Das Projekt Gloria in Südtirol - Naturparks

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UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Titel
Naturparks Südtirol
Unter der Lupe
Gipfelflora im Wandel
Das Projekt GLORIA
in Südtirol
AUTONOME PROVINZ BOZEN - SÜDTIROL
Abteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung
PROVINCIA AUTONOMA DI BOLZANO - ALTO ADIGE
Ripartizione Natura, paesaggio e sviluppo del territorio
Arno Pertl
Die wissenschaftliche Forschung ist eine der
Kernaufgaben des Ressorts Natur, Landschaft und
Raumentwicklung. Studien, Erhebungen und
Publikationen dienen dazu, das Wissen über die
Naturparke zu vertiefen und die gewonnenen
Erkenntnisse weiter zu geben. Mit der Schriftenreihe
„Unter der Lupe“ werden aktuelle Ergebnisse der
in den Naturparks durchgeführten Studien zu
Papier und somit zu den Menschen gebracht.
In dieser Ausgabe geht es um den Klimawandel
und dessen Einfluss auf die Pflanzenwelt.
Das Projekt „GLORIA“ erforscht weltweit die
Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die
Verbreitung der Pflanzen in den verschiedenen
Höhenstufen. Es geht insbesondere um die
Artenvielfalt, die durch die Veränderung des Klimas
gefährdet ist. Die Ergebnisse der vorliegenden
Studie belegen das. Innerhalb des relativ kurzen
Untersuchungszeitraumes von nicht einmal zehn
Jahren haben sich bereits einzelne temperaturempfindliche Arten nach oben verschoben. Sind sie
gewissermaßen am „Gipfel“ angelangt, können sie
bei fortschreitender Erwärmung der Erdatmosphäre
nicht weiter nach oben ausweichen und gehen
so höchstwahrscheinlich verloren. Dieser Prozess
vollzieht sich natürlich schleichend.
Auch wenn diese, großteils durch den Menschen
verursachte Entwicklung in absehbarer Zeit nicht
gestoppt werden kann, liegt es dennoch an uns,
sie durch unsere täglichen Gewohnheiten und
unseren Lebensstil zumindest zu verlangsamen.
Diese Publikation soll dazu beitragen, die Veränderungen und deren Auswirkungen auf unsere
Umwelt zu erkennen und zu verstehen.
So kann die Problematik des Klimawandels
für jeden Einzelnen greifbarer gemacht werden.
In diesem Sinne wünsche ich eine spannende
und erkenntnisreiche Lektüre.
Elmar Pichler Rolle
Landesrat für Natur,
Landschaft und Raumentwicklung
Cardamine alpina (Alpen-Schaumkraut) in einem Schneeboden
des Naturparks Texelgruppe (2600 m)
2
3
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Globale Veränderung
Die Temperaturen steigen
Seit mehr als einem Jahrhundert ist die Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre
am Steigen. Diese globale Erwärmung, meist als
„Klimawandel“ bezeichnet, betrug zwischen 1906
und 2005 im Schnitt 0,74 ± 0,18°C. Das Jahrzehnt
von 2000 bis 2009 war mit Abstand das wärmste
seit Beginn der Messungen, gefolgt von den 1990er
Jahren, die wiederum wärmer waren als die 1980er
Jahre. Besonders markant fiel dieser Temperaturanstieg im Alpenraum aus (Abb. 1). Hier fand im
1
A2
A1B
B1
6.0
5.0
CO2-Konzentration des
Jahres 2000 bleibt konstant
4.0
20. Jahrhundert
3.0
2.0
1.0
1900
4
Jahr
A1FI
A2
B1
2000
A1B
0
-1.0
2
3
5
B2
Erwärmung der Erdoberfläche (°C)
2: Gemessene Erwärmung der
Erdoberfläche (schwarze Kurve) in den letzten 100 Jahren
und geschätzte Mittelwerte
(Kurven in rosa, blau, grün
und rot) für die mögliche
Erwärmung bis 2100 (Quelle:
IPCC 2007).
A1T
1: Seit ca. 1850 haben die
Gletscher am Alpenhauptkamm die Hälfte ihrer Fläche
verloren.
vergleichbaren Zeitraum eine Erwärmung von
2°C statt, wobei allein auf die letzten 30 Jahre eine
Erwärmung von 1,2°C fällt. Bis zum Jahr 2100 wird –
je nach Rechenmodell und erwartetem Anstieg von
Treibhausgasen - ein weiterer Temperaturanstieg
zwischen 1,8°C und 6,4°C prognostiziert (Abb. 2). In
der Wissenschaft herrscht heute weitgehend Konsens, dass der globale Temperaturanstieg in erster
Linie auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist.
Die Folgen dieser tief greifenden Klimaveränderung sind vielfältig und werden in den Medien breit
diskutiert. Bekannte Folgen der Klimaerwärmung
im Alpenraum sind z. B. die Gletscherschmelze
(Abb. 3-7), das Auftauen von Permafrostböden und
die vermehrt auftretenden schneearmen Winter.
Andere Auswirkungen werden in der Öffentlichkeit hingegen weniger beachtet – auch wenn sie
langfristig fundamentale Auswirkungen auf Natur
und Landschaft in den Alpen zur Folge haben könnten. Dazu gehören Phänomene wie die Migration
von Pflanzen- und Tierarten, das Aussterben von
Arten bis hin zur Umgestaltung ganzer Ökosysteme.
Genaue Untersuchungen zu bereits eingetretenen
Veränderungen und zukünftigen Entwicklungen im
Hochgebirge fehlten allerdings bislang.
2100
7
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Jahresmitteltemperatur in Schlanders (698 m NN)
14
°C Jahresmittel
12
10
8
6
4
2
3
0
1920
4
1940
1960
1980
2000
2020
Jahr
3: Das Untersuchungsgebiet
Texelgruppe nach einem
sommerlichen Kälteeinbruch.
4: Jahresmitteltemperaturen
in Schlanders in Südtirol zwischen 1926 und 2011 (Quelle:
http://www.provinz.bz.it/
wetter/temperaturen-hd.asp,
Landeswetterdienst, Autonome Provinz Bozen-Südtirol).
5: Blick auf den Grafferner im
Pfossental
5
6: Der Alpenhauptkamm im
Bereich des Similaun (3606m)
weist auch heute noch ausgedehnte Gletscher auf.
6
7: Die Gletscher nördlich der
Texelspitze (3318m) haben
stark an Ausdehnung und
Eismasse verloren.
