Wasserrahmenrichtlinie – ein kritischer Blick von außen Klement Tockner www.igb-berlin.de Biologische Vielfalt = Bibliotheken der Natur Ökosysteme Arten Genvariationen Binnengewässer: Zentren der biologischen Vielfalt Fläche Binnengewässer Fischarten 0.8% Binnengewässer Ozeane 67% 40% Land 33% Ozeane 60% 14 16 Vögel Säuger Libellen Reptilien Schmetterlinge Sandlaufkäfer Farnpflanzen Nacktsamer Blütenpflanzen Amphibien Fische Steinfliegen Krebse Muscheln Der Artverlust ist im Wasser etwa 5 Mal schneller als an Land. 18 18 19 19 (Ricciardi & Rasmussen 1999) 22 24 33 36 37 43 51 69 0 20 40 Anzahl bedrohter Arten (%) 60 80 Weltweit sind 70% der eisfreien Landoberfläche vom Menschen überprägt. In Brandenburg sind 80% der insgesamt 32.000 Km Fluss- und Bachläufe künstlich angelegt. Wir beobachten einen rapiden Rückgang der biologischen Vielfalt, insbesondere in den Gewässern. Gewässer-, Natur- und Biodiversitätsschutz sollten im Kontext globaler Herausforderungen gesehen werden: • Klimawandel • Demographische Entwicklung • Ernährungssicherung • Energieversorgung Von der Nutzungskonkurrenz zur Synergie Wasserrahmenrichtlinie • ökologischer/biologischer Zustand steht im Fokus • Einzugsgebietsansatz (Bewirtschaftungspläne, partizipatorischer Ansatz) • Etablierung eines einzigartigen Netzwerkes an Beobachtungsstellen (konsistenter Datensatz) • traditioneller, statischer Ansatz (Arten, chemischer Zustand, Gerinne) • Herausforderung: einen Referenzzustand zu definieren, historischer Zustand als Ziel tragfähig? • Ziele der WRRL stehen teils in Konkurrenz zu anderen EURichtlinien (z.B. Klima, Hochwasser, Landwirtschaft) Wissenschaftliche Publikationen „Water Framework Directive“ (WoS) Summe: 2811 350 300 250 200 150 100 50 0 Jahr Wissenschaftliche Publikationen „Water Framework Directive“ (WoS) Summe: 2811 350 300 250 200 EU: insgesamt ~ 400 Millionen Euro investiert 150 100 50 0 Jahr Ökologischer Zustand europäischer Flüsse Zustand deutscher Flüsse Guter ökologischer Zustand: 10% Guter chemischer Zustand: 88% In Seen reagieren die Makrophyten deutlich langsamer auf eine Nährstoffreduktion als das Phytoplankton Eigemann F., Mischke U., Hupfer M., Schaumburg J., Hilt S. (2016): Biological indicators track differential responses of pelagic and littoral areas to nutrient load reductions in German lakes. Ecological Indicators 61: 905–910 Große Flüsse in Deutschland Wahrscheinlichkeit, einen guten ökologischen Zustand bis 2015 zu erreichen (nach UBA, 2005) Reduktionsbedarf zur Erreichung der Zielkonzentration von 2,8 mg/l Stickstoff Kontrollmessstelle Hunte Mündung MQ langfristig IstFracht ZielFracht Reduktionsbedarf m³/s t/a t/a t/a % 20 3.800 1.800 2.000 53 (ca. 10 km unterhalb Reithörne) Weser Hemelingen 325 51.200 28.700 22.500 44 Gesamt Weser und Hunte 345 55.000 30.500 24.500 45 Ist-Fracht abgeleitet auf Basis gemessener mittlerer Konzentrationen und Abflüsse (Jahre 2006-2008). Reduktionsbedarf als Differenz zwischen Ist-Frachten und Zielfracht (bei 2,8 mg/l) für die Messstellen Hemelingen und Reithörne. (Heidecke et al., 2015) Effekte von Pestiziden auf die aquatische Vielfalt (Beketov et al. PNAS 2013) Lahn: degradiert (Foto: D. Hering) Lahn: renaturiert (Foto: D. Hering) Some typical pictures of