Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frauen Dr. Isabel Schäfer, Berlin Im „arabischen Frühling“ haben Frauen als politische Aktivistinnen und selbstbewusste Bürgerinnen eine zentrale Rolle gespielt. Sie habe sich nicht nur für die Überwindung alter verkrusteter Strukturen engagiert und neue öffentliche Räume erkämpft ‐ zumindest in einer ersten Phase der Umbrüche ‐ sondern auch aktiv in den neu gewählten Parlamenten (z.B. in Tunesien), neu gegründeten zivilgesellschaftlichen Vereinen und politischen Parteien mitgewirkt und tun dies auch weiterhin. Durch die Umbrüche in der arabischen Welt, ausgelöst durch die tunesische Revolution, sind neue Dialogmöglichkeiten entstanden, und über alte und neue Protestformen (Demonstrationen, Sit‐ins, Flashmobs, Harlem Shakes, Besetzung öffentlicher Räume, Internet‐Aktivismus, Street Art, politische Karikaturen etc.) wurden zeitweise neue öffentliche Räume „erobert“. Weltweit bekannte Symbole hierfür sind die Avenue Bourguiba in Tunis und der Tahrir‐Platz in Kairo geworden. Frauen zählten und zählen hier ebenso zu den Akteuren bei den entscheidenden Demonstrationen und Protesten, welche die autoritären Herrscher in Tunesien, Ägypten, Libyen 2011 zu Fall brachten. Doch abgesehen von der Rolle als Aktivistinnen werden Frauen auch zunehmend Opfer von der Gewalt, welche die Umbrüche in der arabischen Welt teilweise begleitet: sei es als zivile Opfer im syrischen Bürgerkrieg, sei es als Opfer von Flucht und Vertreibung oder als Opfer sexueller Übergriffe während der Proteste in Ägypten, und nicht zuletzt bedingt durch die Verschlechterung der sozio‐ökonomischen Lage in den post‐revolutionären Phasen in Ägypten, Libyen oder Tunesien. Tunesien hat sicherlich eine Art Vorreiterrolle gespielt, aber die Ausgangsbedingungen und Entwicklungen der Transformationsprozesse in den einzelnen arabischen Ländern sind sehr unterschiedlich. In Tunesien hat sich nach der Revolutionseuphorie im Frühjahr 2011 eine gewisse Ernüchterung verbreitet. Dennoch bleibt die Entwicklung in Tunesien weiterhin vielversprechend und wegweisend. Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im Januar 2014 wurde ein wichtiger Meilenstein für den demokratischen Transformationsprozess gelegt. Auf der Grundlage der neuen Verfassung können nun die ersten freien Parlaments‐ und Präsidentschaftswahlen der 2. Republik stattfinden (voraussichtlich im Oktober und November/Dezember 2014). Gleichzeitig befindet sich die Demokratie in Tunesien noch in ihren Anfängen und bleibt fragil. In den vergangenen drei Jahren haben verschiedene politische Akteure immer wieder versucht, zu polarisieren und das Land in ein säkulares und ein islamisches Lager zu spalten. Angesichts der bevorstehenden Wahlen zeichnet sich laut Meinungsumfragen entweder ein neue Ennahda‐Mehrheit oder eine große Koalition zwischen der islamistischen Ennahda‐Partei und der konservativen Nida Tounes Partei ab. Das progressiv‐liberale Lager befürchtet als politische Minderheit zerrieben zu werden, eine Gefährdung der Religions‐ und Gewissensfreiheit ‐ obwohl diese durch die neue Verfassung gewährleistet ist ‐ und Rückschritte in Bezug auf die Frauenrechte. Abgesehen von der Frage nach der Rolle der Religion im Staat bestehen die wesentlichen Herausforderungen für Tunesien in der Überwindung der sozio‐ökonomischen Gegensätze, der Stabilisierung der Wirtschaft und im Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens (z.B. in den Feldern Governance, Anti‐Korruptionsmaßnahmen, Förderung von Transparenz und Accountability). Denn die angespannte sozio‐ökonomische Lage hat sich seit der Revolution eher verschlechtert als verbessert, und dies trifft im Besonderen auch Frauen. Der Tourismussektor, eine der Haupteinnahmequellen des Landes, hat weiterhin mit Schwierigkeiten zu kämpfen und hat nach einem Einbruch um über 50% noch nicht wieder das Niveau von vor 2011 erreicht. Auch die Auslandsinvestitionen sind zu 40% eingebrochen, und die Industrieproduktion verzeichnete einen Rückgang um 23%. 1 Dem gegenüber stehen steigende Preise, insbesondere der Lebensmittel, der Mieten und von Wasser, Gas und Elektrizität (um 4,4% seit 2011).2 Auch die hohe Arbeitslosigkeit bleibt weiterhin ein zentrales Problem. Bei einer Arbeitsbevölkerung von 3,5 Millionen (von insgesamt 10,5 Millionen Einwohnern) liegt die Arbeitslosenrate bei ca. 12%, bei Jungakademikern bis zu 40%, darunter auch viele junge Frauen. Besonders stark trifft die Arbeitslosigkeit die ländlichen Gebiete und das Landesinnere. Die Bewegungsfreiheit für Frauen hat sich eher verschlechtert. Viele Frauen berichten davon, dass sie seit den Umbrüchen öfter als vorher im öffentlichen Raum beleidigt und eingeschüchtert werden, meist in Bezug auf ihren modernen Kleidungsstil. Angesichts der gestiegenen Kleinkriminalität fühlen sich viele Frauen abends nicht mehr sicher alleine auf der Straße. Während sich die allgemeine Sicherheitslage insgesamt vergleichsweise schnell beruhigt hatte, ist die Situation in einigen Regionen im Landesinnern immer wieder angespannt. Auch kommt es vermehrt zu Überfällen in sozialen Brennpunkten. Insbesondere die anhaltende Krise im Nachbarland Libyen wirkt sich auf die innere Sicherheit negativ aus. Im Bereich der Pressefreiheit war nach dem Sturz des Ben Ali‐Regimes eine deutliche Liberalisierung zu beobachten. Gleichzeitig wird im Medienbereich über neue rote Linien und Meinungsfreiheit gestritten. Ein Prozess um die Ausstrahlung des „Persepolis“‐Films im privaten TV‐Sender Nessma zeigte, wie konfliktreich dieses Feld, wie fragil die Freiheiten und wie umstritten die Grenzen im öffentlichen Raum sind. Auch in den Universitäten wird darum gerungen. Die Besetzung der Manouba Universität durch Salafisten war dafür ein Präzedenzfall. Hier ging es um die Frage, ob Studentinnen, die einen Niqab tragen, am Unterricht teilnehmen dürfen. Die Ennahda‐Partei hatte sich in beiden Fällen mit Stellungnahmen sehr zurückgehalten. Innerhalb der Partei gibt es verschiedene Flügel und deutliche Meinungsverschiedenheiten, welche Positionen man u.a. zur Niqab‐Frage oder auch zur Sharia beziehen soll. Insgesamt wurde seit der Revolution mehr gesellschaftliche Freiheit gewonnen, allerdings sehen liberal orientierte Frauen die neu gewonnenen Freiräume durch den zunehmenden sozialen Druck der moralisierenden islamisch‐konservativen bzw. islamistischen Kräfte bereits wieder gefährdet. 1 2 vgl.TageszeitungAssabah,4.1.2012. vgl.WochenzeitschriftRéalités,19.1.2012. 