Richelsdorfer Gespräche - AHG Allgemeine Hospitalgesellschaft

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6.
Richelsdorfer
Gespräche
mit Hr. Dr. med. Bernhard Croissant zum Thema
„Neurobiologie, Persönlichkeit und Sucht“
1
Vorwort
Neurobiologie, Persönlichkeit und Sucht
Das 6. Richelsdorfer Gespräch beschäftigte sich mit den neurobiologischen Veränderungen, die zur Entstehung und
Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit beitragen. Als Referent
wurde Dr. med. Bernhard Croissant vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim gewonnen.
Dr. Croissant durchschritt in seinem etwa eineinhalbstündigen
Vortrag wesentliche Phasen der bisherigen Hirnforschung und ihre
Ergebnisse, erläuterte insbesondere die Bedeutung der verschiedenen Neurotransmitter auf unsere Emotionen und unser Erleben auf
die Umwelt. Dabei ging er auch auf die Frage der erblichen
Disposition bzw. der Auswirkungen individueller
Entwicklungsbedingungen ein. Er unterstrich, dass die Disposition
zur Alkoholabhängigkeit nicht aus moralisch bewertbaren
Auffälligkeiten wie z. B. einer Willensschwäche oder Genusssucht
resultiert, sondern vielmehr aus so scheinbar nebensächlichen
Bedingungen wie z. B. der Fähigkeit, viel Alkohol konsumieren zu
können, ohne unangenehme Folgen zu verspüren.
Am Beispiel der Primatenforschung wies er darauf hin, dass erhebliche und andauernde Stressbedingungen, wie z. B. soziale
Isolation in jungen Jahren, den Hirnstoffwechsel verändern und daraus erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität, sowie soziale
Inkompetenz resultieren, die sich dann im Erwachsenenalter als
erhöhte Aggressivität niederschlagen. Zusätzlich lässt sich eine
erhöhte Alkoholtoleranz und ein erhöhter freiwilliger Alkoholkonsum
nachweisen. Diese Untersuchungen unterstreichen laut Dr.
Croissant die Bedeutung von Stress- und Lernfaktoren in der
Ausgestaltung von hirnphysiologischen Dysfunktionen und verweisen auf mögliche prophylaktische und pharmakologische
Behandlungsmöglichkeiten. Möglich erschiene z. B., die hohe
Rückfallgefährdung durch den spezifischen Einsatz von Pharmaka
in integrierten Behandlungsprogrammen zu reduzieren.
Am Nachmittag wurden in Kleingruppen die berichteten Ergebnisse
sowie die daraus resultierenden Chancen und Risiken offen und
intensiv diskutiert. Die Skepsis gegenüber neurobiologischer
Grundlagenforschung, genährt durch reißerische Aufmachung in
den Medien (Sucht-Gen entdeckt!), wurde ebenso diskutiert wie die
Notwendigkeit, sich mit den Vorgängen zu befassen, die in unserem Gehirn den Umgang mit psychoaktiven Wirkstoffen kontrollieren. Es wäre nach Ansicht der meisten Teilnehmer wünschenswert ,
die Kenntnisse über neurobiologische Prozesse zu nutzen und sie
in ein ganzheitliches Konzept des Verständnisses von
Suchterkrankungen einzubeziehen. Man war sich allerdings einig,
dass es wohl noch eine Weile dauern wird, bis schlüssige und in
der alltäglichen Praxis verwertbare Ergebnisse vorlägen.
Vortrag
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen aus dem
Vortrag von Herrn Dr. Croissant zu neuen Erkenntnissen und
Forschungsergebnissen über die Neurophysiologie der Sucht:
· Die Bedeutung des Neurotransmitters Serotonin für das Wohlbefinden
Serotonin ist ein Stoff, der für eine allgemeine positive Stimmungslage wichtig ist.
Ein Serotonin-Defizit führt zu depressiv-ängstlicher Stimmung und im
weiteren Lebensweg zu erhöhter Aggressivität. Ein Serotonin-Defizit
bedeutet verminderte Motivation und schlechtere Lernprozesse,
führt zu einem Gefühl der allgemeinen Bedrohung und Unsicherheit.
Es ist davon auszugehen, dass gewalttätige Menschen primär unter
einer erhöhten Ängstlichkeit (bei Serotonindefizit) leiden, die nach
der Pubertät durch aggressives Verhalten überkompensiert wird.
Bei Menschen wird davon ausgegangen, dass bei der Ausprägung
der Höhe des Serotoninspiegels der genetische Faktor etwa 35%
ausmacht, dass also soziale Faktoren mit 65% eine große Rolle
spielen.
Serotonin ist hoch bei sozial dominanten Individuen.
· Zur Genese der Alkoholabhängigkeit aus neurophysiologischer Sicht
Ein wesentlicher Risikofaktor für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit ist schnelle Toleranzentwicklung (d.h. wenig subjektive
Nebenwirkungen des Alkohols trotz sich steigernder Alkoholmenge man verträgt viel und immer mehr), so dass ein natürliches
Warnsignal für exzessiven Alkoholkonsum wegfällt.
Bewahrt vor einer Alkoholabhängigkeit werden meist Menschen,
deren Alkoholabbau verlangsamt ist. Es entsteht durch den langsameren Abbau ein giftiges Abbauprodukt (Acetylaldehyd), das unangenehme Nebenwirkungen und Missempfinden verursacht, das verständlicherweise einer Erhöhung der Trinkmenge und damit einer
Abhängigkeitsentwicklung entgegensteht.
Tragischerweise wird in unserer Kultur geringe Empfindlichkeit
gegenüber Alkohol nicht als Gefahr, alkoholabhängig zu werden,
sondern als Stärke ("ich kann andere unter den Tisch trinken") interpretiert, vor allem bei jungen Menschen.
Erhöhte Alkoholtoleranz könnte Folge eines Serotonindefizits sein,
sowohl genetisch bedingt als auch durch frühen sozialen Stress (z.B.
bei Vernachlässigung oder Gewalterfahrungen). Bei einem
Serotonindefizit kann Alkohol durch seine sedierende Wirkung
Bedrohung und Angst entgegenwirken, weswegen besonders auch
Menschen mit früher sozialer Isolation (Heimkinder) gefährdet sind,
alkoholabhängig zu werden. Gesellschaftliche Ablehnung und
Etikettierung (ebenso auch der Eintritt von Arbeitslosigkeit) kann im
Erwachsenenalter erneut zur Isolation führen und damit zur
Serotoninverminderung und vermehrtem Alkoholkonsum zur
Sedierung von Angst und Depressionen.
· Neurobiologische Erklärung von Toleranzentwicklung und
Entzugssymptomatik:
Bei alkoholbedingter Sedierung reagiert das Gehirn mit aktivierender
Gegenregulation, um der beruhigenden Wirkung entgegenzuwirken
und einen ausreichenden Wachzustand zu erhalten. Dadurch kann
zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden, ohne dass eine
exzessive Betäubung stattfindet. Bei Unterbrechung der
Alkoholzufuhr kommt es dann zu erheblicher Unruhe, zu
Krampfanfällen und anderen Entzugssyndromen. Die morgendliche
vegetative Entzugssymptomatik nach Unterbrechung der
Alkoholzufuhr in der Nacht ist eines der verlässlichsten Symptome
einer eingetretenen Alkoholabhängigkeit.
· Die Bedeutung des Neurotransmitters Dopamin für das
Alkoholverlangen und den Teufelskreis in die Sucht
Dopamin als Belohnungsstoff ist entwicklungsgeschichtlich alt und
reguliert lebensnotwendige Reize wie Essen und Sexualität. Wie
anderen Drogen mit Abhängigkeitspotential stimuliert Alkohol die
Dopaminfreisetzung, was ein angenehmes Gefühl der
Leistungsfähigkeit und des Erfolgreichseins hervorruft. Dies ist ein
sehr begehrenswerter Zustand. Dieses Gefühl motiviert zu weiterem
Alkoholkonsum.
Wenn sich ein Mensch in eine Situation begibt, in der er regelmäßig
Alkohol getrunken hat, oder wenn er den Alkoholkonsum nach
Entgiftung wieder aufnimmt, kommt es zu einem verstärkten
Ausschütten von Dopamin, d.h. zu einem Belohnungsgefühl.
Das System wird durch wiederholten Alkoholkonsum immer empfindlicher. Selbst kleine Mengen Alkohol und Reize, die wir mit
Alkohol in Verbindung setzen können, lösen die Reaktion aus, provozieren ein Alkoholverlangen und bewirken eine verminderte
Kontrolle über den Alkohol.
· Zentralnervöse Schlüsselreize für Rückfall
Entzugssymptome entstehen im Sinne eines "konditionierten
Entzugs" auch nach längerer Abstinenz. Umweltreize, die mit
Alkoholkonsum assoziiert sind (auch alkoholfreie Getränke mit dem
gleichen Geschmack wie das Suchtmittel, z.B. sog. alkoholfreies
Bier) lösen die Erwartung der Wirkung im Organismus aus. Das
Gehirn bereitet sich sozusagen gegenregulatorisch auf die betäubende Wirkung des Alkohols vor und löst eine zentralnervöse Übererregung aus, die man, wenn es nicht zur Alkoholaufnahme kommt,
als Unruhe, Ängstlichkeit und Alkoholverlangen (Craving) spürt.
Literatur:
Heinz, A.: Serotonerge Dysfunktion als Folge sozialer Isolation Bedeutung für die Entstehung von Aggression und
Alkoholabhängigkeit. In Nervenarzt (1999) 70:780-789, Springer
Verlag.
