UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Titel Naturparks Südtirol Unter der Lupe Gipfelflora im Wandel Das Projekt GLORIA in Südtirol AUTONOME PROVINZ BOZEN - SÜDTIROL Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung PROVINCIA AUTONOMA DI BOLZANO - ALTO ADIGE Ripartizione Natura, paesaggio e sviluppo del territorio Arno Pertl Die wissenschaftliche Forschung ist eine der Kernaufgaben des Ressorts Natur, Landschaft und Raumentwicklung. Studien, Erhebungen und Publikationen dienen dazu, das Wissen über die Naturparke zu vertiefen und die gewonnenen Erkenntnisse weiter zu geben. Mit der Schriftenreihe „Unter der Lupe“ werden aktuelle Ergebnisse der in den Naturparks durchgeführten Studien zu Papier und somit zu den Menschen gebracht. In dieser Ausgabe geht es um den Klimawandel und dessen Einfluss auf die Pflanzenwelt. Das Projekt „GLORIA“ erforscht weltweit die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Verbreitung der Pflanzen in den verschiedenen Höhenstufen. Es geht insbesondere um die Artenvielfalt, die durch die Veränderung des Klimas gefährdet ist. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen das. Innerhalb des relativ kurzen Untersuchungszeitraumes von nicht einmal zehn Jahren haben sich bereits einzelne temperaturempfindliche Arten nach oben verschoben. Sind sie gewissermaßen am „Gipfel“ angelangt, können sie bei fortschreitender Erwärmung der Erdatmosphäre nicht weiter nach oben ausweichen und gehen so höchstwahrscheinlich verloren. Dieser Prozess vollzieht sich natürlich schleichend. Auch wenn diese, großteils durch den Menschen verursachte Entwicklung in absehbarer Zeit nicht gestoppt werden kann, liegt es dennoch an uns, sie durch unsere täglichen Gewohnheiten und unseren Lebensstil zumindest zu verlangsamen. Diese Publikation soll dazu beitragen, die Veränderungen und deren Auswirkungen auf unsere Umwelt zu erkennen und zu verstehen. So kann die Problematik des Klimawandels für jeden Einzelnen greifbarer gemacht werden. In diesem Sinne wünsche ich eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre. Elmar Pichler Rolle Landesrat für Natur, Landschaft und Raumentwicklung Cardamine alpina (Alpen-Schaumkraut) in einem Schneeboden des Naturparks Texelgruppe (2600 m) 2 3 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Globale Veränderung Die Temperaturen steigen Seit mehr als einem Jahrhundert ist die Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre am Steigen. Diese globale Erwärmung, meist als „Klimawandel“ bezeichnet, betrug zwischen 1906 und 2005 im Schnitt 0,74 ± 0,18°C. Das Jahrzehnt von 2000 bis 2009 war mit Abstand das wärmste seit Beginn der Messungen, gefolgt von den 1990er Jahren, die wiederum wärmer waren als die 1980er Jahre. Besonders markant fiel dieser Temperaturanstieg im Alpenraum aus (Abb. 1). Hier fand im 1 A2 A1B B1 6.0 5.0 CO2-Konzentration des Jahres 2000 bleibt konstant 4.0 20. Jahrhundert 3.0 2.0 1.0 1900 4 Jahr A1FI A2 B1 2000 A1B 0 -1.0 2 3 5 B2 Erwärmung der Erdoberfläche (°C) 2: Gemessene Erwärmung der Erdoberfläche (schwarze Kurve) in den letzten 100 Jahren und geschätzte Mittelwerte (Kurven in rosa, blau, grün und rot) für die mögliche Erwärmung bis 2100 (Quelle: IPCC 2007). A1T 1: Seit ca. 1850 haben die Gletscher am Alpenhauptkamm die Hälfte ihrer Fläche verloren. vergleichbaren Zeitraum eine Erwärmung von 2°C statt, wobei allein auf die letzten 30 Jahre eine Erwärmung von 1,2°C fällt. Bis zum Jahr 2100 wird – je nach Rechenmodell und erwartetem Anstieg von Treibhausgasen - ein weiterer Temperaturanstieg zwischen 1,8°C und 6,4°C prognostiziert (Abb. 2). In der Wissenschaft herrscht heute weitgehend Konsens, dass der globale Temperaturanstieg in erster Linie auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist. Die Folgen dieser tief greifenden Klimaveränderung sind vielfältig und werden in den Medien breit diskutiert. Bekannte Folgen der Klimaerwärmung im Alpenraum sind z. B. die Gletscherschmelze (Abb. 3-7), das Auftauen von Permafrostböden und die vermehrt auftretenden schneearmen Winter. Andere Auswirkungen werden in der Öffentlichkeit hingegen weniger beachtet – auch wenn sie langfristig fundamentale Auswirkungen auf Natur und Landschaft in den Alpen zur Folge haben könnten. Dazu gehören Phänomene wie die Migration von Pflanzen- und Tierarten, das Aussterben von Arten bis hin zur Umgestaltung ganzer Ökosysteme. Genaue Untersuchungen zu bereits eingetretenen Veränderungen und zukünftigen Entwicklungen im Hochgebirge fehlten allerdings bislang. 2100 7 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Jahresmitteltemperatur in Schlanders (698 m NN) 14 °C Jahresmittel 12 10 8 6 4 2 3 0 1920 4 1940 1960 1980 2000 2020 Jahr 3: Das Untersuchungsgebiet Texelgruppe nach einem sommerlichen Kälteeinbruch. 4: Jahresmitteltemperaturen in Schlanders in Südtirol zwischen 1926 und 2011 (Quelle: http://www.provinz.bz.it/ wetter/temperaturen-hd.asp, Landeswetterdienst, Autonome Provinz Bozen-Südtirol). 