7
5
Das Projekt GLORIA
Ein Beobachtungsnetzwerk
Im Jahre 2001 wurde das internationale Forschungsnetzwerk GLORIA („Global Observation
Research Initiative in Alpine Environments“ – zu
Deutsch: „Weltweite Forschungsinitiative zur
Dauerbeobachtung von alpinen Lebensräumen“)
ins Leben gerufen (www.gloria.ac.at). Leitung und
Koordination des mittlerweile weltweit laufenden
Netzwerkes obliegt Prof. Georg Grabherr und
seiner Arbeitsgruppe an der Universität Wien. Im
GLORIA-Projekt werden mit Hilfe einer einheitlichen
Methodik in über 100 Untersuchungsgebieten auf
6 Kontinenten die Auswirkungen des Klimawandels
in Gebirgsökosystemen untersucht (Abb. 8, Abb. 9).
Zielsetzung des Projektes GLORIA
• Auf Berggipfeln werden Untersuchungsflächen eingerichtet, um die Veränderungen von
8: Die Untersuchungen laufen
in allen Gebirgen nach einem
definierten Protokoll ab
(GLORIA Manual:
www.gloria.ac.at).
9: Das Projekt GLORIA weltweit: GLORIA-Untersuchungsgebiete (www.gloria.ac.at).
8
Artenvielfalt, Artenzusammensetzung, Deckung
der Vegetation, Bodentemperatur und Schneedeckendauer über lange Zeiträume hinweg zu
studieren
• Alle 5 bis 10 Jahre werden die Flächen wieder aufgesucht und aufgenommen, um das Einwandern
bzw. das Aussterben von Arten zu quantifizieren
• Die Untersuchungen dienen zur Risikoabschätzung eines Artenverlustes durch den Klimawandel und für Prognosen zur Stabilität der alpinen
Ökosysteme
Das Projekt GLORIA in Südtirol
Südtirol verfügt derzeit über zwei GLORIA-Gebiete: eines liegt im UNESCO Weltnaturerbe Dolomiten
(Ausgangsgestein: Latemarkalk und Schlerndolomit), ein weiteres im Naturpark Texelgruppe (Ausgangsgestein: Gneise des Ötztal-Stubai-Komplexes).
Laut GLORIA-Vorschrift sollten pro Untersuchungsgebiet vier Berggipfel von der Waldgrenze bis zur
subnivalen/nivalen Höhenstufe ausgewählt werden,
auf denen in jeder Himmelsrichtung Beobachtungsflächen einzurichten sind. Die Gipfel sollten
einheitlich hinsichtlich Geologie und Klima sein,
eine konische Form haben, die Nutzung sollte
fehlen oder zumindest nur sehr moderat sein,
touristisch uninteressant sollten sie sein und eine
für die jeweilige Höhenstufe typische Vegetation
aufweisen (Abb. 10, Abb. 11).
Aktiv: wieder aufgenommen
Aktiv: Daten eingegeben
Aktiv: Geländearbeiten beendet
Aktiv: im Aufbau begriffen
In Planung
Interesse vorhanden
9
6
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
GLORIA - Multi Summit-Approach
Höhenstufen
Die Vegetation im Gebirge ändert sich mit
ansteigender Meereshöhe auf Grund des
zunehmend kälteren Klimas. Dabei werden
charakteristische Höhenstufen unterschieden:
Subalpine Stufe (ca. 1800 – 2150/2300 m): Im
obersten Bereich des Bergwaldes dominieren
Lärchen-Zirben-Wälder, Fichtenwälder oder
Latschenbestände. Oft wurde der Wald durch
Almweiden und Bergmähder ersetzt. An der
Waldgrenze endet die subalpine Stufe. Darüber
beginnt die von Natur aus waldfreie alpine
Stufe.
Untere alpine Stufe (ca. 2150/2300 m – 2400
m): Stufe der Zwergstrauchheiden und der alpinen Rasen. Vielfach kommen hier Almweiden
und Bergmähder vor.
Obere alpine Stufe (ca. 2400 – 2900 m): Bereich der alpinen Rasen, die oft als Schafweiden
genutzt werden.
Subnivale Stufe (ca. 2900 – 3100 m): Die
Vegetation besteht aus Rasenfragmenten und
isoliert wachsenden Polsterpflanzen.
Nivale Stufe (ab ca. 3100 m): Pflanzenleben
ist in der Gletscherregion nur mehr an eisfreien
Gratlagen möglich.
Subnival
Oberalpin
HÖHENGRADIENT
Unteralpin
Übergang:
Subalpin/
Unteralpin
10
10: Skizze zur Gipfelauswahl:
pro Gebirgsregion werden 4
Gipfel vom Waldgrenzökoton
(Übergang subalpin/unteralpin) bis zur subnivalen/nivalen Stufe ausgewählt.
