2/2016 - Notwendigkeit einer individualisierten Schmerztherapie

Werbung
TOPICAL UPDATE
Darina Peeva, „Generation 2“, bearbeitete Fotos gedruckt auf Japanpapier und auf Holz montiert (30 x 90 cm)
Notwendigkeit einer
individualisierten Schmerztherapie
V
or 30 Jahren hat die WHO ein
Stufenschema unter dem Slogan
„Why not freedom from cancer
pain?“ zur Verbesserung der analgetischen
Versorgung von Tumorpatienten veröffentlicht. Schon nach wenigen Jahren wurde dieses Schema auch für den Einsatz von
Schmerzmitteln bei nicht-tumorbedingten
Schmerzen propagiert, obwohl für diese
Indikation bis heute jede Evidenz fehlt.
Folge dieser Empfehlung ist eine Vervielfachung des Opioidverbrauchs in den letzten 20 Jahren in den westlichen Industrieländern. Insbesondere in Österreich wurde
der konsequente Einsatz zusätzlich mit
dem Slogan „Kein Patient muss Schmerzen leiden“ gefördert, eine Zielsetzung, die
bei vielen chronischen Schmerzpatienten
unmöglich erreichbar ist.
Opioide werden häufig empfohlen, weil
beim Einsatz dieser Analgetikagruppe
massive Organschäden nicht zu erwarten
sind. Kritisch muss aber insbesondere die
Einstellungsphase, speziell bei alten Patienten, gesehen werden, da es zur Häufung
von Frakturen kommen kann, offensichtlich durch eine Erhöhung der Sturzneigung in Folge von Schwindel und kognitiver Beeinträchtigung. Besonders ist auch
12
SCHMERZ NACHRICHTEN
Mediendienst Wilke
Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass verfügbare Schmerzmedikamente wirksam sind. Gemäß aktuellen Analysen
reagiert jedoch nur ein Teil der Patienten auf bestimmte Medikamente, etwa 30 bis 50 Prozent der Patienten sind als NonResponder einzustufen. Ziel muss daher eine individualisierte Schmerztherapie sein, die nicht ausschließlich auf Leitlinien
und Algorithmen basieren kann. Ob Patienten von einer Therapie profitieren, hängt jedoch von zahlreichen Faktoren ab.
VON OA DR.
WOLFGANG
JAKSCH, DEAA
Abteilung für Anästhesie,
Intensiv- und Schmerztherapie, Wilhelminenspital
Wien, Präsident der ÖSG
auf Nebenwirkungen, speziell Obstipation,
Übelkeit und Müdigkeit zu achten.
Bei der Langzeittherapie mit Opioiden in höherer Dosierung (>60 mg
Morphinäquivalent/d) sollte auf hormonelle Veränderungen in Form von Hypogonadismus geachtet werden. Ein Absinken
des Testosteronspiegels führt neben Libidoverlust, Müdigkeit und Depression auch
zu einer Zunahme der Schmerzsensitivität.
Diese hormonellen Veränderungen sowie
die direkte Wirkung über μ-Rezeptoren an
Osteoblasten können auch eine Osteoporose induzieren. Der vermehrte und oft kritiklose Einsatz dieser Medikamentengruppe hat in den USA und auch in Australien
zunehmend zu Problemen mit Suchtverhalten bei den Patienten geführt.
RISIKO VON NICHTOPIOIDANALGETIKA BEI LANGZEITTHERAPIE
Der Einsatz von Nichtopioidanalgetika,
vor allem bei Langzeitgabe, ist ebenfalls
mit Risiken verbunden. So ist die Verabreichung von Cyclooxygenase-Hemmern
(COX-Hemmern) mit dem Auftreten von
schwerwiegenden, manchmal sogar lebensbedrohlichen Nebenwirkungen verbunden.
