Süßenguth errichtet, die zuvor (ganz modern) einen Bauwettbewerb gewonnen hatten. Es ist in einer eigenwilligen Mischung aus Jugendstil und Neogotik gestaltet. Auffällig sind die bisweilen verspielten, bisweilen strengen Figuren, die die Fassade zieren: Weingötter sind zu erkennen, aber auch so etwas wie Teufelsfratzen, die aus dem grauen Sandstein hervorglotzen. Der Betrachter fühlt sich ein wenig an gotische Kathedralen erinnert. Dafür steht auch der prachtvolle Turm, in dessen Dachstuhl allerdings keine Glocken läuten. Ein Wolkenkratzer der Jahrhundertwende! Er überragt mit seinen 88 Metern Höhe die gesamte Stadt – und ist exakt 14 Meter höher als der Turm des Berliner Rathauses, das etwa 40 Jahre zuvor erbaut worden war. Dies lag in der Absicht des Bauherrn, des damaligen Bürgermeisters Schustehrus. Es war ein Triumph für die damals freie Reichsstadt Charlottenburg (erst 1920 wurde sie Groß-Berlin einverleibt) über die nicht allzu sehr geliebte Nachbarstadt Berlin. Anlässlich des 200. Stadtgeburtstags 1905 feierten die „Schlorrendorfer“ (nicht ganz freundlicher Spitzname für Charlottenburger) dann auch ordentlich die Einweihung ihres neuen Rathauses – des dritten. Schließlich hatten sie zum Feiern allen Grund: Charlottenburg war damals Boomtown, eine der reichsten Städte Deutschlands, im Ranking weit vor dem armen Berlin. Das Rathaus in seiner heutigen Gestalt entspricht fast vollkommen dem 1905 fertiggestellten Bau – 1913 wurde noch ein östlicher Anbau errichtet, in dem sich nun die Stadtbücherei befindet. Während des Zweiten Weltkrieges legten alliierte Bombengeschwader fast die gesamte Berliner Straße, die heutige Otto-Suhr-Allee, in Schutt und Asche. Nur wenige Häuser blieben stehen, unter anderem das Gebäude der Hof-Apotheke schräg gegenüber vom Rathaus und - wie durch ein Wunder, ragte der Turm des Rathauses stolz über das Trümmerfeld. Die Bomben hatten ihn nicht zum Einsturz gebracht. In den Nachkriegsjahren wurde das insgesamt Fotos und Text: Michael Jordan 93 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf schwer beschädigte Gebäude annähernd originalgetreu wieder aufgebaut. Um den Bau herum entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren viele gesichtslose Wohnbauten, die das Rathaus in seinem historischen Gewand ziemlich alleine dastehen lassen. Wir werfen noch einen letzten Blick auf das stolze Rathaus, das gleich noch malerisch erfasst sein wird, träumen kurz davon, einmal seinen Turm zu besteigen und die Aussicht von da oben zu genießen, wie es die Turmfalken tun, die auf dem Turmdach genistet haben sollen. Dann wenden wir uns wieder Bodenständigerem zu und spazieren weiter zum Richard-Wagner-Platz. 94 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Richard-Wagner-Platz Nach dem berühmten Opernkomponisten wurde der damalige Wilhelmplatz zusammen mit der nach Süden führenden Spreestraße erst 1935 benannt, eine der wenigen Umbenennungen der Nazis, die nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Was kann der Wagner denn dafür, dass der Hitler ihn so liebte, werden sich die Verantwortlichen gedacht haben. Und die Nähe zur Deutschen Oper an der Bismarckstraße wird wohl auch eine Rolle gespielt haben. Eigentlich ist der Richard-Wagner-Platz bloß ein Halbplatz. Auf der nördlichen Seite der Otto-Suhr-Allee entstand durch den SiebzigerJahre-Bau an der Ecke Wintersteinstraße eine Ladenmeile, eine Passage also, die überhaupt keine Platzsituation schafft. Von Platz kann also nur noch auf der südlichen Seite die Rede sein. Doch die alte Pracht ist hin. Die Lücken, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hatte, sind durch Neubauten mit gesichtslosen Fassaden geschlossen worden. Die stolzen Spitzkuppeln auf den Häuserdächern haben Krieg und Nachkrieg weggeschliffen. Übrig geblieben ist allein die Eckbekrönung am Eingang zur Schustehrusstraße. In diesem Fall hat der Architekt des Neubaus auf der rechten Straßenseite begriffen, was die Historie gebietet und seinen ansonsten völlig schnörkellosen Bau mit einem winzigen würfelförmigen Türmchen bekrönt. Nur noch ein einziger U-Bahn-Eingang an der östlichen Seite des Platzes, eine Art Tor mit zwei verzierten sandsteinernen Säulen und einer dreieckigen Dachgaube mit dem U-Bahn-Logo darüber, zeugt von der historischen Gestalt des bereits 1906 eröffneten U-Bahnhofs Wilhelmplatz. Der schwedische Architekt Alfred Grenander, der viele Berliner U-Bahnhöfe erbaute, hatte auch diesen entworfen. Die Strecke war allerdings eine Sackgasse; schon an