11: Die Lage der beiden
Südtiroler GLORIA-Gebiete:
in blau GLORIA Dolomiten,
in rot GLORIA Texelgruppe;
1-7: die Naturparke in Südtirol,
N: Nationalpark Stilfser Joch
11
7
Steckbrief der Südtiroler GLORIA-Gipfel
Naturpark Texelgruppe
12. TEX 4, 3287m
Höhenstufe: nival
Geographische Lage: Schnalstal
Vegetation: vereinzelte Gefäßpflanzen an günstigen
Standorten, Flechten
Pflanzengesellschaft: Alpenmannsschild-Flur (Androsacetum alpinae)
12
13. TEX 3, 3074m
Höhenstufe: obere alpine/subnivale Stufe
Geographische Lage: Pfossental (Schnalstal)
Vegetation: Schuttfluren und Rasenfragmente
Pflanzengesellschaften: Alpenmannsschild-Flur
(Festuca halleri-Ausbildung des Androsacetum alpinae), Krummseggenrasen (Caricetum curvulae)
14. TEX 2, 2619m
Höhenstufe: obere alpine Stufe
Geographische Lage: Kalmtal (Passeiertal)
Vegetation: alpine Rasen, Schuttfluren und Schneetälchenvegetation
Pflanzengesellschaften: verschiedene Ausbildungen
des Krummseggenrasens (Caricetum curvulae),
Krautweiden-Schneetälchen (Salicetum herbaceae)
15. TEX 1, 2180m
Höhenstufe: subalpine/untere alpine Stufe
Lage: Kalmtal (Passeiertal)
Vegetation: subalpine/unteralpine Rasen, Zwergstrauchheiden
Pflanzengesellschaften: Bürstlingsrasen (Sieversio-Nardetum strictae), Alpenrosenheide (Rhododendretum
ferruginei)
13
14
15
8
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Dolomiten
16. DOL 4, 2893m
Höhenstufe: obere alpine/subnivale Stufe
Geographische Lage: Sellagruppe
Vegetation: alpine Schuttfluren
Pflanzengesellschaft: Südalpine Alpenmohn-Schuttflur (Papaveretum rhaetici)
17. DOL 3, 2757m
Höhenstufe: obere alpine Stufe
Geographische Lage: nördliche Latemargruppe
Vegetation: alpine Fels- und Schuttfluren, alpine
Rasen
Pflanzengesellschaften: Dolomiten-Fingerkraut-Felsflur (Potentilletum nitidae), Südalpine AlpenmohnSchuttflur (Papaveretum rhaetici), Felsseggen-Rasen
(Caricetum rupestris), Kalk-Krummseggenrasen
(Elyno-Caricetum rosae)
16
18. DOL 2, 2463m
Höhenstufe: untere alpine Stufe
Geographische Lage: nördliche Latemargruppe
Vegetation: alpine Fels- und Schuttfluren, alpine
Rasen
Pflanzengesellschaften: Dolomiten-Fingerkraut-Felsflur (Potentilletum nitidae), Südalpine AlpenmohnSchuttflur (Papaveretum rhaetici), Südostalpiner Polsterseggenrasen (Gentiano terglouensis-Caricetum
firmae)
19. DOL 1, 2199m
Höhenstufe: subalpine/untere alpine Stufe
Geographische Lage: südliche Latemargruppe
Vegetation: artenreiche alpine Rasen, Zwergstrauchheide
Pflanzengesellschaften: Südostalpiner Polsterseggenrasen (Gentiano terglouensis-Caricetum firmae),
Blaugras-Horstseggenrasen (Seslerio-Caricetum
sempervirentis), Buntschwingelhalde (Gentianello
anisodontae-Festucetum variae), Zwergwacholderheide (Juniperion nanae-Gesellschaft)
19
17
18
9
Datenerhebung im Gelände
Einrichtung der Untersuchungsflächen
Ausgehend vom höchsten Punkt werden auf
jedem Gipfel Beobachtungsflächen eingerichtet.
Acht größere Untersuchungsflächen – sogenannte
Gipfelareale – umfassen die obersten 10 Höhenmeter des Gipfels. 5 Höhenmeter unterhalb des
Gipfels werden in jeder Haupthimmelsrichtung
3x3 m große Dauerflächen errichtet (Abb. 20-21).
Die Eckpunkte dieser Flächen werden vermessen,
markiert und fotografisch dokumentiert.
In den Eckquadraten (1x1 m) finden die detaillierten Untersuchungen statt. Im Zentrum der 3x3 m
Dauerflächen erfolgt die Vergrabung eines
Datenloggers in 10 cm Bodentiefe (Abb. 22).
Hier werden kontinuierlich Temperaturen gemessen.
eines der acht Gipfelareale
3x3 m-Dauerflächen
höchster Gipfelpunkt
20: Schematische Darstellung
eines Gipfels mit den Untersuchungsflächen
21: Aufnahme im Gipfelareal
– in dichten Rasenbeständen
eine sehr zeitaufwändige
Prozedur…
22: Datenlogger, der in
Stundenintervallen die
Bodentemperatur registriert;
der Datenlogger wird in
10 cm Bodentiefe vergraben
und zum leichteren WiederAuffinden mit einer kurzen
Schnur versehen.
Höhenschichtlinien
im Abstand von 1 m
20
10 m
22
21
10
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Aufnahmemethodik
Schritt 1: Bei der Vegetationsaufnahme wird die
Deckung von Vegetation, Fels, Geröll, Streu in % in
den vier Eckquadraten jeder 3x3 m Dauerfläche
geschätzt. Die Deckung jeder vorhandenen Art wird
prozentgenau erhoben.
Schritt 2: Frequenzanalyse in den vier Eckquadraten (Abb. 23) mit Hilfe eines 1x1 m Rahmens,
unterteilt in 100 Kleinquadrate (Abb. 24-25). Das
Vorkommen jeder Art wird in den 1x1 dm Kleinquadraten festgestellt.
Schritt 3: in den Gipfelarealen werden vollständige
Listen aller vorkommenden Gefäßpflanzen erstellt
und ihre Häufigkeit nach einer fünfstufigen Skala
abgeschätzt. Diese reicht von „r!“ (nur ein Exemplar
der Art in einer Fläche) bis „d“ (die Art bedeckt mindestens 50% der Fläche).
Die Aufnahmen in den zwei Südtiroler GLORIAGebieten erfolgten in unterschiedlichen Jahren
(Tab. 1). In der vorliegenden Arbeit werden die Aufnahmen 2001 / 2008 in den Dolomiten und 2003 /
2011 im Naturpark Texelgruppe verglichen.
23
Tab. 1: Zeitskala der Datenerhebung
Aufnahme 1
Aufnahme 2
Aufnahme 3
Aufnahme 4
Jahr
Gebiet
2001
Dolomiten
2003
Texelgruppe
2006
Dolomiten
2011
Texelgruppe
2008
Dolomiten
2018
Texelgruppe
2015
Dolomiten
24
23: 3x3 m Dauerfläche:
in den vier Eckquadraten
werden Frequenzanalysen
und Vegetationsaufnahmen
durchgeführt. Im mittleren
Quadrat befindet sich der
Datenlogger zur Messung der
Bodentemperatur.
24: 1x1 m-Eckquadrat mit
dem Frequenzrahmen
25: Eines der 100 Kleinquadrate einer Frequenzaufnahme
(1x1 dm)
25
11
Artenreichtum im Gipfelbereich
26: Artenzahlen der 8
Untersuchungsgipfel zum
Zeitpunkt der Erstaufnahme
27: Sesleria sphaerocephala
(Rundkopf-Blaugras):
ein Endemit der südlichen
Kalkalpen
Dolomiten: am artenreichsten
Die Dolomiten fallen deutlich durch ihre höhere Diversität auf (Abb. 26-28). Dieser Unterschied
beruht auf der unterschiedlichen Geologie und
Florengeschichte der beiden Gebiete. Die Flora über
basisch verwitternden Gesteinen – die einen Großteil der Dolomiten aufbauen – ist fast um die Hälfte
artenreicher als jene über Silikat. In den Dolomiten
treten auf engstem Raum Kalk- und Dolomitgesteine in abwechselnder Folge mit Vulkaniten nebeneinander auf. Damit treffen sich Kalk- und Silikatarten
und die Artenzahl ist entsprechend hoch. Die Gipfel
in den Dolomiten stellen sogar das artenreichste
aller 18 GLORIA-Gebiete in Europa dar (Abb. 28).