Heinz, A., Mann, K.: Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit. In:
Deutsches Ärzteblatt, Jg 98 Heft 36 (2001) A2279-2283
M E D I Z I N
Serie: Alkoholismus
Andreas Heinz
Karl Mann
Zusammenfassung
Die aktuelle Forschung konnte eine Vielzahl jener neurobiologischen Veränderungen identifizieren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit beitragen. Die
Disposition zur Alkoholabhängigkeit resultiert
nicht aus moralisch bewertbaren Auffälligkeiten wie einer Willensschwäche oder Genusssucht, sondern aus so unscheinbaren Bedingungen wie der Fähigkeit, viel Alkohol konsumieren zu können, ohne unangenehme Folgewirkungen zu verspüren. Die zunehmende
Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen
der Alkoholabhängigkeit bietet neue Möglichkeiten, die hohe Rückfallgefährdung durch den
spezifischen Einsatz von Pharmaka in integrierten Behandlungsprogrammen zu reduzieren.
Neurobiologie der
Alkoholabhängigkeit
E
ine Vielzahl von Studien zeigt übereinstimmend, dass genetische Faktoren deutlich zur Entwicklung einer
Alkoholabhängigkeit beitragen (12, 31).
Dieser genetische Anteil ist offenbar in
Subgruppen alkoholabhängiger Patienten mit besonders schwerem Krank
heitsverlauf am stärksten ausgeprägt.
Er könnte dort für die Entwicklung
der Abhängigkeitserkrankung bedeutsamer sein als der Einfluss von Umweltfak-
Schlüsselwörter: Alkoholentzug, dopaminerges Belohnungssystem, NMDA-Rezeptor, Sensitivierung, Alkoholverlangen
Summary
Neurobiological Basis of Alcoholism
Current research has identified a variety of
neurobiological factors that are involved in the
pathogenesis and maintenance of alcoholism.
Unlike previously assumed predisposing factors do not include moral vices such as debauchery or the lack of a strong will. Instead, the
disposition to alcoholism is associated with the
rather unsuspicious ability to consume a high
amount of alcohol without experiencing unpleasant effects. The knowledge about the
neurobiological basis of alcoholism is increasing and may lead to the use of specific medications in holistic treatment programs.
Key words: alcohol withdrawal, dopamine
reward system, NMDA receptor, sensitization,
alcohol craving
Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (Direktor: Prof. Fritz
Henn MD PhD), Mannheim, der Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Abbildung 1: Serotonerge Funktionsstörung bei
erwachsenen Primaten. a) Lokalisation der Raphekerne, des Ursprungsgebiets der zentralen
serotonergen Neurone, in der koregistrierten
Kernspinaufnahme. b) Gesunder Primat. c)
Störung der Serotonintransporter bei einem erwachsenen Tier als Folge einer Stressbelastung
durch frühe soziale Isolation (23).
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 36½ 7. September 2001
toren (31). Patienten mit einem derart
schweren Verlauf der Alkoholabhängigkeit erkranken oft bereits vor dem 25.
Lebensjahr (30).
Disposition zur
Alkoholabhängigkeit
Cloninger hatte 1987 postuliert (11), dass
es sich bei diesen Patienten um einen
Subtyp, den so genannten „Typ 2“ der
Alkoholabhängigkeit, handelt, der durch
eine hohe genetische Disposition zur
Abhängigkeit sowie durch Impulsivität,
Aggressivität und antisoziale Persönlichkeitszüge gekennzeichnet sei. Neuere
Studien haben dies allerdings nicht bestätigen können. So war das Auftreten
aggressiver Handlungen bei Alkoholabhängigen nicht signifikant mit einer genetischen Disposition verbunden (31). Zudem reichten die von Cloninger benannten diagnostischen Kriterien nicht aus,
um einen „Typ 2“ der Alkoholabhängigkeit klinisch von anderen Subgruppen alkoholabhängiger Patienten abzugrenzen
(57). Das gemeinsame Auftreten einer
antisozialen Persönlichkeitsstörung und
einer Alkoholabhängigkeit ist offenbar
vielmehr als eine Komorbidität zu verstehen, bei der die Alkoholabhängigkeit
nur eines der Probleme darstellt, die in
Zusammenhang mit der antisozialen
Persönlichkeitsstörung auftreten (8, 30).
Auch kann die antisoziale Persönlichkeitsstörung nicht als einer der erblichen
Faktoren gewertet werden, die zur Alkoholabhängigkeit disponieren, da ihr Auftreten überwiegend von Umweltfaktoren bestimmt wird (10, 14). Zudem finden sich Hinweise auf eine antisoziale
Persönlichkeitsstörung nur bei einer geringen Zahl Alkoholabhängiger (8); bei
der überwiegenden Mehrzahl kann die
Entwicklung der Alkoholabhängigkeit
also nicht als Folge antisozialer Persönlichkeitszüge verstanden werden.
A 2279
M E D I Z I N
Toleranz gegenüber akuten
Alkoholwirkungen
koholkonsums (23).
Die Regulation der Informationsvermittlung im Kortex und in subkortikalen Hirnarealen ist in Grafik 1 dargestellt. Eine Verminderung der serotonergen Neurotransmission führt zu
einer verminderten GABAergen Sedation und einer erhöhten Toleranz gegenüber den akuten Alkoholwirkungen. Diese kann zum exzessiven Alkoholkonsum disponieren, da unangenehme Wirkungen beziehungsweise Warnzeichen des Alkoholkonsums erst verspätet eintreten (13).
In eine ähnliche Richtung zeigt die
Untersuchung der Alkoholmetabolisation. Bei Menschen mit einer genetisch
Ein viel unscheinbareres Merkmal ist
nach Studien von Schuckit und Mitarbeitern entscheidend an der Disposition zur Alkoholabhängigkeit beteiligt,
nämlich eine teilweise genetisch bedingte, schwache Auswirkung akuten
Alkoholkonsums (47). Prospektiv wurde bei jungen Männern und Frauen, die
erstmals begonnen hatten, Alkohol zu
konsumieren, die Frage untersucht,
welche Charakteristika eine spätere Alkoholabhängigkeit voraussagen würden (47, 48). Als wesentlicher Risikofaktor zeigte sich das Ausmaß der akuten Alkoholwirkungen, beispielsweise
der eintretenden Sedierung
oder der Ataxie. Dabei waren
Grafik 1
die Personen besonders geGlutamat
GABA
fährdet, die akut nur wenig
stimuliert
hemmt
Auswirkungen des Alkohols
verspürten. Offenbar ruft Alkoholkonsum bei diesen
Menschen kaum unangenehSubstantia nigra (DA)
me Wirkungen hervor, sodass
Locus coeruleus (NA)
ein natürliches Warnsignal
Raphekerne (5-HT)
fehlt, das den Betroffenen anzeigt, wie gefährlich exzessiver Alkoholkonsum für sie ist
(47). Aktuelle genetische StuDie rasche Informationsverarbeitung erfolgt im Kortex mitdien und Untersuchungen im hilfe des exzitatorisch wirkenden Botenstoffs Glutamat und
Primatenmodell weisen dar- des inhibitorischen Neurotransmitters GABA. Die aus dem
auf hin, dass die erhöhte Al- Hirnstamm aufsteigenden dopaminergen, noradrenergen
koholtoleranz Folge einer und serotonergen (DA-, NA- und 5-HT-)- Systeme modulieren
Unterfunktion der serotoner- die zentrale Neurotransmission. GABA, Gammaaminobuttersäure.
gen Neurotransmission sein
könnte. Diese serotonerge
Funktionsstörung kann genetisch be- bedingten Verlangsamung des Alkoholdingt sein oder als Folge früher sozialer abbaus steigt der toxische Metabolit
Stressbedingungen auftreten. Sie ver- Acetaldehyd an und verursacht höchst
mindert offenbar die Reaktion auf se- unangenehme Wirkungen, die die Bedierende, GABAerg (GABA, Gam- troffenen meist vor einem exzessiven
maaminobuttersäure) vermittelte Wir- Alkoholkonsum und der Entwicklung
kungen des Alkohols (15, 23, 46).
einer Alkoholabhängigkeit bewahren
Abbildung 1 zeigt eine serotonerge (3). Die entsprechenden Genotypen,
Funktionsstörung bei erwachsenen Pri- Varianten der Alkohol-Dehydrogenase
maten. Die stressbelasteten Tiere wei- und der Aldehyd-Dehydrogenase, finsen einen verminderten Serotoninum- den sich häufiger bei Menschen aus Asisatz auf, der sich auch im Erwachsenen- en und könnten regionale Unterschiede
alter noch nachweisen ließ, und eine er- in Trinkmustern und der Häufigkeit des
höhte Verfügbarkeit ihrer Serotonin- Auftretens einer Alkoholabhängigkeit
transporter. Die serotonerge Funkti- erklären (42). Gemeinsames Kennzeionsstörung war mit zwei Faktoren ver- chen dieser Risikofaktoren ist also, dass
bunden, die zum späteren exzessiven sie mit einer geringen Ausprägung unAlkoholkonsum disponieren: erhöhter angenehmer Wirkungen akuten AlkoAggressivität und erhöhter Toleranz holkonsums einhergehen. Dies wird von
gegenüber den Wirkungen akuten Al- den Betroffenen meist nicht als Gefahr,
A 2280
sondern eher als vermeintliche Stärke
erlebt („ich kann andere unter den Tisch
trinken“). Gerade jene jungen Menschen, die viel Alkohol vertragen, sind
aber besonders gefährdet, auf längere
Sicht alkoholabhängig zu werden. Diese
wichtige Beobachtung sollte gerade in
der schulischen Präventionsarbeit verstärkt beachtet werden.
