Handreichung für Kosmologie für Nichtphysiker“ (WS 2014/2015): ” Herleitung der Dynamik des kosmischen Skalenfaktors aus der klassischen Physik Markus Pössel, 14.11.2014 1 Homogene Universumsmodelle Ausgangspunkt der hier vorgestellten homogenen Modelle des Kosmos möge ein gedanklicher instantaner Schnappschuss des Universums sein, welcher das Universum so dokumentiert, wie es jetzt, in diesem Moment, ist. Der Schnappschuss zeige die räumliche Verteilung von Abermilliarden von Galaxien. Deren innere Struktur interessiert uns in diesem Modell nicht, und wir stellen uns die Galaxien als Punktteilchen vor ( Galaxienstaub“). ” Das unser Universum auf großen Skalen homogen ist, bedeutet: Messen wir an verschiedenen Stellen im Raum für ein hinreichend großes Volumen (z.B. Würfel der Kantenlänge einige hundert Millionen Lichtjahre) die mittlere Dichte, dann erhalten wir immer in etwa den gleichen Dichtewert - unabhängig davon, wo im All wir unser Volumen positionieren. Wir werden die Homogenität ausnutzen und den Materieinhalt unseres Universum in unseren Rechnungen oft idealisiert als homogenes Medium betrachten. (In einem komplett homogenen Medium ist die Dichte überall, auch auf kleinsten Größenskalen, konstant.) In solch einem Medium gilt: Die Masse M in einer gegebenen Raumregion ist gleich dem Produkt der (überall konstanten) Dichte ρ und dem Volumen V der betreffenden Region, M = ρV. Gedanklich verwenden wir also zwei Bilder parallel zueinander: Das Bild von frei im Raume schwebenden Galaxien und das eines perfekt homogen erfüllten Raums. Auf einige Grenzen dieser Modellvorstellung werde ich unten noch eingehen. 2 Skalenfaktor-Expansion Die Anordnung von Galaxien in unserem gedanklichen instantanen Schnappschuss lässt sich vollständig beschreiben, wenn man alle paarweisen Abstände der Galaxien zueinander angibt. (Tatsächlich benötigt man sogar nur eine Untermenge all der vielen paarweisen Abstände.) Das gängige Modell für kosmischenExpansion ist die Situation, dass sich all jene wechselseitigen Abstände proportional zu demselben globalen zeitabhängigen Skalenfaktor a(t) ändern. In anderen Worten: Betrachte ich zwei beliebige Galaxien A und B, die auf einem zur Zeit t1 angefertigten instantanen Schnappschuss den Abstand dAB (t1 ) und zu einer anderen Zeit t2 den Abstand dAB (t2 ) haben, dann hängen diese beiden Abstände über a(t2 ) dAB (t2 ) = · dAB (t2 ), (1) a(t1 ) wobei die Funktion a(t) unabhängig davon ist, welche beiden Galaxien wir betrachten. Solche Abstandsänderungen proportional zum Skalenfaktor werden auch als HubbleFluss oder Hubble-Flow bezeichnet ( die Galaxien folgen dem Hubble-Flow“). ” 1 Kosmische Expansion liegt vor, wenn a(t) mit fortschreitender Zeit t wächst. Der umgekehrte Fall, kosmischer Kollaps, lässt sich mit solchen Modellen ebenfalls beschreiben, trifft aber heutigem Wissen nach weder auf die Vergangenheit unseres Weltalls zu noch auf seinen gegenwärtigen Zustand oder seine Zukunft. 3 Caveats: Eigenbewegung und wo wir es uns zu einfach gemacht haben Einige Caveats zu unserem Modell sind angebracht. Das erste betrifft eine Grenze unseres Modells. Wirkliche Galaxien weichen in ihren Bewegungen üblicherweise etwas vom Hubble-Flow ab - mit sogenannten Eigenbewegungen von bis zu rund 1000 Kilometer pro Sekunde. Wie sehr die Eigenbewegungen relativ zum Hubble-Flow ins Gewicht fallen, hängt von den Abständen ab, die man betrachtet. Beobachten wir Galaxien, die uns vergleichsweise nahe sind, wird die Eigenbewegung dominieren. Ab Abständen von 50 Millionen Lichtjahren und mehr beginnt der Hubble-Flow wichtiger zu werden als die Eigenbewegung; bei noch größeren Abständen beginnt er die Abstandsänderung ferner Galaxien relativ zu uns komplett zu dominieren. Das zweite Caveat betrifft unseren Umgang mit der Zeitkoordinate. Die oben eingeführte Vorstellung gedanklicher Schnappschüsse des Galaxienstaubs, auf denen