Das betrifft gastrointestinale, kardiovaskuläre sowie renale, vereinzelt auch hepatale
Nebenwirkungen. Der Einsatz sollte daher
immer nur auf kurze Perioden, wo auch
Entzündungsreaktionen im Vordergrund
stehen, beschränkt bleiben. Bei vielen alten
bzw. multimorbiden Patienten muss wegen
Kontraindikationen ganz auf diese Substanzgruppe verzichtet werden. Ob Substanzen wie Paracetamol und Metamizol
alternativ über längere Zeit eingesetzt werden können, ist derzeit kaum zu beurteilen.
AUSWAHL VON ANALGETIKA NACH
WHO-STUFENSCHEMA
Wird das WHO-Stufenschema bei der
Auswahl von Analgetika für die Schmerzbehandlung als Basis herangezogen, ergeben sich einige Probleme. Ein großer
Nachteil dieses Schemas ist vor allem
die ausschließliche Orientierung an der
DIFFERENZIERUNG
NOZIZEPTIVE UND NEUROPATHISCHE SCHMERZEN
Die Unterscheidung von nozizeptiven und neuropathischen
Schmerzen ist essenziell. Im
Vordergrund steht die Identifikation von neuropathischen
Schmerzen bzw. einer neuropathischen Komponente.
Zu diesem Zweck stehen verschiedene Screeningbögen
zur Verfügung, die jedoch
wegen des beträchtlichen
Zeitaufwandes für die Praxis
oft ungeeignet erscheinen
(PainDetect, DN 4, LANSS, ID
Pain, NPQ). Umso mehr sollten
bei allen Patienten nicht nur
die Schmerzstärken, sondern
auch die Schmerzqualitäten
beurteilt werden. Zeichen und
Symptome wie einschießende,
elektrisierende oder brennende Schmerzen, Kribbeln und
Ameisenlaufen, Taubheit, Allodynie sowie Hyperalgesie
geben wichtige Hinweise auf
das Vorliegen zumindest einer
neuropathischen Komponente.
ALGORITHMUS ZUR
THERAPIE NEUROPATHISCHER SCHMERZEN
Stehen bei der Behandlung von
nozizeptiven Schmerzen COXHemmer (NSAR bzw. Coxibe)
und Opioide im Vordergrund,
sollten bei fokalen Neuropathien primär lokale Therapieansätze wie Lidocain und Capsaicin
gewählt werden. Bei Wirkungslosigkeit bzw. mehr generali-
Fachkurzinformation siehe Seite 47
Schmerzstärke. So hat sich
in den letzten Jahren der Begriff „Mechanismusorientierte
Schmerztherapie“ etabliert.
Dabei werden vor allem rein
nozizeptive und Entzündungsschmerzen von neuropathischen und dysfunktionalen
Schmerzen unterschieden. In
vielen Fällen liegt auch eine
Mischform von nozizeptiven
und neuropathischen Schmerzen vor („mixed pain“).
sierten Schmerzen kommen
Antikonvulsiva (Carbamazepin,
Gabapentinoide) oder Antidepressiva (TCA, SSNRI) zum
Einsatz. Erst bei Therapieresistenz auf dieser Stufe kommen
primär schwache Opioide in
Form von Tramadol und in der
Folge auch starke Opioide zum
Einsatz. Nur bei akuten neuropathischen Schmerzen (wie
beim Herpes Zoster) können
auch frühzeitig Opioide eingesetzt werden.
Dieser Algorithmus war
Grundlage für Guidelines verschiedener Fachgesellschaften für die Therapie spezieller
neuropathischer Krankheitsbilder, wie beispielsweise der
schmerzhaften diabetischen
Neuropathie. Dieser Algorithmus wie auch diverse Guidelines müssen aber kritisch betrachtet werden. Trotz identischer Krankheitsbilder können
gerade bei Neuropathien sehr
unterschiedliche Ursachen
im peripheren bzw. zentralen
Nervensystem für Schmerzen verantwortlich sein. Das
Ansprechen auf verschiedene Substanzen ist jedoch genau von diesen Mechanismen
abhängig. Deshalb kann nur
bei einem Teil der Patienten
(Responder) ein Erfolg erzielt
werden (Schmerzlinderung
um 30 bis 50 Prozent). Diese
Punkte müssen mit Patienten
am Beginn der Therapie genau
besprochen werden. TherapieSCHMERZ NACHRICHTEN
13
TOPICAL UPDATE
Darina Peeva, „Because of love“, bearbeitete Fotos gedruckt auf Japanpapier und auf Holz montier (30 x 150 cm)
Darina Peeva, „Generation 1“, bearbeitete Fotos gedruckt auf Japanpapier und auf Holz montiert (30 x 90 cm)
ziele sollten gemeinsam definiert werden.
