Deontische Logik Jörg Hansen WS 2000/2001 13.10.2000 Einführende Literatur: - Risto Hilpinen (Hrsg.), Deontic Logic: Introductory and systematic readings, D. Reidel, Dordrecht 1971. - Risto Hilpinen (Hrsg.), New Studies in Deontic Logic, D. Reidel, Dordrecht 1981, - Lennart Åqvist, Deontic Logic, in: Gabbay, D. & Guenthner, F. (Hrsg.) Handbook of Philosophical Logic, Bd. II, 605-714, D. Reidel, Dordrecht 1984. Deon-Workshops (http://www.cert.fr/deon00/): ∆EON ’91: J.-J.Ch. Meyer, R.J. Wieringa (Hrsg.), Deontic Logic in Computer Science, John Wiley & Sons, Chichester 1993. ∆EON ’94: Studia Logica, Sonderausgabe Bd. 57 (1996). ∆EON ’96: Mark A. Brown, José Carmo (Hrsg.): Deontic Logic, Agency and Normative Systems, Springer, Berlin 1996. ∆EON ’98: Paul McNamara, Henry Prakken (Hrsg.): Norms, Logics and Information Systems, IOS Press, Amsterdam 1999. ∆EON 2000: Erscheint getrennt in Fundamenta Informaticae und Nordic Journal of Philosophical Logic, 2001. Zur Einführung (I): Hofstadter/McKinseys Logik der Imperative Albert Hofstadter, J.C.C. McKinsey: On the Logic of Imperatives, Philosophy of Science 6 (1939), 446-457. Alphabet: Satzbuchstaben Prop: p1, p2, p3, ... Operatoren: - aussagesatzbildende Aussagesatzoperatoren: ¬, ∧, ∨, →, ↔ - imperativbildender Aussagesatzoperator: ! - imperativbildende Imperativoperatoren: , +, × - imperativbildender Aussagesatz-Imperativ-Operator, ⇒ - aussagesatzbildende Imperativoperatoren: >, = Hilfszeichen: (, ) Sprache: Aussagesätze: (a) Alle Satzbuchstaben sind Aussagesätze. (b) Wenn C1 und C2 Imperative sind, so sind (C1>C2) and (C1=C2) Aussagesätze (Erfüllungsaussagen). (c) Wenn S1 und S2 Aussagesätze sind, so auch ¬S1 (Negation), (S1∧S2) (Konjunktion), (S1∨S2) (Disjunktion), (S1→S2) (Konditional), und (S1↔S2) (Bikonditional). (d) Nichts anderes ist ein Aussagesatz (Abschlußklausel). Imperative: (a) Wenn S ein Aussagesatz ist, so ist !S ein Imperativ. (b) Wenn C1 und C2 Imperative sind, so auch C1 (Komplement), (C1+C2) (Summe) und (C1×C2) (Produkt). (c) Wenn S ein Aussagesatz ist, und C ein Imperativ, so ist (S⇒C) (Qualifikation) ein Imperativ. (d) (Abschlußklausel) Informale Semantik: !p Stehe p für den Satz: „Platz 4 ist blau.“ Dann bedeutet !p den Imperativ: „Es sei der Fall, daß Platz 3 blau ist!“. !p Der Imperativ, der das Gegenteil von !p verlangt: „Es sei nicht der Fall, daß Platz 3 blau ist!“ C1+C2 Der Imperativ, der zwei Imperative auf die Weise verbindet, daß mindestens die Erfüllung eines von ihnen verlangt wird: „Es sei der Fall, Platz 3 blau ist, oder es sei der Fall, daß Platz 4 rot ist!“ C1×C2 Der Imperativ, der zwei Imperative auf die Weise verbindet, daß die Erfüllung beider verlangt wird: „Es sei der Fall, Platz 3 blau ist, und es sei der Fall, daß Platz 4 rot ist!“ S⇒C Der qualifizierte Imperativ, der C unter der Bedingung verlangt, daß S wahr ist: „Wenn Platz 3 blau ist, dann sei es der Fall, daß Platz 4 rot ist.“ C1>C2 Die Aussage, daß der Imperativ C1 den Imperativ C2 materiell enthält, d.h. daß C2 dann erfüllt ist, wenn C1 erfüllt ist. C1=C2 Die Aussage, daß der Imperativ C1 dem Imperativ C2 materiell gleichwertig ist, d.h. daß C2 dann und genau dann erfüllt ist, wenn C1 erfüllt ist. Axiomatisches System HM: (a) HM enthält alle Einsetzungsinstanzen von Aussagesätzen der Sprache in geeignete Axiomenschemata der Aussagenlogik, sowie alle weiteren Einsetzungsinstanzen der Sprache in folgende Axiomenschemata (es seien S1, S2 Aussagesätze, und C1, C2, C3, C4 Imperative): PSI12 PSI13 PSI14 PSI15 PSI16 PSI17 (b) !S1 = !¬S1 !S1 + !S2 = !(S1 ∨ S2) !S1 × !S2 = !