Spielt die Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie eine Rolle?

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Strahlentherapie
und Onkologie © Urban & Vogel 2000
Themenschwerpunkt
Der Zeitfaktor in der Onkologie: Spielt die
Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie eine Rolle?
Lorenz Trümper, Michael Pfreundschuh1
Hintergrund: Die Behandlung bösartiger Tumoren ruht auf den vier Säulen Chirurgie, Strahlentherapie, Chemotherapie und Immuntherapie. Interdisziplinäre Konzepte sollen eine optimale Behandlung maligner Erkrankungen ermöglichen. Dabei kommt der Optimierung jeder Behandlungsform eine wichtige Rolle zu.
Methodik: In der Arbeit wird anhand einer Literaturanalyse die Rolle der Gesamtbehandlungsdauer und der Dosisintensität bei der Optimierung chemotherapeutischer Protokolle am Beispiel dreier wichtiger onkologischer Erkrankungen untersucht.
Ergebnis und Schlussfolgerung: Sowohl Tumormodelle und die daraus folgenden Hypothesen als vor allem auch gut
entworfene klinische Studien können Fortschritte in der chemotherapeutischen Behandlung von Tumorerkrankungen
ermöglichen.
Schlüsselwörter: Chemotherapie · Gesamtbehandlungszeit · Dosisintensität · Remissionsrate
The Role of Treatment Duration in Chemotherapy Regimens for the Treatment of Malignant Diseases
Background: The treatment of malignant tumors consists in the optimal combination of the 4 modalities surgery, radiotherapy, chemotherapy, and immunotherapy. An important goal of clinical research is the development of the optimal
application of each of these modalities.
Method: This review of the literature focuses on the importance of the total treatment duration and dose intensity in the
development of chemotherapy regimens. Three important malignant diseases will be examined as to the optimal application of systemic chemotherapy.
Result and Conclusion: Tumor models with the resulting hypotheses and well-designed clinical trials will lead to progress in the treatment of malignant tumors.
Key Words: Chemotherapy · Treatment duration · Dose intensity · Remission rate
D
ie Behandlung bösartiger Tumoren ruht auf den „vier
Säulen“ Chirurgie, Strahlentherapie, systemische
Chemotherapie und Immuntherapie. Jeder dieser vier Behandlungsformen kommt in einem multimodalen Behandlungskonzept eine wichtige Rolle zu. Die bestmögliche Behandlung von bösartigen Erkrankungen wird einerseits
durch interdisziplinäre Konzepte, ohne die eine onkologische Behandlung nicht denkbar ist, andererseits aber auch
durch die kontinuierliche Optimierung der einzelnen Behandlungsmodalitäten erreicht. Die rationale Weiterent-
1
wicklung der systemischen Chemotherapie ist das Ziel zahlreicher klinischer Studien. Dabei ist nicht nur die Erprobung
neuer Substanzen, sondern auch die Optimierung bislang bekannter Substanzen oder Substanzkombinationen vordringlich, um die Behandlungsergebnisse zu verbessern. Hierbei
spielen Veränderungen der zeitlichen Dauer und der Abfolge bekannt wirksamer Substanzen eine wichtige Rolle.
Unter dem Begriff Chemotherapie verstehen wir eine Tumortherapie durch Verabreichung zytotoxischer Substanzen, soge-
Innere Medizin I, Universitätskliniken des Saarlandes, Homburg/Saar.
Eingang des Manuskripts: 28. 4. 2000; Annahme des Manuskripts: 26. 7. 2000.