5: Blick auf den Grafferner im Pfossental 5 6: Der Alpenhauptkamm im Bereich des Similaun (3606m) weist auch heute noch ausgedehnte Gletscher auf. 6 7: Die Gletscher nördlich der Texelspitze (3318m) haben stark an Ausdehnung und Eismasse verloren. 7 5 Das Projekt GLORIA Ein Beobachtungsnetzwerk Im Jahre 2001 wurde das internationale Forschungsnetzwerk GLORIA („Global Observation Research Initiative in Alpine Environments“ – zu Deutsch: „Weltweite Forschungsinitiative zur Dauerbeobachtung von alpinen Lebensräumen“) ins Leben gerufen (www.gloria.ac.at). Leitung und Koordination des mittlerweile weltweit laufenden Netzwerkes obliegt Prof. Georg Grabherr und seiner Arbeitsgruppe an der Universität Wien. Im GLORIA-Projekt werden mit Hilfe einer einheitlichen Methodik in über 100 Untersuchungsgebieten auf 6 Kontinenten die Auswirkungen des Klimawandels in Gebirgsökosystemen untersucht (Abb. 8, Abb. 9). Zielsetzung des Projektes GLORIA • Auf Berggipfeln werden Untersuchungsflächen eingerichtet, um die Veränderungen von 8: Die Untersuchungen laufen in allen Gebirgen nach einem definierten Protokoll ab (GLORIA Manual: www.gloria.ac.at). 9: Das Projekt GLORIA weltweit: GLORIA-Untersuchungsgebiete (www.gloria.ac.at). 8 Artenvielfalt, Artenzusammensetzung, Deckung der Vegetation, Bodentemperatur und Schneedeckendauer über lange Zeiträume hinweg zu studieren • Alle 5 bis 10 Jahre werden die Flächen wieder aufgesucht und aufgenommen, um das Einwandern bzw. das Aussterben von Arten zu quantifizieren • Die Untersuchungen dienen zur Risikoabschätzung eines Artenverlustes durch den Klimawandel und für Prognosen zur Stabilität der alpinen Ökosysteme Das Projekt GLORIA in Südtirol Südtirol verfügt derzeit über zwei GLORIA-Gebiete: eines liegt im UNESCO Weltnaturerbe Dolomiten (Ausgangsgestein: Latemarkalk und Schlerndolomit), ein weiteres im Naturpark Texelgruppe (Ausgangsgestein: Gneise des Ötztal-Stubai-Komplexes). Laut GLORIA-Vorschrift sollten pro Untersuchungsgebiet vier Berggipfel von der Waldgrenze bis zur subnivalen/nivalen Höhenstufe ausgewählt werden, auf denen in jeder Himmelsrichtung Beobachtungsflächen einzurichten sind. Die Gipfel sollten einheitlich hinsichtlich Geologie und Klima sein, eine konische Form haben, die Nutzung sollte fehlen oder zumindest nur sehr moderat sein, touristisch uninteressant sollten sie sein und eine für die jeweilige Höhenstufe typische Vegetation aufweisen (Abb. 10, Abb. 11). Aktiv: wieder aufgenommen Aktiv: Daten eingegeben Aktiv: Geländearbeiten beendet Aktiv: im Aufbau begriffen In Planung Interesse vorhanden 9 6 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL GLORIA - Multi Summit-Approach Höhenstufen Die Vegetation im Gebirge ändert sich mit ansteigender Meereshöhe auf Grund des zunehmend kälteren Klimas. Dabei werden charakteristische Höhenstufen unterschieden: Subalpine Stufe (ca. 1800 – 2150/2300 m): Im obersten Bereich des Bergwaldes dominieren Lärchen-Zirben-Wälder, Fichtenwälder oder Latschenbestände. Oft wurde der Wald durch Almweiden und Bergmähder ersetzt. An der Waldgrenze endet die subalpine Stufe. Darüber beginnt die von Natur aus waldfreie alpine Stufe. Untere alpine Stufe (ca. 2150/2300 m – 2400 m): Stufe der Zwergstrauchheiden und der alpinen Rasen. Vielfach kommen hier Almweiden und Bergmähder vor. Obere alpine Stufe (ca. 2400 – 2900 m): Bereich der alpinen Rasen, die oft als Schafweiden genutzt werden. Subnivale Stufe (ca. 2900 – 3100 m): Die Vegetation besteht aus Rasenfragmenten und isoliert wachsenden Polsterpflanzen. Nivale Stufe (ab ca. 3100 m): Pflanzenleben ist in der Gletscherregion nur mehr an eisfreien Gratlagen möglich. Subnival Oberalpin HÖHENGRADIENT Unteralpin Übergang: Subalpin/ Unteralpin 10 10: Skizze zur Gipfelauswahl: pro Gebirgsregion werden 4 Gipfel vom Waldgrenzökoton (Übergang subalpin/unteralpin) bis zur subnivalen/nivalen Stufe ausgewählt. 11: Die Lage der beiden Südtiroler GLORIA-Gebiete: in blau GLORIA Dolomiten, in rot GLORIA Texelgruppe; 1-7: die Naturparke in Südtirol, N: Nationalpark Stilfser Joch 11 7 Steckbrief der Südtiroler GLORIA-Gipfel Naturpark Texelgruppe 12. TEX 4, 3287m Höhenstufe: nival Geographische Lage: Schnalstal Vegetation: vereinzelte Gefäßpflanzen an günstigen Standorten, Flechten Pflanzengesellschaft: Alpenmannsschild-Flur (Androsacetum alpinae) 12 13. TEX 3, 3074m Höhenstufe: obere alpine/subnivale Stufe Geographische Lage: Pfossental (Schnalstal) Vegetation: Schuttfluren und Rasenfragmente Pflanzengesellschaften: Alpenmannsschild-Flur (Festuca halleri-Ausbildung des Androsacetum alpinae), Krummseggenrasen (Caricetum curvulae) 14. TEX 2, 2619m Höhenstufe: obere alpine Stufe Geographische Lage: Kalmtal (Passeiertal) Vegetation: alpine Rasen, Schuttfluren und Schneetälchenvegetation Pflanzengesellschaften: verschiedene Ausbildungen des Krummseggenrasens (Caricetum curvulae), Krautweiden-Schneetälchen (Salicetum herbaceae) 15. TEX 1, 2180m Höhenstufe: subalpine/untere alpine Stufe Lage: Kalmtal (Passeiertal) Vegetation: subalpine/unteralpine Rasen, Zwergstrauchheiden Pflanzengesellschaften: Bürstlingsrasen (Sieversio-Nardetum strictae), Alpenrosenheide (Rhododendretum