Dolomiten
Texelgruppe
160
140
Auswirkungen der Florengeschichte
Neben dem Ausgangsgestein prägt aber auch die
Florengeschichte die Artenvielfalt eines Gebietes.
Während der Eiszeiten waren weite Teile der Alpen
von Gletschern bedeckt. Um zu überdauern, mussten alpine Pflanzenarten in klimatisch günstigere
Gebiete oder auf eisfreie Gratlagen ausweichen. Vor
allem am gering vergletscherten Alpensüdrand gab
es eine ganze Reihe sogenannter Refugialgebiete
- eines davon lag in den Dolomiten (Abb. 27). Molekulare Analysen zeigten allerdings, dass auch in den
Zentralalpen Refugien für Pflanzenarten existiert
haben, so z.B. für den Himmelsherold (Eritrichium
nanum, Abb. 29).
Nach dem Eisfreiwerden der Alpen vor rund
10.000 Jahren waren die Pflanzen des Alpensüdrandes (Abb. 31-34) bereits mehr oder weniger vor Ort
oder hatten nur kurze Rückwanderwege. Daher
resultiert hier ein großer Artenreichtum. Die inneren
Alpenketten blieben vergleichsweise artenärmer,
da viele Arten aus den randalpinen Refugien die
Zentralalpen nicht mehr erreicht haben.
Artenzahl
120
100
80
60
40
20
0
2000
2200
2400
2600
2800
Meereshöhe (m)
26
3000
3200
3400
27
28
28: Artenzahlen von 18 Europäischen GLORIA-Gebieten
zum Zeitpunkt der Erstaufnahme. Weiß: allgemein
verbreitete Arten; Hellblau:
regionale Endemiten; Dunkelblau: lokale Endemiten
(Endemiten sind Arten, die auf
ein kleines Verbreitungsgebiet
beschränkt sind).
Quelle: Pauli, Gottfried,
Grabherr und Partner aus dem
GLORIA-Europe Netzwerk,
2010. In: Europe‘s ecological
backbone: recognizing the
true value of our
mountains. EEA Report No
6/2010, European Environment Agency, Copenhagen
12
30
5
4
3
2
1
0
-1
-2
-3
2000
2200
2400
2600
Texelgruppe
2800
3000
3200
3400
Meereshöhe(m)
29: Eritrichium nanum
(Himmelsherold): eine der wenigen Pflanzenarten, die die
Eiszeit am Alpenhauptkamm
überdauern konnte.
29
30: Die Jahresmittel der
Bodentemperaturen (10
cm Tiefe) auf den Untersuchungsgipfeln zeigen die
Temperaturabnahme mit der
Meereshöhe.
31: Androsace hausmannii
(Dolomiten-Mannsschild):
eine Art, deren Verbreitungsgebiet durch die Eiszeiten
in mehrere isolierte Areale
aufgesplittert wurde.
32: Gentiana clusii (ClusiusEnzian) kommt sowohl in
den Nord- als auch in den
Südalpen auf Kalk vor.
31
33: Potentilla nitida (Dolomiten-Fingerkraut) ist nur in den
Südalpen verbreitet.
32
34: Saxifraga squarrosa
(Sparrig-Steinbrech) ist
ebenfalls nur in den Südalpen
vertreten
33
34
13
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Bodentemperatur in °C
Dolomiten
Die Gipfel werden artenreicher
Zunahme der Artenzahlen
Auf den Südtiroler GLORIA-Gipfeln nahm der
Artenreichtum in den letzten sieben bis acht Jahren
deutlich zu (Abb. 36). Das GLORIA-Gebiet der Dolomiten wurde insgesamt um 9 Arten, jenes in der
Texelgruppe um 10 Arten reicher. Damit passen die
Südtiroler Gipfel genau in den europaweiten Trend.
35
35: Am kargen Hochplateau
der Sella (2900 m) wanderten
seit Beginn der Untersuchungen im Jahr 2001 zahlreiche
neue Pflanzenarten ein.
In den 17 GLORIA-Regionen - von den Pyrenäen
bis zum Kaukasus und vom Ural bis in die skandinavischen Gebirge – wiesen 13 einen Anstieg
der Artenvielfalt auf. Auf allen GLORIA-Gipfeln der
gemäßigten und kühlgemäßigten Klimagebiete
Europas nahm der Artenreichtum innerhalb von
sieben Jahren markant zu. Im Zuge der Klimaerwärmung schaffen es Pflanzenarten offensichtlich,
sich in Höhenlagen auszubreiten, die zuvor für sie
zu kalt waren. Im Gegensatz dazu wurden die Gipfel
des Mittelmeerraumes artenärmer. Das zunehmend
wärmere und gleichzeitig trockenere Klima verschärfte in diesem Gebiet die Wuchsbedingungen
der Pflanzen.
Der Artenreichtum auf Südtirols Berggipfeln
nimmt derzeit von der Waldgrenze bis in die subnivale Stufe zu. Eine Ausnahme bildet der höchste
Gipfel in der Texelgruppe (Abb. 37): hier kamen
keine neuen Arten dazu. Ein höhenspezifischer
Trend lässt sich allein aus den Daten der Südtiroler
GLORIA-Gebiete nicht ableiten. Erst die Auswertung von 66 europäischen Berggipfeln zeigte einen
signifikanten Trend: die größten Veränderungen
finden derzeit knapp oberhalb der Waldgrenze statt,
während sich die Artenzahlen auf den höchsten
Gipfeln weniger ändern (Pauli et al. 2012: Recent
Plant Diversity on Europe’s Mountain Summits,
Science 336: 353-355).
Artenzahlen-Zunahme
250
36: Artenzahlen in den obersten 10 Höhenmetern in den
Südtiroler GLORIA-Gebieten
zum Zeitpunkt der Erstaufnahme und nach 7 (Dolomiten)
bzw. nach 8 Jahren (Naturpark
Texelgruppe).
Pflanzenarten
200
196
150
205
139
149
100
50
0
Dolomiten
36
14
Texelgruppe
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
37: TEX 4 – der höchste
GLORIA-Gipfel im Naturpark
Texelgruppe. Hier kamen im
Zeitraum von 8 Jahren keine
neuen Arten dazu.
37
38: Das sehr seltene Sauergras
Carex foetida (Stink-Segge)
wanderte in den letzten Jahren am Untersuchungsgipfel
TEX 2 (2619 m) ein.
39: Die einjährige Euphrasia
minima (Zwerg-Augentrost)
eroberte den Gipfel DOL 3
(2757 m).