Einfluss sozialer Isolation
Rhesusaffen, die ohne Mütter aufwachsen müssen, zeigten in Studien als erwachsene Tiere einen exzessiven Alkoholkonsum (27). Während die Primaten
vor der Pubertät eher ängstlich und angespannt sind, wirken die männlichen
Tiere nach der Pubertät aggressiv und
gereizt (23, 26). Als Folge der frühen
sozialen Isolation findet sich bei diesen
Tieren eine persistierende serotonerge
Funktionsstörung, die mit der Schwere
der Aggressivität und dem Alkoholkonsum korreliert (23). Möglicherweise konsumieren diese Tiere exzessiv Alkohol, weil dessen sedierende Wirkung
dem Gefühl der Bedrohung und Angst
entgegenwirkt.
In Adoptionsstudien zeigte sich, dass
auch Menschen, die in ihrer frühen
Kindheit lange in Heimen leben mussten, als Erwachsene häufig exzessiv
Alkohol konsumieren und ein erhöhtes
Risiko aufweisen, alkoholabhängig zu
werden (7, 12). Aus anthropologischer
Sicht ist soziale Isolation einer der
wichtigsten Stressfaktoren bei Menschen und Primaten (6). Verschiedene
soziopsychologische Theorien verweisen auf die Bedeutung der fehlenden
sozialen Integration und gesellschaftlichen Anerkennung (28) für die Entstehung abhängigen Verhaltens. Eine erhebliche Diskrepanz zwischen Wünschen und sozialen Möglichkeiten kann
zum Rückzug in einen exzessiven Alkoholkonsum beitragen, und die gesellschaftliche Ablehnung und abwertende
Etikettierung abhängigen Verhaltens
kann die soziale Isolation weiter verstärken (45). Auch der Eintritt von Arbeitslosigkeit gilt als sozialer Stressfaktor, der bereits bestehende Alkoholprobleme verschärfen kann (25). Leider
liegen fast keine Untersuchungen dazu
vor, wie sich derartige Belastungen auf
die neurobiologischen Korrelate ab-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 36½ 7. September 2001
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hängigen Verhaltens auswirken.
Es ist bekannt und in vielen Studien
dokumentiert, dass weitere individuelle, soziale und kulturelle Faktoren entscheidend zur Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit beitragen. Zu diesen
Faktoren gehören persönliche Einstellungen, kulturelle Trinkgepflogenheiten und Zwänge, das Konflikterleben
und andere aktuelle Belastungen (25,
36, 45). Diese wichtigen Faktoren werden in nachfolgenden Artikeln im
Deutschen Ärzteblatt erörtert.
Neurobiologische Korrelate
des chronischen
Alkoholmissbrauchs
In den aktuellen Klassifikationssytemen psychiatrischer Krankheiten der
Weltgesundheitsorganisation (ICD-10)
und der American Psychiatric Association (DSM-IV) wird der Alkoholmiss-
a
brauch nicht durch die Menge des konsumierten Alkohols, sondern durch
die aufgrund von Alkoholkonsum auftretenden Folgeschäden definiert. Zu
diesen zählen körperliche oder seelische Folgeschäden wie beispielsweise
eine depressive Episode nach exzessivem Alkoholkonsum (22). Als einer
der wichtigsten Schäden infolge von
Alkoholkonsum ist die alkoholassoziierte Hirnatrophie zu nennen, die die
graue und weiße Substanz betrifft und
sich als Ventrikelerweiterung und Verbreiterung der Sulci in bildgebenden
Verfahren darstellen lässt (Abbildung 2)
(9, 32, 37).
Bei vergleichbarem Alkoholkonsum sind Frauen von einer Hirnatrophie stärker betroffen als Männer (35).
Die Hirnatrophie ist im frontalen Kortex und Zerebellum besonders ausgeprägt (33), findet sich aber auch im anterioren Hippocampus alkoholabhängiger Patienten, und zwar unabhängig
vom Vorliegen eines Wernicke-Korsakow-Syndroms (53). Das Ausmaß der
alkoholassoziierten Hirnatrophie im
frontalen und temporalen Kortex ist
klinisch besonders wichtig, da eine
Störung der genannten Hirnareale die
längerfristige Handlungsplanung und
das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigen
und einen auf kurzfristige Belohnung
angelegten Alkoholkonsum verstärken kann (2, 4, 13).
Bei langfristiger Abstinenz bildet
sich die Atrophie zumindest partiell
zurück (32). Damit bildet die Alkoholabhängigkeit im Gegensatz zum irreversiblen Verlauf demenzieller Prozesse (zum Beispiel beim Morbus Alzheimer) ein heuristisches Modell, welches einen direkten Einblick in die Plastizität des menschlichen Gehirns erlaubt (34).
Aufrechterhaltung der
Alkoholabhängigkeit
b
Abbildung 2: Hirnatrophie mit Verbreiterung der
Sulci und Ventrikelerweiterung bei einer Person
mit chronischem Alkoholmissbrauch (a) im Vergleich zur Darstellung einer gleichaltrigen Kontrollperson (b) (MRT, sagittale Darstellung).
Zu den Symptomen der Alkoholabhängigkeit zählen die Toleranzerhöhung,
Entzugssymptome bei Beendigung des
Konsums, ein Verlangen nach Alkohol,
die Kontrollminderung beim Alkoholkonsum, ein anhaltender Missbrauch
trotz schädlicher Folgen und ein Vorrang des Alkoholkonsums vor anderen
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 36½ 7. September 2001
Grafik 2
GABAerge Neurotransmission in der frühen Abstinenz. Alkoholkonsum in höheren Dosen sediert, ein Effekt, der über zentrale GABAA-Rezeptoren vermittelt wird. Bei chronischem Alkoholkonsum nimmt die Toleranz gegenüber diesen sedierenden Wirkungen zu und der Patient
verträgt subjektiv mehr Alkohol. GABA, Gammaaminobuttersäure
Aktivitäten und Verpflichtungen (29).
Diese auf den ersten Blick heterogen
wirkenden Symptome werden im Folgenden anhand ihrer neurobiologischen Korrelate diskutiert.
Toleranzentwicklung und
Entzugssymptomatik
Bedeutsame Merkmale für ein neurobiologisches Verständnis der Alkoholabhängigkeit sind einerseits die zunehmende Toleranz gegenüber den Auswirkungen des exzessiven Alkoholkonsums und das Auftreten von Entzugserscheinungen bei Unterbrechung der Alkoholzufuhr und andererseits eine Sensitivierung gegenüber den verhaltensmodulierenden Wirkungen des Alkoholkonsums. Die Toleranzentwicklung
und das Auftreten von Entzugssymptomen wurden von Edwards (16) in das
Zentrum des modernen Abhängigkeitskonzepts gesetzt. Um das Konzept der
Toleranzentwicklung zu verstehen,
muss man sich vergegenwärtigen, dass
das Gehirn als autoregulatives Organ
auf die Beibehaltung einer Homöostase
eingerichtet ist. Wird diese beispielsweise durch die alkoholbedingte Sedierung aus dem Gleichgewicht gebracht, reagiert das Gehirn mit einer
gegenregulatorischen Verminderung der
GABAA-Rezeptoren, über die ein
wichtiger Teil der sedativen Wirkungen
des Alkohols vermittelt wird (1). Vor
kurzem gelang es der Arbeitsgruppe
von Harris und Mitarbeitern (38, 39),
A 2281
M E D I Z I N
die Angriffsstelle des Alkohols am
GABAA-Rezeptor zu identifizieren.
Dabei handelt es sich um eine relativ
kleine, durch 45 Aminosäuren gebildete „Tasche“, die die Alkoholwirkung
auf den Ionenkanal des GABAA-Rezeptors vermittelt. Zudem blockiert Alkohol die Übertragung am glutamatergen NMDA-Rezeptor (NMDA, N-Methyl-D-Aspartat) (54). So kann zunehmend mehr Alkohol konsumiert werden, ohne dass eine exzessive Sedierung
erfolgt. Diese Befunde könnten ein
ganz neues Kapitel der Pharmakologie
des Alkohols eröffnen.
Die Kehrseite der Medaille ist die erhöhte Empfindlichkeit gegen eine Unterbrechung der Alkoholzufuhr. Denn
zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Erregung und Hemmung steigt die Zahl der durch Alkohol
in ihrer Funktion behinderten NMDARezeptoren an (54). Im Entzug trifft
der exzitatorische Botenstoff Glutamat
auf eine erhöhte Zahl glutamaterger
Rezeptoren, während sein Gegenspieler, der sedierende Neurotransmitter
GABA, nur auf eine reduzierte Rezeptorenzahl einwirken kann (Grafik 2).
Damit verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen Exzitation und Sedation
im Gehirn und es kann zu Krampfanfällen oder anderen Entzugssymptomen
kommen (19, 54). In fortgeschrittenen
Fällen genügt die Unterbrechung der
Alkoholzufuhr während des Nachtschlafs, um eine morgendliche Entzugssymptomatik auszulösen. Diese morgendliche Entzugssymptomatik ist eines der verlässlichsten Symptome einer
eingetretenen Alkoholabhängigkeit.
