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Nürnberger Nachrichten, Oktober 1999
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Wie kommt die Welt in den Kopf?
Nürnberger Tagung zum Thema Hirnforschung
Von Kathrin Imke
Es klingt wie ein Szenario aus einem Horrorfilm: Eine Frau steht wie ferngesteuert an den
Gleisen und hört plötzlich eine Stimme, die ihr befiehlt, sich vor die U-Bahn zu werfen. Eine
Stimme, die außer ihr niemand hört. Ein Mann liegt vor panischer Angst gelähmt im Bett und
sieht unzählige Käfer an der Wand entlang krabbeln. Käfer, die außer ihm niemand sieht.
Ein anderer hat das Gefühl, nach dem letzten Zahnarztbesuch einen elektronischen Sensor
unter einer Plombe zu spüren und ob der Strahlung schier verrückt zu werden. Nein, dies ist
kein Ausschnitt aus einem Hitchcock-Film, vielmehr handelt es sich um Schilderungen von
Patienten, die unter Halluzinationen leiden.
“Trugwahrnehmungen, die sowohl auf eine organische als auch auf eine psychische Störung
hinweisen können”, erklärt Günter Niklewski, Chefarzt für Psychiatrie am Nürnberger NordKlinikum. Wichtig sei bei der Diagnose, die Symptome über einen längeren Verlauf zu
beobachten, denn es gäbe auch Halluzinationen, die krankheitsbedingt nur schubweise
auftreten (etwa bei Schizophrenie) oder überhaupt keinen krankhaften Charakter haben:
“Wenn man z.B. nach dem Tod eines geliebten Menschen noch dessen Schritte im Flur oder
die Stimme hört, ist das nur auf den besonderen Trauerzustand zurückzuführen”.
Günter Niklewski ist einer von zwölf Experten, die am vergangenen Wochenende hoch
komplizierte Sachverhalte aus der Welt der Hirnforschung einem interessierten LaienPublikum zugänglich machten. Dass ein komplexes, wissenschaftliches Forschungsgebiet so
gar nichts mit grauer Theorie und verwirrendem Medizinerjargon zu tun haben muss, zeigte
die Tagung, die die Nürnberger “Turm der Sinne GmbH” am vergangenen Wochenende im
Festsaal des Nürnberger Verkehrsmuseums veranstaltete.
Unter dem Motto “Wie kommt die Welt in den Kopf” waren hochkarätige Wissenschaftler aus
ganz Deutschland angereist, um über Wahrnehmung und Bewusstsein, Gedächtnis- und
Sinnestäuschungen, Hirnströme und Nervenzellen zu referieren.
Unter ihnen auch einer der renommiertesten Hirnforscher Deutschlands, der Münchner
Professor Ernst Pöppel. Er verdeutlichte auf sehr unterhaltsame Weise, dass an jeder
Wahrnehmung – sei es nun visueller, akustischer oder sonstiger Art - immer mehrere
Prozesse aktiv beteiligt sind. “Den reinen Denkakt, das reine Gefühl gibt es nicht. Denn alle
Nervenzellen stehen in ständigem Kontakt miteinander, tauschen Informationen aus. Es gibt
kein Gefühl ohne Erinnerungen. Keinen Geruch, keinen Geschmack ohne Gefühl.”
Damit sich die Nervenzellen untereinander austauschen können, sind so genannte
Transmitter vonnöten, chemische Botenstoffe, die die Funktion der verschiedenen
Nervenzellen steuern. Ein gestörter Transmitter-Haushalt unterbricht die Informationswege
im Gehirn. Krankheiten wie z.B. Epilepsie oder Schizophrenie sind die Folge. Auch durch
einen Schlaganfall können elementare Datenleitungen gekappt werden.