40: Die steilen Abhänge der
Kolbenspitze (2868 m), an
denen vermutlich der Wald
höher steigen wird.
41: TEX 2 (2619 m): hier
erhöhte sich die Artenzahl in
den obersten 10 Höhenmetern innerhalb von 8 Jahren
von 62 auf 66 Pflanzenarten.
38
39
40
41
15
Dynamik der Pflanzenbestände
42: Viele Pflanzenarten der alpinen Stufe vergrößern zurzeit
ihre Populationen.
43: Helianthemum grandiflorum (Großblütiges
Sonnenröschen): eine Art, die
ihre Individuenzahl deutlich
vergrößerte.
44: Rhododendron ferrugineum
(Rostrote Alpenrose) nimmt
individuenmäßig in beiden
GLORIA-Gebieten zu.
Pflanzen wandern
Die Pflanzendecke an einem Ort ist nicht statisch,
sondern in ständigem Umbau begriffen. Sie gleicht
einem Bahnhof, wo ein dauerndes Kommen und
Gehen herrscht, niemand einen festen Platz hat,
aber trotzdem immer jemand da ist. In den niederwüchsigen Beständen der alpinen und nivalen Stufe spielen sich die Veränderungen im Dezimeter bis
Zentimeter-Maßstab ab. Lücken können entstehen,
wenn bestandbildende Horstgräser über die Bodenoberfläche „wandern“, indem sie an einem Ende
absterben und am anderen weiterwachsen. Lücken
bilden sich aber auch, wenn Triebe absterben, weil
sie altern, von Schädlingen befallen wurden, von
Weidetieren, Steinschlag, extremem Frost oder Hitze geschädigt wurden. Die frei werdenden Stellen
können dann von anderen Arten besiedelt werden.
Pflanzenarten behaupten ihren Standort, sind aber
kleinräumig von Jahr zu Jahr an etwas anderen Stellen aufzufinden. Solche reversiblen Schwankungen
werden als Fluktuationen bezeichnet. Solange sich
die Umweltfaktoren nicht ändern, bleibt insgesamt
die Vegetation gleich, aber das Muster verändert
sich.
Pflanzenpopulationen dehnen sich aus
Die Beobachtungen auf den Südtiroler GLORIAGipfeln weisen eindeutig ein Wachstum der
Populationen nach. Es sind deutlich mehr Pflanzen,
die sich ausdehnen als schrumpfen, das heißt die
Anzahl der Individuen pro Fläche nimmt merklich
zu (Abb. 42-44).
Was sich auf kleinstem Raum im Zentimeter-Maßstab innerhalb der Bestände abspielt, setzt sich auf
größeren Maßstab im 10 Höhenmeter-Bereich des
gesamten Gipfels fort: bereits vorhandene Populationen besiedeln zunehmend neue Wuchsorte. Sie
breiten sich innerhalb der Gipfel-Untersuchungsflächen aus. Besonders eindrücklich sieht man das am
höchsten GLORIA-Gipfel im Naturpark Texelgruppe,
wo zwar keine neue Art eingewandert ist, aber
nach acht Jahren die Pioniere wie der Gletscherhahnenfuß (Ranunculus glacialis) oder das Einblütige
Hornkraut (Cerastium uniflorum) deutlich zugenommen haben.
Gewinnende und verlierende Arten auf den Gipfeln
Arten, die seltener werden
Arten, die häufiger werden
60
Artenzahl
40
49
47
50
35
34
30
30
23
17
20
11
10
27
7
19
11
7
10
3
0
2199 m
42
2463 m
2757 m
Dolomiten
44
2893 m
2180 m
2619 m
3074 m
0
4
3287 m
Texelgruppe
43
16
4
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
45
46
47
48
45: Lilium martagon (Türkenbund-Lilie): DOL 1 (2199 m).
46: Leontopodium alpinum
(Alpen-Edelweiß): DOL 1 (2199
m) und DOL 2 (2463 m).
47: Potentilla nitida
(Dolomiten-Fingerkraut):
DOL 2 (2463 m), DOL 3 (2757
m), DOL 4 (2893 m).
48: Gentiana bavarica
(Bayerischer Enzian):
TEX 3 (3074 m)
49: Saxifraga bryoides
(Moos-Steinbrech):
TEX 2 (2619 m), TEX 3 (3074 m),
TEX 4 (3287 m).
49
17
Verschiebt sich die Waldgrenze?
Die Waldgrenze ist wohl die eindrücklichste
Vegetationsgrenze der Alpen – oberhalb dieser
Grenze beginnt die alpine Stufe mit Zwergstrauchheiden, alpinen Rasen, Schneeböden, Schuttfluren
und Felsspaltengesellschaften. Durch die Jahrtausende zurück reichende Almwirtschaft wurde die
Waldgrenze im Großteil der Alpen um mehrere
Hundert Meter nach unten verschoben, so dass die
Höhe der „potentiell natürlichen“ (d. h. klimatischen)
16
16
14
14
14
Anzahl der Bäume
12
12
10
10
8
8
7
6
6
4
4
3
4
2
2
2
1
2
0
0
0
2199 m
Waldgrenze nicht immer leicht festzustellen ist. In
den Dolomiten liegt die aktuelle Waldgrenze bei
ca. 2150 m Meereshöhe. Im Naturpark Texelgruppe
schwankt die Höhe der aktuellen Waldgrenze zwischen 2150 m (Passeiertal) und 2300 m Meereshöhe
(Schnalstal).
Die Ergebnisse des GLORIA-Projekts in Südtirol
deuten in der Tat darauf hin, dass sich die Waldgrenze derzeit nach oben verschiebt (Abb. 50-53).
Vor allem in den Dolomiten entwickeln sich knapp
oberhalb der Waldgrenze (GLORIA-Gipfel DOL 1,
2199 m, Abb. 54) Zirben, Fichten und Lärchen sehr
gut. Viele junge Bäume waren zum ersten Untersuchungszeitpunkt noch nicht vorhanden, keimten
und etablierten sich aber innerhalb von 7 Jahren.
Einige der älteren Individuen auf diesem Gipfel
sind bereits groß genug, um über die winterliche
Schneedecke hinauszuragen. Die künftige Vegetation auf diesem Gipfel ist sicherlich ein Wald (Abb. 55).
1
0
3287 m
2463 m
3074 m
2757 m
Dolomiten
2619 m
Dolomiten
50
51
50: Einwanderung von
Bäumen auf den Südtiroler
GLORIA-Gipfeln – die graue
Säule zeigt die Anzahl der
Bäume pro Gipfel zum
Zeitpunkt der Erstaufnahme,
die schwarze Säule zum
Zeitpunkt der Wiederholungsaufnahme.
