Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin Abteilung Wildtiere Vetsuisse Fakultät, Universität Bern, Länggass-Str. 122, Postfach 8466, CH-3001 Bern; Tel. 031 631 24 43 Fax 031 631 26 11 Zusammenfassung der Untersuchungen von Gämsen und Steinwild aus dem Kanton St. Gallen, April-Oktober 2014 Roman K Meier, Francesco Origgi, Ezgi Akdesir, Nelson Marreros, Mirjam Pewsner, Julia Wimmershoff, Marie-Pierre Ryser-Degiorgis 1. Hintergrund: Seit dem letzten Winter wurde ein Rückgang von circa zwei Drittel der Gams-Population in einem bestimmten Gebiet in der Region Toggenburg-Werdenberg beobachtet. Im Sommer konnten viele hustende Gämsen und Steinböcke beobachtet werden. Das Habitat gilt als guter Gams- und SteinwildEinstand. Teile davon befinden sich in Wildruhezonen. 2. Material: Zwischen dem 8.4.2014 und dem 31.10.2014 wurden Kadaver oder Organe von drei Steinböcken und 11 Gämsen zur pathologischen Untersuchung ans FIWI Bern eingesandt (Abb.1, Tab. 1). Abbildung 1. Geographischer Ursprung der zur Untersuchung eingesandten Tiere. Tabelle 1: Zur Untersuchung eingesandte Tiere. Datum 08.04.2014 29.07.2014 21.08.2014 21.08.2014 11.09.2014 12.09.2014 23.09.2014 26.09.2014 03.10.2014 07.10.2014 09.10.2014 23.10.2014 31.10.2014 31.10.2014 Fallnummer W14_1067 W14_2358 W14_2610 W14_2611 W14_2830 W14_2838 W14_2928 W14_2959 W14_3053 W14_3075 W14_3101 W14_3258 W14_3352 W14_3353 Tierart Gämse Steinbock Gämse Gämse Steinbock Gämse Gämse Gämse Gämse Gämse Steinbock Gämse Gämsen Steinbock Sex m m w m w w w w w w m W M M Alter 1y >10y 15y 2Mte 15y 4y 5y 13y 2.5y 4.5Mte 10y 2.5y 5Mte 11.5y Gewicht (kg) 11 k.a. 23.4 6.3 k.a. 10 k.a. 16.5 (ohne Haupt) 12.5 k.a. 43 (aufgebrochen) k.a. 9 k.a. Koordinaten 746000/220000 742790/223740 745500/224000 753839/205124 742240/223780 753770/214800 732950/221890 744371/224960 743058/225657 738700/223430 738700/207030 747863/225557 734800/221600 741940/223800 3. Methoden: Alle Tiere und Organe wurden makroskopisch untersucht und Gewebeproben davon am Mikroskop untersucht (Histologie). Von zwei Gämsen wurde Kot auf Parasiten, von einem Steinbock die Lunge auf Herpesviren und von einem Steinbock und drei Gämsen die Lunge auf Bakterien untersucht. 4. Resultate: 4.1 Sektion und Histologie Hauptbefund bei allen untersuchten Tieren oder Organen waren Erkrankungen des Atemapparates (Respirationstrakt), wobei das Gamskitz W14_3352 noch weitere bedeutende Veränderungen aufwies (s. unten): Bei allen Tieren mit eingesandter Lunge wurden Anzeichen einer Lungenentzündung (Pneumonie) nachgewiesen. Bei einer Gämse, die ohne Lunge eingesandt wurde, ergab sich ein Verdacht auf ein Problem des Atemapparates durch eine Entzündung der Luftröhre, wie sie häufig im Zusammenhang mit Lungenentzündungen auftritt. Alle nachgewiesenen Lungenentzündungen wiesen einen mittel- bis hochgradigen Schweregrad auf. Bei zehn Tieren wurde entweder im Vorbericht von Abmagerung berichtet (Organeinsendungen) oder sie wurden in der Sektion als abgemagert beurteilt (Tabelle 2). In zehn Fällen waren Lungenparasiten an den Lungenveränderungen beteiligt (grosse oder kleine Lungenwürmer (Dictyocaulus sp., Protostrongylus sp., Muellerius sp., u.a.). Bei