Konditionierter Entzug
Wenn eine Alkoholabhängigkeit eingetreten ist, wird der chronische Alkoholkonsum oft beibehalten, um das Auftreten von unangenehmen und körperlich bedrohlichen Entzugserscheinungen zu vermeiden (16, 59). Entzugserscheinungen können aber auch als konditionierte Reaktionen auftreten. Dann
lösen Umweltreize, die bisher mit dem
Alkoholkonsum assoziiert waren, im
Organismus die Erwartung aus, dass
jetzt der Alkoholkonsum unmittelbar
bevorsteht. Das Konzept geht auf Wikler (58) zurück, der beobachtete, dass
A 2282
Laborratten, die an eine Opiatgabe in
einer bestimmten Umgebung gewöhnt
waren, Entzugserscheinungen zeigten,
wenn sie in dieser Umgebung kein Opiat erhielten. Wikler (58) und Siegel (51)
folgerten, dass als konditionierte Reaktion Prozesse auftreten, die der Wirkung der Suchtsubstanz entgegengesetzt sind. Die Wirkung des Suchtmittelkonsums wird so begrenzt und eine
zu starke Störung der Funktion des zentralen Nervensystems wird verhindert.
Auf den Alkoholkonsum bezogen bedeutet das, dass beispielsweise die sedierende Wirkung des Alkohols durch
eine konditionierte Verstärkung der exzitatorischen Übertragung im Nervensystem ausgeglichen wird. Kommt es allerdings nicht zur antizipierten Alkohol-
NMDA-Rezeptor (41, 52). In kontrollierten Studien verringerte die Acamprosatgabe die Rückfallrate entgifteter
Patienten (44). Möglicherweise sprechen gerade die Patienten besonders
gut auf Acamprosat an, die unter einem
konditionierten Alkoholentzug und Alkoholverlangen leiden (55).
Sensitivierung und Alkoholverlangen
Alkohol beeinflusst nicht nur die Wirkung inhibitorischer und exzitatorischer Botenstoffe wie GABA und
Glutamat, sondern auch die Ausschüttung von Katecholaminen wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin und
ihre Interaktion mit dem Neurotransmitter Acetylcholin. Dopaminerge,
Grafik 3
Vor Konditionierung
10
Belohnung
Licht
Nach Konditionierung
10
-400
-200
0
Licht
200
400
600
800
-400
-200
0
200
400
600 ms
Belohnung
Beginn der
Armbewegung
Bedeutung der dopaminergen Neurotransmission für das Verlangen nach belohnenden Substanzen.
Dargestellt ist ein Tierversuch von Schultz und Mitarbeitern (49) bei dem ein Affe erlernt, auf einen
konditionierten Reiz hin (das Aufleuchten eines Lichts) einen Knopf zu drücken und so eine Banane zu
erhalten. Wenn die Banane überraschend eintrifft, steigt die Entladungsrate der dopaminergen Nervenzellen im Belohnungssystem des Gehirns (oben). Das Tier lernt, dass das Aufleuchten des Lichts
einen (konditionierten) Reiz darstellt, der nach der Durchführung einer zweckdienlichen Handlung
das Eintreffen einer Belohnung (der Banane) verspricht. Sobald es dies gelernt hat, feuern die dopaminergen Neurone bei Präsentation des konditionierten Reizes, nicht aber beim Eintreffen der Banane (unten).
einnahme, kann der Patient subjektiv
die zentralnervöse Übererregung als innere Unruhe, Ängstlichkeit und Alkoholverlangen spüren (55).
Die Übererregung des Zentralnervensystems im konditionierten Entzug kann durch die so genannte „AntiCravingsubstanz“ Acamprosat abgeschwächt werden. Acamprosat reduziert die glutamaterge Übertragung am
serotonerge und noradrenerge Nervenzellen sind jeweils im Stammhirn lokalisiert, wirken mit aufsteigenden Projektionsbahnen modulierend auf eine Vielzahl zentraler Hirnareale ein und werden mit spezifischen Verhaltenskorrelaten in Verbindung gebracht (5, 59). Bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung
der Alkoholabhängigkeit kommt offenbar der Interaktion zwischen der opioid-
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ergen und dopaminergen Neurotransmission eine Schlüsselrolle zu (20). Das
so genannte dopaminerge Belohnungssytem ist ein entwicklungsgeschichtlich
altes System, das durch überlebensnotwendige Reize wie Essen oder Sexualität angesprochen wird. Dopaminerge
Stimulation des ventralen Striatums,
des Kernbereichs des hirneigenen Belohnungssystems, führt zum verstärkten Auftreten all jener Verhaltensweisen, die die Dopaminausschüttung verursacht haben (21). Wie andere Drogen
mit Abhängigkeitspotenzial stimuliert
Alkohol die Dopaminfreisetzung und
verstärkt so den Alkoholkonsum (59).
Der Grund für diese Verhaltensverstärkung liegt offenbar darin, dass Reize,
die mit dem Alkoholkonsum gepaart
Grafik 4
Sensitivierung der zentralen dopaminergen
Neurotransmission. Akuter Alkoholkonsum stimuliert die Dopaminfreisetzung im Striatum.
Chronischer Konsum und Entzug von Alkohol
kann zu einer erhöhten Empfindlichkeit der zentralen dopaminergen Neurotransmission führen.
Dabei können alkoholassoziierte Reize eine verstärkte präsynaptische Ausschüttung von Dopamin (DA) bewirken, das zudem postsynaptisch
auf Dopamin-D1-Rezeptoren (DRD1) mit erhöhter Stimulierbarkeit trifft (21, 43, 60).
sind, durch die begleitende Dopaminausschüttung als besonders begehrenswert erscheinen und das Individuum
motivieren, nach diesen Reizkonstellationen zu suchen und Alkohol zu konsumieren (Grafik 3) (43, 50). Die dopaminerge Stimulation motiviert offenbar
zu zielgerichteten Handlungen, um eine
belohnende Substanz zu erringen, und
ruft wahrscheinlich das Verlangen nach
dieser Substanz hervor (55). Der Genuss beim Verspeisen der Belohnung ist
dagegen nicht an die dopaminerge Aktivierung gebunden und könnte durch
weitere Neurotransmittersysteme wie
die opioiderge oder serotonerge Neu-
rotransmission vermittelt werden. Die
alkoholinduzierte Dopaminausschüttung spielt demnach eine wesentliche
Rolle in der Entstehung des Alkoholverlangens („Cravings“). In prospektiven Studien war das Ausmaß der Veränderung der dopaminergen Neurotransmission mit einem hohen Rückfallrisiko verbunden (22, 24).
Die alkoholbedingte Dopaminausschüttung wird teilweise durch Stimulation der m-Opiatrezeptoren vermittelt
(20). Während die Dopaminfreisetzung
entscheidend zum Alkoholverlangen
beiträgt (43), könnte die Aktivierung
weiterer Opioidrezeptoren im ventralen Striatum mit den angenehmen Gefühlen in Verbindung stehen, die durch
Alkoholkonsum ausgelöst werden können. Zumindest stellt sich das Wohlbefinden, das durch Alkoholkonsum ausgelöst werden kann, nach Blockade der
m-Opiatrezeptoren mittels Naltrexon
nicht mehr ein (56).
Das hirneigene Verstärkungssystem
weist nun eine Eigenschaft auf, die für
die Entstehung und Aufrechterhaltung
der Alkoholabhängigkeit von entscheidender Bedeutung sein könnte: es wird
durch wiederholten Alkoholkonsum
immer empfindlicher (60). Diese Sensitivierung zeigt sich als erhöhte Attraktivität jener Reize, die mit dem Suchtmittelkonsum in Verbindung stehen (Grafik 4) (44). Selbst kleine Mengen konsumierten Alkohols und Reize, die mit einem früheren Alkoholkonsum verbunden sind, können deshalb eine verstärkte dopaminerge Neurotransmission
auslösen, die sich als Alkoholverlangen
und verminderte Kontrolle über den
Alkoholkonsum zeigt. Wenn sich also
ein Patient in eine Situation begibt, in
der er regelmäßig Alkohol getrunken
hat oder wenn er den Alkoholkonsum
nach Entgiftung wieder aufnimmt,
kann es zu einer verstärkten dopaminergen Neurotransmission im Belohnungssystem kommen, die sich als
Alkoholverlangen und Kontrollminderung zeigt. Tatsächlich war der hirneigene Dopaminumsatz bei Patienten mit einem hohen Rückfallrisiko erhöht (17, 18). Eine Blockade der zentralen Dopaminrezeptoren beispielsweise durch Neuroleptika bietet sich allerdings nicht als therapeutische Strategie an, da das dopaminerge System bei
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 36½ 7. September 2001
allen neu auftretenden, Genuss oder
Belohnung verheißenden Reizen anspringt (50). Seine Blockade würde also
verhindern, dass ungewohnte, belohnungsanzeigende Reize die Patienten
zu neuen Aktivitäten motivieren. In einer Situation, in der entgiftete Patienten andere genussvolle Tätigkeiten an
die Stelle des Alkoholkonsums setzen
sollen, wäre eine solche Blockade kontraproduktiv.
