Fachvortrag – Dipl.-Psych. Dietmar Huland Urteil: „Schuldig“! Die

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Fachvortrag – Dipl.-Psych. Dietmar Huland
Urteil: „Schuldig“!
Die Rolle von Müttern und Vätern bei Suchtpatienten
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich mich für Ihr Kommen und Ihr Interesse an unserer Fachtagung und
damit auch unserer Klinik bedanken. Bei dem heute überall bestehenden Arbeitsdruck ist es
nicht selbstverständlich, dass Sie sich freigeschaufelt haben, um die Gelegenheit zu einem
Fortbildungstag zu nutzen. Seien Sie also herzlich willkommen. Wir freuen uns auf die
Begegnung und lebendige Diskussionen mit Ihnen.
Ich bin Dietmar Huland, Psychologischer Psychotherapeut; und seit gut einem Jahr als
Therapeutischer Leiter in der Fachklinik Furth tätig. Ich freue mich, mich Ihnen mit dem
heutigen ersten Fachvortrag präsentieren zu können und möchte die Gelegenheit nutzen,
mich mit drei inhaltlichen Statements, die mir in der Suchttherapie wichtig geworden sind,
vorzustellen.
Bei der Umsetzung meines Vorhabens habe ich – nachdem ich die drei Sätze
aufgeschrieben hatte – zunächst selbst gedacht, dass dies für Sie doch sicherlich ganz banal
und selbstverständlich klingen wird. Ich will dennoch dazu stehen, um damit meine
therapeutische Identität ein wenig zu beschreiben.
Gleichzeitig bin ich mir im Klaren, dass ich selbst auch noch eine Vielzahl anderer Sätze
hätte wählen können und ich bin überzeugt, wenn ich Sie gleich herausfordere mal im Stillen
mit einem Satz ihre eigene Therapeutische Identität zu umschreiben, dann werden wir
feststellen können, welch vielfältige therapeutische Kompetenz hier im Raume heute
vertreten ist.
Lassen Sie sich also einladen, in einer Minute der Stille, für sich ein Wort oder einen Satz zu
formulieren, der stellvertretend für Ihre therapeutische Identität steht. Was ist Ihnen in der
Arbeit mit den suchtkranken Menschen wichtig? Was muss geschehen, damit sie selbst mit
Ihrer therapeutischen Arbeit zufrieden sind?
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Was mich ausmacht, lautet wie folgt: (Folie 2)
1. Sucht ist eine
Beziehungskrankheit
2. Es kommt auf die Verarbeitung an (Folie 3)
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3. Für Gefühle Worte finden (Folie 4)
Sicherlich haben diese drei Statements dann doch auch etwas mit dem Thema der heutigen
Fachtagung zu tun.
In diesem ersten Fachvortrag soll ja der Fokus auf die frühkindliche Entwicklung gelegt und
aus eher tiefenpsychologischer Perspektive gefragt werden, wie sich frühkindliche
Erfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf die Entwicklung von
Persönlichkeitsstörungen auswirken.
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In meinen ersten Berufsjahren habe ich noch miterlebt, wie die Entstehung von
Suchterkrankungen auf belastendes oder unzureichendes elterliches Verhalten
zurückgeführt wurde und an die Suchttherapeuten die Erwartung gestellt wurde durch eine
sogenannte „positive Beelterung“ diese Erfahrungen zu revidieren.
Bevor ich mich nun mit dem im Vortragsthema formulierten Urteil „Schuldig“
auseinandersetze, möchte ich Ihnen noch ein paar Gedanken der psychoanalytischen
Suchttheorie wieder ins Gedächtnis rufen. Ich stütze mich dabei im Wesentlichen auf die
Darstellungen von Klaus Bilitza, der bis heute als Grundlagenliteratur in der Ausbildung zum
psychoanalytischen Sozialtherapeuten Sucht gelehrt wird.
Klaus Bilitza hat in seinem Buch Psychodynamik der Sucht; 2008, S.15 die Entwicklung der
Suchterkrankung quasi in einer Formel dargestellt: (Folie 5)
Die Darstellung in dieser Formel drückt eine eher deterministische Störungstheorie aus, nach
der scheinbar zwangsläufig eine Suchtentstehung vorherzusagen ist. Hier stehen allerdings
die Psychoanalytiker nicht alleine da, zumindest in dem Punkt 5 in dem das Augenmerk auf
die Wirkung des Suchtmittels gelegt wird. Die meisten Suchttherapeuten stimmen darin
überein, dass der Beginn der Abhängigkeit dort zu suchen ist, wo das Suchtmittel um der
Wirkung willen konsumiert wird.