der nächsten Station „Knie“ (heute Ernst-Reuter-Platz) endete sie. Im Rahmen der Umstrukturierung des U-Bahnnetzes wurde der gesamte U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz 1970 abgerissen und erst 1978 in völlig neuer Gestalt wiedereröffnet: modern, praktisch, bequem, aber trotzdem nicht ohne eigenes Gesicht. Eine gelungene Modernisierung. Der Richard-Wagner-Platz war einst der zentrale Marktplatz Charlottenburgs. Heute zeugen davon nur noch eine Handvoll Marktstände, die einmal in der Woche ein bisschen Obst und Gemüse, Billigklamotten und Currywurst anbieten. Früher war hier jeden Tag Fotos und Text: Michael Jordan 95 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Markt – außer sonntags natürlich – und es gab alles mögliche zu kaufen, Pferde zum Beispiel, denn einmal in der Woche war hier Pferdemarkt. Klaus Wendel, der bis 1980 das „Restaurant Wendel“ an der Ecke Richard-Wagner-Straße führte, erzählte: „Da lief auch schon mal ein Pony durch die Gaststube und soff aus der Spülwanne.“ Sein Vater Max Wendel hatte das damalige „Restaurant zur Untergrundbahn“ 1919 übernommen. „Hier verkehrten vor allem Viehhändler. Es herrschte ein rauer Ton“, berichtet der Sohn. Doch irgendwann warf der Vater die Pferdehändler allesamt raus. Erst blieb das Lokal leer, dann kamen die Beamten aus dem Rathaus. So ist es bis heute geblieben im „Wendel“, auch nachdem Klaus Wendel in Rente ging und die Gaststätte verkauft hat. Unter die Beamten und Angestellten mischen sich inzwischen viele Geschäftsleute und Handwerker aus dem Kiez, ein paar Künstler und Arbeiter von der Oper und im Sommer auch mal der eine oder andere Tourist. Alle genießen die deftige deutsche Küche und probieren sich durch die zwölf Biere vom Fass. Spielautomaten gibt es bis heute nicht in dieser Gaststätte. Um 23 Uhr werden frisch gebratene Bouletten serviert. Punkt Mitternacht ist Feierabend. Ganz anders nebenan im „Bierhaus 3“: Diese Kneipe hat praktisch rund um die Uhr geöffnet. Hier trinkt man und frau das Bier eher aus der Flasche als vom Hahn. Am Tresen treffen sich nachts bis in den frühen Morgen Kiezschwärmer unterschiedlichster Couleur, da sitzt schon mal ein Regierungsrat aus der Baubehörde oder ein Bühnenbildner von der Oper mit einer fröhlichen Runde von Frührentnern und Kiezhalunken zusammen, die ihr Geld eher nicht legal verdienen. Übrigens: In dieser Kneipe befindet sich die heißeste Gerüchtebörse des Stadtteils. Aber Vorsicht: „Absturzgefahr!“ 96 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Schustehrusstraße _________________________________ Wir kehren dem Richard-Wagner-Platz den Rücken und biegen in die Schustehrusstraße ein. Namensgeber für die einstige Scharrenstraße war Oberbürgermeister Karl Schustehrus, der Charlottenburg von 1898 bis 1913 regierte. Gleich am Anfang stoßen wir auf noch `ne Kneipe: das „Restaurant Lavandevil“: Früher speiste man hier persisch, jetzt eher Tapas oder Pizza. In den achtziger Jahren tagten im Hinterzimmer die Grünen, die damals noch Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz hießen und einen possierlichen Igel im Parteiwappen trugen. Ob sie heute noch tagen, wissen wir nicht. Dafür gibt’s einmal in der Woche Kasperletheater im „Lavandevil“. Wir überqueren die Wilmersdorfer Straße und kommen nun zu unserem nächsten Ziel: der Schustehrusstraße 13, einem kleinen grün gestrichenem, einstöckigen Häuschen mit einer dreieckigen Dachgaube über dem Portal. Fast unscheinbar wirkt das Haus auf der linken Straßenseite, aber dieses Bauwerk hat es in sich. Es handelt sich tatsächlich um das einzige erhaltene Bürgerhaus aus der Gründerzeit Charlottenburgs, errichtet um 1712. Es ist das letzte noch vorhandene Musterhaus der historischen Stadtanlage, die der königliche Baumeister Eosander von Göthe Anfang des 18. Jahrhunderts entworfen hatte. Kurfürst Friedrich III. krönte sich 1701 eigenhändig, ohne Einwilligung des deutschen Kaisers, in Königsberg zum König. Nun nannte er sich Friedrich I., König in Preußen, und brauchte für die neue Würde eine angemessene Residenz. In Berlin war er ja bloß Kurfürst von Brandenburg. Also ließ er das Sommerschlösschen Lietzenburg zu einem stattlichen Schloss mit eindrucksvoller Kuppel (nach dem Modell des Petersdoms in Rom) erweitern. Vor den Toren des Schlosses baute Eosander seinem König eine Stadt, die dieser 1705 nach seiner gerade verstorbenen Ehefrau Sophie Charlotte benannte. Der König selbst war der erste Bürgermeister Charlottenburgs. Fotos und Text: Michael