Dabei sollten die Lebensqualität sowie die
Steigerung der Aktivität und der Funktionalität zumindest den gleichen Stellenwert
einnehmen wie die Schmerzlinderung.
2014 wurden aktualisierte Empfehlungen
(GRADE-Assessment) zur Therapie neuropathischer Schmerzen vorgestellt. Dabei
erhielten Antikonvulsiva und spezielle Antidepressiva weiterhin eine starke Empfehlung. Trotzdem muss angemerkt werden,
dass durch Einbindung weiterer Studien
in die evidenzbasierten Analysen praktisch
alle NNTs (Numbers needed to treat) höher
wurden. Für die Gabapentinoide, bei denen
primär eine NNT von 3 angegeben wurde,
liegt aktuell die NNT knapp unter 8.
PATIENTENERWARTUNGEN UND
-RESPONSE ENTSCHEIDEND FÜR
DIE WIRKSAMKEIT
Ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung der Wirksamkeit von Schmerztherapien allgemein ist aber, ob sie den
hohen Erwartungen der Patienten gerecht
werden. Der Outcome, also der konkrete
Therapieerfolg beim Patienten, ist eine
besonders relevante Größe, um den Nut14
SCHMERZ NACHRICHTEN
zen einer Behandlung zu beurteilen. Wie
die durch eine Therapie erzielte Schmerzlinderung erlebt wird, ist jedoch höchst
individuell und meist anspruchsvoll. So erwarten chronische Schmerzpatienten etwa eine deutliche Schmerzerleichterung,
meist zwischen 50 bis 70 Prozent. Darüber hinaus besteht der Anspruch, dass
Schlafstörungen, Müdigkeit, Depressionen
und andere Begleiterscheinungen chronischer Beschwerden deutlich abmildert
werden und die Lebensqualität zurückkehrt. Außerdem hoffen Betroffene auf eine Wiederherstellung ihrer Leistungs- und
Arbeitsfähigkeit.
Eine andere, wesentliche Kategorie, um
Therapieeffizienz zu bewerten, ist die
Unterscheidung zwischen „Responder“
und „Non-Responder“. Noch sind Informationen über Responder und deren
Eigenschaften eingeschränkt, einige entscheidende Faktoren sind jedoch bekannt.
So reagieren Responder bei akutem und
chronischem Schmerz konsistent auf eine Therapie, sie lassen sich auch meist
im Therapieverlauf früh erkennen. Früher
Response gilt als Prädiktor für längerfristigen Therapieerfolg, Non-Response als
Praktische Implikationen
aufgrund hoher
Non-Responderraten
u Eine Schmerztherapie mit einem singulären
Medikament ist nur bei wenigen Patienten
wirksam und ausreichend.
u Eine wirksame Schmerzbehandlung soll auch
Schlafstörungen, Depressionen, Fatigue, die
Lebensqualität, Funktion und Arbeitsfähigkeit positiv beeinflussen.
u Studien belegen, dass eine Unwirksamkeit eines Medikaments keinesfalls die Unwirksamkeit eines anderen, auch innerhalb derselben
Substanzgruppe, bedeutet.
u Die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer
Therapie kann innerhalb von zwei bis vier
Wochen festgestellt werden.
u Früher Response gilt als Prädiktor für längerfristigen Therapieerfolg.
u Da die Responderraten niedrig sind, ist eine
breite Palette an Medikamenten Voraussetzung für eine erfolgreiche Schmerztherapie
bei Patienten, besonders bei jenen mit komplexen chronischen Erkrankungen.