Vielversprechender
scheint zumindest bei einer Subgruppe
der Patienten der Versuch zu sein, die
Wirkungen des Alkoholkonsums auf
die m-Opiatrezeptoren abzublocken
und so das Verlangen nach Alkohol und
die Lust am Trinken zu reduzieren (40,
56). Derartige medikamentengestützte
Behandlungsversuche machen natürlich nur Sinn, wenn sie im Rahmen einer ganzheitlichen Behandlung unter
Einbeziehung von Selbsthilfegruppen
und Beratungsstellen erfolgen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Karl Mann
Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
68159 Mannheim
E-Mail: [email protected]
In der Serie Alkoholismus sind bisher erschienen:
Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]
Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]
Alkoholassoziierte Organschäden
Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und
Geburtshilfe/Neonatologie
Prof. Dr. med. Manfred V. Singer,
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]
A 2283
M E D I Z I N
Serie: Alkoholismus
Karl F. Mann
Neue ärztliche Aufgaben
bei Alkoholproblemen
Von der Behandlungskette zum Behandlungsnetz
Zusammenfassung
In Deutschland leben rund 4,3 Millionen Menschen mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen. Eine suchtspezifische Therapie erhalten
weniger als fünf Prozent. Die Folgen sind Chronifizierung, frühzeitige Berentung und eine um
15 Jahre verkürzte Lebenserwartung. Gab es
früher im Wesentlichen nur eine wohnortferne
Standardbehandlung, so ist nach jüngsten Forschungsergebnissen das Ziel der Abstinenz
durch die individuelle Kombination und den teilweise auch wiederholten Einsatz ambulanter,
teilstationärer oder stationärer Therapiemaßnahmen für sehr viel mehr Patienten erreichbar.
Auf diesen Erkenntnissen baut ein neues, wissenschaftlich begründetes Konzept für eine
wohnortnahe Behandlung von Menschen mit Alkoholproblemen auf. Ein zentrales Element der
Akutbehandlung ist der „qualifizierte Entzug".
P
atientinnen und Patienten mit Alkoholproblemen sind sehr häufig in
den Praxen niedergelassener Ärzte
und Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser zu finden (Grafik 1). Dabei
sind Ärzte auf kaum eine andere Patientengruppe durch Studium und Weiterbildung so wenig vorbereitet (25).
Die Folge sind Unbehagen im Umgang
mit Suchtpatienten und Mängel bei der
Diagnosestellung. In der Regel werden
weniger als die Hälfte der therapiebedürftigen Alkoholprobleme richtig erkannt (30, 37) (Tabelle 1). Als Grund
für die Defizite in Diagnosestellung und
Einleitung einer adäquaten Therapie
werden häufig die geringen Heilungsaussichten genannt. Es ist ein Anliegen
des vorliegenden Beitrags, diesen Eindruck zu korrigieren und die ermutigenden Erfolgszahlen jüngerer Therapieevaluationsstudien zu verbreiten
(Tabellen 2 und 3). Angesichts der Inanspruchnahme diagnostischer und therapeutischer Leistungen wird das Potenzial eines verstärkten ärztlichen Engagements deutlich (Grafik 2).
A 632
Er führt zu mehr Weitervermittlungen in Rehabilitationsbehandlungen und erzielt sechs bis acht
Monate später Abstinenzquoten von 40 bis 50
Prozent. Die ärztlichen Möglichkeiten innerhalb
des Therapienetzes werden durch bessere Fortbildung (Zusatzqualifikation „Suchtmedizinische
Grundversorgung“) und den Einsatz neuer AntiCraving-Medikamente deutlich erweitert.
Schlüsselwörter: Alkoholabhängigkeit, Entzugstherapie, Therapiekonzept, Entgiftung
Summary
The Doctors’ New Role Within the Network
for the Treatment of Alcohol Problems
Currently about 4.3 million people with alcohol
problems in Germany need treatment.
Although many of them are seen by their gen-
eral practitioner only about 5 per cent receive
specific interventions for harmful drinking or alcohol dependence. „Qualified withdrawal treatment" is a new approach which adds
motivational techniques to standard acute treatment. Teaching courses of 50 hours duration are
now offered to all doctors. Apart from improving their diagnostic skills, doctors are taught
new techniques to motivate patients for changing their behavior. The prescription of “anticraving medication” such as acamprosate or naltrexone
improve
the
chances
of
patients considerably. Altogether addiction research and addiction medicine provide
medical doctors with much better tools for helping patients with alcohol and other
substance-related problems nowadays.
Key words: alcohol dependence, withdrawal treatment, therapy concept, detoxification
Grafik 1
Patienten mit Alkoholproblemen in Arztpraxen und Allgemeinkrankenhäusern
Eine Betrachtung von Prävalenzen,
Mortalitätszahlen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen unterstreicht die
Bedeutung von Alkoholproblemen
und Alkoholfolgekrankheiten. In den
westlichen Industrienationen gehen
rund 25 Prozent aller Todesfälle direkt
oder indirekt auf die Einnahme psychotroper Substanzen zurück (28).
Auch die durch Tod oder frühzeitige
Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Karl F. Mann), Zentralinstitut für
Seelische Gesundheit, Mannheim, Universität Heidelberg
Invalidität eingetretenen Verluste liegen bei etwa 25 Prozent: Zwölf Prozent
sind durch regelmäßiges Rauchen bedingt und elf Prozent durch Alkohol
(32).
Neuere Untersuchungen in Deutschland beziffern die Zahl der Alkoholabhängigen auf etwa 1,6 Millionen. Dies
entspricht etwa drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung (fünf Prozent
der Männer, knapp zwei Prozent der
Frauen). Bei Frauen ist die Tendenz in
den letzten Jahren ansteigend. Weniger als ein Drittel der alkoholabhängiDeutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
M E D I Z I N
´
Tabelle 1
Die Rechtslage
´
Häufigkeit von Patienten mit Alkoholproblemen und Anteil der richtigen
Diagnosestellung durch die Stationsärzte (modifiziert nach 30)
Häufigkeit von Alkoholproblemen
Davon richtig diagnostiziert
(Prozent)
(Prozent)
HNO
43
–
Psychiatrie
30
67
Innere Medizin
24
52
Chirurgie
21
20
Neurologie
19
46
Gynäkologie
12,5
7
n = 2002
gen Personen ist in Behandlung, viele
davon nur sporadisch (37). In den Allgemeinkrankenhäusern erhalten nur neun
Prozent spezifische Hilfen bezüglich
der zugrunde liegenden Alkoholprobleme. 91 Prozent werden ausschließlich
wegen ihrer somatischen Folgekrankheiten behandelt (14). Sechs Prozent
aller Alkoholabhängigen finden den
Weg in Suchtabteilungen der psychiatrischen Krankenhäuser und drei
Prozent den in Suchtfachkliniken. Neben den Alkoholabhängigen gibt es
etwa 2,7 Millionen Erwachsene, die
einen „schädlichen Gebrauch“ von
Alkohol betreiben und weitere 5 Millionen Personen mit einem „riskanten Konsum“ (5) (Grafik 3) (Definition: Textkasten 1). Nimmt man die´
Tabelle 2
se drei Gruppen zusammen, dann
besteht in Deutschland bei etwa
9,3 Millionen Menschen alkoholbedingter Beratungs- oder Behandlungsbedarf.
Neue Evaluationen belegen eine generelle Wirksamkeit therapeutischer
Maßnahmen (Tabelle 2 und 3). Dies
gilt sowohl für die pharmakologische
(34, 38) wie für die psychotherapeutische Behandlung alkoholabhängiger
Personen (27, 35, 47). In größerem
Umfang durchgeführt, würden suchtspezifische Behandlungen nicht nur
die Lebenssituation der Patienten verbessern, sondern auch einen Beitrag
zur Senkung der auf rund 20 Milliarden A pro Jahr geschätzten Folgekosten leisten.
