11.4 Nierensystem auszuschalten, scheiden die Nieren definitiv die­ se Säuren aus dem Organismus aus. Im Verhält­ nis zum Gesamtumsatz von ca. 570 mol muten die ca. 0,1 mol eliminierten Protonen beschei­ den an. Doch sie haben trotzdem eine Bedeu­ tung, denn: Wie würde sich der Blut-pH-Wert ohne diese Ausscheidung verändern? In Anlehnung an das Experiment von Swan und Pitt beim Hund (siehe Kap. 4.5), müsste bei ­einer Säuregabe von 14 mmol/l Körperwasser die Hy­ droniumionenkonzentration von 40 nmol/l auf 76 nmol/l ansteigen bzw. der pH-Wert von 7,44 auf 7,14 sinken. Beim gesunden Menschen wer­ den täglich ca. 2 mmol H+/l Körperwasser (total 100 mmol H+) ausgeschieden, was im Verhält­ nis zur obigen Berechnung einer Reduktion der Hydroniumionenkonzentration von ca. 5 nmol und einer Pufferfreisetzung von 999.995 nmol/l entspricht (die Summe dieser Zahlen ist wieder 100 mmol). Ohne die renale Säureausscheidung und unter Ausklammerung anderer Faktoren müsste somit der Blut-pH-Wert nach der ersten Woche von 7,4 auf 7,1 und nach drei Wochen auf einen Wert von 6,8 gesunken sein. 11.4.1Störungen der renalen ­Protonenausscheidung Die Nieren mit ihrer Ausscheidungseinheit „Ne­ phron“ (Glomeruli und Tubuli) können durch krankhafte Veränderungen qualitativer wie auch quantitativer Art unter­schiedlich betroffen sein. Nierenstörungen: Niereninsuffizienz Die Niereninsuffizienz ist durch eine signifikante Abnahme funktionierender Nierengewebe (Glo­ meruli und Tubuli) gekennzeichnet, wodurch vor allem das glomeruläre Primärfiltrat unter ein kritisches Niveau absinken kann. Die Nieren werden ineffizient, die Ausscheidung und Rück­ resorption ist erheblich verlangsamt. Mit der Zeit häufen sich die ausscheidungspflichtigen Substanzen im Organismus an und durch die tubulären Störungen können gleichzeitig essen­ zielle Vitalstoffe verloren gehen. Die Primär­ erkrankung beeinträchtigt meist auch die endo­ krinen Funktionen. Entsprechend vielfältig kön­ nen die daraus resultierenden Symptome bzw. Laborbefunde sein. Und weil die Niere selbst ein Säure-Basen-Regulationsorgan ist, können hier Störungen in erheblichem Ausmaß auftreten. In der normal funktionierenden Niere ist dem­ zufolge die Elektrolyt- und Säureausscheidung im Endharn das Produkt der glomerulären Fil­ tration und tubulären Sekretion einerseits und der tubulären Rückresorption andererseits. Die folgenden Substanzen sollen in Zusammenhang mit der renalen Funktion näher erläutert wer­ den: • • • • • • Natrium, Kalium, Bikarbonat, Chlorid, Vitamin D, Erythropoetin. Natrium wird als Hauptkation im Plasma glo­ merulär filtriert und muss zu 99 % rückresorbiert werden. Diese Rückgewinnung ist der wichtigste energieverbrauchende Prozess der Nieren und korreliert direkt mit dem renalen Sauerstoffver­ brauch. Jede Schädigung der Tubuli wird deshalb zu einem Verlust an Natrium führen. Durch das Versagen der Kapazitätsfunktion (sie­ he Kap. 5.3) im proximalen Tubulusabschnitt wird dem Körper auch Wasser entzogen, die Patienten vermitteln einen ausgetrockneten Eindruck. Die daraus entstehende verminderte Blutmenge im Organismus (Hypovolämie) und der niedrige Blut-Natrium-Spiegel (Hyponatriä­ mie) sind ihrerseits Sekretionsreize für das Hor­ mon Aldosteron (sekundärer Hyperaldostero­ nismus). Auf diese Weise wird das Natrium (zu­ sammen mit Bikarbonat), soweit es die tubuläre Restfunktion zulässt, vermehrt im Austausch für Kalium und Protonen zurückgehalten. Eine par­ tielle Alkalisierung ist die Folge. Einerseits muss Natrium aktiv zurückgewonnen und andererseits muss das Kalium wegen der relativ niedrigen Plasmakonzentration (trotz „Hyperkaliämie“ bei einer Azidose) und dadurch niedrigen Filtrationsrate ebenso aktiv ausge­ schieden werden. Regulatorisch verantwortlich dafür ist das