ferruginei) 13 14 15 8 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Dolomiten 16. DOL 4, 2893m Höhenstufe: obere alpine/subnivale Stufe Geographische Lage: Sellagruppe Vegetation: alpine Schuttfluren Pflanzengesellschaft: Südalpine Alpenmohn-Schuttflur (Papaveretum rhaetici) 17. DOL 3, 2757m Höhenstufe: obere alpine Stufe Geographische Lage: nördliche Latemargruppe Vegetation: alpine Fels- und Schuttfluren, alpine Rasen Pflanzengesellschaften: Dolomiten-Fingerkraut-Felsflur (Potentilletum nitidae), Südalpine AlpenmohnSchuttflur (Papaveretum rhaetici), Felsseggen-Rasen (Caricetum rupestris), Kalk-Krummseggenrasen (Elyno-Caricetum rosae) 16 18. DOL 2, 2463m Höhenstufe: untere alpine Stufe Geographische Lage: nördliche Latemargruppe Vegetation: alpine Fels- und Schuttfluren, alpine Rasen Pflanzengesellschaften: Dolomiten-Fingerkraut-Felsflur (Potentilletum nitidae), Südalpine AlpenmohnSchuttflur (Papaveretum rhaetici), Südostalpiner Polsterseggenrasen (Gentiano terglouensis-Caricetum firmae) 19. DOL 1, 2199m Höhenstufe: subalpine/untere alpine Stufe Geographische Lage: südliche Latemargruppe Vegetation: artenreiche alpine Rasen, Zwergstrauchheide Pflanzengesellschaften: Südostalpiner Polsterseggenrasen (Gentiano terglouensis-Caricetum firmae), Blaugras-Horstseggenrasen (Seslerio-Caricetum sempervirentis), Buntschwingelhalde (Gentianello anisodontae-Festucetum variae), Zwergwacholderheide (Juniperion nanae-Gesellschaft) 19 17 18 9 Datenerhebung im Gelände Einrichtung der Untersuchungsflächen Ausgehend vom höchsten Punkt werden auf jedem Gipfel Beobachtungsflächen eingerichtet. Acht größere Untersuchungsflächen – sogenannte Gipfelareale – umfassen die obersten 10 Höhenmeter des Gipfels. 5 Höhenmeter unterhalb des Gipfels werden in jeder Haupthimmelsrichtung 3x3 m große Dauerflächen errichtet (Abb. 20-21). Die Eckpunkte dieser Flächen werden vermessen, markiert und fotografisch dokumentiert. In den Eckquadraten (1x1 m) finden die detaillierten Untersuchungen statt. Im Zentrum der 3x3 m Dauerflächen erfolgt die Vergrabung eines Datenloggers in 10 cm Bodentiefe (Abb. 22). Hier werden kontinuierlich Temperaturen gemessen. eines der acht Gipfelareale 3x3 m-Dauerflächen höchster Gipfelpunkt 20: Schematische Darstellung eines Gipfels mit den Untersuchungsflächen 21: Aufnahme im Gipfelareal – in dichten Rasenbeständen eine sehr zeitaufwändige Prozedur… 22: Datenlogger, der in Stundenintervallen die Bodentemperatur registriert; der Datenlogger wird in 10 cm Bodentiefe vergraben und zum leichteren WiederAuffinden mit einer kurzen Schnur versehen. Höhenschichtlinien im Abstand von 1 m 20 10 m 22 21 10 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Aufnahmemethodik Schritt 1: Bei der Vegetationsaufnahme wird die Deckung von Vegetation, Fels, Geröll, Streu in % in den vier Eckquadraten jeder 3x3 m Dauerfläche geschätzt. Die Deckung jeder vorhandenen Art wird prozentgenau erhoben. Schritt 2: Frequenzanalyse in den vier Eckquadraten (Abb. 23) mit Hilfe eines 1x1 m Rahmens, unterteilt in 100 Kleinquadrate (Abb. 24-25). Das Vorkommen jeder Art wird in den 1x1 dm Kleinquadraten festgestellt. Schritt 3: in den Gipfelarealen werden vollständige Listen aller vorkommenden Gefäßpflanzen erstellt und ihre Häufigkeit nach einer fünfstufigen Skala abgeschätzt. Diese reicht von „r!“ (nur ein Exemplar der Art in einer Fläche) bis „d“ (die Art bedeckt mindestens 50% der Fläche). Die Aufnahmen in den zwei Südtiroler GLORIAGebieten erfolgten in unterschiedlichen Jahren (Tab. 1). In der vorliegenden Arbeit werden die Aufnahmen 2001 / 2008 in den Dolomiten und 2003 / 2011 im Naturpark Texelgruppe verglichen. 23 Tab. 1: Zeitskala der Datenerhebung Aufnahme 1 Aufnahme 2 Aufnahme 3 Aufnahme 4 Jahr Gebiet 2001 Dolomiten 2003 Texelgruppe 2006 Dolomiten 2011 Texelgruppe 2008 Dolomiten 2018 Texelgruppe 2015 Dolomiten 24 23: 3x3 m Dauerfläche: in den vier Eckquadraten werden Frequenzanalysen und Vegetationsaufnahmen durchgeführt. Im mittleren Quadrat befindet sich der Datenlogger zur Messung der Bodentemperatur. 24: 1x1 m-Eckquadrat mit dem Frequenzrahmen 25: Eines der 100 Kleinquadrate einer Frequenzaufnahme (1x1 dm) 25 11 Artenreichtum im Gipfelbereich 26: Artenzahlen der 8 Untersuchungsgipfel zum Zeitpunkt der Erstaufnahme 27: Sesleria sphaerocephala (Rundkopf-Blaugras): ein Endemit der südlichen Kalkalpen Dolomiten: am artenreichsten Die Dolomiten fallen deutlich durch ihre höhere Diversität auf (Abb. 26-28). Dieser Unterschied beruht auf der unterschiedlichen Geologie und Florengeschichte der beiden Gebiete. Die Flora über basisch verwitternden Gesteinen – die einen Großteil der Dolomiten aufbauen – ist fast um die Hälfte artenreicher als jene über Silikat. In den Dolomiten treten auf engstem Raum Kalk- und Dolomitgesteine in abwechselnder Folge mit Vulkaniten nebeneinander auf. Damit treffen sich Kalk- und Silikatarten und die Artenzahl ist entsprechend hoch. Die Gipfel in den Dolomiten stellen sogar das artenreichste aller 18 GLORIA-Gebiete in Europa dar (Abb. 28). Dolomiten Texelgruppe 160 