(S1 ∧ S2) S1 ⇒ C1 =!S1 + C1 (!S1>!S2) ↔ (S1→S2) (!S1=!S2) ↔ (S1↔S2) PSI20 PSI21 PSI22 PSI23 PSI24 PSI25 ((C1=C2) ∧ (C2=C3)) → (C1=C3) (C1=C2) → (C2=C1) (C1=C2) → (C1=C2) ((C1=C2) ∧ (C3=C4)) → ((C1+C3) = (C2+C4)) ((C1=C2) ∧ (C3=C4)) → ((C1×C3) = (C2×C4)) ((C1=C2) ∧ (C3=C4)) → ((C1>C3) ↔ (C2>C4)) HM ist abgeschlossen unter modus ponens, d.h. für alle Aussagesätze A, B: Wenn A ∈ HM und A→B ∈ HM dann B ∈ HM. Für A ∈ HM schreiben wir ðHM A und nennen A beweisbar in HM. Hofstadter/McKinseys Theorem I Wenn S ein Aussagesatz ist, dann gibt es einen reinen Aussagesatz A so daß ðHM S ↔ A . Wenn C ein Imperativ ist, dann gibt es einen reinen Aussagesatz A so daß ðHM C = !A . (wobei ein ‘reiner Aussagesatz’ einen solchen bezeichnet, im weder ‘>’ noch ‘=’ vorkommt) Formale Semantik (Vorschlag): „The satisfaction of an imperative is analogous to the truth of a sentence. The connective symbols may, on their analogy with the truth-functions of the calculus of sentences, be thought of as satisfaction functions of imperatives.“ Sei v eine Bewertung Prop → {0,1}, die allen Satzbuchstaben einen Wahrheitswert 1 oder 0 zuweist. Die Bewertung rein propositionaler Teilaussagen erfolgt in gewohnter rekursiver Weise, d.h. (a) (b) (c) (d) (e) (f) ein Satzbuchstabe p ∈ Prop ist wahr genau dann wenn (gdw) v(p) = 1 ¬A ist wahr gdw A nicht wahr (falsch) ist (A∧B) ist wahr gdw A wahr ist und B wahr ist (A∨B) ist wahr gdw A wahr ist oder B wahr ist (A→B) ist wahr gdw wenn A wahr ist, dann ist auch B wahr (A ist falsch, oder B wahr) (A↔B) ist wahr gdw A ist wahr genau dann wenn B wahr ist (beide, A und B sind wahr, oder beide falsch) Anhand von v definieren wir nun in gleicher Weise rekursiv, was es heißt, wenn ein Imperativ erfüllt ist (wobei S ein beliebiger Aussagesatz ist): (a´) (b´) (c´) (d´) (e´) ein Imperativ !S ist erfüllt gdw S wahr ist C ist erfüllt gdw C nicht erfüllt (verletzt) ist (C1×C2) ist erfüllt gdw C1 erfüllt ist und C2 erfüllt ist (C1+C2) ist erfüllt gdw C1 erfüllt ist oder C2 erfüllt ist (S⇒C) ist erfüllt gdw wenn S wahr ist, dann ist C erfüllt (S ist falsch, oder C erfüllt) Nun ergänzen wir die Wahrheitsdefinitionen (a)-(f) um folgende: (g) (h) C1>C2 C1=C2 ist wahr ist wahr gdw wenn C1 erfüllt ist, dann ist C2 erfüllt (C1 ist verletzt, oder C2 erfüllt) gdw C1 ist erfüllt genau dann wenn C2 erfüllt ist (beide sind erfüllt, oder beide verletzt) „Theorem II“: HM ist vollständig und korrekt. (Übung) Fragen: 1. Hofstadter/McKinsey unterscheiden bei Imperativen zwischen „fiats“ und „directives“. Was ist der Unterschied? Kann ein fiat in eine Direktive umgeformt werden, oder umgekehrt? 2. Im Englischsprachigen erklären die Autoren die Bedeutung des Ausrufezeichens so: „The imperative ‘Let it be the case that the place 3 is blue!’ can be thought as got from the sentence ‘The place 3 is blue,“ by applying the operator ‘Let it be the case that ...“. The mark ‘!’ is introduced to serve as this unary operator, changing a sentence into an imperative, and is to be read ‘Let it be the case that ...“. Warum ist diese Erklärung nach „deutscher Grammatik“ problematisch? 3. Warum werden unterschiedliche Operatoren für die Verknüpfung von Aussagesätzen, und von Imperativen verwandt? 4. Was erscheint merkwürdig an Hofstadter/McKinseys Operator ‘⇒’ (vgl. Axiom PSI 15)? 5. Kritiker von Hofstadter/McKinseys System behaupteten, danach seien ‘!p’ und ‘p’ ‘logisch äquivalent’ (Føllesdal/Hilpinen und Stig Kanger, beide in Hilpinen 1971 (S. 7 und S.49). Was ist von dieser Kritik zu halten? 6. Auf S. 452 ihres Aufsatzes führen Hofstadter/McKinsey u.a. folgende Definition ein: Ein Imperativ C ist beweisbar gdw C=!S und S beweisbar ist. Ein Imperativ C1 ist ableitbar aus einem Imperativ C2 gdw C1= !S1 und C2= !S2, und ÃÄHM S1 → S2 . Was spricht aus syntaktischer oder semantischer Sicht gegen eine derartige Begrifflichkeit?