51: Die Waldgrenze im
Pfossental
52: Natürliche Waldgrenze
an den steilen Abhängen der
Kolbenspitze (2868 m) im
Naturpark Texelgruppe
52
18
2893 m
2180 m
2619 m
3074 m
Texelgruppe
Texelgruppe
3287 m
Vorposten
Es ist durchaus erstaunlich, in welche Höhen
einzelne Baumindividuen vordringen können. Die
Lärchen auf dem 2463 m hohen DOL 2 sind dabei
noch nicht außergewöhnlich, denn in dieser Höhe
kommen Baumkrüppel immer wieder vor und bis
2300 m Meereshöhe sind mehr als 3 m hohe Bäume
vereinzelt vorhanden. Bemerkenswert sind hingegen die Lärchen am 2757 m hohen DOL 3 (Abb. 56)
oder eine Vogelbeere am 2619 m hohen TEX 2
(Abb. 58). In diesen Höhen sind die Baumindividuen
an besonders günstige Schutzstellen gebunden
und bleiben entsprechend klein. Die Lärchen
maßen zum zweiten Aufnahmezeitpunkt in den
Dolomiten etwa 2 cm, die Vogelbeere etwa 12 cm.
Natürlich stellt sich die Frage, wie lange diese Individuen in den großen Höhen überleben können.
Derart hochgelegene Vorposten werfen die
Frage nach den Ausbreitungsmechanismen dieser
Baumarten auf. Die Einwanderung von Baumarten
beruht zum einen auf Fernverbreitung durch Wind
und Tiere. Das betrifft vor allem die hochgelegenen
Außenposten, bei denen die nächstgelegenen
samentragenden Bäume mehrere hundert Höhenmeter tiefer wachsen. Ein weiterer Prozess ist
das Auffüllen eines immer günstiger werdenden
Lebensraumes von einem nahe gelegenen Vorposten aus. Ein solcher Auffüllungsprozess ist das starke
Aufkommen von jungen Bäumen knapp oberhalb
der Waldgrenze in beiden GLORIA-Gebieten. Dies
gilt aber auch für Zwergsträucher, krautige - und
Grasarten, die von der subalpinen Stufe aus die
Gipfelfluren auffüllen.
5
54: Lärche am Untersuchungsgipfel DOL 1 (2199 m).
55: Lärche, Fichte, Zirbe
bilden die Waldgrenze in den
Untersuchungsgebieten.
53
56
54
57
56: Lärche am Existenzminimum (Untersuchungsgipfel
DOL 3, 2757 m)
57: Junge Zirbe am Untersuchungsgipfel DOL 1 (2199 m)
58: Am Gipfel TEX 2
(2619 m) trotzt eine winzige
Vogelbeere seit über 10
Jahren dem rauen Klima
der oberen alpinen Stufe.
55
58
19
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
53: Diese Fichte etablierte
sich in einer günstigen Nische
am Untersuchungsgipfel TEX
1 (2180 m). Der Baum war bei
der Erstaufnahme der Flächen
noch nicht vorhanden.
Gewinner und Verlierer
59: Auf 7 der 8 untersuchten
Gipfel gibt es sowohl Gewinne als auch Verluste von
Arten. Insgesamt überwiegt
aber die Neueinwanderung
von Pflanzenarten.
60: Saxifraga facchinii (Facchini-Steinbrech) hat ein sehr
begrenztes Vorkommen in
den höchsten Lagen einiger
weniger Dolomitenmassive.
Solche Spezialisten können
durch das Höherwandern
konkurrenzkräftiger Arten
aus tieferen Lagen in ihrer
Existenz bedroht werden.
61: Zwergsträucher wie Vaccinium gaultherioides (Rauschbeere) dringen vermehrt in
die alpine Stufe vor.
Die Zunahme der Artenzahlen auf den einzelnen
Untersuchungsgipfeln darf man sich nicht nur
als einfaches Einwandern neuer Arten vorstellen.
Tatsächlich wurde auf den meisten Gipfeln auch das
Verschwinden von Arten beobachtet. Pflanzenarten,
die bei der Erstaufnahme der Untersuchungsflächen vorhanden waren, konnten bei der Wiederholungsaufnahme nicht mehr gefunden werden.
Andererseits tauchten neue Arten auf, die bei der
Erstaufnahme noch nicht vorhanden waren. Insgesamt überwiegt die Zahl der Neufunde gegenüber
den Verlusten (Abb. 59).
Die Vegetation auf den Südtiroler Untersuchungsgipfeln entwickelte sich in den letzten Jahren
von einem mehr pionierhaften zu einem reiferen
Zustand. In allen Höhenlagen dehnten sich wärmeliebende Arten aus. Dadurch wird der Lebensraum der Kälte ertragenden Arten immer kleiner.
Immerhin besiedeln diese Extremisten (Abb. 60) ja
nicht deshalb ihre hochgelegenen Lebensräume,
weil ihnen die Kälte, die lange Schneebedeckung
oder andere extreme Bedingungen besonders zusagen. Stattdessen müssen sie mit diesen Standorten
vorlieb nehmen, weil die Konkurrenz (Abb. 61) sie
von günstigen Wuchsplätzen ausschließt.
Verluste
Neu-Vorkommen
Anzahl der Arten
20
15
Unterschiedliche Pflanzenarten können aber
nicht nur in Konkurrenz zueinander stehen, sondern
sich auch gegenseitig im Wachstum fördern. Der
geschlossene Bestand oder ein Pflanzenpolster
mildert Klimaextreme ab und festigt labile Böden.
Je extremer die Bedingungen an einem Standort
sind, desto bedeutsamer wird diese gegenseitige
Förderung der Pflanzen. So wird verständlich, dass
im Übergangsbereich zwischen subalpiner und
unterer alpinen Stufe, wo die Konkurrenz eine große
Rolle spielt, noch etwa gleich viele Arten zu- und
abnehmen. Je weiter man in die Höhe steigt, desto
wichtiger wird die Rolle der gegenseitigen Förderung im Vergleich zur Konkurrenz. Auf den höchsten
Gipfeln ist daher fast nur mehr die Zunahme von
Populationen zu beobachten.