2 Politische Repräsentation und Partizipation von Frauen Trotz der aktiven Rolle der Frauen in den Revolutionen und trotz des Paritätsprinzips (z.B. im tunesischen Wahlrecht) sind Frauen in den neu gegründeten politischen Parteien, den neu gewählten Parlamenten und Regierungen (z.B. in Ägypten, Libyen) nicht so stark vertreten, wie sie es angesichts ihres Engagements während der Proteste eigentlich hätten sein müssen. Das gleiche gilt für die junge Generation. In Tunesien ist die Zahl der weiblichen Abgeordneten in der Verfassungsgebenden Versammlung, der „Assemblée nationale constituante (ANC)“, mit ca. 27% vergleichsweise hoch. Die ANC hat 217 Mitglieder: 49 Abgeordnete sind Frauen; davon gehören 42 der Ennahda‐Partei an, und 7 Abgeordnete dem linken, säkularen Flügel. Vize‐ Präsidentin der ANC ist die französisch‐tunesische Ennahda‐Abgeordnete Merhezia Labidi‐ Maiza (Wahlbezirk Paris 1). Sie studierte in Tunesien und lebte dann viele Jahre in Paris. Im Vorfeld der ersten freien Wahlen hatte eine große Gleichstellungskampagne stattgefunden. Die Einführung des 50‐Prozent‐Paritätsprinzips auf den Kandidatenlisten führte zwar nicht zum gewünschten Erfolg, bedeutete aber ein wichtiges politisches Signal. Als Erfolg der Revolution und der Frauenorganisationen konnte verbucht werden, dass das Paritätsprinzip (zumindest in der Theorie) für die Aufstellung der Kandidatenlisten durchgesetzt wurde. Im ersten Kabinett 2012 waren von 25 Ministerposten drei Posten mit Frauen besetzt: die Ministerin für Frauenangelegenheiten Sihem Badi (Congrès pour la République), die Ministerin für Umwelt Mamia Elbanna (unabhängig) und die Ministerin für Wohnungsbau Chahida Fraj Bouraoui (unabhängig). Auch in der aktuellen Regierung sind wieder drei Frauen vertreten: Handelsministerin Najla Harrouche (unabhängig), Tourismusministerin Amel Karboul (unabhängig) und die Staatssekretärin für Frauen, Kinder und Familie Neila Chaabane (unabhängig). Frauenorganisationen als zivilgesellschaftliche Akteure Neben der Präsenz in politischen Institutionen und Parteien, sind Frauen vor allem auf zivilgesellschaftlicher Ebene überaus aktiv. Seit der Revolution wurden zahlreiche neue Vereine („associations“) gegründet, darunter auch rund 20 neue Frauenvereine (z.B. „Voix des femmes“ oder die 2011 gegründete „Ligue des électrices tunisiennes“, die u.a. Frauen in benachteiligten Regionen für mehr Wahlbeteiligung sensibilisiert). Das neue Vereinsgesetz von November 2011 erleichtert die Voraussetzungen, einen Verein zu gründen, erheblich. Unter dem Ben Ali‐Regime waren NGOs staatlicher Kontrolle unterworfen. Mittlerweile sind die Unabhängigkeit vom Staat und die Handlungsfreiheit der Vereine erheblich gewachsen. Gleichzeitig verfügt insbesondere die Ennahda‐Partei über ein breites Vereinsumfeld, insbesondere im karitativen Bereich und im Landesinnern. Hier sind die anderen, alten oder auch neu gegründeten Vereine weiterhin nur wenig präsent. Vor allem nach der Ermordung zweier linksgerichteter Oppositionspolitiker, Mohamed Brahmi und Chokri Belaid, im Jahr 2013 sahen viele NGOs ihre auch Aufgabe darin, in der Zivilgesellschaft ein politisches Gegengewicht zur zeitweise von Ennahda dominierten Regierungspolitik zu schaffen (und u.a. auch um das Personenstandsrecht, den „Code du Statut personnel“ zu schützen). Unter den Frauenvereinen finden sich nicht nur “klassische” feministische Vereine, wie z.B. die Association tunisienne des femmes démocrates (ATFD), und die Association de la femme tunisienne pour la recherche et le développement (AFTURD), die sich für soziale Fragen und Gleichberechtigung einsetzen, sondern auch zunehmend Vereine der jüngeren Frauengeneration, sowie Vereine, die zum Ziel 3 haben, das Unternehmertum von Frauen zu unterstützen und die Präsenz von Frauen in der freien Wirtschaft zu stärken (z.B. Association Femmes et Leadership). Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Frauenrechte Tunesien wird vielfach als „Modell“ für einen friedlichen demokratischen Transformationsprozess zitiert; doch wird dabei oft vergessen, wie unterschiedlich die Umbruchsituationen und Bedingungen in den verschiedenen Ländern der MENA‐Region waren und sind. Letztendlich sind die hochgeschraubten internationalen Erwartungen an Tunesien vielleicht sogar eher erdrückend und damit kontraproduktiv. Gleichwohl stellt die neue tunesische Verfassung in gewisser Weise einen Kompromiss von historischer Bedeutung dar. Viel wird nun von ihrer Auslegung und praktischen Anwendung im politischen Tagesgeschäft abhängen. Aus der Sicht des (links‐)liberalen und republikanischen politischen Lagers gilt es als Erfolg, dass nach langen Diskussionen in der ANC die Sharia als Rechtsquelle in der Verfassung keinen Platz hat und auch keine islamische Konsultativinstanz (choura) eingeführt wurde, wie Ennahda es ursprünglich geplant hatte. Ein Erfolg ist auch, dass die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz (Art. 20) in der Verfassung verankert ist, und Ennahda von ihrem ursprünglichen Entwurf, wonach sich die Geschlechter „ergänzen“ sollten, abrücken musste. Doch Frauenaktivistinnen zweifeln an der Aufrichtigkeit der Kompromissbereitschaft der Ennahda. Die Ambiguität der Geschlechtergleichheit wird am Personenstandsrecht einerseits und der Zuschreibung eines „heiligen Charakters“ der Familie deutlich. Hier zeigt sich erheblicher Spielraum für eine ungleiche Interpretation zugunsten des männlichen Familienoberhaupts (z.B. in Fragen des Scheidungs‐ oder Adoptionsrechts). Auch die Festschreibung einer „islamisch‐arabischen Identität“ in der Verfassung eröffnet Möglichkeiten der Interpretation. Die Diskussionen über eine Verschiebung, Rückkehr oder Neuinterpretation tradierter Rollenbilder werden sicherlich noch weiter geführt werden. Viele Wähler haben mittlerweile erkannt, dass sich Ennahda unter ihrem Parteivorsitzenden Ghanucci die tunesische Revolution auf opportunistische Art und Weise zu Eigen gemacht hat und letztendlich auch keine zukunftsweisenden Antworten auf die drängenden Probleme der Wirtschafts‐, Arbeitsmarkt‐ und Sozialpolitik zu bieten hat. Viele aus der jungen Generation sind von der politischen Entwicklung und den Parteien enttäuscht und werden voraussichtlich bei der nächsten Wahl gar nicht erst zur Urne gehen. Die islamistischen Akteure in allen ihren Schattierungen sind Teil der neuen politischen Landschaft und werden es mittel‐ und langfristig auch bleiben. Die tunesische Zivilgesellschaft (Frauenaktivistinnen, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, etc.) bleibt kritisch aufmerksam und wird sich auch in Zukunft für den Respekt der Freiheit und Grundrechte einsetzen. Wie sich die Situation der Frauenrechte sowie die geistigen und konkreten Bewegungs‐ und Entfaltungsfreiheiten von Frauen im öffentlichen Raum weiterentwickeln werden, wird auch in nicht unerheblichem Maße vom Ausgang der nächsten Wahlen abhängen. Berlin, 26.8.2014 Dr. Isabel Schäfer, Politikwissenschaftlerin, Dozentin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt‐Universität zu Berlin 4