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Strahlenther Onkol 2000;176:466–71 (Nr. 10)
Trümper L, et al. Rolle der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie
nannter Zytostatika. Der Begriff Chemotherapie geht auf Paul
Ehrlich zurück, der aus der Tatsache, dass chemische Substanzen Mikroorganismen differenziell anfärbten, schloss, dass
dieser Mechanismus zur gezielten Behandlung von bakteriellen Infektionen einsetzbar sein müsse. Die von ihm erträumte
Wunderwaffe („magic bullet“) ist mit der Erfindung des Penicillins für die antimikrobielle Chemotherapie Wirklichkeit geworden, scheint für die Behandlung bösartiger Tumoren aber
noch in weiter Ferne zu liegen. Dies liegt einerseits daran, dass
entartete Zellen zwar genetisch verändert sind, sich von den
gutartigen, differenzierten Ursprungszellen hinsichtlich ihres
Stoffwechsels und damit auch der Metabolisierung von Zytostatika in der Regel nur quantitativ unterscheiden. Damit ist
eine „spezifische“, das heißt die Tumorzelle und nicht die verwandte Ursprungszelle schädigende Chemotherapie nur in
wenigen ausgewählten Fällen möglich. Diese geringe therapeutische Breite stellt nach wie vor das entscheidende Problem in der Optimierung wirksamer zytostatischer Behandlungsverfahren dar. Angriffspunkt zytostatischer Verfahren ist
das Wissen darum, dass die Tumorzellpopulation als Ganze
nicht nur entdifferenziert ist, sondern einen sehr viel höheren
Prozentsatz als das Normalgewebe an Zellen enthält, die der
Wachstumsfraktion angehören. Dieser wiederum eher quantitative als qualitative Unterschied zwischen Tumor- und Normalgewebe reicht bei einer Reihe von Tumoren aus, auch in
fortgeschrittenen Stadien Heilungen durch systemische Chemotherapien zu erzielen. Gerade bei schnell wachsenden (kurze Tumorverdopplungszeit) Tumoren lässt sich dieser Unterschied ausnutzen. Es scheint auf den ersten Blick ohne
weiteres Hinterfragen einsichtig, dass der Zeitfaktor, also der
Versuch, „möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu applizieren“, hier von besonderer Bedeutung ist. Aufgabe dieser kurzen Darstellung soll die Beschreibung unterschiedlich lang
dauernder Chemotherapieprotokolle und ihrer klinischen und
theoretischen Grundlagen im Hinblick auf die Frage sein, welche Rolle hier die Gesamtbehandlungsdauer spielt. Ohne
Erörterung der tumorbiologischen Grundlagen und der Hypothesen, die den Behandlungsmodellen zugrunde liegen, lässt
sich dies nicht bewerkstelligen. Ersichtlich wird in dieser Darstellung aber auch, dass die besondere Bedeutung des Zeitfaktors keinesfalls so klar herauszuarbeiten ist, wie es der „erste
Blick“ suggerieren möchte. Tumorspezifische Parameter wie
die klonale Heterogenität mit Entwicklung resistenter Zellen,
der Anteil der aktiv proliferierenden Zellen in einem Gewebe
und pharmakokinetische Parameter, zu denen die Metabolisierung, Tumorzirkulation („Tumordosis“) sowie die Unterscheidung zwischen Gesamtdosis und Dosisintensität (Dosis
pro Zeit) zählen, entscheiden über den möglichen Erfolg einer
Chemotherapie. Dabei spielen neben tumorspezifischen auch
individuelle, von Patient zu Patient verschieden Faktoren, die
häufig nicht oder schlecht definierbar sind, eine große Rolle.
All dies soll die Bedeutung von Hypothesen und modellhaften
Therapieschemata aber nicht relativieren, sondern die Wichtigkeit rational entworfener und konsequent durchgeführter
Therapiestudien untermauern, da nur so Aussagen zu erwarten sind, die interindividuelle Unterschiede relativieren können.
Grundlagen der internistischen Tumortherapie – Modelle,
Hypothesen und Kochrezepte?
Der auf den ersten Blick zufällig erscheinenden Vielfalt internistisch-onkologischer Behandlungskonzepte und ihrer FortStrahlenther Onkol 2000;176:466–71 (Nr. 10)
entwicklung in den letzten Jahrzehnten liegen neben empirischen, durch Phase-III-Studien validierten und in die klinische
Praxis integrierten Regimen, die zuweilen eher beliebig zusammengesetzt denn rational begründet erscheinen (daher
pejorativ: „Kochrezepte“), aber Modelle und Hypothesen zugrunde, die im Labor und Tierversuch sowie im mathematischen Modellversuch entwickelt sind und einer rationalen klinischen Überprüfung bedürfen. Der Erörterung dieser
Grundlagen seien einige ausgewählte Beispiele internistischonkologischer Behandlungsverfahren vorangestellt, die die
Breite der biologischen Varianz systemischer Tumoren wie
auch der angewendeten Therapiekonzepte illustrieren sollen.