140 Auswirkungen der Florengeschichte Neben dem Ausgangsgestein prägt aber auch die Florengeschichte die Artenvielfalt eines Gebietes. Während der Eiszeiten waren weite Teile der Alpen von Gletschern bedeckt. Um zu überdauern, mussten alpine Pflanzenarten in klimatisch günstigere Gebiete oder auf eisfreie Gratlagen ausweichen. Vor allem am gering vergletscherten Alpensüdrand gab es eine ganze Reihe sogenannter Refugialgebiete - eines davon lag in den Dolomiten (Abb. 27). Molekulare Analysen zeigten allerdings, dass auch in den Zentralalpen Refugien für Pflanzenarten existiert haben, so z.B. für den Himmelsherold (Eritrichium nanum, Abb. 29). Nach dem Eisfreiwerden der Alpen vor rund 10.000 Jahren waren die Pflanzen des Alpensüdrandes (Abb. 31-34) bereits mehr oder weniger vor Ort oder hatten nur kurze Rückwanderwege. Daher resultiert hier ein großer Artenreichtum. Die inneren Alpenketten blieben vergleichsweise artenärmer, da viele Arten aus den randalpinen Refugien die Zentralalpen nicht mehr erreicht haben. Artenzahl 120 100 80 60 40 20 0 2000 2200 2400 2600 2800 Meereshöhe (m) 26 3000 3200 3400 27 28 28: Artenzahlen von 18 Europäischen GLORIA-Gebieten zum Zeitpunkt der Erstaufnahme. Weiß: allgemein verbreitete Arten; Hellblau: regionale Endemiten; Dunkelblau: lokale Endemiten (Endemiten sind Arten, die auf ein kleines Verbreitungsgebiet beschränkt sind). Quelle: Pauli, Gottfried, Grabherr und Partner aus dem GLORIA-Europe Netzwerk, 2010. In: Europe‘s ecological backbone: recognizing the true value of our mountains. EEA Report No 6/2010, European Environment Agency, Copenhagen 12 30 5 4 3 2 1 0 -1 -2 -3 2000 2200 2400 2600 Texelgruppe 2800 3000 3200 3400 Meereshöhe(m) 29: Eritrichium nanum (Himmelsherold): eine der wenigen Pflanzenarten, die die Eiszeit am Alpenhauptkamm überdauern konnte. 29 30: Die Jahresmittel der Bodentemperaturen (10 cm Tiefe) auf den Untersuchungsgipfeln zeigen die Temperaturabnahme mit der Meereshöhe. 31: Androsace hausmannii (Dolomiten-Mannsschild): eine Art, deren Verbreitungsgebiet durch die Eiszeiten in mehrere isolierte Areale aufgesplittert wurde. 32: Gentiana clusii (ClusiusEnzian) kommt sowohl in den Nord- als auch in den Südalpen auf Kalk vor. 31 33: Potentilla nitida (Dolomiten-Fingerkraut) ist nur in den Südalpen verbreitet. 32 34: Saxifraga squarrosa (Sparrig-Steinbrech) ist ebenfalls nur in den Südalpen vertreten 33 34 13 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Bodentemperatur in °C Dolomiten Die Gipfel werden artenreicher Zunahme der Artenzahlen Auf den Südtiroler GLORIA-Gipfeln nahm der Artenreichtum in den letzten sieben bis acht Jahren deutlich zu (Abb. 36). Das GLORIA-Gebiet der Dolomiten wurde insgesamt um 9 Arten, jenes in der Texelgruppe um 10 Arten reicher. Damit passen die Südtiroler Gipfel genau in den europaweiten Trend. 35 35: Am kargen Hochplateau der Sella (2900 m) wanderten seit Beginn der Untersuchungen im Jahr 2001 zahlreiche neue Pflanzenarten ein. In den 17 GLORIA-Regionen - von den Pyrenäen bis zum Kaukasus und vom Ural bis in die skandinavischen Gebirge – wiesen 13 einen Anstieg der Artenvielfalt auf. Auf allen GLORIA-Gipfeln der gemäßigten und kühlgemäßigten Klimagebiete Europas nahm der Artenreichtum innerhalb von sieben Jahren markant zu. Im Zuge der Klimaerwärmung schaffen es Pflanzenarten offensichtlich, sich in Höhenlagen auszubreiten, die zuvor für sie zu kalt waren. Im Gegensatz dazu wurden die Gipfel des Mittelmeerraumes artenärmer. Das zunehmend wärmere und gleichzeitig trockenere Klima verschärfte in diesem Gebiet die Wuchsbedingungen der Pflanzen. Der Artenreichtum auf Südtirols Berggipfeln nimmt derzeit von der Waldgrenze bis in die subnivale Stufe zu. Eine Ausnahme bildet der höchste Gipfel in der Texelgruppe (Abb. 37): hier kamen keine neuen Arten dazu. Ein höhenspezifischer Trend lässt sich allein aus den Daten der Südtiroler GLORIA-Gebiete nicht ableiten. Erst die Auswertung von 66 europäischen Berggipfeln zeigte einen signifikanten Trend: die größten Veränderungen finden derzeit knapp oberhalb der Waldgrenze statt, während sich die Artenzahlen auf den höchsten Gipfeln weniger ändern (Pauli et al. 2012: Recent Plant Diversity on Europe’s Mountain Summits, Science 336: 353-355). Artenzahlen-Zunahme 250 36: Artenzahlen in den obersten 10 Höhenmetern in den Südtiroler GLORIA-Gebieten zum Zeitpunkt der Erstaufnahme und nach 7 (Dolomiten) bzw. nach 8 Jahren (Naturpark Texelgruppe). Pflanzenarten 200 196 150 205 139 149 100 50 0 Dolomiten 36 14 Texelgruppe UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL 37: TEX 4 – der höchste GLORIA-Gipfel im Naturpark Texelgruppe. Hier kamen im Zeitraum von 8 Jahren keine neuen Arten dazu. 37 38: Das sehr seltene Sauergras Carex foetida (Stink-Segge) wanderte in den letzten Jahren am Untersuchungsgipfel TEX 2 (2619 m) ein. 39: Die einjährige Euphrasia minima (Zwerg-Augentrost) eroberte den Gipfel DOL 3 (2757 m). 40: Die steilen Abhänge der Kolbenspitze (2868 m), an denen vermutlich der Wald höher steigen wird. 41: TEX 2 (2619 m): hier erhöhte sich die Artenzahl in den obersten 10 Höhenmetern innerhalb von 8 Jahren von 62 auf 66 Pflanzenarten. 