Aldosteronsystem. Es kontrolliert im distalen Nierentubulus die Ausscheidung aus dem intrazellulären Kaliumreservoir. Bei einer Störung wird weniger Kalium ausgeschieden, der Körperbestand steigt und gleichzeitig damit 121 van Limburg Stirum, Moderne Säure-Basen-Medizin (9783830453871) © 2008 Hippokrates Verlag 11 Spezielle Physiologie und Praxis des Säure-Basen-Haushalts auch eine etwaige vorhandene azidosebedingte Hyperkaliämie. Das Bikarbonat wird in der Regel tubulär nahe­ zu vollständig (ca. 85 %) regeneriert. Damit die Elektroneutralität gewahrt bleibt, muss eben­ falls Natrium rückresorbiert werden. Das Gleiche gilt für die übrigen Anionen. Die grobe „NierenRechnung“ ist relativ einfach, dabei müssen die Anionen und Kationenladungen identisch sein: 28 mmol Bikarbonat (Plasmakonzentration) + 100 mmol Chlorid (Plasmakonzentration) + ­ organische Säuren + Phosphat = 140 mmol Na­ trium (Plasmakonzentration) + andere Kationen (Proteine müssen in der Berechung nicht berück­ sichtigt werden, da sie nicht glomerulär filtriert werden.) Somit wird der Großteil der Natriumrück­ resorption elektrophysiologisch von Chlorid begleitet. Chlorid ist das wichtigste Gegenion zu Natrium im Extrazellulärraum. Es ist nicht nur mit seinem 100 mmol ca. 4-mal konzent­ rierter als das Bikarbonat, sondern mit seinem pKs von ca. -2 ungefähr 10.000.000-mal saurer und entsprechend einflussreich auf die Lage des Säure-Basen-Haushalts. Das Chlorid ist ein über das Verhältnis von Bikarbonat zu Kohlensäure in der Henderson-Hasselbachschen Gleichung entscheidender Hauptfaktor. Das Bikarbonat und die Kohlensäure haben sich nur deshalb be­ währt, weil sie sich sowohl bei metabolischen wie auch bei respiratorischen Störungen charak­ teristisch verändern. Bei einer Störung der Bikarbonatrückresorption (siehe Kap. 11.4.2) muss das Defizit durch Chlo­ rid ersetzt werden, damit die Elektroneutralität gewahrt bleibt. Weil aber Chlorid einerseits um ein Vielfaches saurer ist als Bikarbonat und an­ dererseits auch sauer gegenüber dem basischen Natrium, wird sich dabei eine hyperchlorä­ mische metabolische Azidose entwickeln. Ist die Natriumrückresorption ebenfalls gestört, kann sich eine Azidose auch ohne eigentliche Hyperchlorhydrie entwickeln und man spricht von einer hyponatriämischen Azidose. In den Nieren werden daneben Vitamin D und Erythropoetin produziert. Sinkt die Vitamin-DKonzentration, wird sowohl weniger Kalzium und Phosphat über den Darm aufgenommen als auch weniger Phosphat über die Nieren ausgeschieden. Dies kann sich auf den Knochenstoffwechsel aus­ wirken. Zusammen mit der renalen Azidose wird der Knochen zum Abpuffern der überschüssigen Säuren verstärkt abgebaut (siehe Kap. 11.6). We­ gen der übergeordneten Bedeutung des ­ SäureBasen-Haushalts wird der längerfristige Kno­ chenverlust wohl oder übel in Kauf genommen. Durch den Mangel an Vitamin D und damit an Kalzium wird Parathormon freigesetzt, wodurch vermehrt Kalzium dem Knochen entzogen und gleichzeitig die Phosphatausscheidung beschleu­ nigt wird. Würde nämlich die Konzentration des Phosphats zusammen mit dem aus dem Knochen freigesetzten Kalzium ansteigen, wären Weich­ teilverkalkungen in den Koronargefäßen, Lungen oder Nieren möglich (CAVE! Vitamin-D-Gabe bei Hypoparathyreoidismus, z. B. nach vollständiger Schilddrüsenentfernung). Eine Nephrokalzinose (Kalziumablagerungen im Nierenparenchym) würde die Säureausschei­ dung noch weiter einschränken. Bei einer meta­ bolischen Azidose ist das Phosphat als Ersatz für das fehlende puffernde Bikarbonat von Bedeu­ tung. Nimmt das Hydrogenphosphat ein Proton auf, entsteht Dihydrogenphosphat, das Substrat der oxydativen Phosphorylierung. Was jedoch die Ausscheidung betrifft, ist das Phosphat un­ vergleichlich träger als die volatile Kohlensäure. Leider