Jordan 97 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Entlang des schachbrettartigen Straßenrasters der barocken Stadtanlage (begrenzt durch Schloß- und Richard-Wagner-Straße, sowie Otto-Suhr-Allee und Zillestraße) standen damals kaum 100 Häuser im Format der Schustehrusstraße 13. Alle Stadthäuser besaßen Acker- und Wiesenflächen im hinteren Bereich, die aber allein der Selbstversorgung und nicht dem landwirtschaftlichen Erwerb dienten. Die damals etwa 200 Bürger Charlottenburgs waren keine Bauern, sondern Handwerker und Schloss-Bedienstete, die auf königliche Order von 1711 nicht zur Miete wohnen durften, sondern allesamt verpflichtet waren, ein Grundstück zu erwerben und ein Haus zu bauen. So tat es dann auch der Goldschmied Gottfried Berger, der sein Eosandersches Musterhaus in der heutigen Schustehrusstraße 13 errichtete. Das unscheinbare Bürgerhaus mit dem idyllischen Hinterhof, in dem Weinreben ranken, überstand fast 300 Jahre, mehrere Kriege, den Bauboom der Gründerzeit, Wiederaufbau und Stadtsanierung. Es war dabei nahezu in Vergessenheit geraten, bis es Anfang der achtziger Jahre ins Visier von Bauspekulanten geriet. Die wollten abreißen und sechsstöckig neu bauen. Der damalige Baustadtrat Wolfgang Antes hatte Abriss- und Baugenehmigung schon in der Schublade. Doch da kamen ihm engagierte „Schlorrendorfer“ und die Stadtforscher Susan Prösel und Michael Kremin in die Quere. Sie wiesen anhand historischer Dokumente das wahre Alter und die einzigartige Bedeutung des kleinen Häuschens nach. Der Landeskonservator stellte es 1983 unter Denkmalschutz. Der Abriss war vom Tisch. So schien es. Am Morgen des 24. Dezember 1983 fuhren ein Bagger und ein Caterpillar vor dem Portal der Schustehrusstraße 13 auf und begannen sofort mit dem Abriss des Gebäudes. Anwohner, die sich über den Krach zu Heiligabend wunderten, riefen die Polizei. Die ermittelte: Die Bagger gehörten einer Bau- und Abrissfirma, die bis heute am Saatwinkler Damm ihren Firmensitz hat. Dort war ein paar Tage zuvor ein Herr aufgekreuzt, der den Abriss in Auftrag gab und sofort bar bezahlte. Er hatte sich als Vertreter der 3. Spree GmbH & Co. KG ausgegeben, eben dem Eigentümer des Grundstücks Schustehrusstraße 13. Eine Abrissgenehmigung legte er nicht vor - konnte er auch schlecht: Ein solches amtliches Dokument existierte gar nicht. Der Abriss war also illegal. Die Staatsanwaltschaft übernahm die Ermittlungen. Nach gut zwei Jahren endlich platzte im Januar 1986 eine Bauskandal-Bombe größeren Kalibers, deren Explosion zahlreiche Spekulanten und Politiker erwischte, unter anderen auch den Charlottenburger Baustadtrat Wolfgang Antes. Der CDU-Politiker hatte sich von mehreren Spekulanten bestechen lassen und kas- 98 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf sierte dafür fünf Jahre Knast, von denen er allerdings aus gesundheitlichen Gründen nur ein paar Monate absaß. Das Haus Schustehrusstraße 13 schien nach dem weihnachtlichen Abrissversuch endgültig auf der Strecke geblieben zu sein: Die Hälfte des Häuschens lag in Trümmern, die Fassade war fast vollständig zerstört. Wer sollte das wieder aufbauen? Und vor allem: Wer sollte das bezahlen? Kosten in Millionenhöhe kamen auf die Stadt zu, den neuen Eigentümer von Haus und Grundstück. Nennenswerte Entschädigungszahlungen waren von der Spekulanten-GmbH nicht zu erwarten. Die hatte längst Konkurs angemeldet. Andererseits hatte der Abrissversuch bei den Charlottenburgern, aber auch in der Fachwelt eine Welle der Sympathie für das kleine Bürgerhäuschen ausgelöst. Plötzlich floss Geld: Der Wiederaufbau konnte beginnen. Mit den Restaurierungsarbeiten beauftragte die Denkmalpflege den Architekten Ulrich Böhme. Der ließ sich jahrelang Zeit. Es war ja auch eine sehr schwierige Aufgabe, ein Gebäude nach den Methoden und mit den Materialien des 18. Jahrhunderts neu zu errichten. Wir wissen nicht, ob der Architekt den Mörtel tatsächlich aus Quark und die Farben aus Eigelb und Kräutern anrühren ließ – aber so baute man tatsächlich im 18. Jahrhundert. Allein das Besorgen der historisch korrekten Dachziegel nahm viel Zeit und Mühe in Anspruch. Aber schließlich war das Werk getan. Das Häuschen stand wieder an seinem Platz. Es kam nun darauf an, für das Gebäude eine die Bausubstanz möglichst schonende Nutzung zu finden. Seit 2004 ist das KeramikMuseum dort zu Hause. Jeder, der will, kann sich hier nun für zwei Euro Eintritt Keramik-Gefäße, Plastiken und Ofenkacheln angucken und sich dabei auch noch ein Bild davon machen, wie