Insbesondere wird die Frage, inwieweit für unterschiedliche
Gesamtbehandlungszeiten klinisch validierte Daten vorliegen, erörtert. Ausgegangen wird dabei von der Situation einer
kurativ intentionierten systemischen Chemotherapie, da die
Bedingungen einer palliativen Behandlung sowohl von der
Behandlungsindikation wie der Durchführung der Therapie
her grundsätzlich andere sind als die einer kurativen Behandlung. Die alleinige Wirksamkeit systemischer Chemotherapie
lässt sich am besten an inoperablen, das heißt primär systemischen oder systemisch disseminierten Tumoren zeigen. Hier
finden wir auf der einen Seite potentiell heilbare Tumoren,
wie z.B. Hodentumoren, die durch systemische Behandlungen
in 90% der Fälle in komplette Remissionen zu bringen sind
und bei denen mehr als 75% der Patienten nach fünf Jahren
noch krankheitsfrei leben. In die Gruppe dieser Erkrankungen, die nur 10% aller Tumoren ausmachen, fallen Lymphome, Leukämien, Keimzelltumoren und zum Teil kleinzellige
Bronchialkarzinome. Diese Tumoren werden, da sie potenziell heilbar sind, immer systemisch-kurativ behandelt. Auf der
anderen Seite finden sich Tumoren (etwa 40% aller Tumoren), die zwar chemotherapiesensibel sind, aber selten oder
nie geheilt werden können und damit primär palliativ behandelt werden mit dem Ziel, die Tumorprogression zu
verlangsamen und damit entweder eine subjektive Beschwerdebesserung oder eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit zu erreichen. Zu letzteren zählen Weichteiltumoren, lymphatische Tumoren so genannter niedriger
Malignität (!) wie die chronische lymphatische Leukämie oder
das Plasmozytom. Bei vielen Tumoren, wie Magen- oder
Bronchialtumoren und Plattenepithelkarzinomen, ist nur eine
Beschwerdelinderung möglich, und bei anderen (etwa 20% aller Erkrankungen) ist auch dies nicht durch Chemotherapie
erreichbar, die damit selten oder nie indiziert ist. Hierzu
gehören Nierenzellkarzinome, langsam wachsende Sarkome
oder auch Leberzellkarzinome.
Grundsätzlich ist dabei, und dies erklärt die oben angeführten
Unterschiede, die tumorselektive Wirkung einer systemischen
Tumortherapie gewährleistet durch eine erhöhte Empfindlichkeit von Tumorzellen gegenüber Zytostatika im Vergleich
zu normalen Zellen – dies kann quantitativ und bei einzelnen
Erkrankungen (z. B. Nukleosidanaloga bei lymphatischen
Neoplasien) auch qualitativ bedingt sein. Hinzu kommen die
spezielle Kombination der eingesetzten Substanzen, ihre zeitliche Abfolge und ihr Applikationsmodus, die zusammen mit
supportiven Maßnahmen das gesunde Normalgewebe im Vergleich zum Tumorgewebe schonen sollen. Beispielhaft für solche Konzepte ist der Einsatz von so genannten Antimetaboliten wie Folsäureantagonisten (z. B. Methotrexat), die durch
eine kompetitive Hemmung von für die Nukleinsäuresynthese
essenziellen Stoffwechselschritten Tumorpopulationen mit
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Trümper L, et al. Rolle der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie
hoher Wachstumsfraktion dann schnell und früh eliminieren,
wenn der Antimetabolit in hoher Dosis gegeben wird. Normalgewebe mit geringerer Wachstumsfraktion können dann
dadurch geschützt werden, dass der Citrovorum-Faktor (Folinsäure) hoch dosiert appliziert wird und damit die Nukleinsäuresynthese im gesunden Gewebe ermöglicht.
Zytostatika werden unterschieden anhand ihrer molekularen Wirkmechanismen auf den zellulären Stoffwechsel und
ihres Angriffspunktes im Zellzyklus. Phasenspezifische Medikamente setzen in einer bestimmten Phase (G1, S, G2, M)
des Zyklus an, zyklusspezifische Medikamente eliminieren
alle proliferierenden beziehungsweise aktiv im Zyklus befindlichen Medikamente, während zyklusunabhängig aktive
Medikamente auch ruhende (G0-)Zellen zerstören können.
