Arbeitskräfte werden wieder kostbar - Goethe

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THEMA DES TAGES
Frankfurter Rundschau
MEDIZIN
GESUND
AM ARBEITSPLATZ
Montag, 22. Februar 2016
72. Jahrgang
Nr. 44
Montag, 22. Februar 2016
72. Jahrgang
Nr. 44
THEMA DES TAGES
Frankfurter Rundschau
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„Arbeitskräfte werden
wieder kostbar“
Arbeitnehmer sollen bis
zum 67. Lebensjahr
durchhalten. Aber
was tun Betriebe dafür,
dass sie es
gesundheitlich schaffen?
Arbeitsmediziner David Groneberg über die Rente mit 67,
Wertschätzung und die richtige Schlafhygiene
Um gleich mit der Tür ins Haus
zu fallen: Macht Arbeit krank?
Nein. In Deutschland macht Arbeit nicht krank, wenn sie nach
den gesetzlichen Arbeitsschutzrichtlinien abläuft. Aber es gibt
Ausnahmen, etwa die Erzieherin
im Kindergarten. Die ist einem erhöhten Ansteckungsrisiko durch
Kinderkrankheiten ausgesetzt –
wenn sie keinen Impfschutz hat.
Wenn der Chef nervt
Hessenwasser kümmert sich um Mitarbeiter
Von Friederike Tinnappel
D
Wie haben sich die Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahren verändert – Stichwort Arbeitsverdichtung?
Das ist von Branche zu Branche
unterschiedlich. Bei den Ärzten
ist es zum Beispiel so: Vor 30 Jahren hat sich vielleicht ein Krankenhausarzt um 30 Betten gekümmert. Heute kümmert er sich
um 15 Betten. Der große Unterschied ist: Früher lag ein Patient
zwölf Tage im Krankenhaus, heute etwa drei. Das heißt der Arzt
sieht unterm Strich doppelt so
viele Patienten, und die Anzahl
der Untersuchungen hat enorm
zugenommen.
Was kann der Arbeitgeber tun,
damit seine Mitarbeiter gesund
bleiben – sie sollen ja bis 67
durchhalten?
Also ich glaube, wir werden viel
länger arbeiten müssen als bis 67
aufgrund des demografischen
Wandels.
Die Gewerkschaften sagen, das
hielten die meisten gar nicht
durch – bis 67.
Das stimmt aktuell für einige Bereiche – aber was wollen Sie denn
tun, wenn es zu wenig jüngere Arbeitnehmer gibt? Dann müssen
die wenigen, die da sind, leider
die ganze Arbeit machen.
Und wie schaffen wir das gesundheitlich?
Das ist die große Frage und die
große Herausforderung. Das muss
man berufsspezifisch sehen. Ein
Bauarbeiter hat andere Belastungsprobleme als ein Vorstandschef.
Gemeinsame Gymnastik stärkt auch den Zusammenhalt.
HESSENWASSER
Ganz wichtig sei, dass die
Arbeit Spaß mache und dass
sie möglichst abwechslungsreich
gestaltet werde, sagt der
Mediziner David Groneberg.
ALEX KRAUS
Schauen sich die Unternehmen
denn überhaupt an, welchen Belastungen ihre Beschäftigten
ausgesetzt sind?
Im Gesetz ist vorgesehen, dass jeder Betrieb eine Gefährdungsanalyse vornehmen muss.
Machen das die Unternehmen
auch?
Sehr wenige Betriebe machen das
tatsächlich komplett, so wie es
vorgesehen ist. Vielleicht 30 bis
40 Prozent. Es sind vor allem die
großen Unternehmen, die das Gesetz umsetzen. Die kleinen – etwa
ein Friseurladen – sind oft überfordert. Und diese brauchen Hilfe, zum Beispiel durch Berufsgenossenschaften.
Was können die Arbeitnehmer
selber tun, um fit zu bleiben.
Zwei Antworten sind seit Jahrzehnten dieselben: eine gesunde
Ernährung und Bewegung beziehungsweise Sport. Inzwischen wird auch viel über eine
dritte Komponente gesprochen:
Work-Life-Balance und so etwas
wie eine korrekte Schlafhygiene.
Was muss man sich darunter
vorstellen?
Wir leben in der Industrie-4.0-Gesellschaft. Wir leben verdichtet.
Wir haben teilweise – auch privat
– zu viel Input. Das bedeutet, wir
wollen immer mehr in immer weniger Zeit schaffen. Die vielen EMails etwa. Ich beantworte sie
teilweise noch nachts um zehn.
Das ist schlecht.
Heißt das vielleicht, dass zu einem gesunden Leben auch mehr
Entspannung gehört?
