Zusammenfassung der Sitzung der Med. Ethik AG am 18.07.05 (Wandel des Krankheitsverständnisses unter dem Einfluss der med. Fortschritts) Prof. Zwirner stellt die Entwicklung des Krankheitsbegriffs im Laufe der Geschichte dar. Nicht erst heute spielt die medizinische (Krankheits-) Theorie eine bedeutende Rolle in der Behandlung der Kranken. Hippokrates hat seine Medizin auf der genauen Beobachtung der Kranken aufgebaut. Im Mittelalter dominiert die Theorie die Beobachtung. Das Wechselspiel von Theorie und Beobachtung bestimmt auch das Verhältnis des Arztes zu den Kranken. Unter dem Einfluss der naturwissenschaftlich orientierten Medizin (19.Jh.) ändert sich das Krankheitsverständnis und mit ihm das Arzt-Patienten-Verhältnis. Das Krankheitsverständnis wird mechanistisch und materialistisch. Der Patient als Person spielt kaum noch eine Rolle. Die von Ludolf Krehl begründete Heidelberger Schule versucht den kranken Menschen wieder in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns zu stellen und nicht die als „Defekt“ verstandene Krankheit. V.v. Weizsäcker hebt die „pathische Existenz“ (Fühlen, Empfinden, Wollen, Leiden) des (kranken) Menschen hervor. Krankheit ist eine Herausforderung und Chance, sein Leben zu ändern. Das „Organische“ hat immer einen Sinn, also auch die Krankheit. Richard Siebeck ersetzt die bei von Weizsäcker noch herrschende Leib-Seele-Problematik durch die Kategorie der „Lebensgeschichte“. Krankheit ist kein isoliertes Geschehen, sie ereignet sich im Horizont der Lebensgeschichte und ist in ihrem Rahmen zu verstehen und nicht nur naturwissenschaftlich zu erklären. Entsprechende Fragen nach dem Sinn der Krankheit stellen auch die Patienten. „Warum gerade jetzt? Wozu die Krankheit?“. Die naturwissenschaftliche Betrachtung muss auf ein Verstehen der Krankheit im Horizont der Lebensbiographie und auch des sozialen Umfelds überschritten werden. Es gibt nur kranke Menschen und nicht eine von ihnen losgelöste Krankheit. Heute ist eine Spaltung des Krankheitsverständnisses in eine (1) objektive naturwissenschaftliche Sicht und (2) eine biographisch-subjektive Sicht zu beobachten, die zunehmend gegenüber der ersteren in den Hintergrund tritt. Die Folge ist, dass z.B. die Anamnese kaum noch eine Rolle spielt, dass die „pathische Existenz“, die Frage nach dem Sinn der Krankheit in der Medizin kaum noch vor kommen und dass ethische Fragen in der medizinischen Praxis weitgehend ausgeblendet werden. Die Individualität des Patienten kommt durch die Einführung der DRG’s immer mehr abhanden. Gleichzeitig ändert sich damit das Verhalten der Ärzte zu Patienten. Kompensiert werden sollen diese Defizite durch die Theorie vom „mündigen Patienten“, der selbst über seine Behandlung entscheiden soll und die übersieht, dass der Patient in erster Linie krank ist. Fragen aus der Diskussion Das Verständnis von Krankheit als „Defekt“ klammert mit der Person die Frage nach dem Sinn der Krankheit aus. 1. Die naturwissenschaftliche Methodik führt zur Ausklammerung des kranken Subjekts. Das Verständnis von Krankheit bestimmt das von der Therapie. Das führt zum Ausfall des Begriffs der Prognose, in dem nach dem Wohlergehen des Patienten gefragt wird. Die Therapie wird meist nur auf der Basis der Diagnose und des Machbaren durchgeführt. Fragen nach dem Ziel der Therapie für den kranken Menschen werden weitgehend ausgeblendet, weil die naturwissenschaftliche Methodik dazu keine Aussagen machen kann. 2. Durch die Ausklammerung des Subjekts und der Frage nach dem Bedeutung der Krankheit für das Subjekt kann die naturwissenschaftliche Methodik zur Entlastung für den Menschen werden (Es wird etwas repariert). Erzeugt die naturwissenschaftliche Methodik bei den Menschen die Vorstellung von der „Reparaturmedizin“ ? 