Johannes Lindenmeyer z. B. beschreibt in seinem verhaltenstherapeutischen
Grundlagenwerk „Lieber schlau als blau“ die Schritte einer Abhängigkeitsentwicklung mit
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dem Beispiel einer Eisenbahn ganz ähnlich. Da wo ein Mensch in einer als belastend
erlebten Situation mit dem Konsum von Alkohol in den Tunnel der Erleichterung abbiegt,
entsteht durch fortlaufende Gewöhnung eine Abhängigkeit.
Die psychoanalytische Theorie mit ihrem Fokus auf die frühkindliche Entwicklung eines
Menschen stellt darüber hinaus die steile These auf, dass die Suchtentwicklung nicht mit
dem ersten Konsum beginnt, sondern schon viel früher durch belastende Lebenserfahrungen
angebahnt wird. In der frühen Kindheit entwickelt ein Mensch belastende Gefühle und
Konfliktthemen die dann zum Einfallstor für das Suchtmittel werden können, wenn die
erleichternde Wirkung des Suchtmittels mit diesen Gefühlen verbunden wird.
In einem interessanten Artikel zum Thema: „Ein psychoanalytisches Modell zur männlichen
Suchtentwicklung …“ legt Bilitza in einem Modell dar, wie aus seiner Sicht sich die männliche
Suchtpathogenese aus einem Zusammenhang von struktureller Störung und
Konfliktpathologie entwickeln kann. Dabei nimmt er als Ausgangspunkt einen meist
fehlenden, oder schwachen bzw. wenig geachteten oder auch selbst abhängigen Vater an,
der seine Aufgabe als triangulierendes Objekt in der frühen Kindheitsentwicklung oder auch
später als Identifizierungsobjekt in der ödipalen Triangulierung nicht ausreichend wahrnimmt.
Lassen sie uns kurz die dazu entwickelte Modellskizze (Folie 6) anschauen.
Nun mag nicht jeder von Ihnen einen Zugang zu diesem analytischen Ansatz finden und
sicherlich bergen solche Modelle immer die Gefahr der Vereinfachung und eines eher
deterministischen Denkens, aber ich bin überzeugt, dass jeder Suchtpraktiker mit mir die
Erfahrung teilt, dass fehlende oder schwache Väter auffällig häufig in den Suchtanamnesen
unserer Patienten zu finden sind. Ich lese so wöchentlich an die 10 Biographien von
Suchtpatienten und würde sagen in 6 bis 7 Anamnesen taucht das Vaterthema auf, teilweise
natürlich auch in der Weise, dass ein dominanter, aggressiver Vater die kindliche
Entwicklung des Selbstwertes und der eigenen Identität negativ beeinflusst hat. Auch wenn
ich nicht behaupten möchte, dass ein Vater, der seiner Vorbildfunktion und seiner Rolle als
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Wegweiser in das Leben zu fungieren nicht gerecht wurde, zwangsläufig zu einer
Suchterkrankung führen muss, so möchte ich diese Auffälligkeit doch als belastenden
Faktor, der zur Suchterkrankung führen kann, benennen.
Ich möchte aber noch auf einen anderen wichtigen Aspekt hinweisen. Nach dem
psychoanalytischen Suchtverständnis ist die Sucht immer nur das Symptom. Worum es in
der Behandlung eigentlich geht ist der Mensch mit seinen eingeschränkten Ich-Funktionen
und gegebenenfalls strukturellen Störungen. Hier wird seit einigen Jahren zudem vermehrt
darauf geschaut, ob durch Traumata die Lebensfähigkeit des Menschen und seine
Konfliktlösungsfähigkeit eingeschränkt wurde. Bilitza; 2009; S14 fasst das in dem Satz
zusammen:
„Behandelt wird der suchtkranke ganze Mensch und nicht lediglich seine Krankheit.“
In seinem Buch Psychodynamik der Sucht stellt er diese Auffassung in der Eisbergmetapher
dar (Bilitza 2008, S.22) (Folie 7)
Mit diesem Bild wird auch verständlich, warum in der tiefenpsychologisch orientierten
Suchttherapie die Auffassung besteht, dass die Suchtentwicklung nicht erst mit dem ersten
Konsum eines Suchtmittels beginnt, sondern dass durch die frühen Lebenserfahrungen und
die daraus resultierenden Fähigkeiten, Ich-Funktionen sowie Selbst- und Objektbeziehungen
zu entfalten bzw. eben auch nur eingeschränkt aufzubauen, bereits die Voraussetzungen
geschaffen werden, später eine Abhängigkeit zu entwickeln. Häufig lässt sich nachweisen,
dass die sogenannte auslösende Situation, in der ein Mensch zum ersten Mal die positive
Wirkung des Suchtmittels bewusst wahrnimmt, mit Gefühlszuständen verbunden ist, die
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dieser Mensch schon aus belastenden Beziehungserfahrungen seiner frühkindlichen
Entwicklung kennt.