Die Alkoholabhängigkeit wurde 1968 in
einem Grundsatzurteil als Krankheit anerkannt. Somit besteht gemäß § 27 SGB
V für krankenversicherte und behandlungsbedürftige Alkoholabhängige ein
umfassender Anspruch auf Krankenbehandlung einschließlich der Sekundärprävention, das heißt der Früherkennung und Verkürzung der Dauer einer
Krankheit. Die Behandlung umfasst
körperliche, soziale und seelische Aspekte. Nach § 70 Abs. 1 SGB V muss
eine Versorgung der Versicherten entsprechend dem allgemein anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse
sichergestellt werden. Ferner muss die
Versorgung „ausreichend und zweckmäßig“ sein und „wirtschaftlich erbracht“ werden. Weiterhin haben die
Versicherten gemäß § 39 Abs. 1 SGB V
Anspruch auf eine vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn das Behandlungsziel
nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung
einschließlich häuslicher Pflege erreicht
werden kann. In einer 1978 getroffenen
und 2001 erneuerten „Empfehlungsvereinbarung“ zwischen Krankenkassen
und Rentenversicherungsträgern wurde
die Zuständigkeit bezüglich der Kostenübernahme geregelt: Die medizinische
Grundversorgung wird von den Krankenkassen übernommen, während die
Rehabilitation der Patienten mit dem
´
Ergebnisse nach qualifiziertem Entzug
Olbrich 2001
Stetter und Mann 1997
Veltrup 1995
Böning et al. 2001
Bauer und Hasenöhrl 2000
(33)
(46)
(48)
(3)
(2)
3 Wochen
allgemeinpsychiatrische Station
3 Wochen
Suchtstation
6 Wochen
Suchtstation
6 Wochen
Suchtstation
4 bis 8 Wochen
Suchtstation
6 Monate
8 Monate
8 Monate
12 Monate
28 Monate
102
227
196
151
92
Persönlich
Telefonisch
Persönlich
Persönlich
Postalisch
Abstinenzrate der nachuntersuchten Patienten
58 %
52 %
58 %
45 %
51 %
Abstinenzrate bezogen
auf die Ausgangsstichprobe
48 %
46 %
38 %
36 %
32 %
Behandlung
Zeitpunkt der
Nachuntersuchung
Anzahl der Patienten
Durchführung
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
A 633
M E D I Z I N
´
Tabelle 3
´
Ergebnisse nach stationärer Entwöhnungsbehandlung
Stationäre
Stationäre
Stationäre/Ambulante
Stationäre/Ambulante
Langzeittherapie
Langzeittherapie
Therapie
Therapie
(20)
(53)
(23)
(26)
Stationäre
Entwöhnungsbehandlung
4 bis 6 Monate
(21 Kliniken)
Stationäre
Entwöhnungsbehandlung
6 Monate
6 Wochen stationär
1 Jahr ambulant
6 Wochen stationär
1 Jahr ambulant
6 Monate
1 Jahr
1 Jahr
1 Jahr
Anzahl der Patienten
1 410
3 060
790
212
Abstinenzrate
67 %
60 %
68 %
67 %
Behandlung
Zeitpunkt der Nachuntersuchung
Ziel einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durch die Rentenversicherungsträger zu leisten ist. Zur Erreichung dieses Ziels ist die Erlangung einer
dauerhaften Abstinenz wesentlich. Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden,
dass das Ziel der absoluten Abstinenz
ausschließlich Gegenstand von Rehabilitationsmaßnahmen sein könne, die Abstinenz somit gewissermaßen monopolisiert würde. Die genannten Rechtsgrundlagen sind insofern von großer Bedeutung, als in den letzten Jahren immer
wieder versucht wurde, die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen
unter Bezug auf die Empfehlungsvereinbarung von 1978 auf eine körperliche
Entgiftung von wenigen Tagen zu beschränken. Eine derartige Verwaltungsvereinbarung regelt jedoch nicht den
Gesamtumfang einer stationären Akutbehandlung von Suchtkranken, sondern
lediglich ein bestimmtes Abgrenzungsproblem zum Beispiel zwischen verschiedenen Kostenträgern. Für Art und Umfang der stationären Behandlung sind,
wie oben aufgeführt, lediglich die Paragraphen des SGB V maßgeblich. Hierauf
stützt sich auch die Formulierung der
Behandlungsbereiche Sucht 1 bis Sucht 6
der Psychiatriepersonalverordnung.
Von der Behandlungskette
zum Behandlungsnetz
In den „Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur
Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psycho-
A 636
somatischen Bereich“ (6, 13) wird betont, dass das therapeutische Ziel der
Abstinenz bei verschiedenen Patienten
nur durch eine unterschiedliche Kombination von Maßnahmen (zum Beispiel ambulante, stationäre oder teilstationäre Behandlung, Betreuung durch
Suchtberatungsstellen) zu erreichen ist.
Dabei muss immer berücksichtigt werden, dass Rückfälle bei Patienten wenig
mit Willen und nichts mit Charakter zu
tun haben, sondern als Teil der Störung
anzusehen sind und häufig erst einen
weiterführenden therapeutischen Zugang eröffnen.
Aus diesem Grund empfahl die Expertenkommission, dass nur eine Vielzahl differenzierter und leicht zugänglicher Einrichtungen und Versorgungsangebote, sowie flexible Übergänge
zwischen den Versorgungsformen ein
notwendiges Gesamtkonzept suchtspezifischer Versorgung darstellen. Dabei
sollten sich die jeweiligen Versorgungsangebote flexibel den individuellen Behandlungsbedürfnissen anpassen. Ein
solches Verbundsystem von Versorgungseinrichtungen lässt sich nur gemeindenah realisieren. Durch diese
Vorgehensweise kann die Familie und
das soziale Umfeld in die Therapie
leichter einbezogen werden. Außerdem
wird der Tatsache Rechnung getragen,
dass viele Patienten nicht in der Lage
sind, sich über einen längeren Zeitraum
aus ihrer gewohnten Umgebung zu entfernen.
Auch im Rahmen einer Expertise
im Auftrag der Deutschen Hauptstelle
gegen Suchtgefahren (1) wurde die
wohnortnahe Versorgung als eines der
Grundprinzipien der Suchthilfe genannt. Die Autoren empfehlen bezüglich der Weiterentwicklung der Suchtkrankenhilfe ausdrücklich die Bereitstellung von Angeboten, welche für
Betroffene leicht zu erreichen sind. So
kann der bisherigen Vernachlässigung
bevölkerungsbezogener, auf Public
Health abzielender Angebote wirksam begegnet werden, womit in erster
Linie Maßnahmen der Sekundärprävention und Motivationsarbeit geGrafik 2
Anteil der Alkoholabhängigen, die in verschiedenen Einrichtungen behandelt werden (nach 41,
50).
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
M E D I Z I N
meint sind. Auf dieser Basis könnte
die zeitgemäße Versorgung von alkoholabhängigen Personen die Komponenten enthalten, die in Grafik 4 aufgeführt sind.
Grafik 3
Behandlungsziele
differenzieren
Diese Empfehlungen erfordern ein
Umdenken bei den Behandlungszielen. Auch wenn die dauerhafte Abstinenz das Endziel sämtlicher therapeutischer Bemühungen bleiben muss, so
ist doch eine Formulierung von individuell erreichbaren Zwischenzielen
hilfreich, die sich an der momentanen
Situation der Betroffenen orientiert.
Dieses Umdenken greift Erfahrungen
aus der Behandlung Drogenabhängiger auf, wo mit dem Begriff der „Schadensminimierung“ schon länger erfolgreich operiert wird (40).
Die Übertragung des Konzeptes
der Schadensminimierung wird dabei
der chronischen Verlaufsform des Alkoholismus besser gerecht als das
„chirurgische Modell“ einer einmaligen Operation, deren Erfolg dann am
fehlenden „Willen“ des Patienten
scheitert. Das Erreichen von Zwischenzielen vermittelt dagegen Erfolgserlebnisse und hilft, die allseitigen Frustrationen bei noch nicht erreichter dauerhafter Abstinenz abzubauen. Eine mögliche Hierarchie der
Therapieziele für Menschen mit Alkoholproblemen ist im Textkasten 2 dargestellt.
Bausteine des
Behandlungsnetzes
Primär ambulante Behandlung
Das Prinzip der ambulanten Versorgung vor der stationären Behandlung
gilt auch für Alkoholabhängige. Hier
bietet sich ein weites Betätigungsfeld
für niedergelassene Ärzte in Zusammenarbeit mit den Beratungsstellen
(Grafik 1). Durch die Zusatzqualifikation der „Suchtmedizinischen Grundversorgung“ sowie durch die Einführung Abstinenz fördernder Medikamente wird der Bereich der haus-
A 638
sorgungsverpflichtung psychiatrische
Institutsambulanzen betreiben. Diese
neue gesetzlich ermöglichte Behandlungsoption ist für psychisch Kranke
mit einem chronischen oder chronisch
rezidivierenden Verlauf vorgesehen,
wobei Suchtkranke mit Komorbidität
als Patientengruppe eigens genannt
sind.
Ambulante Entgiftung
Häufigkeit von Alkoholproblemen in der Bevölkerung (5). Es sind 9,3 Millionen Personen betroffen oder gefährdet.
ärztlichen Betreuung in Zukunft sehr
an Bedeutung gewinnen. Neu entwickelte Verfahren zur Gesprächsführung mit Abhängigen wurden in
dieser Serie bereits beschrieben (16).
Ideal wäre eine zusätzliche Fachambulanz, die Patienten von niedergelassenen Ärzten und Beratungsstellen
zur Diagnostik und eventuell zur Weiterbehandlung übernehmen könnte.
Seit April 2001 besteht die Möglichkeit (§118 Abs. 2 SGB V), dass Allgemeinkrankenhäuser mit selbstständigen, fachärztlich geleiteten psychiatrischen Abteilungen mit regionaler Ver-
Inzwischen liegen positive Befunde
darüber vor, dass Entgiftungen bei relativ wenig beeinträchtigten Patienten
(sozial integriert und motiviert) auch
in einem ambulanten Rahmen mit gutem Erfolg durchgeführt werden können, sofern tägliche Arztkontakte gesichert sind (39). Soyka et al. (45) berichten von einem Modell, in dem die
Patienten täglich für etwa eine Woche
in eine Suchtambulanz kamen, wo sie
eine pharmakologische Behandlung
ihrer Entzugssymptomatik und zusätzlich etwa drei psychotherapeutische Einzelsitzungen nach den Prinzipien der „motivierenden Gesprächsführung“ (29) erhielten. Von 141 Patienten konnten 90 Prozent die Entgiftung erfolgreich beenden. 86 Prozent
begaben sich nach ihrem Abschluss in
eine weiterführende ambulante Therapie. Zehn Monate nach Beendigung
Textkasten 1
Definitionen und Diagnosen
Die Weltgesundheitsorganisation WHO ordnet die Zuständigkeit für Diagnostik, Behandlung und für Teilaspekte der Prävention von „substanzinduzierten Störungen“ dem Bereich der seelischen Gesundheit zu.
In der derzeit gültigen 10. Version der ICD 10 werden die entsprechenden Diagnosegruppen genau definiert, abgegrenzt und operationalisiert. Von einer Abhängigkeit wird gesprochen, wenn mindestens drei
von insgesamt sechs Kriterien im Laufe eines Jahres nachweisbar waren.