restored streams Ursachen geringer Effekte von Renaturierungen • Fehlendes Wiederbesiedlungspotenzial • Barrieren • Wasserqualität • Sedimenteintrag • Geringe Habitatveränderungen auf der Sohle Nationaler Aktionsplan für den Europäischen Stör Acipenser sturio © Staatliches Museum für Naturkunde Magdeburg Relative Intensität der Einflüsse auf die Störpopulationen Wehrbau 0,8 0,6 Freizeitnutzung Eindeichung Begradigung & Kanalisierung 0,4 Einschleppung von Exoten Fischereieffekte Ausbau Baggerarbeiten 0,2 Aquakultur 0 Verlust von Nebengew. Beifang Nährstoffeintrag Wasserentnahme Giftstoffe Endokrin wirks. Substanzen Wassernutzung und -verschmutzung Emergenz Verbreitung Fortpflanzung Eiablage Imago Wachstum Wasser Ei Larve Land/Luft Wassertemperatur und Ufergehölze Logger Logger 2000 m Fließrichtung (von: D. Hering, UDE) Differenz der maximalen Tagestemperatur (von: D. Hering, UDE) Koppelung Land-Wasser (Oder, Reitwein) Kumulative Artenvielfalt (EPT Taxa) Kumulative Vielfalt (%) 100 81 119 65 75 Zufluss 50 Tümpel Hinterwasser 25 Hauptgerinne 0 Tagliamento Karaus U. et al. Landscape Ecology 2013 Thur Rhone Additive Auftrennung der biologischen Vielfalt 162 Taxa Skala Additive Vielfalt (% des Gesamt) 100 75 β3 Einzugsgebiet 50 β2 Korridor β1 Aue α Habitat 25 0 Karaus U. et al. Landscape Ecology 2013 Wie breit ist ein Fluss? Oder River (D): Recent island formation Wie breit ist ein Fluss? „Fluss-Abdruck” für unterschiedliche Taxa mit einem 50% und einem 10% Anteil (Muehlbauer et al. Ecology. 2014) Funktionelle Einheit – unterschiedliche Zuständigkeit Habitatrichtlinie Wasserrahmenrichtlinie Oder River (D): Recent island formation Alpenrhein nahe Bad Ragaz (CH) im Jahr 1826 (Aquatinta von J. Schmidt) im Jahr 2005 (Photo U. Uehlinger) Der Rhein: Ein domestizierter Fluss (Photo: Rijkswaterstaat, Niederlande) Domestizierung von Ökosystemen Unter Domestizierung versteht man das „Herauszüchten“ weniger Ökosystem(dienst)leistungen, die für den Menschen von vorrangigem Nutzen sind, meist zu Lasten anderer Leistungen und der biologischen Vielfalt Der Rhein – eine Erfolgsgeschichte? Nitrate 2 0.50 1 0.25 0 Ortho-P 0.00 Ammonium [mg N/L] 3 Dissolved oxygen 12 2 8 1 4 Ammonium 0 0 1960 Orthophsophate [mg P/L] 0.75 1970 1980 1990 2000 Dissolved oxygen [mg O2/L] Nitrate [mg N/L] 3 Der Rhein: Langzeitentwicklung der Bodenfauna 175 Bryozoa Insecta Molluscs Crustaceans Leeches Flatworms Sponges Number of Species 150 125 100 75 50 25 0 1900-20 (IKSR 2002) 1955 1971 1976 1986-88 1990-95 1995-2000 (Jeschke et al. 2014. Ambio) Herausforderung I Neuartige Ökosysteme und Lebensgemeinschaften („Ecological Novelty“): Wie formen sich neuartige Lebensgemeinschaften, wie wirken sie sich aus und welche Managementkonzepte sind künftig erforderlich? Herausforderung II Priorisierung von Schutz- und Renaturierungsmaßnahmen – Renaturierung als „Ecological Engineering“ Kopplung technischer und natürlicher Systeme: Wie können technische Anlagen mit funktionsfähigen Ökosystemen gekoppelt werden, um Synergien zwischen Ressourcensicherung und Gewässerschutz zu schaffen? Europäische Flussauen (auf Basis der globalen Überflutungskarte, GLIN) (Fluet-Chouinard et al. 2015) 28 river basins Floodplain area (km² X 1000) Volga Danube Dnieper