die Charlottenburger im 18. Jahrhundert wohnten. Zu empfehlen ist, einen Augenblick in dem kleinen Hinterhof zu verweilen. Der Besucher findet hier eine stille, weinumrankte Oase innerhalb der Großstadt. Geöffnet ist das Museum samstags, sonntags und montags jeweils von 13 bis 17 Uhr. Fotos und Text: Michael Jordan 99 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf 100 Zeichnung: Tatiana Demidova Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Gierkeplatz Die nächste Station unseres Spaziergangs ist der Gierkeplatz. Namensgeberin des ehemaligen Kirchplatzes ist die frühfeministische Sozialpädagogin Anna von Gierke, die sich in den zwanziger Jahren vor allem der Mädchenerziehung und -ausbildung widmete. Nachdem sie 1933 von den Nazis Berufsverbot erhalten hatte, kümmerte sie sich bis zu ihrem Tode 1943 im Rahmen kirchlicher Gemeindearbeit um verfolgte Juden. Nach Anna von Gierke ist auch die den Platz kreuzende Gierkezeile benannt. Der ehemalige Kirchplatz war der zentrale Platz der barocken Stadtanlage, kreisrund geformt, was damals eine Seltenheit war. Stadtbaumeister Eosander setzte diesen Platz in direkte Beziehung zum Schloss: An dem einen Ort residierte die weltliche Macht, der König, an dem anderen Ort die geistliche Macht, Gott. Schon 1716 stand hier eine Kirche aus Holz mit der Rathausuhr im Giebel, die allmählich im morastigen Untergrund versank. 1826 errichtete der preußische Baumeister Karl-Friedrich Schinkel ein vollkommen neues, steinernes Gotteshaus im klassizistischen Stil. Einen hellen, fast leuchtenden Bau von vollkommen schöner Einfachheit, dessen Kirchturm die ganze Stadt überragte und in absichtvoller Kommunikation mit der Schlosskuppel stand. Auch der Innenraum ist schnörkellos und bescheiden, aber lichtvoll gestaltet, wie es sich für eine protestantische Kirche gehört. Die Kirche wurde auf den Namen der verstorbenen Königin Luise getauft. Fotos und Text: Michael Jordan 101 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Schinkels Kirche behielt ihre Gestalt bis heute. Fast: Beim Wiederaufbau des kriegsbeschädigten Baus verzichtete man auf die Spitzkuppel des Turmes und entschied sich für eine abgeflachte Variante mit einem bescheidenen Kreuz darauf. Auch die Uhren an allen vier Seiten des Turms fehlen. Dies geschah wohl weniger aus ästhetischen Überlegungen, denn aus Kostengründen. Und das hatte eine ganz einfache Ursache: Der Magistrat, die Berliner Stadtregierung, wollte nach 1945 das kriegsbeschädigte Gotteshaus vollständig abreißen und war deshalb keineswegs bereit, auch nur eine Mark für den Wiederaufbau auszugeben. Doch die Charlottenburger wollten ihre Stadtkirche nicht aufgeben. Die Gemeinde sammelte Geld und viele Bürger waren bereit, durch ehrenamtliche Beteiligung die Restaurierungsarbeiten zu unterstützen. Darunter waren nicht nur Christen; vor allem die Charlottenburger Kommunisten beteiligten sich kräftig am Wiederaufbau der Luisenkirche. Wieso sollten Kommunisten eine christliche Kirche retten? Das kam so: Ein Mitglied des Gemeindekirchenrates war während der Nazizeit Polizeikommandant (so hieß das damals) im Revier am heutigen Klausenerplatz, ein prinzipienfester, erzkonservativer preußischer Beamter, der allerdings die Nazis und ihren Rassismus zutiefst verabscheute. Über seinen Schreibtisch gingen regelmäßig Amtshilfeersuchen der Gestapo, wenn die mal wieder Juden oder Nazigegner abholen wollte und dafür Polizeischutz benötigte. Der Polizeikommandant wusste also oft ein paar Tage vorher von den geplanten Aktionen der Gestapo. Diese Informationen gab der Beamte weiter an einen Kohlenhändler in der Seelingstraße, der damals der Chef des kommunistischen Widerstandes im Kiez war. Der sorgte dafür, dass die Betroffenen rechtzeitig gewarnt wurden, unter anderem angeblich mit der Hilfe eines katholischen Mönchs aus dem Kloster am Klausenerplatz. Der Kohlenhändler war nach dem Untergang der Hitler-Diktatur noch immer Kommunist und mit dem Polizeibeamten befreundet. Und so marschierten bald ein oder zwei Dutzend kommunistische Maurer und Zimmerleute auf und machten sich als erstes daran, den Turm der Luisenkirche wieder zu errichten, bei dem akute Einsturzgefahr bestand. Auch das Kirchenschiff musste fast von Grund auf rekonstruiert werden. Es dauerte etwa drei Jahre, bis die Glocken von Schinkels Kirche zum ersten Mal wieder läuteten. Zum Richtfest am 9. Januar 1953 kamen Hunderte von Charlottenburgern, die in den erst provisorisch wiederhergestellten Innenraum gar nicht hineinpassten – das waren bestimmt nicht alles Christen. 