wird bei fortschreitender Niereninsuffi­ zienz auch weniger Erythropoetin produziert, wodurch sich eine renale (normochrome nor­ mozytäre) Anämie ausbilden kann. Die Eryth­ rozytenanzahl sowie das Sauerstoffangebot in den Mitochondrien nehmen ab. Eine erhöhte anaerobe Energiegewinnung ist die mögliche Folge. Fehlen zudem Erythrozyten mit ihrer Säurepufferkapazität von ca. 75 mmol/l (3-mal höher als Plasma), kann sich zusammen mit der mangelhaften Phosphorsäureausscheidung eher eine gefährliche Azidose entwickeln. Aus diesem Grund muss die Therapie eine phosphatarme basische Ernährung beinhalten. Primärstrategie • • • • Aufrechterhaltung einer normale Flüssig­ keitsbilanz, ausreichend Blutvolumen, Erhaltung des Blutdrucks (Nierenperfusion), Flüssigkeitsbilanzierung 122 van Limburg Stirum, Moderne Säure-Basen-Medizin (9783830453871) © 2008 Hippokrates Verlag 11.4 Nierensystem • • Trinkmenge = Urinvolumen + messbare extrarenale Verluste + 500 ml/Tag, harnpflichtige Substanzen minimieren, die ursächliche Nierenerkrankung ist häufig therapieresistent, daher gilt: „Behandeln, was man behandeln kann“: – Salz- und Wassermangel, – Nephrotoxine eliminieren, – Rechtsherzversagen, – Infektionen, – Hyperkalzämie, – Obstruktion. • • • • • • Schulmedizinische Therapieansätze • • Verhalten • • • • • Zivilisationsgifte und Schadstoffe meiden, keine sportliche Einschränkung, Sauna, akalische Thermalbäder, Basenbäder mit Natriumhydrogenkarbonat. Eisen (nicht während Antibiotikabehand­ lung: Bakterien lieben Eisen!), Folsäure (5 mg), Pyridoxin (50 mg), Vitamin-B-Komplex, Vitamin C (500–1.000 mg), Testosteron zur Förderung der Proteinsyn­ these (50 mg). • • Dialyse/Transplantation, Phosphatbindung bei Hyperphosphatämie – Aluminiumhydroxid, – Aluminiumkarbonat, – Kalziumkarbonat und –azetat, Anämie – Bluttransfusionen, – Erythropoetin, Hypertoniebehandlung. Ernährung • • • • Minimale Proteinzufuhr (max. 0,5 g/kg KG/ Tag) und möglichst aus pflanzlichen Quellen (z. B. Erbsen, Bohnen, Linsen, Soja, Vollkorn­ getreide), Natriumaufnahme nicht einschränken außer bei Ödemen, normalerweise ist zusätzliches Kalium nicht notwendig oder gar kontraindiziert. Hinge­ gen kann sich bei einer massiven Diuretika­ therapie oder renaltubulären Störungen (s. unten) eine Hypokaliämie entwickeln. Dann wäre eine Kaliumsubstitution zu empfehlen. – CAVE! Kaliumchlorid. Kaliumbikarbonat bevorzugen. Phosphatzufuhr einschränken: keine Limo­ naden. Mikronährstoffe • • • • Natriumbikarbonat oder Natriumzitrat je nach Zustand des Säure-Basen-Haushalts, diätetische Beschränkungen führen oft zu einer verminderten Vitalstoffversorgung, Vitaminpräparate vor allem mit wasserlös­ lichen Vitaminen, Anämie – Eisen, – Folsäure, – Vitamin B12, 11.4.2Tubuläre Störungen Ausgehend von Laborwerten, ist eine Störung umso eher nicht tubulär, je mehr der Urinbe­ fund (Elektrolyte, Säureausscheidung) den Er­ wartungen – ausgehend vom Blutbefund – ent­ spricht. Stattdessen ist sie auf die Glomeruli beschränkt. Verhalten sich die Parameter ge­ genläufig, sind hingegen tubuläre Defekte wahr­ scheinlich. Diese werden unter den renal tubulären Azidosen (RTA) zusammengefasst, die sich weiter unterteilen lassen in: • • • • Typus 1, distale RTA oder „klassische“ RTA, Typus 2, proximale RTA, Typus 3, Kombination von 1 + 2 (nicht mehr üblich), Typus 4, distale RTA mit speziellem Defekt. Nierenstörungen: distale oder „klassische“ renale tubuläre Azidose vom Typus I Im distalen Tubulus wird die meiste Arbeit geleis­ tet, hier muss ein hoher Konzentrationsgradient vom Urin zum Interstitium aufgebaut bzw. über­ wunden werden (siehe Kap. 5.3). Entsprechend ist dieser Abschnitt der Tubuli am empfindlichs­ 123 van Limburg Stirum, Moderne Säure-Basen-Medizin (9783830453871) © 2008 Hippokrates Verlag