3. Wie verhält sich die naturwissenschaftliche Sicht der Krankheit zur „Ökonomie“? Wird nicht nur die Behandlung der Krankheit berechenbar (DRG’s), sondern der Mensch selbst? Wie teuer ist der Kranke? Zusammenfassung der Sitzung am 13.09.05 Vortrag Prof. Dr. Thomas Wienker: Genetische Forschung und Krankheitsverständnis I. Prof. Wienker (Leiter der Abteilung „Genetische Epidemiologie) warnte vor einer Überschätzung der Bedeutung genetischer Forschung in der Diagnostik und Therapie von Krankheiten. Teils auch in der Wissenschaft, vor allem aber in der gebildeten Öffentlichkeit wird die Bedeutung des genetischen Einflusses für die Entstehung von Krankheiten und Eigenschaften des Menschen weitgehend überschätzt und andere Faktoren, nicht zuletzt Umwelteinflüsse und soziale Verhältnisse und die Lebensgeschichte des Menschen, vernachlässigt. Das hängt in der Medizin vor allem damit zusammen, dass man die genetischen Komponenten naturwissenschaftlich erfassen kann, gestörte Funktionen auf den höheren Ebenen der Zelle und der Organe aber wegen der ungeheuren Komplexität nicht mehr verstehen kann, und den Einfluss der nicht naturwissenschaftlich beschreibbaren Einflüsse erst recht nicht. Deshalb neigt man schnell zur Reduktion der Krankheitsursachen auf die naturwissenschaftlich fassbare genetische Ebene und suggeriert damit, dass die Gene nach dem linearen Kausalschema die alleinige oder entscheidende Ursache für die Entstehung von Krankheiten (oder auch aller normaler Eigenschaften) sind. Dies trifft aber nur für die vergleichsweise geringe Zahl monogener Erbkrankheiten zu, nicht aber für die polygen bestimmten (es ist unwahrscheinlich, dass dann alle in Frage kommenden Gene gleichzeitig einen „Defekt“ haben) und die multifaktoriellen Krankheiten zu. Es gibt hier keine strikte Kausalursache der Gene, die alles bestimmt. Die Kausalität ist nur eine statistische, nur eine Korrelation zwischen Genen und dem Auftreten einer Krankheit. Das Gen ist dann nicht der entscheidende und alles auslösende „erste Beweger“ (Gene = Gott J.C. Avise, The Genetic Gods, 1998), der alles weitere Geschehen determiniert, sondern seine Wirkungen unterliegen in der Ausprägung zahlreichen Einflüssen. Das Gen ist ein „geführter Führer“, nicht eine alles dominierende Kausalursache. Das trifft nicht einmal bei Krankheiten zu, die den Mendelschen Gesetzen folgen. II. Die genetische Epidemiologie verfolgt das Ziel, genetische Komponenten von Krankheiten zu identifizieren und zu charakterisieren. Dabei geht man nicht von den Genen, sondern von kranken Menschen und ihren Krankheiten aus und sucht über den Weg der Familien-Anamnese oder durch Untersuchung zahlreicher Menschen mit solchen Krankheiten und von Kontrollgruppen, ob ihrer Krankheit eine Genvariation entspricht. Zeigt sich, dass ein Krankheitsbild in eindeutig gehäufter Weise mit einer oder mehreren Genvariationen korreliert ist, so ist ein Zusammenhang zwischen diesen und der Krankheit anzunehmen, ohne dass man daraus schlussfolgern kann, wie stark das Auftreten dieser Krankheit durch diese Gene bestimmt ist. Man hofft, (1) durch diese Forschungsrichtung zu einem besseren Verstehen der Entstehung von Krankheiten und auf dieser Basis zu besseren therapeutischen Interventionen vorzudringen , z.B. um einen Punkt zu finden, an dem man frühzeitig in den Prozess der Entstehung von Krankheiten eingreifen kann, z.B. durch Medikamente. Dass setzt allerdings voraus, dass man auch den Entstehungsprozess von Krankheiten jenseits der Ebene des Genoms auf der Ebene der Zellen und der Organe besser versteht. Wie diese Ebene komplexer Interaktionen verstanden werden kann, ist nicht in einmal in Ansätzen ersichtlich. Der Weg zu therapeutischen Konsequenzen ist unabsehbar. (2) Eindeutig fehlgeschlagen ist der Weg der unmittelbaren „Gentherapie“, d.h. des Transfers von Genen in den Körper, in der Hoffnung dadurch therapeutische Erfolge zu erzielen. (3) Offen ist auch, inwieweit die genetische Diagnostik Möglichkeiten der Prävention des Ausbruchs von Krankheiten ermöglicht. III. Diskutiert wurde, inwieweit die genetische Diagnostik auch bei multifaktoriellen und polygenen Erkrankungen Anlass geben kann zur Prävention von Krankheiten durch Selektion der Träger von genetischen Dispositionen für Krankheiten. Betont wurde, dass kranke Gene keine Krankheit sind, dass krank der ist, bei dem sich eine Krankheit manifestiert. Die zeitliche Problematik wurde ebenso wenig näher erörtert wie das Problem, dass durch genetische Diagnostik immer auch Aussagen über leiblich verwandte Personen gemacht werden.