Bilitza selbst fasst die psychoanalytische Krankheitslehre wie folgt zusammen: „Sucht
entsteht nicht plötzlich vor dem Hintergrund einer ansonsten unauffälligen seelischen
Entwicklung, sondern als Ergebnis einer prämorbiden seelischen Krankengeschichte.“ Bilitza
2009, S.19
oder wie Rost (1992) formuliert:
„In der Sicht der Psychoanalyse ist das Symptom Sucht Ausdruck, Lösungs- und
Bewältigungsversuch einer tief in der Persönlichkeit und ihrer individuellen Entwicklung
gelegenen und oft verborgenen Grundstörung.“
Auf die dem Vortragenden vorgegebene Frage nach der Schuld lässt sich damit zunächst
eine vorläufige Antwort denken. In Anlehnung an mein eigenes 1. Statement zur Suchtarbeit
möchte ich nun nach diesem Ausflug in die psychoanalytische Epidemiologie Stellung
nehmen:
Offensichtlich haben die frühkindlichen Erfahrungen, insbesondere mit den primären
Bezugspersonen – und das sind meistens die Eltern – einen prägenden Einfluss auf den
Menschen und seine Fähigkeiten, die Konflikte seines Lebens zu bewältigen. Es hat einen
Einfluss auf die Entwicklung von Störungen und damit auch auf die Suchtentwicklung, wie
ich in dieser Welt willkommen geheißen wurde, ob ich mich auf eine angemessene
Versorgung meiner Grundbedürfnisse verlassen konnte und ob ich die Erfahrung machen
konnte, für jemanden wichtig zu sein und zu jemanden zu gehören.
Nun entspricht es allerdings meiner Lebenserfahrung, dass selten etwas einfach und klar in
dieser Welt ist. Und so ist es mein Bedürfnis, die gerade getroffene Feststellung selbst ein
wenig zu relativieren. Wenn man nur lange genug in der therapeutischen Arbeit tätig ist,
dann kann man nicht darüber hinweg sehen, dass Menschen oft ähnliche Erfahrungen
machen, nicht aber zwangsläufig dieselben Krankheiten und Störungen entwickeln. Eine
psychische Belastung kann zu einer Suchterkrankung, einer psychosomatischen oder
psychiatrischen Erkrankung führen, muss es aber nicht.
Deswegen lautete mein 2. Statement zur Suchtarbeit: „Es kommt auf die Verarbeitung an!“
Für die Frage, ob die Eltern Schuld an der Suchtentwicklung ihrer Kinder haben, müsste ich
also im Sinne von Radio Eriwan antworten: „Im Prinzip ja, aber es kommt darauf an, was das
Kind daraus macht.“
Lassen Sie mich mit einem weiteren kleinen Ausflug in die psychoanalytische Suchttheorie
aufzeigen, welche Theorien im Laufe der Geschichte entstanden sind, mit denen versucht
wurde, die verschieden Verarbeitungsschemata von Menschen zu erklären.
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Betrachten wir zunächst die linke Spalte der Tabelle. Es wird darauf hingewiesen, dass es
drei unterschiedliche Krankheitsmodelle gibt und es wird mit der Spalte ganz rechts mit der
Überschrift der Behandlungsmethoden aufgezeigt, dass entsprechend zu dem
Krankheitsmodell die passende Behandlungsmethode zu wählen ist. Ich muss gestehen, ich
habe in meiner beruflichen Laufbahn ein wenig gebraucht, bis mir klar wurde, dass es nicht
eine gute Therapiemethode gibt, sondern es darauf ankommt, für jeden Patienten die
passende Behandlungsform zu finden.
Während man früher zwischen neurotischer und psychotischer Erkrankung unterschieden
hat und dementsprechend die Verfahrenstechniken gewählt hat, werden in der
tiefenpsychologisch analytisch orientierten Psychotherapie inzwischen eher die Begriffe der
Konfliktpathologie oder der strukturellen Störung / Entwicklungspathologie verwendet. Die
Frage, die dahinter steht und die es diagnostisch zu klären gilt, ist, worauf führe ich die
Entstehung der Störung zurück. War es ein innerpsychischer oder äußerer Konflikt, der zum
Ausbruch der Störung geführt hat, oder liegt der Ursprung der Störung in einer
unzureichenden Ausbildung von Ich-Funktionen, die zur Lebensbewältigung eigentlich
benötigt würden. Vor etwa 20 Jahren wurde damit begonnen, das Augenmerk auch auf
Traumata zu legen. Daraus ist inzwischen die 3. Säule der Krankheitsmodelle geworden. Ist
also klar, dass eine Störung die Folge eines Traumas ist, dann gibt es inzwischen auch dafür
ganz spezielle Behandlungsmethoden.