Die folgenden Beispiele zeigen, wie Chemotherapieprotokolle aus diesen verschiedenen Medikamenten zusammengesetzt werden können. Sind diese Kombinationen zunächst
empirisch entstanden, indem man versucht hat, die wirksamsten Einzelsubstanzen so zu kombinieren, dass die Wirkungen wenn möglich additiv, die Nebenwirkungen nicht additiv
waren, so ist in letzter Zeit vermehrt versucht worden, Dosisdichte und „Scheduling“ dieser Substanzen auf rationaler
Basis zu optimieren. Wichtig ist dabei, dass die Dosierungen
einzelner Medikamente nicht durch Kombinationen so weit
kompromittiert werden, dass ihre Wirksamkeit vermindert
wird und dadurch eventuelle Synergismen der Kombinationsschemata aufgewogen werden. Da die wichtigste Nebenwirkung fast aller heute eingesetzten Zytostatika die passagere Unterdrückung der Hämatopoese ist, wurde in die
Einführung von Wachstumsfaktoren, die diese stimulieren,
große Hoffnung gesetzt. Der Beweis, dass diese jedoch über
die Verringerung der Nebenwirkungsrate (z.B. Anzahl/
Dauer von Infektionen) tatsächlich eine Verbesserung der
Synergieeffekte und damit der Überlebensrate erreichen
können, steht jedoch noch aus.
Die systemische Tumortherapie – Beispiele
Systemische Therapien bestehen in der Regel aus der
blockweisen („Zyklen“) Verabreichung von Zytostatikakombinationen („Regime“). Diese werden als „primäre“
Therapie bei fortgeschrittenen Tumoren eingesetzt, um eine komplette Remission als Voraussetzung einer eventuelle Heilung zu induzieren. Adjuvante Therapien finden nach
einer potentiell kurativen Lokalbehandlung (Chirurgie
und/oder Strahlentherapie) statt, um Rezidive zu vermeiden. Chemotherapieprotokolle gliedern sich häufig in sogenannte Induktionstherapien (intensive Anfangstherapie bis
zur Remission), Konsolidierungskurse (mildere Therapie
zur Stabilisierung dieser Remission) und Erhaltungstherapien (milde Therapien zur Erhaltung der Remission). Die
gesamte Dauer von der Induktionstherapie bis zum Abschluss der Erhaltungstherapie wird als „Gesamtbehandlungsdauer“ bezeichnet. Die folgenden Beispiele zeigen,
dass diese bei den verschiedenen Erkrankungen sehr unterschiedlich sein kann.
1. Akute myeloische Leukämie
Akute myeloische Leukämien entstehen aus der klonalen
Proliferation früher hämatopoetischer Zellen, die Zeichen
einer myeloischen, monozytären oder selten auch erythrozytären und megaloblastären Differenzierung zeigen kön-
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nen. Diese Proliferationen werden von frühen Vorläuferzellen, den so genannten AML-Stammzellen, unterhalten, die
nur einen geringen Anteil des sichtbaren Leukämieanteils
ausmachen, aber die klonale Proliferation unterhalten wie
auch Rezidive verursachen. Die Behandlung erfolgt in
Blöcken, die im Wesentlichen aus den Medikamenten Cytosinarabinosid, einem Anthrazyklin sowie Etoposid bestehen. Einer frühen, raschen und hoch dosierten Doppelinduktion folgt eine hoch dosierte Konsolidierung zur
Elimination etwaiger residualer Blasten. Die Remission
wird in der Regel früh erreicht, die Gesamtdauer der Induktions- und Konsolidierungsblöcke beträgt insgesamt nur
etwa 20 Wochen. Unklar ist, ob diese kurze, hochdosierte
Oligosubstanztherapie ausreicht oder ob ihr eine Erhaltungstherapie (siehe oben), die teilweise über Monate oder
Jahre angeschlossen wird, folgen muss. Lässt man den Sonderfall der „Erhaltung“ durch eine allogene Stammzelltransplantation außer Betracht, würde diese Erhaltung die
Gesamtbehandlungsdauer wesentlich verlängern. Nur wenn
die AML-Stammzellen dadurch eliminiert werden könnten,
wäre ein Vorteil von dieser Verlängerung der Gesamtbehandlungsdauer zu erwarten. Verschiedene Studien zeigen
jedoch, dass nur die Intensivierung der Behandlung im Induktions- und Konsolidierungsteil die Ergebnisse jüngerer
Patienten verbessern kann. Dies gilt aber nur, solange die
AML-Klone chemotherapiesensitiv sind.