38 39 40 41 15 Dynamik der Pflanzenbestände 42: Viele Pflanzenarten der alpinen Stufe vergrößern zurzeit ihre Populationen. 43: Helianthemum grandiflorum (Großblütiges Sonnenröschen): eine Art, die ihre Individuenzahl deutlich vergrößerte. 44: Rhododendron ferrugineum (Rostrote Alpenrose) nimmt individuenmäßig in beiden GLORIA-Gebieten zu. Pflanzen wandern Die Pflanzendecke an einem Ort ist nicht statisch, sondern in ständigem Umbau begriffen. Sie gleicht einem Bahnhof, wo ein dauerndes Kommen und Gehen herrscht, niemand einen festen Platz hat, aber trotzdem immer jemand da ist. In den niederwüchsigen Beständen der alpinen und nivalen Stufe spielen sich die Veränderungen im Dezimeter bis Zentimeter-Maßstab ab. Lücken können entstehen, wenn bestandbildende Horstgräser über die Bodenoberfläche „wandern“, indem sie an einem Ende absterben und am anderen weiterwachsen. Lücken bilden sich aber auch, wenn Triebe absterben, weil sie altern, von Schädlingen befallen wurden, von Weidetieren, Steinschlag, extremem Frost oder Hitze geschädigt wurden. Die frei werdenden Stellen können dann von anderen Arten besiedelt werden. Pflanzenarten behaupten ihren Standort, sind aber kleinräumig von Jahr zu Jahr an etwas anderen Stellen aufzufinden. Solche reversiblen Schwankungen werden als Fluktuationen bezeichnet. Solange sich die Umweltfaktoren nicht ändern, bleibt insgesamt die Vegetation gleich, aber das Muster verändert sich. Pflanzenpopulationen dehnen sich aus Die Beobachtungen auf den Südtiroler GLORIAGipfeln weisen eindeutig ein Wachstum der Populationen nach. Es sind deutlich mehr Pflanzen, die sich ausdehnen als schrumpfen, das heißt die Anzahl der Individuen pro Fläche nimmt merklich zu (Abb. 42-44). Was sich auf kleinstem Raum im Zentimeter-Maßstab innerhalb der Bestände abspielt, setzt sich auf größeren Maßstab im 10 Höhenmeter-Bereich des gesamten Gipfels fort: bereits vorhandene Populationen besiedeln zunehmend neue Wuchsorte. Sie breiten sich innerhalb der Gipfel-Untersuchungsflächen aus. Besonders eindrücklich sieht man das am höchsten GLORIA-Gipfel im Naturpark Texelgruppe, wo zwar keine neue Art eingewandert ist, aber nach acht Jahren die Pioniere wie der Gletscherhahnenfuß (Ranunculus glacialis) oder das Einblütige Hornkraut (Cerastium uniflorum) deutlich zugenommen haben. Gewinnende und verlierende Arten auf den Gipfeln Arten, die seltener werden Arten, die häufiger werden 60 Artenzahl 40 49 47 50 35 34 30 30 23 17 20 11 10 27 7 19 11 7 10 3 0 2199 m 42 2463 m 2757 m Dolomiten 44 2893 m 2180 m 2619 m 3074 m 0 4 3287 m Texelgruppe 43 16 4 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL 45 46 47 48 45: Lilium martagon (Türkenbund-Lilie): DOL 1 (2199 m). 46: Leontopodium alpinum (Alpen-Edelweiß): DOL 1 (2199 m) und DOL 2 (2463 m). 47: Potentilla nitida (Dolomiten-Fingerkraut): DOL 2 (2463 m), DOL 3 (2757 m), DOL 4 (2893 m). 48: Gentiana bavarica (Bayerischer Enzian): TEX 3 (3074 m) 49: Saxifraga bryoides (Moos-Steinbrech): TEX 2 (2619 m), TEX 3 (3074 m), TEX 4 (3287 m). 49 17 Verschiebt sich die Waldgrenze? Die Waldgrenze ist wohl die eindrücklichste Vegetationsgrenze der Alpen – oberhalb dieser Grenze beginnt die alpine Stufe mit Zwergstrauchheiden, alpinen Rasen, Schneeböden, Schuttfluren und Felsspaltengesellschaften. Durch die Jahrtausende zurück reichende Almwirtschaft wurde die Waldgrenze im Großteil der Alpen um mehrere Hundert Meter nach unten verschoben, so dass die Höhe der „potentiell natürlichen“ (d. h. klimatischen) 16 16 14 14 14 Anzahl der Bäume 12 12 10 10 8 8 7 6 6 4 4 3 4 2 2 2 1 2 0 0 0 2199 m Waldgrenze nicht immer leicht festzustellen ist. In den Dolomiten liegt die aktuelle Waldgrenze bei ca. 2150 m Meereshöhe. Im Naturpark Texelgruppe schwankt die Höhe der aktuellen Waldgrenze zwischen 2150 m (Passeiertal) und 2300 m Meereshöhe (Schnalstal). Die Ergebnisse des GLORIA-Projekts in Südtirol deuten in der Tat darauf hin, dass sich die Waldgrenze derzeit nach oben verschiebt (Abb. 50-53). Vor allem in den Dolomiten entwickeln sich knapp oberhalb der Waldgrenze (GLORIA-Gipfel DOL 1, 2199 m, Abb. 54) Zirben, Fichten und Lärchen sehr gut. Viele junge Bäume waren zum ersten Untersuchungszeitpunkt noch nicht vorhanden, keimten und etablierten sich aber innerhalb von 7 Jahren. Einige der älteren Individuen auf diesem Gipfel sind bereits groß genug, um über die winterliche Schneedecke hinauszuragen. Die künftige Vegetation auf diesem Gipfel ist sicherlich ein Wald (Abb. 55). 1 0 3287 m 2463 m 3074 m 2757 m Dolomiten 2619 m Dolomiten 50 51 50: Einwanderung von Bäumen auf den Südtiroler GLORIA-Gipfeln – die graue Säule zeigt die Anzahl der Bäume pro Gipfel zum Zeitpunkt der Erstaufnahme, die schwarze Säule zum Zeitpunkt der Wiederholungsaufnahme. 