Doch wie wirklich ist eigentlich unsere Wahrnehmung? Diese Frage ließ Pöppel die
Symposium-Teilnehmer selbst beantworten. Beispiele von geometrisch-optischen
Täuschungen über Diaprojektor an die Wand geworfen machten schnell klar, dass unser
Gehirn nur eine subjektive Realität und keineswegs eine perfekte Abbildung der Gegenwart
liefert. Denn je nachdem, worauf sich das Auge konzentriert, erscheint bei mehrmaligem
Betrachten des gleichen Bildes mal diese, mal jene Linie dunkler oder heller, liegt ein Objekt
mal im Vorder- oder Hintergrund.
Nürnberger Nachrichten, Oktober 1999
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Dies liegt unter anderem daran, dass das Gehirn automatisch alle drei Sekunden abfragt,
was es Neues gibt, also quasi wie ein Computer den Gegenwartsspeicher immer wieder
updated, aktualisiert. Dies hat zur Folge, dass die Informationen etwas zeitversetzt
verarbeitet werden. “Wer versucht, sich eine Telefonnummer zu merken und dabei (innerhalb
des Drei-Sekunden-Updates) unterbrochen wird, hat die Nummer gleich wieder vergessen”,
sagt Pöppel, der das Phänomen des 3-Sekunden-Rhythmus entdeckt hat.
Daß die Fähigkeit zur Kommunikation für uns Menschen lebenswichtig ist, machte die
Tübinger Biologin Andrea Kübler auf beeindruckende Art deutlich. Sie beschäftigt sich u.a.
mit Patienten, die unter dem so genannten “Locked-in-Syndrom” leiden, einer
Nervenkrankheit, die durch eine Hirnstammblutung ausgelöst wird.
Der autobiografische Erfahrungsbericht “Schmetterling und Taucherglocke” des Franzosen
Jean-Dominique Bauby (ehemals Chefredakteur der Zeitschrift “Elle”) hat die Krankheit
mittlerweile auch einem größeren Publikum bekannt gemacht. Beim “Locked-in-Syndrom” ist
die motorische Muskulatur schwer oder gänzlich lahm gelegt, während das Gehirn voll
funktionsfähig bleibt. Auch die Sprech- und Atemmuskulatur kann gelähmt sein.
Eine grausame Krankheit, die den Menschen in seinem Körper einschließt (Locked-in), ihn
bewegungsunfähig an eine Beatmungsmaschine fesselt und isoliert. Denn ohne Gesten,
ohne Sprache, ohne Kommunikation ist der Kontakt zur Außenwelt, zu anderen Menschen
abgeschnitten. Manche Patienten können nur noch ein Augenlid oder einen Nasenflügel
bewegen, gerade für diese Menschen ist das “Thought and Translation device”, das an der
Tübinger Universität entwickelt wurde, von unschätzbarem Wert.
Bei diesem bundesweit einzigartigen Forschungsprojekt geht es geht um die Übersetzung
von Gedanken. “Die Patienten lernen bei uns, ihre (langsamen) Hirnströme zu kontrollieren,
also willentlich zu beeinflussen, um so mithilfe eines Computers zu kommunizieren”, erklärt
Andrea Kübler. Bei diesem komplizierten Verfahren müssen die Patienten, die (mit
Elektroden am Kopf) an einen Computer angeschlossen sind, mit Hilfe ihrer Gedanken
versuchen, ein grafisches Signal (einen Ball) in ein Tor am oberen oder unteren
Bildschirmrand zu “schießen”.
Also, eine binäre computertaugliche Ja/Nein-Entscheidung zu treffen. Sobald die Patienten
diese Technik beherrschen, können sie auch ein Buchstabierprogramm bedienen, also
mittels ihrer Hirnströme Buchstaben auswählen und zu Wörtern zusammensetzen und so
wieder kommunizieren. “Eigentlich hatten wir vermutet, dass es für die Patienten wichtig sei,
Geräte in ihrer unmittelbaren Umgebung wie den Fernseher oder die Lampe wieder ein- und
ausschalten zu können, aber erstaunlicherweise war es allein die Tatsache, sich wieder
mitteilen zu können, die für die Patienten entscheidend ist und ihr Leben lebenswert macht”.
KATHRIN IMKE
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