das Universum jeweils auf großen Skalen homogen erscheint, setzt implizit bereits eine ganz bestimmte Zeitkoordinate voraus – der Schnappschuss soll die Eigenschaften des Universums jetzt, in diesem Moment, festhalten; das setzt voraus, dass wir bereits einen bestimmten Gleichzeitigkeitsbegriff definiert haben, anhand dessen wir bestimmen können, was jetzt“ im Zusammenhang mit dem betrachteten Modell überhaupt ” bedeuten soll. Dass sich ein solcher Gleichzeitigkeitsbegriff einfach definieren lässt, hängt direkt mit der Homogenitätseigenschaft zusammen; verkürzt gesagt: Nur mit dieser Wahl des Gleichzeitigkeitsbegriffs hat das Universum auf instantanen gedanklichen Schnappschüssen tatsächlich überall die gleiche Dichte. Zuletzt sei noch angemerkt, dass unsere gedanklichen Schnappschüsse wirklich instantan sind. Ein wirklicher Schnappschuss dokumentiert, welches Licht zum Aufnahmezeitpunkt bei der Kamera ankommt und zeigt entfernte Regionen des Universums dementsprechend so, wie sie in der Vergangenheit (nämlich zur Zeit der Lichtaussendung) waren. Unsere gedanklichen Schnappschüsse sollen dagegen tatsächlich den Zustand des Universums in dem gewählten Augenblick festhalten. 4 Entwicklung des Skalenfaktors mit der Zeit Ein zentraler Teil der modernen kosmologischen Modelle ist die Beschreibung dafür, wie sich der kosmische Skalenfaktor a(t) mit der Zeit ändert, und wie seine Zeitabhängigkeit durch den Materieinhalt des Universums bestimmt wird. Würden wir im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie agieren – was weit jenseits des hier gewählten Niveaus liegt! – dann würden wir die Raumzeiteigenschaften eines homogenen und isotropen Universums in geeigneten Koordinaten hinschreiben (Robertson-Walker-Metrik), ebenso einen sinnvollen Ansatz für Energie und Impuls einfacher Materie in solch einem Universum (Energie-Impuls-Tensor eines idea- 2 len Fluids), und dann würden wir die beiden Objekte über die Einstein-Gleichungen zueinander in Beziehung setzen. Das Ergebnis solchen Vorgehens sind die FriedmannGleichungen, welche die zeitliche Änderungsraten des kosmischen Skalenfaktors mit Dichte und Druck der Materie verknüpfen. Tatsächlich lassen sich wesentlichen Eigenschaften der Friedmann-Gleichungen auch mithilfe der Newton’schen Beschreibung der Gravitation herleiten - mit einer Zusatzannahme, die wir unten noch treffen werden. Dazu betrachten wir zwei Galaxien im Hubble-Flow; eine davon setzen wir der Bequemlichkeit halber in den Nullpunkt des Raumkoordinatensystems, in dem wir die Geschehnisse beschreiben. Der (zeitabhängige) Abstand der zweiten Galaxie von der ersten sei r(t). Wir teilen das Weltall jetzt in zwei komplementäre Regionen: Die Vollkugel mit Radius r(t) um den Nullpunkt herum und den ganzen Rest. Auf ein Objekt in (oder gerade auf der Grenze) der Vollkugel wird die Masse der außenliegenden Region insgesamt keine Anziehung ausüben. Das kann man direkt aus dem Newton’schen Resultat für die Anziehungskraft von Massen-Kugelschalen ableiten: Auf Testteilchen innerhalb der Kugelschale übt eine kugelschalenförmige Massenanordnung keinerlei Anziehungskraft aus; auf Testteilchen außerhalb wirkt eine Kugelschale so, als sei ihre gesamte Masse als Punktmasse im Mittelpunkt der Kugel konzentriert. Letzere Aussage sagt uns auch, wie die Masse der Vollkugel auf die am Rande befindliche Galaxie 2 wirkt, nämlich so, als sei ihre gesamte Masse eine Punktmasse im Raumnullpunkt. Die Newton’sche Gravitationsbeschleunigung sagt uns, dass die Galaxie 2 in dieser Situation entsprechend r̈(t) = − GM r(t)2 (2) auf den Raumnullpunkt zu beschleunigt wird. Wir haben dabei die Konvention benutzt, dass ein Punkt über einer Größe deren erste Ableitung nach der Zeit anheigt, zwei Punkte bedeuten die zweite Ableitung nach der Zeit, und so weiter. Die Masse M der Vollkugel lässt sich dabei durch die (zeitabhängige) Dichte ρ(t) unseres