51: Die Waldgrenze im Pfossental 52: Natürliche Waldgrenze an den steilen Abhängen der Kolbenspitze (2868 m) im Naturpark Texelgruppe 52 18 2893 m 2180 m 2619 m 3074 m Texelgruppe Texelgruppe 3287 m Vorposten Es ist durchaus erstaunlich, in welche Höhen einzelne Baumindividuen vordringen können. Die Lärchen auf dem 2463 m hohen DOL 2 sind dabei noch nicht außergewöhnlich, denn in dieser Höhe kommen Baumkrüppel immer wieder vor und bis 2300 m Meereshöhe sind mehr als 3 m hohe Bäume vereinzelt vorhanden. Bemerkenswert sind hingegen die Lärchen am 2757 m hohen DOL 3 (Abb. 56) oder eine Vogelbeere am 2619 m hohen TEX 2 (Abb. 58). In diesen Höhen sind die Baumindividuen an besonders günstige Schutzstellen gebunden und bleiben entsprechend klein. Die Lärchen maßen zum zweiten Aufnahmezeitpunkt in den Dolomiten etwa 2 cm, die Vogelbeere etwa 12 cm. Natürlich stellt sich die Frage, wie lange diese Individuen in den großen Höhen überleben können. Derart hochgelegene Vorposten werfen die Frage nach den Ausbreitungsmechanismen dieser Baumarten auf. Die Einwanderung von Baumarten beruht zum einen auf Fernverbreitung durch Wind und Tiere. Das betrifft vor allem die hochgelegenen Außenposten, bei denen die nächstgelegenen samentragenden Bäume mehrere hundert Höhenmeter tiefer wachsen. Ein weiterer Prozess ist das Auffüllen eines immer günstiger werdenden Lebensraumes von einem nahe gelegenen Vorposten aus. Ein solcher Auffüllungsprozess ist das starke Aufkommen von jungen Bäumen knapp oberhalb der Waldgrenze in beiden GLORIA-Gebieten. Dies gilt aber auch für Zwergsträucher, krautige - und Grasarten, die von der subalpinen Stufe aus die Gipfelfluren auffüllen. 5 54: Lärche am Untersuchungsgipfel DOL 1 (2199 m). 55: Lärche, Fichte, Zirbe bilden die Waldgrenze in den Untersuchungsgebieten. 53 56 54 57 56: Lärche am Existenzminimum (Untersuchungsgipfel DOL 3, 2757 m) 57: Junge Zirbe am Untersuchungsgipfel DOL 1 (2199 m) 58: Am Gipfel TEX 2 (2619 m) trotzt eine winzige Vogelbeere seit über 10 Jahren dem rauen Klima der oberen alpinen Stufe. 55 58 19 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL 53: Diese Fichte etablierte sich in einer günstigen Nische am Untersuchungsgipfel TEX 1 (2180 m). Der Baum war bei der Erstaufnahme der Flächen noch nicht vorhanden. Gewinner und Verlierer 59: Auf 7 der 8 untersuchten Gipfel gibt es sowohl Gewinne als auch Verluste von Arten. Insgesamt überwiegt aber die Neueinwanderung von Pflanzenarten. 60: Saxifraga facchinii (Facchini-Steinbrech) hat ein sehr begrenztes Vorkommen in den höchsten Lagen einiger weniger Dolomitenmassive. Solche Spezialisten können durch das Höherwandern konkurrenzkräftiger Arten aus tieferen Lagen in ihrer Existenz bedroht werden. 61: Zwergsträucher wie Vaccinium gaultherioides (Rauschbeere) dringen vermehrt in die alpine Stufe vor. Die Zunahme der Artenzahlen auf den einzelnen Untersuchungsgipfeln darf man sich nicht nur als einfaches Einwandern neuer Arten vorstellen. Tatsächlich wurde auf den meisten Gipfeln auch das Verschwinden von Arten beobachtet. Pflanzenarten, die bei der Erstaufnahme der Untersuchungsflächen vorhanden waren, konnten bei der Wiederholungsaufnahme nicht mehr gefunden werden. Andererseits tauchten neue Arten auf, die bei der Erstaufnahme noch nicht vorhanden waren. Insgesamt überwiegt die Zahl der Neufunde gegenüber den Verlusten (Abb. 59). Die Vegetation auf den Südtiroler Untersuchungsgipfeln entwickelte sich in den letzten Jahren von einem mehr pionierhaften zu einem reiferen Zustand. In allen Höhenlagen dehnten sich wärmeliebende Arten aus. Dadurch wird der Lebensraum der Kälte ertragenden Arten immer kleiner. Immerhin besiedeln diese Extremisten (Abb. 60) ja nicht deshalb ihre hochgelegenen Lebensräume, weil ihnen die Kälte, die lange Schneebedeckung oder andere extreme Bedingungen besonders zusagen. Stattdessen müssen sie mit diesen Standorten vorlieb nehmen, weil die Konkurrenz (Abb. 61) sie von günstigen Wuchsplätzen ausschließt. Verluste Neu-Vorkommen Anzahl der Arten 20 15 Unterschiedliche Pflanzenarten können aber nicht nur in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich auch gegenseitig im Wachstum fördern. Der geschlossene Bestand oder ein Pflanzenpolster mildert Klimaextreme ab und festigt labile Böden. Je extremer die Bedingungen an einem Standort sind, desto bedeutsamer wird diese gegenseitige Förderung der Pflanzen. So wird verständlich, dass im Übergangsbereich zwischen subalpiner und unterer alpinen Stufe, wo die Konkurrenz eine große Rolle spielt, noch etwa gleich viele Arten zu- und abnehmen. Je weiter man in die Höhe steigt, desto wichtiger wird die Rolle der gegenseitigen Förderung im Vergleich zur Konkurrenz. Auf den höchsten Gipfeln ist daher fast nur mehr die Zunahme von Populationen zu beobachten. Voraussetzung für eine gerichtete Entwicklung der Vegetation ist, dass die Gipfel stabile Bereiche aufweisen, wo sich die Pflanzen auch dauerhaft behaupten können. Die stärkste Zunahme gibt es auf sehr abwechslungsreichen Bergen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume wie Rasen, Schneeböden, Felsspalten und nicht allzu labile Schuttfluren bieten. Auf Gipfeln, die vorwiegend von labilem Schutt bedeckt sind, kann die erwärmungsbedingte Dynamik hingegen nur in geringerem Ausmaß beobachtet werden. Etwaige Besiedelungseffekte werden dort durch das periodische Abrutschen der Standorte wieder ausgelöscht. 