Komplexe Prozesse schaffen im Gehirn ein Abbild

Werbung
NN/HA/WISS/REGIS-3 - 06.10.1999
Komplexe Prozesse schaffen im Gehirn ein Abbild der Umwelt
"Das reine Gefühl gibt es nicht"
Störungen führen zu seelischen Leiden - Tagung in Nürnberg
VON KATHRIN IMKE
Es klingt wie ein Szenario aus einem Horrorfilm: Eine Frau steht wie ferngesteuert an den Gleisen und hört
plötzlich eine Stimme, die ihr befiehlt, sich vor die U-Bahn zu werfen. Eine Stimme, die außer ihr niemand hört.
Ein Mann liegt, von panischer Angst gelähmt, im Bett und sieht unzählige Käfer an der Wand entlangkrabbeln.
Käfer, die außer ihm niemand sieht.
Nein, dies sind keine Ausschnitte aus einem Hitchcock-Film, vielmehr handelt es sich um Schilderungen von
Patienten, die unter Halluzinationen leiden. "Trugwahrnehmungen, die sowohl auf eine organische als auch auf
eine psychische Störung hinweisen können", erklärt Günter Niklewski, Chefarzt für Psychiatrie am Nürnberger
Klinikum.
Günter Niklewski ist einer von zwölf Experten, die hochkomplizierte Sachverhalte aus der Welt der
Hirnforschung bei einer Tagung der "Turm der Sinne GmbH" in Nürnberg einem interessierten Laienpublikum
zugänglich machten. Unter den Referenten war auch einer der renommiertesten Hirnforscher Deutschlands, der
Münchner Professor Ernst Pöppel. "Den
reinen
Denkakt, das
reine
Gefühl gibt es nicht", stellt er fest. "Denn alle Nervenzellen stehen in ständigem Kontakt miteinander, tauschen
Informationen aus. Es gibt kein Gefühl ohne Erinnerungen. Keinen Geruch, keinen Geschmack ohne Gefühl."
Damit sich die Nervenzellen untereinander austauschen können, sind sogenannte Transmitter vonnöten,
chemische Botenstoffe, die die Funktion der verschiedenen Nervenzellen steuern. Ein gestörter TransmitterHaushalt unterbricht die Informationswege im Gehirn. Krankheiten wie Epilepsie oder Schizophrenie sind die
Folge.
Optische Täuschungen
Doch wie wirklich ist eigentlich unsere Wahrnehmung? Diese Frage ließ Pöppel die Symposium-Teilnehmer
selbst beantworten. Beispiele von geometrisch-optischen Täuschungen, über Diaprojektor an die Wand
geworfen, machten schnell klar, dass unser Gehirn nur eine subjektive Realität und keineswegs eine perfekte
Abbildung der Gegenwart liefert. Denn je nachdem, worauf sich das Auge konzentriert, erscheint bei
mehrmaligem Betrachten desselben Bildes mal diese, mal jene Linie dunkler oder heller, liegt ein Objekt mal im
Vorder- oder Hintergrund.
Das liegt unter anderem daran, dass das Gehirn automatisch alle drei Sekunden abfragt, was es Neues gibt, also
quasi wie ein Computer den Gegenwartsspeicher immer wieder updated, aktualisiert. Dies hat zur Folge, dass die
Informationen etwas zeitversetzt verarbeitet werden. "Wer versucht, sich eine Telefonnummer zu merken, und
dabei (innerhalb des Drei-Sekunden-Updates) unterbrochen wird, hat die Nummer gleich wieder vergessen", sagt
Pöppel, der das Phänomen des Drei-Sekunden-Rhythmus entdeckt hat.
Dass die Fähigkeit zur Kommunikation für uns Menschen lebenswichtig ist, machte die Tübinger Biologin
Andrea Kübler auf beeindruckende Art deutlich. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Patienten, die unter dem
so genannten "Locked-in-Syndrom" leiden, einer Nervenkrankheit, die durch eine Hirnstammblutung ausgelöst
wird. Beim "Locked-in-Syndrom" ist die motorische Muskulatur schwer oder gänzlich lahm gelegt, während das
Gehirn voll funktionsfähig bleibt. Auch die Sprech- und Atemmuskulatur kann gelähmt sein. Die Kranken
überleben gelähmt nur an einer Beatmungsmaschine.
Ohne Verbindung
Denn ohne Gesten, ohne Sprache, ohne Kommunikation ist der Kontakt zur Außenwelt, zu anderen Menschen,
abgeschnitten. Manche Patienten können nur noch ein Augenlid oder einen Nasenflügel bewegen; ihnen will ein
Forschungsprojekt in Tübingen helfen.
"Die Patienten lernen bei uns, ihre (langsamen) Hirnströme zu kontrollieren, also willentlich zu beeinflussen, um
so mit Hilfe eines Computers zu kommunizieren", erklärt Andrea Kübler. Bei diesem komplizierten Verfahren
müssen die Patienten, die (mit Elektroden am Kopf) an einen Computer angeschlossen sind, mit Hilfe ihrer
Gedanken versuchen, ein grafisches Signal (einen Ball) in ein Tor am oberen oder unteren Bildschirmrand zu
"schießen", also eine binäre, computertaugliche Entscheidung zu treffen.
Über die Welt dieser Menschen wusste bisher niemand richtig Bescheid - auch die Tübinger Wissenschaftler
hatten sich getäuscht. Sei hatten nämlich gedacht, die Patienten würden das Programm zur Steuerung von
Lampen oder Fernsehern nutzen. Doch viel wichtiger war es ihnen, ihre Gedanken und Gefühle wieder mitteilen
zu können - wieder ein Beleg dafür, wie sehr das Gehirn auf Verständigung und Auseinandersetzung mit der
Umwelt angewiesen ist.
Verfasser:
Imke Katrin
Herunterladen