Ganz genau. Das Abstandnehmen. Schlafhygiene bedeutet,
sich abends ins Bett zu legen und
alles auszuschalten und erst wieder morgens anzuschalten. Heute
liegen Leute im Bett und haben
ihr Smartphone an. Das lenkt
nicht nur ab, sondern ist auch eine starke Lichtquelle. Vor dem
Einschlafen sollte es dunkel sein
und man sollte abspannen.
Gibt es schon Reaktionen in den
Betrieben auf die Herausforderungen der Industrie 4.0?
Die Bundesministerien sind vorbildlich, die schalten abends ein-
ZUR PERSON
David Groneberg (42) leitet seit über
fünf Jahren das Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Umweltmedizin der Johann-WolfgangGoethe-Universität.
Der gebürtige Frankfurter ging in
Hadamar zur Schule und studierte in
Gießen Medizin und Philosophie. 2005
folgte er einem Ruf der Medizinischen
Hochschule Hannover und wurde
Professor für Molekulare Pneumologie.
Im Juni 2007 übernahm er an der
Berliner Charité den Lehrstuhl für
Arbeitsmedizin.
Die Tabakabhängigkeit ist einer
seiner Forschungsschwerpunkte. Um
junge Leute vom Rauchen abzuhalten,
schickt er seine Medizinstudenten in
die Schulen. ft
fach den Server ab. Es gibt auch
große Unternehmen, die so arbeiten. Ein großer Automobilhersteller hat den Beschäftigten verboten, am Wochenende zu arbeiten
– damit sie Abstand nehmen können.
Welche Rolle spielt es, ob man
gern zur Arbeit geht?
Das ist total wichtig. Auch ganz
wichtig ist die Wertschätzung des
Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer. Wenn alle nur auf
das eigene Unternehmen schimpfen und im Gegenzug die Arbeitgeber über die Mitarbeiter, ist
klar, dass man durch Arbeit krank
wird.
Und was kann man machen,
wenn die Arbeit eintönig ist?
In Berlin gibt es zum Beispiel die
Tonnen-Boys, also die Müllmänner der Berliner Stadtreinigung.
Die geben unter anderem einen
Kalender mit Männerbildern heraus, die sind stolz auf sich und
ihren Job. Das hat zu einem ganz
anderen, positiven Bild der Stadtreinigung geführt und ist ein Paradebeispiel für eine tolle Corporate Identity.
Vom Lebensunterhalt mal abgesehen – warum arbeitet der
Mensch überhaupt?
Das ist ein Instinkt. Der Säugling
krabbelt an die Mutterbrust und
trinkt. Arbeit. Früher in der Höhle
haben die Bewohner Tiere gejagt.
Sie mussten essen. Andere haben
das Feld bearbeitet – das war relativ mühselig. Auch heute gibt es
Jobs, die machen mehr oder weniger Spaß.
Was kann man tun, damit die
Arbeit mehr Spaß macht?
Man kann die Arbeitsabläufe gestalten. So hat sich herausgestellt, dass mehr Autos gebaut
werden, wenn man das klassische Fließband, an dem jeder nur
immer denselben Handgriff
macht, abschafft und durch
Teams ersetzt.
Wie wollen Sie mehr Abwechslung in Jobs bringen, die per se
monoton sind, etwa beim Discounter an der Kasse?
Wenn es jemand schafft, diese
Jobs interessanter zu machen,
dann sind wir schon sehr weit gekommen. Eine Lösung des Rätsels
liegt zum Beispiel in der Rotation
der Tätigkeiten.
Sie sagten ja schon, die Wertschätzung ist wichtig – und welche Rolle spielt die Bezahlung?
Natürlich sollte auch die Bezahlung stimmen. Bei den freiberuflichen Hebammen, die machen
nun wirklich einen tollen Job, ist
das mit Sicherheit nicht der Fall.
Die können noch nicht mal ihre
eigene Haftpflichtversicherung
bezahlen.
Fast überall werden immer noch
die Personalkosten gesenkt, und
es wird outgesourct. Wie kommt
es, dass die Wertschätzung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so häufig unter den Tisch
fällt?
Diese negativen Einstellungen
sind entstanden, als es die vielen
Arbeitslosen gab. Da galt die Arbeitskraft in manchen Bereichen
so gut wie nichts. Wenn ein Mitarbeiter seine Rechte einforderte,
waren zehn andere zur Stelle,
und er wurde ersetzt. Dieses
fürchterliche und unethische Verhalten stößt nun an seine Grenzen, wo es immer weniger Fachkräfte gibt. Arbeitskräfte werden
wieder kostbar. Und das ist richtig so.