Kosmos ausdrücken, und zwar ergibt sich aus der üblichen Formel für das Kugelvolumen 4 M = πr(t)3 . (3) 3 Eingesetzt ergibt das für die Beschleunigung 4Gπ r(t) ρ(t). (4) 3 An dieser Stelle folgt die schon angekündigte Zusatzannahme. Sie betrifft Materie, die einen inneren Druck p(t) besitzt; für unseren Staub“ nebeneinander herschwebender ” Galaxien, mit p = 0, bringt sie keine neuen Erkenntnisse, aber für die Behandlung des frühen Universums, in dem Plasma, Gas und Strahlung dominieren, erweist sie sich als essentiell. Die Zusatzannahme, direkt übernommen aus der Allgemeinen Relativitätstheorie, besagt, dass nicht nur Masse und Energie, sondern auch Druck eine Quelle von Gravitation ist. In der hier geschilderten Situation ist dieser Umstand korrekt berücksichtigt, wenn man die Ersetzung r̈(t) = − ρ→ρ+ 3 3p c2 vornimmt. Ausserdem bekommt ρ eine etwas andere Bedeutung: Der Masse-EnergieÄquivalenz nach (E = mc2 !) trägt der gesamte Energieinhalt der Materie zur Dichte bei (kinetische Energie, thermische Energie etc.); im herkömmlich Newton’schen Falle dagegen wäre ρ lediglich die Dichte derjenigen Größe gewesen, die in Einsteins spezieller Relativitätstheorie der Ruhemasse entspricht. Die Beschleunigungsgleichung wird dann " # 4Gπ 3p r̈(t) = − r(t) ρ + 2 . (5) 3 c Jetzt müssen wir noch berücksichtigen, dass die zeitliche Entwicklung von r(t) komplett durch den kosmischen Skalenfaktor bestimmt wird, und zwar ist r(t) = r(t0 ) · a(t) a(t0 ) für eine beliebig gewählte Bezugszeit t0 . Eingesetzt in Gleichung (5) kann man die nicht zeitabhängigen Faktoren r(t0 ) und 1/a(t0 ) auf beiden Seiten herauskürzen. Übrig bleibt eine Gleichung, die nicht mehr von den spezifischen Eigenschaften der Galaxie 2 abhängt, sondern nur noch Skalenfaktor, Dichte und Druck in Beziehung setzt; hätten wir für unsere Betrachtungen ein anderes Galaxienpaar gewählt, wären wir am Ende auf genau diese selbe Gleichung gestoßen. Die Gleichung lautet jetzt # " ä(t) 4Gπ 3p (6) =− ρ+ 2 . a(t) 3 c Sie wird Friedmann-Gleichung zweiter Ordnung (letzteres wegen der zweiten Ableitung auf der linken Seite) oder kurz zweite Friedmann-Gleichung genannt. 5 Materieeigenschaften und Expansion Die oben abgeleitete Friedmann-Gleichung verknüpft drei zeitabhängige Funktionen: Skalenfaktor, Dichte und Druck. Um sie zu lösen, benötigen wir noch zwei weitere Gleichungen. Die eine ist materiespezifisch und besagt, wie Druck und Dichte zusammenhängen, p = p(ρ). Sie wird Zustandsgleichung genannt; einige einfache Beispiele werden wir unten einführen. Die zweite noch fehlende Gleichung beschreibt, wie sich die Dichte der Materie im Verlauf der Expansion verändert. Sie drückt aus, dass so etwas wie Energieerhaltung gilt: Die mit der Materie assoziierte Energie kann sich zwar verdünnen, aber z.B. nicht ins Nichts verschwinden. Beginnen wir mit der Energieerhaltung. Wir wählen als Ausgangspunkt eine übliche Form der Energieerhaltung in der Thermodynamik: den ersten Hauptsatz. Dieser besagt, dass sich die innere Energie U eines Systems wie folgt ändert, wenn man das Volumen des Systems um dV ändert (und das bei Verkleinerungen gegen, bei Vergrößerungen unterstützt durch den Druck p des Systems), und dem System dabei die Wärmeenergiemenge δQ zuführt: dU = −p dV + δQ. (7) In unserem Falle gibt es keine Wärme, die dem Universum von außerhalb zuflösse (denn es gibt per Definition kein außerhalb), und es fließt auch keine Wärme von einer 4 Region des Universums in eine andere (ein Netto-Wärmefluss würde der Homogenität widersprechen, ein großräumiger Durchfluss der Isotropie), so dass δQ = 0. Die innere Energie setzen wir in Beziehung zur Dichte die, wie bereits erwähnt, sämtliche mit der Materie assoziierten Energieformen (thermische Energie, kinetische Energie. . . ) einschließt. Die gesamte Energie unserer im Volumen V befindlichen Materie ist damit U = ρc2 · V (8) und die Änderung dieser