Voraussetzung für eine gerichtete Entwicklung
der Vegetation ist, dass die Gipfel stabile Bereiche
aufweisen, wo sich die Pflanzen auch dauerhaft behaupten können. Die stärkste Zunahme gibt es auf
sehr abwechslungsreichen Bergen, die eine Vielzahl
unterschiedlicher Lebensräume wie Rasen, Schneeböden, Felsspalten und nicht allzu labile Schuttfluren bieten. Auf Gipfeln, die vorwiegend von labilem
Schutt bedeckt sind, kann die erwärmungsbedingte
Dynamik hingegen nur in geringerem Ausmaß
beobachtet werden. Etwaige Besiedelungseffekte
werden dort durch das periodische Abrutschen der
Standorte wieder ausgelöscht.
10
5
0
-5
-10
-15
2000
2200
2400
2600
2800
3000
3200
3400
Meereshöhe
59
60
20
61
63: Der Endemit Draba
dolomitica (Dolomiten-Felsenblümchen) könnte massiv
in Bedrängnis geraten durch
nachrückende Arten.
64: Soldanella pusilla (ZwergSoldanelle), eine Pflanze der
Silikatberge, ist ein Spezialist,
der sich an lange Schneebedeckung angepasst hat.
62
65: Pedicularis kerneri (KernerLäusekraut) und Minuartia
recurva (Krummblatt-Miere)
sind Vertreter der Hochlagen
in der Texelgruppe.
63
66: Androsace alpina (AlpenMannschild), eine der höchststeigenden Blütenpflanzen in
der Texelgruppe.
64
65
66
21
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
62: Dryas octopetala (Silberwurz), eine Pionierart der Kalkgebirge verliert ihr Territorium
auf niederen Gipfeln.
Dolomiten
Subalpine/untere alpine Stufe
68. Gewinner - Artenreicher Blaugras-Horstseggenrasen der unteren alpinen Stufe: in den Rasen
knapp oberhalb der Waldgrenze erhöht sich die
Häufigkeit der dominanten Gräser (Nardus stricta, Sesleria caerulea, Carex sempervirens). In ihrem
Gefolge werden auch die krautigen Begleitarten
der Rasen häufiger. Die Einwanderung von Bäumen
und Zwergsträuchern wird aber auf lange Sicht an
vielen Standorten zu einer Abnahme der Artenzahlen führen.
69. Verlierer - Pionierhafter Polsterseggenrasen:
Arten der kühlen, schneebetonten und daher
offenen Standorte gehören in der unteren alpinen
Stufe zu den stärksten Verlierern (Dryas octopetala,
Salix reticulata, Salix serpyllifolia). Felsspaltenpflanzen
leiden stark unter heißen und trockenen Sommern
(Androsace helvetica).
68
Obere alpine Stufe
70. Gewinner - Silberwurz-Polsterseggenrasen:
bislang offene Standorte der oberen alpinen Stufe
werden zunehmend von Rasenpionieren besiedelt (Dryas octopetala, Carex firma, Carex rupestris,
Saxifraga-Arten).
71. Verlierer - Konkurrenzschwache alpine Arten
(Arenaria ciliata) kommen zunehmend in Bedrängnis.
69
71
70
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UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
Naturpark Texelgruppe
Obere alpine Stufe
72. Verlierer - Krautweidenflur: jene Arten, die an
die extremsten Bedingungen - wie neun Monate
oder länger unter Schnee - angepasst sind, verlieren
unter der wachsenden Konkurrenz der sich ausdehnenden Arten zunehmend ihren derzeitigen
Wuchsort in der alpinen Stufe.
Subnivale Stufe
73. Gewinner - in der subnivalen Stufe profitieren
die meisten Arten von der Erwärmung. Arten, die in
der alpinen Stufe zu den Verlierern gehören, weisen
in den höheren Lagen einen starken Zuwachs auf
(Ranunculus glacialis, Cerastium uniflorum). Zudem
erweitern Rasenarten wie die Krummsegge (Carex
curvula) und ihre Begleiter ihre hoch gelegenen
Vorposten-Populationen.
Mögliche Verlierer in beiden GLORIA-Gebieten
74. Dauerhaft gefährdet sind Pflanzenarten,
die nur in den obersten Höhenstufen der Gebirge
siedeln, so z.B. die nivalen Pflanzenarten am Alpenhauptkamm wie der Alpen-Mannsschild (Androsace
alpina). Betroffen sind in Zukunft sicherlich vor
allem auch jene Pflanzen, die nur in eng begrenzten
Gebieten vorkommen, die sogenannten Endemiten
(Draba dolomitica, Abb. 63). Sie haben keine Überlebenschancen, sobald ihr Wuchsort von nachrückenden Pflanzenarten besetzt und verändert
wird. Endemitenreich sind vor allem der Süd- und
Ostrand der Alpen, wo die Berge zudem nicht mehr
so hoch sind und deshalb vergleichsweise wenige
Ausweichmöglichkeiten nach oben bieten.
72
73
74
23
Europaweite Trends
75: Auf den Südtiroler Gipfeln
etablieren sich wärmeliebende Pflanzen auf Kosten
von kälteadaptierten – die
Vegetation wird „thermophiler“: die Wärmezahl nahm auf
allen Gipfeln zu.
76: Das Kalmtal, ein Seitental
des Passeiertales mit der
Kolbenspitze (2868 m) im
Hintergrund
77: Faglsee im Kalmtal
Die Vegetation wird „thermophiler“
Das Beispiel der einwandernden Bäume auf den
GLORIA-Gipfeln zeigt sehr eindrücklich, wie Arten tieferer Lagen nach oben drängen. Allgemein lässt sich
beobachten, dass sich „wärme-liebende Arten“ auf
Kosten der „Kälte-Spezialisten“ ausbreiten. Um diesen
Prozess zu quantifizieren, wurde eine Berechnungsmethode für den Wärmeanspruch der Arten pro
Untersuchungsfläche entwickelt und die Daten des
europaweiten GLORIA-Projektes wurden verglichen.
Dabei wurde jeder Art eine Rangzahl zugewiesen,
die besagt, in welcher Höhenstufe sie ihren Verbreitungsschwerpunkt hat. Je wärmeliebender eine Art
ist, desto höher ist ihre Rangzahl. Der Mittelwert der
Ränge aller Pflanzen, die auf einer Untersuchungsfläche vorkommen, entspricht der Wärmezahl dieser
Fläche. Sie sagt aus, welche Wärmeansprüche die
Vegetation dieser Untersuchungsfläche hat. Die
Wärmezahl ist somit ein Maß für die Thermophilisierung, d.h. für die Veränderung der Gipfelvegetation
hin zu wärmeliebendere Pflanzengesellschaften.