Don Northern Dvina Neva Ural Kura Vistula Rhine Elbe Oder Loire Duero Rhone Nemunas Ebro Daugava Seine Mezen Dnister Po Tajo Guadiana Narva Guadalquivir Onega Garonne 84.8 29.6 78.6 19.8 11.7 87.2 2.8 8.5 11.8 11.9 10.8 5.4 10.3 7.6 6.1 4.2 4.5 4.4 15.1 3.2 2.5 13.1 4.3 8.2 9.3 13.4 3.1 0.9 Human population (Millions) 9.5 2.8 7.0 2.1 0.2 0.9 0.1 0.6 1.4 9.1 3.0 0.7 2.1 0.9 1.4 0.3 1.1 0.7 11.1 0 0.3 2.4 1.0 0.4 0.3 1.9 0.04 0.3 473.1 61.6 TOTAL Total GDP (Billion US $) 1,330 65.7 41.1 19.9 10.6 1.4 19.2 0.6 1.7 11.7 335.1 101.9 8.4 72.7 24.2 52.8 2.6 29.4 1.9 395.3 0,0 0.5 77.7 26.6 10.6 26.9 53.0 0.03 9.1 Flussauen Gekoppelte sozialökologische Systeme (K. Tockner, unpubl.) Quelle: www.bfn.de/0324_auenzu -standsbericht.html Quelle: www.bfn.de/0324_auenzu -standsbericht.html Fluss Retention Flussfracht Auen Retention 25 20 15 10 5 0 Elbe 2000 Elbe 2002 Natho et al. (2012, 2014) NO3-N Flussfracht [1000 t·m-1] 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Jan Feb März Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan Feb März Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez NO3-N Retention [%] Nährstoffretention von Auen Wert von Ökosystemleistungen bei unterschiedlichem Grad der Domestizierung Wert der Ökosystemleistungen Versorgungsleistungen (u.a. Nahrung) Regulierende Leistungen (u.a. Retention) Kulturelle Leistungen (u.a. Erholung) Kulturelle Leistungen (u.a. Spiritualität) Summe aller Leistungen Zustand des Ökosystems (Domestizierungsgrad) natürlich naturnah intensiv degradiert (nach: Braat & ten Brink, 2008) River Ecosystem Service Index BMBF-Verbundforschungsprojekt 2015-2018 Ziele • Funktionsbasierter sektorenübergreifender Ansatz zur Bewirtschaftung • EU-WR-, FFH-, HWRM-RL • Datenbestände flächenbezogen zusammenführen • Funktionale statt statische Indikatoren, auch für veränderte Gewässer anwendbar • Vergleich von Szenarien der gesellschaftlichen Nutzung anhand des Erfüllungsgrads politisch vorgegebener Zielsetzungen (Quelle: Xinhua) (Quelle: german.tanker.de) Das Dilemma des Ökosystemleistungs-Konzepts (Quelle: Xinhua) (Quelle: german.tanker.de) Europa: Zentren der biologischen Vielfalt (KBAs) und Ausweisung von Schutzgebieten Zentren der Vielfalt KBAs und Schutzgebiete Herausforderung I: Triple-Loop Learning Beispiel Hochwassermanagment (Pahl-Wostl, Nilsson, Gupta, Tockner. 2011. Ambio) Herausforderung II: Mediengestützte Entscheidungsprozesse (Foto: IWM, Tübingen) Oder River (D): Recent island formation Schlüssellandschaftselemente Totholz schafft Vielfalt entlang von Flüssen (NP Donauauen, Österreich) Schlussgedanken Wasserrahmenrichtlinie: Meilenstein im Gewässermanagement Synergien: Biodiversität, Hochwasser, Landwirtschaft, Naturschutz Umsetzung: Beträchtliche Unterschiede in Deutschland und europaweit Priorisierung: Verschlechterungsverbot, Maßnahmen, Regionen Zielvorgabe: Diskrepanz zwischen ökologischem und chemischem Zustand, welche Referenz als Ziel? Indikatoren: funktionsbasierte Bewertung, Einbezug der Auen, der trockenfallenden Gewässer (d.h. enge Kooperation zwischen Wissenschaft und Umsetzung) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Klement Tockner (mit Unterstützung am IGB: Ute Mischke, Martin Pusch, Markus Venohr) www.igb-berlin.de