❃ Starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren,
❃ Minderung der Kontrolle über Beginn, Umfang und Beendigung des Konsums von Alkohol,
❃ eine Toleranzentwicklung,
❃ das Auftreten von Entzugserscheinungen,
❃ die Vernachlässigung anderer Neigungen und Interessen zugunsten des Alkoholkonsums,
❃ die Fortführung des Alkoholkonsums trotz eindeutig eingetretener körperlicher, psychischer oder sozialer Folgeschäden.
Der „schädliche Gebrauch“ ist von der Alkoholabhängigkeit abzugrenzen. Dies wurde früher als Missbrauch
oder Abusus bezeichnet und definiert ein Konsummuster, das zu einer physischen (zum Beispiel Gastritis oder
Pankreatitis infolge Alkoholkonsums) oder psychischen (zum Beispiel kognitive Störungen oder depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum) Gesundheitsschädigung führt ohne die Kriterien einer Abhängigkeit zu erfüllen.
Der „riskante Konsum“ leitet sich von der durchschnittlichen täglichen Trinkmenge beziehungsweise dem Konsum überhaupt ab (4). Die WHO nennt einen täglichen Alkoholkonsum von 20 g (0,2 Liter Wein oder 0,4 Liter
Bier) für Frauen und 40 g (0,4 Liter Wein oder 0,8 Liter Bier) für Männer als Grenzwerte, deren Überschreitung
innerhalb eines interindividuell unterschiedlichen Zeitraums zu Gesundheitsschädigungen führt. Manche Experten halten diese Grenze für zu hoch angesetzt.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
M E D I Z I N
der Entgiftung waren 50 Prozent dieser Patienten abstinent und befanden
sich weiterhin in ambulanter Therapie.
Stationäre Entgiftungen in
Allgemeinkrankenhäusern
Die traditionelle körperliche Entgiftung konzentriert sich auf die Sicherstellung des Überlebens unter adäquater medikamentöser Behandlung der
vegetativen
Entzugserscheinungen
oder des Vollbilds eines Delirium tremens (21, 39, 45). Wie bereits erwähnt,
werden spezifische Maßnahmen gegen
die Grunderkrankung der Abhängigkeit bisher in weniger als zehn Prozent
der Fälle durchgeführt (14). Die
Nachuntersuchungszahlen dieser traditionellen Entgiftung sind mit rund
40 Prozent Verstorbenen und nur fünf
Prozent Abstinenten nach durchschnittlich acht Jahren außerordentlich schlecht (51). Entsprechend häufig müssen die Patienten zu weiteren
Entgiftungen in die stationäre Behandlung zurückkehren (9). Somit
wird das Überleben akut zwar gesichert, Krankheitseinsicht und die Motivation zur Veränderung des Verhaltens mit dem endgültigen Ziel der Abstinenz werden jedoch nicht systematisch gefördert und kaum erreicht.
Im Laufe der letzten Jahre wurde
wissenschaftlich belegt, dass wiederholte Entzüge zu immer gravierenderen Schäden führen zum Beispiel
durch exzitotoxische Schädigungen
von Neuronen (10). Als Kindlingphänomen wurde ein von mal zu mal stärkeres Ansprechen der in das Entgiftungsgeschehen involvierten Neurotransmittersysteme mit einer Kaskade
weiterer Folgen beschrieben (zum
Beispiel zerebrale Krampfanfälle). Es
ist also nicht gleichgültig, ob jemand
drei oder 13 Entgiftungen mitmacht.
Die alte Vorstellung, wonach durch
besonders schwere Entzüge eine besonders gute Motivation für weiterführende Behandlungen zu erzielen
sei, erwies sich als deletär. Der frühere
therapeutische Grundsatz, wonach die
Patienten erst an einem Tiefpunkt angekommen sein müssen, um entsprechende Schritte einzuleiten, ist aus
heutiger Sicht obsolet. Leider führt
der administrative Aufwand infolge
A 640
der Trennung der Zuständigkeiten
zwischen Krankenkassen und Rentenversicherern immer noch zu Wartezeiten und unbefriedigender Inanspruchnahme der Rehabehandlung,
womit erneute Entgiftungen mit allen
geschilderten Konsequenzen nötig
werden können.
Eine wesentliche Verbesserung des
bestehenden Versorgungssystems kann
erreicht werden durch Liaison-Dienste
im Rahmen der stationären Entgiftung
in Allgemeinkrankenhäusern. Dabei
sen der körperlichen Entgiftung. Anstatt die Entgiftung passiv zu erleiden,
kann sie aktiv genutzt und gestaltet
werden. Ansätze hierzu wurden schon
1988 in den Empfehlungen der Expertenkommission angedeutet. Unter
dem programmatischen Titel „Keine
Entgiftung ohne psychotherapeutische Begleitung“ stellten Mann und
Stetter 1991 (22) eine Konzeptualisierung dieser Ideen vor.
Wesentliche Merkmale der erweiterten Entgiftung, für die sich der Be-
Grafik 4
Behandlungsnetz für Alkoholabhängige
übernimmt eine suchtmedizinisch geschulte Fachkraft die Weiterbildung
und Supervision der Ärztinnen und
Ärzte sowie des Pflegepersonals. Von
Fall zu Fall können auch direkte Patientenkontakte wahrgenommen werden. Nach Pörksen et al. (36) könnte eine zusätzliche Fachkraft im Rahmen
eines Alkohol-Liaison-Dienstes für
etwa 320 Betten zuständig sein. Die
Rate der Vermittlung in weiterführende Therapieangebote kann mit diesen Maßnahmen nahezu verdoppelt
werden (von 29 Prozent auf 42 Prozent
[11], von 29 Prozent auf 56 Prozent
[14], von 19 Prozent auf 33 Prozent
[19]).
Qualifizierte Entzugsbehandlung
Eine weitere Möglichkeit zur Verbesserung der Versorgung von alkoholabhängigen Personen liegt in der besseren therapeutischen Nutzung der Pha-
griff „qualifizierte Entzugsbehandlung“ durchgesetzt hat, sind neben einer differenzierten, somatisch gut fundierten Diagnostik und Behandlung
der Entzugssymptome und der körperlichen Begleiterkrankungen und Folgeerkrankungen (42, 52) vor allem das
Fehlen abwehrender Aufnahmeprozeduren, motivationsprüfender Schwellen oder abwertender Konfrontationen.
Therapeutische Maßnahmen zur
Motivationsbildung bezüglich Therapieantritt, Abstinenz und Veränderungen im Verhalten und in der Lebensführung sind essenzielle Bestandteile und tragen wesentlich zur Qualifizierung des Entzugs bei (29).
Hier wird also die körperliche
Entzugssituation als Chance aufgefasst, durch gezielte psychotherapeutische Beeinflussung Motivationsarbeit
zu leisten. Ziel dieser Maßnahmen ist
die konsequente Erarbeitung einer
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
M E D I Z I N
hinreichenden Krankheitseinsicht, die,
über verschiedene Motivationsstrategien verstärkt, letztendlich zu der Bereitschaft des Patienten führt, eine
weiterführende Behandlung anzutreten. Ein derartiger Prozess ist langwierig, sodass die Behandlungsdauer mit
drei bis sechs Wochen anzusetzen ist.
Damit wird auch das protrahierte Entzugssyndrom mit seiner erhöhten
Rückfallgefährdung besser beherrscht.
Dieses Konzept konnte von der Arbeitsgruppe des Autors empirisch validiert werden (24, 46).
Ähnliche Ergebnisse wurden auch
von Forschungsgruppen in Jena, Lübeck, Mannheim und Würzburg vorgelegt (Tabelle 2) (2, 3, 33, 48). Im Sinne
von sekundärpräventiven Maßnahmen
wurde damit ein nachhaltiger Beitrag
zu einer früheren Diagnostik und Intervention geleistet. Diese Resultate
ließen sich nicht nur anhand von Erfolgszahlen bezüglich des Trinkverhaltens belegen, sondern auch durch eine
Senkung der Kosten aufgrund signifikant geringerer Inanspruchnahme von
Krankenbehandlungen in der Folgezeit (8).
Die bereits aufgeführten Merkmale
des qualifizierten Entzugs wurden in
jüngster Zeit auch von anderen Stellen aufgegriffen und in Konsensuspapieren formuliert, zum Beispiel durch
eine Arbeitsgruppe im Rahmen des
„Landesprogramms gegen die Sucht
Nordrhein-Westfalen“. Dieses vom
Sozialministerium in Auftrag gegebene Konzept hat besonderes Gewicht,
weil es einen Konsens zwischen den
beteiligten Ärzten, Wissenschaftlern
und Krankenkassen darstellt. Einvernehmliche Regelungen zu einer mehrwöchigen, stationären psychiatrischen
Grundversorgung alkoholabhängiger
Patienten wurden auch in Sachsen vereinbart.