Größe, dU, lässt sich mittels der Leibniz’schen Regel auf die Änderungen der Faktoren zurückführen, dU = V · dρ + ρ · dV. (9) Damit wird der erste Hauptsatz (7) in diesem Spezialfall zu dρ + (ρ + p/c2 ) dV = 0. V (10) Jetzt betrachten wir einen Ausschnitt aus dem Hubble-Flow – eine Region, deren Materie sich allein aufgrund der kosmischen Expansion mit der Zeit gleichmäßig auf ein immer größeres Volumen verteilt. Wir sind an der Änderungsrate von ρ mit der Zeit interessiert und schreiben die Gleichung daher um als ρ̇ + (ρ + p/c2 ) V̇ = 0, V (11) wobei ein Punkt wiederum für die erste Ableitung nach der Zeit steht. Der einfachste Fall für die betrachtete Region ist ein würfelförmiges Volumen mit Kantenlänge l(t) = a(t) l(t0 ), a(t0 ) (12) wiederum mit einer willkürlichen, aber fest gewählten Referenzzeit t0 . Das Volumen des Würfels ist V = l(t)3 . Setzen wir den Ausdruck (12) für l(t) ein, dann ist V̇ ȧ(t) =3 , V a(t) und die Gleichung für ρ̇ wird zu ρ̇ = −3 ȧ(t) (ρ + p/c2 ). a(t) (13) An dieser Stelle kommen die unterschiedlichen Zustandsgleichungen ins Spiel. Die Zustandsgleichung für Staub (etwa unseren Galaxienstaub) lautet p = 0. Aus der obigen Gleichung folgt daraus ρ̇ ȧ(t) = −3 . ρ a(t) 5 Das lässt sich direkt integrieren zu ρ(t) ∼ 1 . a(t)3 Das Ergebnis ist einfach zu verstehen: Unsere Galaxien im Hubble-Flow beispielsweise gehen schließlich nicht verloren, sondern verteilen sich im Laufe der kosmischen Expansion lediglich auf ein immer größeres Volumen, und dieses Volumen wächst eben mit a(t)3 . Für Strahlung ergibt sich aus der Elektrodynamik p = 13 ρc2 , also ρ̇ ȧ(t) = −4 ρ a(t) bzw. ρ(t) ∼ 1 . a(t)4 Auch das lässt sich direkt erklären, wenn wir uns die Strahlung zusammengesetzt denken aus Photonen: Im Laufe der Expansion verteilen sich diese Photonen auf ein immer größeres Volumen (das erklärt 1/a(t)3 ); zusätzlich wird jedes einzelne davon durch die Expansion rotverschoben; der Energieverlust (E = hν) ergibt einen weiteren Faktor 1/a(t). Besonders interessant ist eine Zustandsgleichung p = −/rhoc2 . Eingesetzt in die Gleichung (13) ergibt sich für solch eine Art von Materie ρ̇ = 0. Mit anderen Worten: Materie mit solcher Zustandsgleichung verändert ihre Dichte im Laufe der kosmischen Expansion überhaupt nicht! Materie mit dieser Zustandsgleichung wird als Dunkle Energie bezeichnet. Messungen zeigen, dass Dunkle Energie in unserem heutigen Universum die dominante Rolle spielt. 6 Friedmann-Gleichung erster Ordnung Wir können die Gleichung (13) verwenden, um die Friedmann-Gleichung zweiter Ordnung (6) zu integrieren. Dazu eliminieren wir den Druck p aus der FriedmannGleichung und erhalten i 4πG h ȧ ä = 2aȧρ + a2 ρ̇ . (14) 3 Beide Seiten lassen sich integrieren, und wir erhalten 1 2 4πG 2 (ȧ) = ρ a + const. 2 3 (15) Die bisher abgeleiteten Gleichungen, die den Skalenfaktor enthalten, verändern sich nicht, wenn wir den Skalenfaktor a(t) mit irgendeinem konstanten Faktor κ malnehmen, der aufgrund unserer Interpretation des Skalenfaktors freilich größer als Null sein muss, a(t) → κ · a(t). 6 Wir nutzen diesen Umstand aus, um die Integrationskonstante auf eine besonders einfache Form zu bringen; die Gleichung für ȧ wird mit einer solchen Redefinition üblicherweise geschrieben als ȧ2 + Kc2 8πG = ρ, (16) 3 a2 wobei K jetzt nur noch drei mögliche Werte hat: K = −1, 0, +1. Aus der Allgemeinen Relativitätstheorie lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Wert von K und der (lokalen) Raumgeometrie des Universums herleiten. Gleichung (16) ist die Friedmann-Gleichung erster Ordnung. Zusammen mit Ansätzen dazu, welchen Anteil der Gesamtdichte die drei vorgestellten Materiesorten – Staub, Strahlung, Dunkle Energie – ausmachen, sind die beiden Friedmann-Gleichungen die Grundlage zur Berechnung der Veränderung des kosmischen Skalenfaktors mit der Zeit. Folien zur Vorlesung http://www.haus-der-astronomie.de/kosmo-nichtphysiker 7