Darina Peeva, „Angst 3“, Druckgrafik (80 x 110 cm)
verlässliches Therapieabbruchsignal. Entscheidend ist daher, frühzeitig herauszufinden, ob Patienten auf eine bestimmte
Behandlung ansprechen, denn im Fall des
Nichtansprechens kann eine Therapieumstellung erfolgen und dem Patienten
können damit unnötige Nebenwirkungen
erspart werden.
VORAUSSETZUNG FÜR EINE
INDIVIDUALISIERTE SCHMERZTHERAPIE
Basis einer individuell angepassten
Schmerztherapie wäre unter anderem
eine realistischere Einschätzung erreichbarer analgetischer Effekte und die Akzeptanz der Nichtwirksamkeit einzelner
Analgetika bei zahlreichen Patienten, ein
in der Wissenschaft jedoch rarer Gedanke. Dies wäre aber der erste Schritt zur
Verbesserung des Behandlungserfolgs, da
bei Unwirksamkeit eine Therapieumstellung rascher erfolgen könnte. Auch eine
individuelle Schmerzmessung wäre entscheidend. Die herkömmlichen klinischen
Prüfverfahren über die Wirksamkeit von
Schmerzmitteln sollten ebenfalls überarbeitet werden – weg von einer durchschnittlichen Wirksamkeitsbeurteilung,
hin zur Frage: Welche Therapie wirkt bei
ZUSAMMENFASSUNG
30 Jahre nach Einführung des
WHO-Stufenschemas zur Therapie tumorbedingter Schmerzen
sollte der Einsatz von Analgetika
differenzierter betrachtet werden.
Nicht die Schmerzstärke, sondern
der Mechanismus ist entscheidend
für die Auswahl der Medikamente.
Trotzdem reicht es nicht aus, Patienten
rein nach Leitlinien und Algorithmen zu
therapieren, da nur ein Teil der Patienten
auf bestimmte Medikamente reagiert. Genau diese „Responder“ müssen im Sinne
einer individualisierten Schmerztherapie
identifiziert werden, um auch langfristig
die Schmerzen der Patienten zu lindern
und die Aktivität und Lebensqualität zu
verbessern. Diese Ziele der Schmerztherapie sollten mit keinen oder akzeptablen
Nebenwirkungen erreicht werden. Reagieren Patienten nicht auf Therapieansätze
oder treten massive Nebenwirkungen auf,
müssen Alternativen bzw. auch Kooperationen mit Schmerzspezialisten gesucht
werden. Dabei muss jedoch das individuelle Ansprechen jedes Patienten genau
beobachtet werden. Nur Responder kommen für eine Langzeittherapie in Frage.
Fachkurzinformation siehe Seite 47
welchem Patienten unter welchen Umständen? Ebenso sollten
Empfehlungen entwickelt werden,
die es Ärztinnen und Ärzten in
der Praxis ermöglichen, Responder richtig zu bestimmen, denn je
klarer das Patientenprofil ist, desto geringer ist auch die Zahl der
benötigten Medikamente. Nicht
zuletzt ist auch die Verfügbarkeit
einer ausreichend großen Palette
an wirksamen Medikamenten eine
Voraussetzung für eine individualisierte Schmerztherapie, um im Fall
der Unwirksamkeit eines Medikaments ausreichende Alternativen
für eine angemessene Behandlung
zur Verfügung zu haben.
Literatur:
Finnerup NB et al, Algorithm for neuropathic pain
treatment: an evidence based proposal. Pain (2005)
118(3):289-305
Positionspapier der ÖSG zum Einsatz von Opioiden bei
tumor- und nichttumorbedingten Schmerzen(www.
oesg.at/publikationen).
Moore A. et al, Expect analgesic failure; pursue analgesic success. BMJ 2013;346:f2690 doi: 10.1136/bmj.f2690
(Published 3 May 2013)
SCHMERZ NACHRICHTEN
15
Herunterladen