mindestens sechs davon gab es eine zusätzliche bakterielle Komponente. Drei Tiere zeigten Lungenveränderungen, die mit einer Infektion durch Bakterien, Viren oder beidem vereinbar waren und keine parasitäre Beteiligung aufwiesen. Ein Gamskitz (W14_3352) zeigte einen hochgradigen Befall mit Parasiten im Magen-Darm-Trakt, im Herzen und der Lunge, der als Todesursache anzusehen ist: Bei diesem Tier wurde ein Erguss im Brustkasten festgestellt werden, wie er bei vielen anderen, bereits ausgeweideten Tieren in Vorbericht erwähnt wurde. Solche Ergüsse können viele verschiedene Ursachen haben, waren in diesem Fall aber vermutlich auf einen Eiweissmangel infolge des starken arasitenbefalles zurückzuführen. Der letzte Steinbock zeigte neben einer parasitären Lungenentzündung auch eine Lungenentzündung, die durch Einatmen von Fremdmaterial entstanden ist (sog. Aspirationspneumonie). Bei einem Tier wurde eine leichtgradige Entzündung des Gehirns und der Hirnhäute festgestellt (Meningoenzephalitis). Tabelle 2: Nährzustand und Ursachen der krankhaften Lungenveränderungen der untersuchten Tiere. Fallnummer Tierart W14_1067 W14_2358 W14_2610 W14_2611 W14_2830 W14_2838 W14_2928 W14_2959 W14_3053 W14_3075 W14_3101 W14_3258 W14_3352 W14_3353 Gämse Steinbock Gämse Gämse Steinbock Gämse Gämse Gämse Gämse Gämse Steinbock Gämse Gämse Steinbock Abmagerung Lungenentzündung Lungenparasiten Bakterielle Komponente Mögliche virale Beteiligung +++ a + nein k.A. a a a a + a k. A. + k.A. +++ ++(+) +++ ++(+) ++ ++ ++(+) +++ +++ ++(+) ++ + ++(+) x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x Legende: + = leichtgradig, ++ = mittelgradig, ++(+) = mittel- bis hochgradig, +++ = hochgradig, a = in der Vorgeschichte erwähnt, x = trifft zu, k.A. = keine Angabe 4.2. Bakteriologische Untersuchungen Bei zwei Fällen konnte in der bakteriologischen Untersuchung (Institut für Veterinär-Bakteriologie, Universität Bern) das Bakterium Mannheimia sp. nachgewiesen werden, bei einem weiteren Moraxella sp. und Bibersteinia sp., und bei einem vierten Tier ergab die Untersuchung ein unklares Resultat (sog. Mischflora). 4.3. Virologische Untersuchung Die Lunge eines Steinbockes wurde mittels molekularer Verfahren (nested PCR) auf Herpesviren und insbesondere das Caprine lymphotrope Herpesvirus getestet (Institut für Veterinär-Virologie, Universität Zürich). Das Virus konnte nicht nachgewiesen werden. 4.4. Parasitologische Untersuchung Die Untersuchung (Institut für Parasitologie, Universität Bern) des Kotes des Tieres ohne Lunge (W14_1067) ergab einen leichtgradigen Parasitenbefall. Nachgewiesen wurden Würmer des Verdauungstraktes (Magen-Darm-Strongyliden), einzellige Darmparasiten (Eimeria sp.) und kleine Lungenwürmer (Muellerius sp.). Das stark verwurmte Gamskitz W14_3352 schied im Kot Bestandteile der folgenden Parasiten aus: Magen-Darm-Strongyliden, Eimeria ssp., Nematodirus sp. und Monezia sp. Bei der Sektion war ein massiver Befall mit dem Blut-saugenden Parasiten Hämonchus sp. und dem Bandwurm Monezia sp. aufgefallen. 