102 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf So ist es bis heute geblieben. Nicht nur Christen besuchen gerne „ihre“ Luisenkirche, auch Nichtgläubige erfreuen sich immer wieder gern an der schönen Schlichtheit von Schinkels Kirche. Die Gemeinde tut allerlei dafür, um Publikum anzulocken: Rock- und sogar Rocker-Konzerte hat die Stadtkirche schon erlebt. Regelmäßig finden Soul- und Gospelkonzerte, unter anderem mit den Sängerinnen Queen Yana oder Jocelyn B. Smith, statt. Ab und zu gibt es Trödelmärkte, vor allem für Kinderspielzeug und Klamotten, auf dem Kirchenvorplatz. Der absolute Renner aber ist die weihnachtliche Mitternachtsmesse – Heiligabend immer um 23 Uhr. Da ist die Kirche proppenvoll; wer nicht eine halbe Stunde früher da ist, kriegt garantiert keinen Sitzplatz mehr auf den Holzbänken. Aber Stehen ist nicht so sehr schlimm, der Pastor predigt kürzer als sonst. Denn auch er weiß wahrscheinlich, warum die meisten gekommen sind: Sie wollen Weihnachtslieder singen und zwar aus vollem Halse, egal ob jeder Ton richtig getroffen wird. Und so steht die ganze Gemeinde am Schluss des Gottesdienstes mit einer brennenden Kerze in der linken und einem Zettel mit den Liedertexten in der rechten Hand und schmettert begeistert: „O, Du fröhliche...“ Wir verlassen den Gierkeplatz, der außer Schinkels Kirche nicht viel zu bieten hat – ein bisschen sozialer Wohnungsbau, ein massiges Gemeindezentrum und eine in Beton gegossene Berufsschule für KfZ-Mechaniker. Wir könnten nun die Schustehrusstraße weiter Richtung Westen gehen, entscheiden uns aber für einen kleinen Schlenker: Wir spazieren das kurze Stückchen Gierkezeile in Richtung Norden, stoßen auf die Otto-Suhr-Allee, wenden uns nach Westen, immer die Schlosskuppel im Blick, und gelangen zum... Fotos und Text: Michael Jordan 103 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Luisenplatz ______________________________________________________ Der heutige Kreisverkehr hat nichts, was das Auge des Betrachters erfreuen könnte. Im 19. Jahrhundert sah das anders aus. 1806 ließ König Friedrich Wilhelm III. den sumpfigen Platz durch Hofgärtner Steiner gestalten: Der legte eine längliche Rasenfläche an, die von doppelten Baumreihen gesäumt und von Spazierwegen durchschnitten war. 1905 stand an der Nordseite des Platzes ein Denkmal für den früh verstorbenen Kaiser Friedrich III., der nur 99 Tage regierte: ein bronzenes Reiterstandbild, umrahmt von zwei Säulen. Der Kaiser samt Pferd wurde 1943 eingeschmolzen. Und so schmolz nach dem Zweiten Weltkrieg die Schönheit des ganzen Platzes dahin. An seiner Nordseite befinden sich Neubauten der achtziger Jahre. Der östliche von ihnen ist mit einem leicht gewölbten Flachdach versehen, das einem Hubschrauberlandeplatz ähnelt. Westlich davon steht ein schmuckloser zweistöckiger Zweckbau. Die beiden Neubauten klemmen eine kleine Stadtvilla zwischen ihren massiven Baukörpern ein, das letzte erhaltene historische Gebäude am Luisenplatz. Es beherbergt heute die Botschaft Kirgisiens. In dem flachen Zweckbau, der sich fast bis zum Charlottenburger Ufer erstreckt, ist jetzt unter anderem das „Brauhaus Lemke“ untergebracht. Dort kann man an Ort und Stelle selbstgebrautes Bier verkosten und Deftiges speisen, was hier vorwiegend Touristen tun. Bis in die fünfziger Jahre stand an dieser Stelle das „Schlosspark“Hotel und Restaurant, ein Gebäude mit Sommerterrasse und einem kleinen Türmchen. Man kann es am linken Rand unseres Photos 104 Fotos und Text: Michael Jordan Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf erkennen. Bis 1905 hatte sich ungefähr an diesem Ort die legendäre „Flora“ befunden, das größte und eleganteste Ausflugs-Lokal und Vergnügungs-Etablissement, das Charlottenburg um die Jahrhundertwende zu bieten hatte. Dazu gehörten ein reich mit Jugendstil-Ornamenten verzierter Speisesaal, so groß wie die Kuppel eines Domes, und ein Palmengarten, der sich bis ans Spreeufer erstreckte. In der „Flora“ soll sogar einmal Buffalo Bill mit seiner Rodeo-Show aufgetreten sein. Historisch am Luisenplatz ist allenfalls noch das „Café Möhring“ an der Südseite, das letzte seiner Art, alle anderen Möhrings in Berlin sind längst von der Bildfläche verschwunden. Das Café verbreitet heute den verblichenen Schick der fünfziger Jahre. Der prominenteste Gast dieses Etablissements war wohl Wolfgang Neuss, der bis zu seinem Tod 1989 um die Ecke in der Lohmeyerstraße wohnte und regelmäßig im „Möhring“ frühstückte, umhegt und umsorgt von den mütterlichen Bedienungen, die dem am Ende seines Lebens furchtbar abgemagerten Künstler stets ein opulentes Mahl vorsetzten. Sie freuten sich, wenn ihr „Wölfchen“ mit gutem Appetit reinhaute – da machte es gar nichts, wenn er oft nicht zahlen konnte. In Gedanken an Wolfgang Neuss spazieren wir weiter in Richtung Schlosskuppel, dem wahren Wahrzeichen Charlottenburgs, werfen noch einen kurzen Blick gen Norden zur Schloßbrücke mit ihren eindrucksvollen metallenen Rundbögen, über die im Sommer manchmal Betrunkene kraxeln. Und schon sehen wir die Kuppeln der Stüler-Türme vor uns, die uns zur nächsten Station unseres Spaziergangs führen: zur Schloßstraße. Aber vorher schauen wir uns noch einmal das Schloss mit seiner prächtigen Kuppel an. Fotos und Text: Michael Jordan 105 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf – und hier noch ein „malerischer“ Blick aus der Sichtachse Schloßstraße auf das Schloss Charlottenburg, oder Schloss Lietzenburg, wie es früher einmal hieß: - wie könnte es schöner wirken, als in dieser barocken Aufmachung! 106 Zeichnung: Tatiana Demidova Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf Die Bauten der Schloßstraße Impressionen Text: Simone Brosch 107 Die Sichtachse zum Schloss. Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf Die Schloßstraße, eine der ältesten Straßen des Bezirkes Charlottenburg, wurde im Jahr 1698 vom Schloss Charlottenburg aus als senkrechte, barocke Sichtachse angelegt. Später im Jahre 1840 entstand der Mittelstreifen. Sie erstreckt sich vom Spandauer Damm bis zum Sophie-Charlotte-Platz (Bismarckstraße/Kaiserdamm). Aufgrund ihrer weitläufigen Ausmaße und wegen ihrer Bepflanzung wurde sie früher auch Breite Straße bzw. Große Allee genannt. In einem gemütlichen Spaziergang entlang der Schloßstraße kann man ihre Anmut und Vielseitigkeit erfahren. So bietet sie eine Architekturlandschaft von Villen im spätklassizistischen Stil der Gründerzeit über ganz normale Bauten und Neubauten bis hin zu auffälligen Gebäuden der Postmoderne. Östlicher und westlicher Stülerbau. Kasernen der Gardes du Corps (ehemals) Ganz am Anfang der Schloßstraße, vom Spandauer Damm aus betrachtet, befinden sich die heute als Baudenkmal geschützten ehemaligen Gebäude der Kasernen der Gardes du Corps. Sie wurden von 1851 bis 1859 nach Entwürfen des Architekten August Stüler im spätklassizistischen Stil als Gegenüber des Schlosses Charlottenburg erbaut. Als Eingangsboten der Schloßstraße vermitteln sie einerseits einen harmonischen Übergang zum Schloss und tragen andererseits zur Akzentuierung der Straße selbst bei. Die beiden dreigeschossigen Gebäude mit quadratischem Grundriss werden von kleinen Rundtempeln gekrönt, die Licht in die Innenräume fallen lassen. Die Fassade ist reichhaltig gegliedert. Die Ebene zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss verziert als horizontal verlaufendes Gestaltungselement ein Gesims. An den vier Schauseiten der Gebäude treten Mittelrisalite mit nach oben hin abschließenden Dreiecksgiebeln hervor. Deren korinthische Pilaster gliedern die Fassade als vertikal verlaufendes Gestaltungselement. Der Übergang zum Dach wird von einer breiten Attika gebildet. Auffällig sind die von hohen Säulen getragenen runden 108 Text: Simone Brosch Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf Dachaufsätze mit Kuppeldach, welche die Gebäude nach oben hin abschließen. In dem östlichen Gebäude (Schloßstraße 70), in dem ursprünglich das Ägyptische Museum residierte, ist heute das Museum Scharf-Gerstenberg untergebracht. Die ehemalige westliche Kaserne (Schloßstraße 1) beherbergte anfänglich das Antikenmuseum. Seit 1996 ist sie das Domizil der Sammlung Berggruen. Auf die Museen wird im Folgenden näher eingegangen. Der östliche Stülerbau. Östlicher Stülerbau In der ehemaligen Kaserne in der Schloßstraße 70 war bis zum Jahr 2005 das Ägyptische Museum untergebracht. Der Umbau dazu fand 1966/67 durch den Architekten Wils Ebert statt. 