Interview: Friederike Tinnappel
as rote Backsteingebäude
von Hessenwasser liegt mitten in der Pampa. Die Taunusstraße 100 in Groß-Gerau ist umgeben von Feldern, vier Milane
ziehen ihre Kreise. Nach Stress
sieht das alles nicht aus. Und
doch hat die Unternehmensführung entschieden, dass im Betrieb mehr für die Gesundheit getan werden müsse – und zwar für
die körperliche und die geistige
Verfassung. Zusammen mit der
Techniker Krankenkasse wurde
vor eineinhalb Jahren begonnen,
ein betriebliches Gesundheitsmanagement einzuführen.
Damit will Personalchef Ingo
Halbritter erreichen, dass seine
Mitarbeiter möglichst fit bleiben.
Das Gesundheitsmanagement ist
aber auch eine Reaktion darauf,
dass die Belegschaft altert: Das
Durchschnittsalter liegt jetzt bei
47 Jahren – und steigt naturgemäß weiter. Die meisten der insgesamt 380 Beschäftigten haben
einen harten Job, arbeiten bei
Wind und Wetter an der frischen
Luft.
Grundlage für das Projekt „Betriebliches Gesundheitsmanagement“, das zwei Jahre lang von
der Techniker Krankenkasse unterstützt wird, war eine Mitarbeiterbefragung, die – freiwillig und
anonym – auf eine große Resonanz bei der Belegschaft stieß.
Beanstandet wurde auch
das „belastende Verhalten“
von Vorgesetzten
85 Prozent der Bögen kamen
ausgefüllt zurück. „Das ist unheimlich viel“, sagt der Pressesprecher von Hessenwasser, Hubert Schreiber.
Beanstandet wurde unter anderem „belastendes Vorgesetztenverhalten“, aber auch Arbeitshaltung oder die Beleuchtung.
Den Führungskräften wurden daraufhin „Informations- und Reflexionstage“ angeboten. Licht
und Sitzhaltung am Schreibtisch
wurden überprüft. Vor allem
aber wurde, so Schreiber, „eine
große Kommunikationsmaschinerie angeschmissen“.
„Führung und Kommunikation“ seien nach bisherigem Erfahrungsstand die wichtigsten Komponenten beim betrieblichen Gesundheitsmanagement, sagt Denise Jakoby von der Techniker
Krankenkasse. Ziel ist nicht nur
der gesunde, sondern auch der
zufriedene und motivierte Mitarbeiter. Inzwischen gilt als erwiesen, dass Beschäftigte, die eine
abwechslungsreiche
Tätigkeit
ausüben, die ihnen Spaß macht,
weniger oft erschöpft sind oder
depressiv werden.
Bei Hessenwasser wurden
durch die Fragebögen auch die
sogenannten „Ressourcen“ der
Mitarbeiter ermittelt. Dazu zählen „Aufgabenvielfalt“ und „Tätigkeitsspielraum“, aber auch „soziale Unterstützung“ durch Kollegen und Vorgesetzte. Es soll ein
Klima des Vertrauens geschaffen
werden. Die Beschäftigten sollen
sich trauen, über Befindlichkeiten zu reden – gerade auch dann,
wenn sich diese bereits zu einem
Dauerproblem verfestigt haben.
Damit das funktionieren kann,
wurde dem Betriebsarzt ein Sozialberater zur Seite gestellt.
Der Betriebsratsvorsitzende
von
Hessenwasser,
Michael
Pschiebel, berichtet von einem
Mitarbeiter, der mit seiner Partnerin nicht mehr klarkam, zu viel
Alkohol trank und Schulden hatte. Im Team sei es gelungen, den
Mann zu stabilisieren. Die meisten Probleme, so die Vertreter
des mittelständischen Wasserlieferanten, würden nicht im Betrieb, sondern im privaten Umfeld entstehen.
Was sich konkret durch das
Gesundheitsmanagement verändert hat, ist offenbar schwer auszumachen. Schließlich habe man
der Gesundheit der Mitarbeiter
und dem Betriebssport schon seit
Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt. „Das ist für uns ja keine
neue Welt“, sagt Schreiber. Badminton, Nordic Walking, Joggen,
Fußball gehören ebenso zum Angebot wie Radtouren oder Skiurlaub.
Vor etwa sieben Jahren wurde
im Keller ein Fitnessstudio mit
einer erklecklichen Anzahl von
Trainingsgeräten
eingerichtet.
Der Crosstrainer wurde so oft benutzt, dass er bereits ausgetauscht werden musste, wie
Pressesprecher Schreiber erzählt. Das i-Tüpfelchen im Gesundheitsprogramm aber sei die
Kantine. Gerade ist das Mittagessen – Putengeschnetzeltes, Gemüse, Salat – vorbei, die Bediensteten räumen auf und klappern mit den Bestecken. Zu trinken gibt es immer reichlich: Auf
dem Parkettboden steht ein Automat mit Hessenwasser, kostenlos, versteht sich.
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