5. Befundbeurteilung: Die Untersuchungen der Gams- und Steinwild-Kadaver und -Organe haben ergeben, dass alle eingesandten Tiere an Lungenentzündungen gelitten hatten. Aufgrund dieses einheitlichen Musters ist es denkbar, dass die Rückgänge in der betroffenen Gäms- und Steinwildpopulationen auf ebensolche Probleme zurückzuführen sind. Bei den meisten Tieren wurde ein starker Befall mit Lungenwürmern gefunden. Ein leichter Befall mit Lungenwürmern wird bei Wildwiederkäuern häufig gesehen und hat nur wenig Bedeutung für die Gesundheit der befallenen Tiere, solange Tier und Parasiten im Gleichgewicht leben. Wenn der Befall aber stark wird, kann dies zu einer beträchtlichen Schädigung der Lunge führen; häufig kommt es dann zu sogenannten Sekundärinfektionen durch Bakterien. Was in den jetzigen Fällen das Gleichgewicht Tier-Parasiten gestört und zur Zunahme des Parasitenbefalls geführt hat, ist wie meistens schwierig zu eruieren. In Frage kommen vor allem Prozesse, die das Immunsystem des Tieres schwächen, wie Stresssituationen und andere Infektionen. Aufgrund der histologischen Befunde war das Bild durch bakterielle Komponenten geprägt, allerdings muss nicht in jedem Fall das gleiche Bakterium für die Infektion verantwortlich sein; auch ist es schwierig zu beurteilen, ob es sich um eine primäre oder sekundäre Infektion handelt. Das Bakterium Mannheimia sp. wurde zweimal, Bibersteinia sp. einmal nachgewiesen; es handelt sich dabei um bekannte Erreger von Lungenentzündungen bei Wiederkäuern, die bereits im Zusammenhang mit Epidemien bei Gämsen beschrieben wurde. Allerdings kommen diese Bakterien natürlicherweise im oberen Atmungstrakt von Tieren vor und brauchen zur Entstehung einer Krankheit eine vorhergehende Schädigung der Lunge oder eine Schwächung der Immunabwehr. Obwohl alle Tiere Lungenveränderungen aufwiesen, konnte keine alleinige Ursache für diese Veränderungen festgestellt werden. Im Jahr 2008 konnte in einer ähnlichen Epidemie von Lungenentzündungen im Obertoggenburg trotz ausführlichen bakteriologischen, virologischen und parasitologischen Untersuchungen ebenfalls kein einheitliches Infektionsbild nachgewiesen werden (s. Schweizer Jäger 5/08). Lungenerkrankungen bei (Wild-) Wiederkäuern sind oft ein multifaktorielles Geschehen. Das heisst, dass neben Krankheitserregern wie Parasiten, Viren und Bakterien auch andere Faktoren wie Klima, Bestandesdichte, Störungen und weitere Stressursachen eine Rolle spielen können. Vermutlich trifft dies auch bei dem untersuchten Bestand in St. Gallen zu, wenngleich die Fallwildzahlen ausserordentlich hoch sind und das Geschehen bedrohlich erscheint. Der milde Winter 2013/14, gefolgt von einem nassen, eher kühlen Sommer, könnte sich auf die natürliche Selektion durch den Winter, das Überleben der Parasiten auf den Weiden, und die Kondition der Tiere im Frühling/Sommer negativ ausgewirkt haben. Tatsache ist, dass aus anderen Regionen der Schweiz ähnliche Meldungen erfolgt sind und auch bei den untersuchten Fällen aus diesen Regionen keine klare Ursache für die Lungenentzündungen nachgewiesen werden konnte. 6. Weiteres Vorgehen: Systematische virologische und bakteriologische Untersuchungen könnten weitere Hinweise darauf geben, ob dem Geschehen doch ein gemeinsamer Erreger zugrunde liegt, der in den bisherigen Untersuchungen nicht nachgewiesen werden konnte.