Bezüglich der Gesamtbehandlungsdauer folgt also für die
akute myeloische Leukämie: möglichst kurze, intensive Behandlung mit Induktion und Konsolidierung (rasch, früh,
kurz, hoch). Alle Subtypen (ausgenommen der Sonderfall
der Promyelozytenleukämie) werden gleich behandelt.
2. Kolorektale Karzinome – adjuvante Therapie
Gänzlich anders ist die adjuvante Situation bei kolorektalen Karzinomen, da keine rasche Induktion einer systemischen Erkrankung vonnöten ist, sondern die Reduktion der
Rezidivrate, die vom Tumorstadium und der dadurch verursachten minimalsystemischen Erkrankung abhängig ist,
mit dem Ziel, das Gesamtüberleben zu verlängern. Diese
minimalsystemische Erkrankung, die nicht mit bildgebenden Verfahren, sondern mit biologischen Surrogatmarkern,
wie z. B. der Knochenmarkinfiltration durch Mikrometastasen, zu sichern ist, kann durch die Modalitäten Chemotherapie und Immuntherapie beeinflusst werden. Die
Überlegenheit der adjuvanten Behandlung gegenüber einer „Watch and wait“-Strategie ist durch ausreichend
große, prospektiv randomisierte Studien hinreichend belegt. So konnten die „IMPACT“-Investigatoren [5] anhand
der Daten von 1493 Patienten in den Stadien Dukes B und
C aus drei Studien zeigen, dass durch eine adjuvante Behandlung mit 5-Fluorouracil und Leukovorin im Vergleich
zu einem Plazebo das ereignisfreie Drei-Jahres-Überleben
von 62% auf 71% erhöht werden konnte. Das Gesamtüberleben war mit 83% gegenüber 78% ebenfalls signifikant
verlängert. Eine Verlängerung der sechsmonatigen Gesamtbehandlungsdauer nach dem so genannten „Mayo“Schema auf zwölf Monate bringt in der adjuvanten Situation keine Vorteile [10]. Hier scheint ein Schwellenwert für
die minimalsystemische Erkrankung oder eine Resistenzschwelle initial empfindlicher Mikrometastasenklone erreicht.
Strahlenther Onkol 2000;176:466–71 (Nr. 10)
Trümper L, et al. Rolle der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie
Bezüglich der Gesamtbehandlungsdauer folgt also für das
kolorektale Karzinom in der adjuvanten Situation: frühe,
mittellange, niedrig dosierte Chemo- und/oder Immuntherapie (früh, mittellang, niedrig), keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Therapieblöcken, keine Modifikation
in Abhängigkeit vom Ansprechen (da geeignete Parameter
derzeit fehlen).
3. Non-Hodgkin-Lymphome
Non-Hodgkin-Lymphome sind klonale Proliferationen lymphatischer Zellen, die auf verschiedenen Stufen der physiologischen Reifung entarten können und dadurch eine ausgeprägte Heterogenität besitzen, die sich an unterschiedlicher
Morphologie, Klinik und Therapieempfindlichkeit zeigt.
Dem entspricht inzwischen eine differenzierte, an der Biologie orientierte Behandlungsstrategie. So genannte niedrig
maligne (Kiel-Klassifikation) oder indolente (REAL- bzw.
WHO-Klassifikation) Non-Hodgkin-Lymphome sind primär
häufig disseminiert, haben aber eine langsame Wachstumstendenz. Dem entspricht eine primär spät einsetzende Behandlung (bei „Behandlungsbedürftigkeit“) mit wenigen
Medikamenten über sechs bis acht Monate (COP-Schema).
Damit lassen sich bei 86% der Patienten Remissionen (nur
21% komplette Remissionen; n = 162 Patienten) erreichen.