10 5 0 -5 -10 -15 2000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 Meereshöhe 59 60 20 61 63: Der Endemit Draba dolomitica (Dolomiten-Felsenblümchen) könnte massiv in Bedrängnis geraten durch nachrückende Arten. 64: Soldanella pusilla (ZwergSoldanelle), eine Pflanze der Silikatberge, ist ein Spezialist, der sich an lange Schneebedeckung angepasst hat. 62 65: Pedicularis kerneri (KernerLäusekraut) und Minuartia recurva (Krummblatt-Miere) sind Vertreter der Hochlagen in der Texelgruppe. 63 66: Androsace alpina (AlpenMannschild), eine der höchststeigenden Blütenpflanzen in der Texelgruppe. 64 65 66 21 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL 62: Dryas octopetala (Silberwurz), eine Pionierart der Kalkgebirge verliert ihr Territorium auf niederen Gipfeln. Dolomiten Subalpine/untere alpine Stufe 68. Gewinner - Artenreicher Blaugras-Horstseggenrasen der unteren alpinen Stufe: in den Rasen knapp oberhalb der Waldgrenze erhöht sich die Häufigkeit der dominanten Gräser (Nardus stricta, Sesleria caerulea, Carex sempervirens). In ihrem Gefolge werden auch die krautigen Begleitarten der Rasen häufiger. Die Einwanderung von Bäumen und Zwergsträuchern wird aber auf lange Sicht an vielen Standorten zu einer Abnahme der Artenzahlen führen. 69. Verlierer - Pionierhafter Polsterseggenrasen: Arten der kühlen, schneebetonten und daher offenen Standorte gehören in der unteren alpinen Stufe zu den stärksten Verlierern (Dryas octopetala, Salix reticulata, Salix serpyllifolia). Felsspaltenpflanzen leiden stark unter heißen und trockenen Sommern (Androsace helvetica). 68 Obere alpine Stufe 70. Gewinner - Silberwurz-Polsterseggenrasen: bislang offene Standorte der oberen alpinen Stufe werden zunehmend von Rasenpionieren besiedelt (Dryas octopetala, Carex firma, Carex rupestris, Saxifraga-Arten). 71. Verlierer - Konkurrenzschwache alpine Arten (Arenaria ciliata) kommen zunehmend in Bedrängnis. 69 71 70 22 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL Naturpark Texelgruppe Obere alpine Stufe 72. Verlierer - Krautweidenflur: jene Arten, die an die extremsten Bedingungen - wie neun Monate oder länger unter Schnee - angepasst sind, verlieren unter der wachsenden Konkurrenz der sich ausdehnenden Arten zunehmend ihren derzeitigen Wuchsort in der alpinen Stufe. Subnivale Stufe 73. Gewinner - in der subnivalen Stufe profitieren die meisten Arten von der Erwärmung. Arten, die in der alpinen Stufe zu den Verlierern gehören, weisen in den höheren Lagen einen starken Zuwachs auf (Ranunculus glacialis, Cerastium uniflorum). Zudem erweitern Rasenarten wie die Krummsegge (Carex curvula) und ihre Begleiter ihre hoch gelegenen Vorposten-Populationen. Mögliche Verlierer in beiden GLORIA-Gebieten 74. Dauerhaft gefährdet sind Pflanzenarten, die nur in den obersten Höhenstufen der Gebirge siedeln, so z.B. die nivalen Pflanzenarten am Alpenhauptkamm wie der Alpen-Mannsschild (Androsace alpina). Betroffen sind in Zukunft sicherlich vor allem auch jene Pflanzen, die nur in eng begrenzten Gebieten vorkommen, die sogenannten Endemiten (Draba dolomitica, Abb. 63). Sie haben keine Überlebenschancen, sobald ihr Wuchsort von nachrückenden Pflanzenarten besetzt und verändert wird. Endemitenreich sind vor allem der Süd- und Ostrand der Alpen, wo die Berge zudem nicht mehr so hoch sind und deshalb vergleichsweise wenige Ausweichmöglichkeiten nach oben bieten. 72 73 74 23 Europaweite Trends 75: Auf den Südtiroler Gipfeln etablieren sich wärmeliebende Pflanzen auf Kosten von kälteadaptierten – die Vegetation wird „thermophiler“: die Wärmezahl nahm auf allen Gipfeln zu. 76: Das Kalmtal, ein Seitental des Passeiertales mit der Kolbenspitze (2868 m) im Hintergrund 77: Faglsee im Kalmtal Die Vegetation wird „thermophiler“ Das Beispiel der einwandernden Bäume auf den GLORIA-Gipfeln zeigt sehr eindrücklich, wie Arten tieferer Lagen nach oben drängen. Allgemein lässt sich beobachten, dass sich „wärme-liebende Arten“ auf Kosten der „Kälte-Spezialisten“ ausbreiten. Um diesen Prozess zu quantifizieren, wurde eine Berechnungsmethode für den Wärmeanspruch der Arten pro Untersuchungsfläche entwickelt und die Daten des europaweiten GLORIA-Projektes wurden verglichen. Dabei wurde jeder Art eine Rangzahl zugewiesen, die besagt, in welcher Höhenstufe sie ihren Verbreitungsschwerpunkt hat. Je wärmeliebender eine Art ist, desto höher ist ihre Rangzahl. Der Mittelwert der Ränge aller Pflanzen, die auf einer Untersuchungsfläche vorkommen, entspricht der Wärmezahl dieser Fläche. Sie sagt aus, welche Wärmeansprüche die Vegetation dieser Untersuchungsfläche hat. Die Wärmezahl ist somit ein Maß für die Thermophilisierung, d.h. für die Veränderung der Gipfelvegetation hin zu wärmeliebendere Pflanzengesellschaften. Eine Änderung der Wärmezahl um den Wert 1 würde bedeuten, dass sich eine gesamte Höhenstufe nach oben verschiebt. Auf allen Südtiroler GLORIA-Gipfeln stieg die Wärmezahl in der Zeit von 7 bis 8 Jahren