Tagesklinische Behandlung
Zur Ergänzung ambulanter und vollstationärer Versorgung im Rahmen eines gemeindeintegrierten Behandlungssystems bietet sich eine tagesklinische Behandlung von Patienten mit
Alkoholproblemen an. Dabei handelt
es sich um ein Akutprogramm zur
Wiederherstellung von körperlicher
A 642
Textkasten 2
Hierarchie der Therapieziele bei
Alkoholabhängigen
❃ Sicherung des Überlebens
❃ Behandlung von Folge- und Begleitkrankheiten
❃ Förderung von Krankheitseinsicht und Motivation zur Veränderung
❃ Aufbau alkoholfreier Phasen
❃ Verbesserung der psychosozialen Situation
❃ Dauerhafte Abstinenz
❃ Angemessene Lebensqualität
und psychischer Funktionsfähigkeit
mit Finanzierung durch die Krankenkassen (18). Hierfür haben sich verschiedene medizinische Maßnahmen
und psychiatrisch psychologische Interventionen bewährt. Der tagesklinische Ansatz ermöglicht eine große
Alltagsnähe, sodass der Transfer der
im Rahmen der Behandlung erworbe-
Bei etwa 30 bis 50 Prozent der alkoholabhängigen Personen liegt neben
den Alkoholproblemen eine aktuelle
psychische Störung vor (Komorbidität), die unter Umständen einer vollstationären Behandlung nicht bedarf,
wo aber ambulante Maßnahmen nicht
ausreichend wären (17). Die genannten Teilgruppen sind potenzielle Inanspruchnehmer einer tagesklinischen
Behandlung. Alternativ zur hier geschilderten teilstationären Akutbehandlung kann die Tagesklinik auch
der Ort für Entwöhnungsbehandlungen sein. In diesem Fall gelten im Wesentlichen die nachfolgenden Ausführungen.
Ambulante Entwöhnungsbehandlung
Im Jahr 1991 vereinbarten die Rentenversicherungsträger die „ambulante
Rehabilitation Sucht“. Multiprofessionell zusammengesetzte und entsprechend qualifizierte Suchtberatungsstellen werden hier„Bei Ärzten und Pflegepersonal herrschen
für auf Antrag zertifiziert.
die Vorurteile, dass Suchtpatienten vorsätzlich und Ende 2000 waren dies 369
von 1 390 Beratungsstellen
völlig freiwillig ihr Leben zerstören und es
(31). Nach ersten Auswersomit eigentlich nicht mehr verdient haben,
tungen sind die Therapien
im Krankenhaus versorgt zu werden. Schließlich
erfolgreich (31, 44). Allermüssten sie ,ja nur aufhören‘, ihre Suchtmittel
dings berichteten Simon
einzunehmen.“
und Palazetti (41) über die
Jahresstatistik 1998 der amM. P. Krankenschwester, 6. 10. 2001
bulanten Beratungs- und
Behandlungsstellen
für
nen Coping-Strategien in die persönli- Suchtkranke in Deutschland (EBISche Lebenswelt möglich wird.
Bericht): „Gemessen an der GesamtFür die Tagesklinik geeignet sind zahl behandelter Klienten spielt die FiPatienten, bei denen der Chronifizie- nanzierung nach der Vereinbarung
rungsprozess der Alkoholabhängig- über „ambulante Rehabilitation“ imkeit noch nicht stark fortgeschritten mer noch eine relativ geringe Rolle. Es
ist, die noch sozial integriert sind und handelt sich um insgesamt etwa acht
noch über ausreichend potenzielle Be- Prozent der stationären Behandlunwältigungsressourcen verfügen sowie gen.“
Patienten, bei denen nach Abschluss
der körperlichen Entzugsbehandlung Stationäre Entwöhnungsbehandlung
ein protrahiertes Entzugssyndrom besteht, das sich in depressiven Verstim- Diese Behandlungsform war lange
mungen, erhöhtem Angstpegel und Zeit das Kernstück der Therapie von
länger anhaltenden vegetativen Dys- alkoholabhängigen Personen. Sie wurregulationen, insbesondere Schlaf- de nach dem zweiten Weltkrieg ausgestörungen, ausdrückt. Bei diesen Pati- baut, als Alkoholkonsum und Folgeenten ist der rasche Übergang von der probleme sprunghaft stiegen. Von den
stationären Behandlung zurück in den damals vorherrschenden KrankheitsLebensalltag mit einem hohen Rück- vorstellungen zur Alkoholabhängigkeit als einer „Charakterneurose“ ausfallrisiko verbunden.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
M E D I Z I N
gehend, betrugen die stationären Behandlungszeiten neun bis zwölf Monate. Im Laufe der Zeit wurden sie auf
sechs Monate reduziert und die Behandlung wurde vollständig in die Finanzierung der Rentenversicherungsträger gelegt.
In den letzten Jahren haben immer
mehr verhaltenstherapeutische Elemente Einzug in die Therapie gehalten
und die tiefenpsychologischen Methoden ergänzt oder auch ersetzt. Hierzu
gehören Analysen von Rückfallsituationen, Rollenspiele zur Rückfallprophylaxe, soziales Kompetenztraining,
Alkoholexpositionstrainings und so
weiter. Dank einer vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger in
Auftrag gegebenen Evaluation weiß
man relativ gut über die Wirksamkeit
dieser Behandlungen Bescheid. Küfner
und Feuerlein (20) legten Daten von
1 410 Patienten aus 21 Fachkliniken
vor (Tabelle 3). Diese Studie hat zugleich ein paradoxes Ergebnis geliefert:
Diejenigen Patienten, die nach gültigen
Prognosekriterien die günstigsten Aussichten hatten, wurden zugleich am
längsten behandelt. Langfristig werden
Abstinenzraten von 46 Prozent nach
vier Jahren (20) und 40 Prozent nach
zehn Jahren berichtet (27).
In den letzten Jahren legen neuere
und kürzere gemeindenahe Therapiemodelle den Schluss nahe, dass vergleichbare Therapieresultate auch mit
weniger Aufwand erreichbar sind (23,
26). Somit trat neben der Effektivität
der Gesichtspunkt der Effizienz in den
Vordergrund. Es ist jedoch weitgehend unbestritten, dass die stationäre
Langzeittherapie auch in der Zukunft
für eine Reihe von alkoholabhängigen
Personen notwendig sein wird, zumal
ein Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg wahrscheinlich ist (43).
Allerdings gehen die Empfehlungen dahin, die Fachkliniken stärker
in die regionale Versorgung einzubinden. Außerdem müssten klarere
Indikationskriterien entwickelt werden, wonach eher die schwer abhängigen, bisher therapieresistenten und
nicht die motivierten Patienten mit
ohnehin schon guter Prognose tatsächlich längerfristig stationär behandelt werden.
A 644
Ambulante Nachbetreuung
Nach einer (teil-)stationären Entzugsoder Entwöhnungstherapie sollte eine
ambulante Nachbetreuung angeboten
werden. Sie dient der Unterstützung
bei der Wiedereingliederung ins Alltagsleben und bietet eine schnelle und
für die Patienten unkompliziert zu erreichende Interventionsmöglichkeit
während akuter psychischer Krisen
mit hoher Rückfallgefährdung. Der
Schwerpunkt einer ambulanten Nachbetreuung ist die Beibehaltung der
Abstinenz und die Stabilisierung der
in der (teil-)stationären Phase initiierten Verhaltensänderung. Eine besondere Rolle sollte hier der Zusammenarbeit von Beratungsstellen mit niedergelassenen Ärzten zukommen.
Dies setzt allerdings eine wesentlich
bessere Aus-, Weiter- und Fortbildung
in Suchtmedizin sowie eine angemessene Honorierung voraus. Neben der
regelmäßigen ambulanten Betreuung
der leichter Abhängigen und weniger Geschädigten durch Haus- und
Fachärzte hat sich die regelmäßige
Teilnahme an Selbsthilfegruppen bewährt (zum Beispiel Anonyme Alkoholiker, Blaukreuzler, Guttempler und
so weiter).
Anti-Craving-Substanzen in der
ambulanten Rückfallprophylaxe
In den letzten Jahren konnten die therapeutischen Möglichkeiten in der
ambulanten Nachbetreuung mit der
Einführung so genannter Anti-Craving-Substanzen wesentlich erweitert
werden. Sie reduzieren das Verlangen nach Alkohol und verdoppeln
die Abstinenzaussichten annähernd.
Außerdem verblieben in einer großen Doppelblindstudie Patienten mit
Acamprosat signifikant länger in der
ambulanten Behandlung als mit Placebo behandelte Patienten (38). Bisher
wurden Substanzen mit Wirkungen
auf das cholinerge, glutamaterge,
serotonerge und opioiderge System
klinisch geprüft. Auf der Basis dieser Befunde kann eine Therapieempfehlung für den Glutamatmodulator
Acamprosat gegeben werden. Naltrexon, ein Opiatantagonist, ist eine
viel versprechende Alternative, die in
Deutschland bisher aber nur in anderer Indikation zugelassen ist (21). Weitere Substanzen befinden sich derzeit
in der klinischen Prüfung.
Manuskript eingereicht: 5. 11. 2001, revidierte Fassung
angenommen: 16. 11. 2001
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 632–644 [Heft 10]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Karl F. Mann
Lehrstuhl für Suchtforschung Universität Heidelberg
Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J 5
68159 Mannheim
E-Mail: [email protected]
In der Serie Alkoholismus sind bisher erschienen:
Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]
Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]
Alkoholassoziierte Organschäden
Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und
Geburtshilfe/Neonatologie
Prof. Dr. med. Manfred V. Singer,
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]
Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Karl Mann
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]
Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
Frühdiagnostik und Frühintervention in der Praxis
Prof. Dr. phil. Ulrich John
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2438–2442 [Heft 38]
Beziehung von Alkoholismus, Drogen
und Tabakkonsum
Priv.-Doz. Dr. med. Anil Batra
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2590–2593 [Heft 40]
Psychische und soziale Folgen chronischen
Alkoholismus
Prof. Dr. med. Michael Soyka
Dtsch Arztebl 2001; 98: A 2732–2736 [Heft 42]
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 10½ 8. März 2002
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