Eine „Intensivierung“ mit Verkürzung der Cyclophosphamidapplikation und Anwendung von Anthrazyklinen in der
Induktionsbehandlung führt zu keiner Verbesserung der Ergebnisse (90% Remissionen, 20% komplette Remissionen; n
= 182 Patienten; Hiddemann und Unterhalt, Deutsche Studiengruppe niedrig maligne Non-Hodgkin-Lymphome, pers.
Mitteilung, Februar 2000).
Aggressive oder hoch maligne Lymphome hingegen zeichnen sich durch eine kurze Tumorverdopplungszeit sowie eine hohe Wachstumsfraktion aus. Hier ist das „kürzere“ und
anthrazyklinhaltige CHOP-Schema, 1976 bereits durch
McKelvey et al. [7] in die Behandlung eingeführt, dem
„langsameren“, das heißt Cyclophosphamid über einen längeren Zeitraum applizierenden COP-Schema eindeutig
überlegen. Rasche, dosisintensivierte Induktionstherapien
wie das ACVB-Regime der GELA [1] oder ein zeitverkürztes, intensiviertes CHOP [16] könnten hier Therapieverbesserungen bei verkürzter Gesamtbehandlungszeit bringen. So
konnte in der NHL-B-94-Studie der Deutschen Studiengruppe hoch maligne Non-Hodgkin-Lymphome allein durch eine
Verkürzung der Therapiedauer von 18 auf zwölf Wochen bei
gleicher Gesamtdosis bei Patienten zwischen 60 und 75 Jahren aller klinischen Risikogruppen die Rate kompletter Remissionen von 55,7% auf 70,6% erhöht werden (n = 365;
Zwischenauswertung 4/1999, eigene Daten). Eine Konsolidierungs- oder Erhaltungstherapie im Anschluss an die intensivierte Induktion wurde nicht durchgeführt. Daten der
GELA (Gisselbrecht C., pers. Mitteilung 10/1999) aus der
LNH-93-3-Studie zeigen jedoch, dass eine hoch dosierte,
sehr kurze Induktion mit Stammzellrescue einer konventionellen Induktion mit Konsolidierung bei jungen Hochrisikopatienten unterlegen ist. Ob dies ein biologischer Effekt der
Stammzelltransplantation ist (unzureichendes In-vivo-Purging der autogenen Stammzellen) oder darauf hindeutet,
dass eine Konsolidierung bei minimaler Resterkrankung
nach intensiver Induktion auch bei aggressiven Lymphomen
wichtig ist, lässt sich heute noch nicht sagen. Die Frage nach
Strahlenther Onkol 2000;176:466–71 (Nr. 10)
dem Stellenwert der Gesamtbehandlungszeit ist somit noch
nicht zu beantworten.
Bezüglich der Gesamtbehandlungsdauer folgt also für die
malignen Lymphome:
Indolente Lymphome: Später Beginn, mittellange Dauer,
weniger intensiv mit verlängerter Zytostatikaapplikation.
Nur Induktionstherapie, Konsolidierung ungesichert.
Aggressive Lymphome: Frühe, intensive Behandlung mit Induktion (rasch, früh, kurz) über sechs Zyklen, Konsolidierung durch Hochdosis (nicht kreuzresistent) in Subgruppen
möglicherweise sinnvoll, jedoch nicht gesichert.
Tumormodelle – die Dosis-Wirkungs-Beziehung als
Eckpfeiler moderner Therapiekonzepte
Diese drei Beispiele zeigen, dass die Frage nach der Rolle
der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie nicht
generell beantwortet werden kann, sondern von der Biologie des jeweiligen Tumors (hohe/niedrige Wachstumsfraktion), der spezifischen klinischen Situation (primär,
adjuvant), der Wirksamkeit der Einzelsubstanzen (z. B.
Anthrazyklinempfindlichkeit) und möglichen Synergieeffekten sowie individuellen, von Patient zu Patient unterschiedlichen und a priori nicht bestimmbaren Faktoren abhängt. Eine Veränderung der Gesamtbehandlungsdauer
kann aber die Therapieergebnisse beeinflussen, wie das Ergebnis der verkürzten, aber „dosisverdichteten“ Behandlung bei den aggressiven Non-Hodgkin-Lymphomen zeigt.