deutlich an (Abb. 75). Zwar ist die Veränderung auf den einzelnen Gipfeln unterschiedlich groß, aber sie ist ein eindeutiger Beleg für die Zunahme von wärmeliebenden und/oder die Abnahme von kälteadaptierten Arten. Der Überblick über alle Hochgebirge Europas zeigt, dass die Vegetation der Gipfelfluren europaweit wärmeliebender wird (Gottfried, M. et al. 2012: Continent-wide response of mountain vegetation to climate change, Nature Climate Change 2: 111-115). Bemerkenswert ist, dass die Thermophilisierung von der Meereshöhe und vom Breitengrad unabhängig ist – sie findet von der Baumgrenze bis zu den höchsten Gipfeln statt und von Schottland bis zu den Gebirgsregionen Kretas. Der Vergleich des Temperaturanstiegs mit den beobachteten Veränderungen in der Vegetation macht deutlich, wie eng diese beiden Entwicklungen verknüpft sind: Gebirgsregionen, in denen die durchschnittliche Sommertemperatur nur wenig zunahm (z. B. Süd-Norwegen) zeigten die geringsten Veränderungen. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass die Veränderungen wirklich von der steigenden Temperatur und nicht von irgendeinem anderen Umweltfaktor ausgelöst werden. Zunahme der Wärmezahlen Anstieg der Wärmezahlen 75 0,1 0,075 0,05 0,025 0 2199 m 2463 m 2757 m Dolomiten 76 2893 m 2180 m 2619 m 3074 m 3287 m Texelgruppe 77 24 79: Ausblick von der kleinen Latemarscharte (2526 m) 80: Rotwand, Rosengarten, im Abendlicht 81: Die Waldgrenze im Bereich der südlichen Latemargruppe wird von Zirben, Fichten und Lärchen gebildet 78 79 80 81 25 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL 78: Blick auf die Berge oberhalb der Spronser Seenplatte im Naturpark Texelgruppe Ausblick Alle Prognosen über die zukünftige Entwicklung der Vegetation der Hochgebirge sagen ein Höhersteigen von Pflanzenarten voraus und die GLORIAErgebnisse bestätigen dies. Vergleiche von historischen und rezenten Pflanzenaufnahmen in den Alpen belegen Höhenverschiebungen der Verbreitungsgrenzen von rund 2.5 – 3.5 m pro Jahr. Bäume, Zwergsträucher und krautige Arten aus dem heutigen Waldgrenzbereich drängen immer weiter nach oben und bewirken ein Ansteigen der Artenvielfalt auf den Gipfeln. Damit steigt der Konkurrenzdruck für die alpinen und nivalen Arten. Diese sind ihrerseits gezwungen, immer weiter nach oben auszuweichen. Berge laufen aber nach oben hin spitz zu, d.h. für die Arten gibt es irgendwann zu wenig Platz und alpine/nivale Arten „können nicht in den Himmel steigen“. Ein endgültiges Verschwinden von Alpenpflanzen ist daher durchaus zu erwarten. Wie künftige Pflanzengesellschaften der Hochgebirge aussehen werden, das wissen wir nicht. Das Langzeitprojekt GLORIA wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten empirische Daten dazu liefern. Die Veränderungen der alpinen Pflanzenwelt sind nur ein Aspekt der Folgen des globalen Klimawandels. Sie zeigen deutlich auf, dass unsere Lebensräume sich bereits aufgrund der bisherigen Erwärmung verändern. Die Beispiele aus der alpinen Stufe zeigen, dass sich die Veränderungen weitaus rascher einstellen, als ursprünglich erwartet wurde. Dies sollte uns nachdenklich stimmen, da eine Reihe von Folgen zu erwarten sind, die unsere Gesellschaft unmittelbar betreffen, so z.B. Ausfälle in der Land- und Forstwirtschaft, Zunahme von Extremereignissen wie Hitzeperioden und Unwetter oder die abnehmende Schneesicherheit in Wintersportgebieten. Es ist klar, dass die Erderwärmung nicht gestoppt werden kann, aber es ist hoch an der Zeit, umzudenken, damit nicht die schlimmsten Szenarien eintreten. Gefordert sind dabei sowohl die politischen Verantwortungsträger, aber letztlich auch jeder und jede Einzelne, die durch ihr Konsumverhalten letztlich den Ressourcenverbrauch bewirken. Phyteuma hemisphaericum (Grasblatt-Teufelskralle) 26 27 UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL © 2013 Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung Amt für Naturparke Rittner Straße 4 39100 Bozen Tel. +39 0471 417 770 Fax +39 0471 417 789 [email protected] www.provinz.bz.it/naturparke Koordination: Brigitta Erschbamer, Anton Egger Text und Fotos: Martin Mallaun, Peter Unterluggauer, Brigitta Erschbamer Titelbild: Dryas octopetala, Silberwurz Grafische Gestaltung: Hermann Battisti, Bozen Druckvorstufe & Druck: Karo Druck KG, Frangart Das GLORIA-Projekt wurde von Georg Grabherr (Universität Wien), Michael Gottfried und Harald Pauli initiiert (www.gloria.ac.at). Für die weltweite Koordination sind Harald Pauli, Manuela Winkler, Andrea Lamprecht, Sophie Nießner, Sabine Rumpf und Armin Oppelt verantwortlich. Die Südtiroler Untersuchungsgebiete werden von Martin Mallaun, Peter Unterluggauer und Brigitta Erschbamer bearbeitet. Bisherige Finanzierung des Projekts GLORIA in Südtirol: GLORIA-Europe EVK2-CT-2000-00056 Abteilung Forstwirtschaft, Autonome Provinz Bozen-Südtirol Tiroler Wissenschaftsfonds Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung, Autonome Provinz Bozen-Südtirol Universität Innsbruck Amt für Hochschulförderung, Universität und Forschung, Autonome Provinz Bozen-Südtirol