Eine Änderung der Wärmezahl um den Wert 1 würde
bedeuten, dass sich eine gesamte Höhenstufe nach
oben verschiebt.
Auf allen Südtiroler GLORIA-Gipfeln stieg die
Wärmezahl in der Zeit von 7 bis 8 Jahren deutlich an
(Abb. 75). Zwar ist die Veränderung auf den einzelnen Gipfeln unterschiedlich groß, aber sie ist ein
eindeutiger Beleg für die Zunahme von wärmeliebenden und/oder die Abnahme von kälteadaptierten Arten.
Der Überblick über alle Hochgebirge Europas
zeigt, dass die Vegetation der Gipfelfluren europaweit wärmeliebender wird (Gottfried, M. et al. 2012:
Continent-wide response of mountain vegetation to
climate change, Nature Climate Change 2: 111-115).
Bemerkenswert ist, dass die Thermophilisierung von
der Meereshöhe und vom Breitengrad unabhängig ist – sie findet von der Baumgrenze bis zu den
höchsten Gipfeln statt und von Schottland bis zu den
Gebirgsregionen Kretas. Der Vergleich des Temperaturanstiegs mit den beobachteten Veränderungen in
der Vegetation macht deutlich, wie eng diese beiden
Entwicklungen verknüpft sind: Gebirgsregionen, in
denen die durchschnittliche Sommertemperatur
nur wenig zunahm (z. B. Süd-Norwegen) zeigten die
geringsten Veränderungen. Dieser Zusammenhang
macht deutlich, dass die Veränderungen wirklich von
der steigenden Temperatur und nicht von irgendeinem anderen Umweltfaktor ausgelöst werden.
Zunahme der Wärmezahlen
Anstieg der Wärmezahlen
75
0,1
0,075
0,05
0,025
0
2199 m
2463 m
2757 m
Dolomiten
76
2893 m
2180 m
2619 m
3074 m
3287 m
Texelgruppe
77
24
79: Ausblick von der kleinen
Latemarscharte (2526 m)
80: Rotwand, Rosengarten,
im Abendlicht
81: Die Waldgrenze im Bereich der südlichen Latemargruppe wird von Zirben,
Fichten und Lärchen gebildet
78
79
80
81
25
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
78: Blick auf die Berge oberhalb der Spronser Seenplatte
im Naturpark Texelgruppe
Ausblick
Alle Prognosen über die zukünftige Entwicklung
der Vegetation der Hochgebirge sagen ein Höhersteigen von Pflanzenarten voraus und die GLORIAErgebnisse bestätigen dies. Vergleiche von historischen und rezenten Pflanzenaufnahmen in den
Alpen belegen Höhenverschiebungen der Verbreitungsgrenzen von rund 2.5 – 3.5 m pro Jahr. Bäume,
Zwergsträucher und krautige Arten aus dem heutigen Waldgrenzbereich drängen immer weiter nach
oben und bewirken ein Ansteigen der Artenvielfalt
auf den Gipfeln. Damit steigt der Konkurrenzdruck
für die alpinen und nivalen Arten. Diese sind
ihrerseits gezwungen, immer weiter nach oben auszuweichen. Berge laufen aber nach oben hin spitz
zu, d.h. für die Arten gibt es irgendwann zu wenig
Platz und alpine/nivale Arten „können nicht in den
Himmel steigen“. Ein endgültiges Verschwinden von
Alpenpflanzen ist daher durchaus zu erwarten. Wie
künftige Pflanzengesellschaften der Hochgebirge
aussehen werden, das wissen wir nicht. Das Langzeitprojekt GLORIA wird uns in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten empirische Daten dazu liefern.
Die Veränderungen der alpinen Pflanzenwelt
sind nur ein Aspekt der Folgen des globalen
Klimawandels. Sie zeigen deutlich auf, dass unsere
Lebensräume sich bereits aufgrund der bisherigen Erwärmung verändern. Die Beispiele aus der
alpinen Stufe zeigen, dass sich die Veränderungen
weitaus rascher einstellen, als ursprünglich erwartet
wurde. Dies sollte uns nachdenklich stimmen, da
eine Reihe von Folgen zu erwarten sind, die unsere
Gesellschaft unmittelbar betreffen, so z.B. Ausfälle
in der Land- und Forstwirtschaft, Zunahme von
Extremereignissen wie Hitzeperioden und Unwetter
oder die abnehmende Schneesicherheit in Wintersportgebieten. Es ist klar, dass die Erderwärmung
nicht gestoppt werden kann, aber es ist hoch an
der Zeit, umzudenken, damit nicht die schlimmsten
Szenarien eintreten. Gefordert sind dabei sowohl
die politischen Verantwortungsträger, aber letztlich
auch jeder und jede Einzelne, die durch ihr Konsumverhalten letztlich den Ressourcenverbrauch
bewirken.
Phyteuma hemisphaericum (Grasblatt-Teufelskralle)
26
27
UNTER DER LUPE | GIPFELFLORA IM WANDEL
© 2013
Abteilung Natur, Landschaft und
Raumentwicklung
Amt für Naturparke
Rittner Straße 4
39100 Bozen
Tel. +39 0471 417 770
Fax +39 0471 417 789
[email protected]
www.provinz.bz.it/naturparke
Koordination:
Brigitta Erschbamer, Anton Egger
Text und Fotos:
Martin Mallaun, Peter Unterluggauer,
Brigitta Erschbamer
Titelbild: Dryas octopetala, Silberwurz
Grafische Gestaltung:
Hermann Battisti, Bozen
Druckvorstufe & Druck:
Karo Druck KG, Frangart
Das GLORIA-Projekt wurde von
Georg Grabherr (Universität Wien),
Michael Gottfried und Harald Pauli
initiiert (www.gloria.ac.at).
Für die weltweite Koordination sind
Harald Pauli, Manuela Winkler, Andrea
Lamprecht, Sophie Nießner, Sabine Rumpf
und Armin Oppelt verantwortlich.
Die Südtiroler Untersuchungsgebiete
werden von Martin Mallaun,
Peter Unterluggauer und
Brigitta Erschbamer bearbeitet.
Bisherige Finanzierung des Projekts GLORIA
in Südtirol:
GLORIA-Europe EVK2-CT-2000-00056
Abteilung Forstwirtschaft,
Autonome Provinz Bozen-Südtirol
Tiroler Wissenschaftsfonds
Abteilung Natur, Landschaft und
Raumentwicklung,
Autonome Provinz Bozen-Südtirol
Universität Innsbruck
Amt für Hochschulförderung,
Universität und Forschung,
Autonome Provinz Bozen-Südtirol
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