Zur Beschreibung dieser Effekte sind in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Modelle entwickelt worden, die
versuchen, die Biologie des Tumorwachstums und die Beziehung zwischen Dosis und Zeit der Therapieapplikation
so in eine Beziehung zueinander zu setzen, dass Optimierungen wirksamer Therapie berechenbar beziehungsweise
vorhersagbar erscheinen [11, 12, 15]. Diesen Dosis-Wirkungs-Beziehungsmodellen liegen folgende biologische
Annahmen zugrunde: Die Wachstumskurve verändert sich
in Abhängigkeit vom Volumen (Gompertz’sches Wachstum); Tumorzellen befinden sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in unterschiedlichen Wachstumskompartimenten
und sind somit gegenüber einer Chemotherapie unterschiedlich sensibel; der Anteil proliferierender (empfindlicher) Zellen, temporär ruhender (temporär nicht empfindlicher, aber rekrutierbarer) Zellen und differenzierter
Zellen sowie der primär oder sekundär resistenten Zellen,
die sich in denselben Wachstumskompartimenten befinden
können, charakterisiert einen individuellen Tumor und seine Chemosensibilität. Das Skipper-Schaber Modell [13],
das so genannte „Log-kill-Modell“, geht von einer festen
Beziehung zwischen applizierter Chemotherapiedosis und
Zelltod sowie einer festen „Killrate“ pro Zyklus (1 Log-order) aus und postuliert somit, dass durch Erhöhung der applizierten Dosis bei frühem Beginn eine Heilung bei jedem
Tumor möglich ist, sofern sich keine Resistenz entwickelt
hat. Das von Goldie et al. [3] entwickelte mathematische
Modell versuchte erstmals, den für die klinische Behandlung wichtigen Aspekt der sekundären Resistenz zu erklären, indem zwischen der genetischen Mutationsrate eines Tumors und seiner (erworbenen) Resistenz gegenüber
Zytostatika eine direkte Beziehung hergestellt wurde. Daraus wurde gefolgert, dass ein möglichst früher Beginn ei-
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Trümper L, et al. Rolle der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie
ner Chemotherapie mit einem Einsatz vieler verschiedener
Zytostatika bei hoher, kurzzeitiger Dosierung zur Verhinderung von Doppelresistenzen wichtig sei. Daraus entwickelte „Flexi-Schemata“ waren in randomisierten Studien den konventionellen Schemata jedoch nicht überlegen
[2]. Neben der genetischen existiert nämlich auch eine kinetische Resistenz von Tumorzellen, was durch die klinische Beobachtung, dass rezidivierte Tumoren wieder auf
die ursprünglich gegebenen Zyostatika ansprechen könnten, untermauert wird. Norton [9] kommt das Verdienst zu,
diese kinetische Resistenz an sich sensitiver Tumorzellen,
deren Ursache z. B. in nicht ausreichender Dosierung oder
ausreichender Gesamtbehandlungsdauer einer Chemotherapie liegt, beschrieben zu haben. Die Hypothese ist
Grundlage vieler Hochdosistherapieschemata, bei denen
nach intensiver Induktionschemotherapie und Erreichen
einer Remission einer oder mehrere Blöcke einer nicht
kreuzresistenten Chemotherapie appliziert werden, um zuvor ruhende, aber prinzipiell sensitive Tumorzellen zu eradizieren. Dass eine direkte Beziehung zwischen der applizierten Dosis einer Substanz und der Wirkung auf den
Tumor besteht, ist aus In-vitro-Versuchen, die zeigen, dass
schon eine geringe Dosisreduktion nicht unbedingt die Rate kompletter Remissionen, aber der Heilungen reduzieren
können, bekannt. Auf der Basis von retrospektiven Analysen von Studien bei Brustkrebs und malignen Lymphomen
entwickelten Meyer et al. [8] das Konzept der relativen Dosisintensität, das beschreibt, dass die gegebene Menge von
Zytostatika pro Zeiteinheit in direkter Beziehung zum Therapieerfolgt steht, unabhängig von der zeitlichen Abfolge
und der Applikationsform. Vor allem aufgrund der unzureichenden Berücksichtigung der Tatsache, dass in solchen