1976 kam der angrenzende Marstall, der von Wilhelm Drewitz 1855 bis 1858 erbaut wurde, als Ausstellungsraum hinzu. Im Jahr 1987 erweiterten die Architekten Helge Sypereck, Ursulina Schüler-Witte und Ralph Schüler das Gebäude mit einem Anbau. Derzeit beherbergt der östliche Stülerbau das Museum Scharf-Gerstenberg. Eigens dafür fügte das Architekturbüro Sunder-Plassmann einen großzügig verglasten Eingangsbereich mit Café hinzu. Der Besucher des Museums kann sich hier an den Beständen der „Stiftung Sammlung Dieter Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg“ erfreuen. Ab Frühjahr 2008 zeigt das Museum die Werke der Surrealisten und ihrer Vorläufer. Zu verdanken ist dies der Sammelleidenschaft Otto Gerstenbergs und dessen Enkel Walther, sowie Dieter Scharf. Das Spektrum der Exponate erstreckt sich über Künstler wie Piranesi, Goya, Redon, Dalí, Magritte bis hin zu Max Ernst und Dubuffet. Text: Simone Brosch 109 Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf Der westliche Stülerbau. Westlicher Stülerbau Die ehemalige westliche Kaserne in der Schloßstraße 1 beherbergte ursprünglich das Antikenmuseum. Seit 1996 findet man darin die Sammlung Berggruen mit herausragenden Werken der Klassischen Moderne. Ursprünglich stellte Berggruen die Sammlung als zehnjährige Leihgabe zur Verfügung – im Jahr 2000 wurde sie der Stadt Berlin vollständig übereignet. In dem als Kleinod geltenden Museum finden sich auf drei Etagen in 18 Räumen verteilt insgesamt etwa 175 Kunstwerke von Künstlern wie Pablo Picasso, Paul Klee, Georges Braque, Alberto Giacometti und Henri Matisse. Kernstück des Museums bildet mit über 100 Exponaten das Werk Picassos. Dieses ist in allen Facetten seines Schaffens zu sehen. Angefangen mit einem Blatt aus seiner Studienzeit von 1887 bis hin zu Exponaten, die 1972, ein Jahr vor seinem Tod, entstanden sind. Der zweite zentrale Schwerpunkt der Sammlung liegt, mit über 60 Bildern aus den Jahren 1917 bis 1940, auf Paul Klee. Das nachfolgend größte Spektrum ist mit über 20 Werken von Henri Matisse vertreten. Abgerundet wird die Sammlung mit plastischen Ensembles von Alberto Giacometti und mit Beispielen afrikanischer Skulpturen. Das markante Eckhaus der Wohnanlage. Baller-Wohnanlage Der zeitgenössische Architekt Hinrich Baller hinterließ gleich bei mehreren Gebäuden in der Schloßstraße seine unverkennbare, phantasievolle Handschrift. Nicht nur bei der hier betrachteten Wohnanlage in der Schloßstraße 45 bis 47, sondern darüber hinaus auch noch bei der CarlSchuhmann-Sporthalle, auf die an anderer Stelle eingegangen wird. Einordnen lässt sich sein in der Fachwelt teils umstrittener Stil am ehesten zwischen Hundertwasser und Gaudí. An Letzteren fühlen sich sicherlich diejenigen, die schon einmal durch Barcelona flanierten, beim Betrachten seiner Gebäude erinnert. Die Wohnhäu- 110 Text: Simone Brosch Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf ser sind ungewöhnlich gestaltet: teils schief gebaute Wände, viele Baller-typische filigrane Verzierungen und Verwendung von in der Architektur eher atypischen Formen, wie beispielsweise das dreieckig geformte Wohnhaus im Bild zeigt. Sie wirken verspielt, freundlich und heben sich durch den auffälligen, ungewöhnlichen Stil von den Nachbargebäuden ab. Die Oppenheim-Oberschule. Oppenheim-Oberschule Die Oppenheim-Oberschule in der Schloßstraße 55 a mit Hauptseite zum Schustehruspark besteht aus einer von 1919 bis 1922 durch den Architekten Hans Winterstein erbauten zweiflügeligen Anlage, an die sich südlich die Villa Oppenheim angliedert. Der untere Teil des fünfgeschossigen Mauerwerkbaus ist mit roten Ziegeln gearbeitet, während der obere Teil verputzt ist und teils mit dunklem Holz verkleidet wurde. Auffällig sind die schön gearbeiteten Fenster der Aula mit Kielbögen mit Blick zum Park. Von 1922 bis 1942 beherbergte der Neubau die Sophie-Charlotte-Oberschule und Teile der Elisabeth-Schule. Während das Gebäude im Zeitraum von 1943 bis 1945 als Seuchenlazarett genutzt wurde, zogen nach 1945 wieder beide Schulen dort ein, bis dann die Sophie-CharlotteOberschule im Jahr 1949 ausgelagert und auf dem Grundstück die 15. Volksschule eröffnet wurde. Die heutige Schule, die 1953 den Namen Schlesien-Oberschule erhielt, ging aus der Anfang der 1950er Jahre gegründeten Oberschule „Praktischer Zweig“ hervor. Im Zusammenhang mit der Restaurierung der Villa Oppenheim wurde die Elisabeth-Oberschule im Zeitraum 1985 bis 1987 ausgelagert. In Gedenken an die Oppenheims, die ursprüngliche Besitzer des Grundstücks, trägt die Schule seit 2003 den Namen Oppenheim-Oberschule. Carl-Schuhmann-Halle Parallel zur Restaurierung der Villa Oppenheim wurde im Zeitraum 1987/88 nach Entwürfen der Architekten Inken und Hinrich Baller die Carl-Schuhmann-Halle, eine Großturnhalle in der Schloßstraße 56, erbaut. Diese wurde nach dem ersten deutschen Olympiasieger, dem Turner Carl Schuhmann, benannt. Inmitten der Baufluchtlinie Text: Simone Brosch 111 Die Carl-Schuhmann-Halle. Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf der benachbarten Wohnhäuser erhält die mehrgeschossige Sporthalle ein besonderes, auffälliges Gepräge. Um Freiräume für Parkplätze zu schaffen, wurde sie um ein zusätzliches Geschoss aufgestockt, welches alternativ auch für Schulfeiern genutzt werden kann. Die Doppelsporthalle beherbergt eine Großturnhalle von 44 m Länge und 22 m Breite im ersten Obergeschoss und eine dreiteilig nutzbare Halle mit olympischen Normmaßen von 45 m Länge und 27 m Breite im zweiten Obergeschoss. Die Umkleideräume, welche über zwei Treppenhäuser erschlossen sind, befinden sich auf drei Etagen jeweils an den Seiten des Gebäudes. Die straßenseitig als Erker der Fassade vorgelagerte weitere Treppe dient als unabhängige Fluchttreppe. Abgeschlossen wird das Gebäude durch ein Tonnendach mit Kupferabdeckung. Villa Oppenheim und Schustehruspark Die Rückseite der Villa. Die Villa Oppenheim. Die Villa Oppenheim mit ihren Remisengebäuden und der großzügigen Gartenanlage wurde 1881/82 von Christian Heidecke für Margarethe Oppenheim, zweitälteste Tochter des Obertribunalrates Otto Georg Oppenheim, erbaut. Sie wurde in Anlehnung an den Stil venezianischer Renaissancevillen als eine dreiflügelige Anlage aus Backstein mit langem Mittelflügel errichtet. Die Geschosse sind durch durchgehende Gesimse untergliedert. Parkseitig führen Treppen von den Eckrisaliten ins Freie. Das erste Obergeschoss wurde mit Loggien mit eingestellten Säulen erbaut, von denen heute nur noch der Südflügel erhalten ist. Auch die Südseite ist durch einen Risalit akzentuiert, der vier Fensterachsen umfasst. Bei dem Dach der Villa handelt es sich um ein Mansardschwalmdach. 112 Text: Simone Brosch Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf Im Jahr 1910 verkaufte der älteste Sohn der Oppenheims, der Bankier Hugo Otto Oppenheim, das Grundstück an die Stadt Charlottenburg. In dem seinerzeit schon dicht besiedelten Gebiet sollte ein öffentlich zugänglicher Park entstehen. Beauftragt damit wurde der Architekt Erwin Barth, es entstand der heute bekannte Schustehruspark mit Zugang zur Schloßstraße. Außerdem sollte der Kauf des Grundstücks noch eine andere Funktion erfüllen: Die Stadt benötigte ein weiteres Schulgebäude. Nach Entwürfen von Hans Winterstein wurde das heutige Schulgebäude (siehe „Oppenheim-Oberschule“) geschaffen. Aufgrund der guten Bausubstanz der Villa wurde diese erhalten und mit dem Komplex der Schule verbunden, während der Nordflügel sowie die Nebengebäude abgerissen wurden. Der weitere geschichtliche Abriss in Kurzform: 1945 schwere Kriegsschäden; 1985 bis 1986 Restaurierung. Seitdem wurde die Villa teilweise für Ausstellungen genutzt. Im Jahr 2005 zog das Kulturbüro City West dort ein und machte sie zum Ausstellungshaus für Gegenwartskunst mit Schwerpunkt zeitgenössische Malerei und Fotografie, Objektkunst und Rauminstallationen. Darüber hinaus wird derzeit ein museumspädagogisches Angebot für Kinder und Jugendliche aufgebaut. So kommen wir schließlich zu unserer letzten Station, der Witzlebenstraße, in der sich noch eine interessante Schule befindet. Text: Simone Brosch 113 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Die Lietzensee-Grundschule ___________________________________________________ befindet sich in der Witzlebenstraße 34-35, welche mit der Steifensandstraße (Süden), der Suarezstraße (Osten) und dem Kaiserdamm und in dessen östlicher Verlängerung dem SophieCharlotte-Platz (Norden) ein längliches Viereck bildet. Der namengebende Lietzensee liegt südöstlich des Witzlebenplatzes, der die Verlängerung der Steifensandstraße bildet. Das Gebäude wurde 1903-1904 nach Plänen von Paul Bratring und Rudolf Walter (1888-1971) errichtet. Bei seiner Eröffnung waren im Schulhaus die 21. und 22. Grundschule untergebracht. Das im Zweiten Weltkrieg ausgebrannte Dachgeschoss wurde nach 1945 vereinfacht wiederhergestellt. Bei dem Gebäude handelt es sich um einen Mauerwerkbau, der mit orangeroten Ziegeln verblendet ist. Die schmückenden und gliedernden Teile sind aus Muschelkalk und Sandstein. Die Fassade ist teilweise mit bildhauerischem Schmuck versehen. 114 Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Hier noch zwei Ansichten bei Sonnenschein: Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz 115 Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf Hier endet unsere Tour durch Charlottenburg-Wilmersdorf, die wir nicht mit der Pferdekutsche zurückgelegt haben, sondern per Pedes. Hoffentlich hat’s allen Spaß gemacht. 116 Zeichnung: Tatiana Demidova