Modellen die Äquivalenzdosen verschiedener Zytostatika
nicht ausreichend berechnet wurden, haben sich die auf Basis des Modells der relativen Dosisintensität entwickelten
Schemata bis jetzt nicht als überlegen erwiesen. Hasenclever und Loeffler (pers. Mitteilung 1999 und [6]) haben mit
der Entwicklung des Effective-Dose-Modells versucht, die
Ansätze früherer Dosis-Wirkungs-Modelle aufzugreifen
und weiterzuentwickeln. Eine direkte Beziehung zwischen
der gegebenen Dosis und der Effizienz einer Chemotherapiekombination wurde anhand von systematischen
Reviews publizierter Studien für Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphome erhoben und als Risikoreduktion („log hazard reduction“) für die jeweilige Kombination beschrieben. In die Berechnung der effektiven Dosis einer
Substanzkombination gehen die erhobenen Äquipotenzwerte der verwendeten Substanzen für die jeweilige Erkrankung, die Gesamtdosis und die Gesamtbehandlungs-
zeit sowie die tumorspezifische Latenzzeit, die häufig jedoch nur geschätzt werden kann, ein. So lassen sich unter
Berücksichtigung der Tatsache, dass in Flexi-Therapieregimes für Lymphome die effektivsten Substanzen, das heißt
vor allem die Anthrazykline, häufig unterdosiert wurden,
während wenig oder kaum effektive Substanzen unüberprüft einbezogen werden, die Ergebnisse der IntergroupStudie von Fisher et al. [2] (siehe oben) nachvollziehen.
Vorhergesagt wurde mit dem Effective-Dose-Modell das
Ergebnis der BEACOPP-Studie der Deutschen HodgkinStudiengruppe [4, 14], an weiteren Studien steht die rationale Überprüfung dieses theoretischen Ansatzes aus. Für
unsere Fragestellung lässt sich jedoch heute schon folgern,
dass unter Berücksichtigung der oben genannten Parameter der Gesamtbehandlungszeit in der Chemotherapie eine
äußerst wichtige Bedeutung zukommt, da unabhängig von
der Gesamtdosis einer applizierten Chemotherapie die
kinetische Resistenz von Tumoren nur bei einer ausreichend langen Gesamtbehandlungsdauer durchbrochen
werden kann.
Zusammenfassung und Ausblick
Die oben angeführten Beispiele und Modelle zeigen, dass
die Beschreibung eines optimalen Therapiekonzeptes wesentlich von der Biologie der Tumorzellen, ihrer Wachstumsrate, klonalen Heterogenität und Resistenzlage, aber
auch von dem zugrunde liegenden Dosiskonzept abhängt.
Von besonderem Interesse für die Optimierung chemotherapeutischer Behandlungskonzepte war in den letzten Jahren der Stellenwert des Zeitfaktors. Von chronobiologischen Fragestellungen abgesehen, die den Rahmen diese
kurzen Darstellung sprengen würden, gehen dabei sowohl
die Gesamtbehandlungsdauer eines Therapieregimes wie
auch der zeitliche Ablauf und die Dauer der Applikation
(das sogenannte „Scheduling“ und die Infusionsdauer) und
die Dosisdichte („Dosis pro Zeit“) in diese Überlegungen
ein. Systematische Untersuchungen zum Stellenwert des
„Scheduling“ fehlen häufig; zur Frage der Rolle der Dosisdichte wie der Gesamtbehandlungsdauer werden in prospektiven Studien, die auf rationalen, aus retrospektiven
Analysen und Dosis-Wirkungs-Modellen fußenden Grundlagen beruhen sollten, in den nächsten Jahren Ergebnisse zu
erwarten sein. Eine Weiterentwicklung der Chemotherapie
ist ohne solche Phase-III-Studien nicht denkbar, von der
Entwicklung gänzlich neuer Substanzen natürlich abgesehen. Losgelöst von den übrigen Parametern lässt sich jedoch
der Stellenwert der Gesamtbehandlungsdauer in der Chemotherapie nicht beschreiben.
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Korrespondenzanschrift:
Priv.-Doz. Dr. Lorenz Trümper, Innere Medizin I,
Universitätskliniken des Saarlandes,
D-66421 Homburg/Saar,
Telefon (+49/6841) 163-084, Fax -004,
E-Mail: [email protected]
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