Da dies heute aber nicht unser Thema ist, möchte ich alle, die sich damit gerne vertiefter
beschäftigen wollen auf das Buch von Gerd Rudolph „Psychodynamische Psychotherpie“
(2014), verweisen in dem Konflikt, Struktur und Trauma als zentrale Ansatzpunkte der
Psychodynamischen Therapie dargelegt werden und aufgezeigt wird, warum diese
unterschiedlichen Störungsauslöser auch unterschiedliche Behandlungsmethoden
benötigen.
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In der hier vorgestellten Tabelle von Bilitza sind die verschiedenen psychoanalytischen
Behandlungsmethoden den Krankheitsmodellen zugeordnet worden. Ich möchte darauf aber
hier nicht näher eingehen. Mein Anliegen war lediglich, aufzuzeigen, dass vor dem Beginn
der Therapie eine Diagnostik stehen sollte, die das auftretende Problem einem
Krankheitsmodell zuordnet, weil nur so die adäquate Behandlungsmethode gefunden
werden kann.
Außerdem möchte ich mit der Vorstellung der Tabelle Ihren Blick auf die drei wesentlichen
Strömungen in der analytischen Theoriebildung legen und diese kurz aufgreifen, ohne auch
hier genau auf die einzelnen Felder der Tabelle einzugehen. Für unser Thema heute sind vor
allem die Ansätze aus der Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie interessant, die
ich anschließend etwas ausführlicher darstellen möchte. (Folie 9)
Mit Freud hat die „Klassische Psychoanalyse“ zunächst einmal mit den Ideen zur
Triebtheorie, also der Frage nach der Lust, der Lehre vom Unbewussten und der
Instanzenlehre – (Es, Ich, Über-Ich) – begonnen. Ein Suchtkranker wurde als ein Mensch mit
einem schwachen Ich verstanden, der seinem Lustprinzip folgt und bei dem auch sein
übergeordnetes Wertesystem kein Korrektiv darstellt. Ein suchtkranker Mensch habe so die
Anforderungen der Realität nicht erfüllen können, was wiederum zu Regression und
Fixierungen in der Libidoentwicklung führe.
Mit dem Aufkommen der sogenannten Ich-Psychologie wurde das Augenmerk auf die IchOrganisation gelegt. Begriffe wie Ich-Funktionen und strukturelle Ich-Störungen wurden
geboren. Das Ich des Süchtigen ist demnach nicht in der Lage, unangenehme Spannungen
und Unlust zu ertragen, die entweder aus seinen inneren Triebspannungen oder aus den
Anforderungen der Außenwelt hervorgehen. Die fehlenden oder nur schwach ausgebildeten
Ich-Funktionen wie z.B. Affektdifferenzierung, Reizschutz, Frustrationstoleranz oder
mangelnde Realitätsprüfung werden unbewusst versucht, durch die Wirkungen des
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Suchtmittels auszugleichen. Förderung der Ich-Funktionen ist demnach der beste Weg,
einem Menschen zu helfen, so dass er das Suchtmittel nicht mehr braucht.
Schon Melanie Klein (Folie 10) lenkte das psychoanalytische Augenmerk auf die frühen
Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen und war davon überzeugt, dass
dadurch nicht nur die frühkindliche Entwicklung, sondern auch die spätere
Persönlichkeitsentwicklung maßgebend geprägt wird. Wie ein Mensch die Welt wahrnimmt
und mit welchen Erwartungen er an sie herantritt wird durch das Erleben der wichtigen
frühen Bezugspersonen geprägt. Es geht also nicht um scheinbar objektive Sachverhalte,
sondern darum, wie ein Kind die Erfahrungen mit seinen frühen Bezugspersonen interpretiert
und letztlich dadurch sein Selbst- und Weltbild entwickelt.
Ein entscheidender Faktor dabei ist das Gefühl, mit dem das junge Kind bzw. auch schon
der Säugling seine frühen Bezugspersonen (Objekte) belegt. Da gerade in den ersten
Lebensmonaten ein Säugling noch nicht über ausreichende Differenzierungsmöglichkeiten
verfügt, gleicht dies eher einem Schwarz-Weiß-Denken und bildet die Grundlage für spätere
Spaltungen zwischen Idealisierungen und Entwertungen, die wir aus der Arbeit mit
Suchtkranken und sogenannten Frühstörungen kennen. Die Unfähigkeit, Menschen in ihrer
vielfältigen Ganzheitlichkeit, ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit wahrnehmen und
aushalten zu können, weist auf ein Reifungsdefizit der suchtkranken Patienten hin. Sie
entwickeln von ihren Mitmenschen oft nur bruchstückhafte Bilder, sogenannte Teilobjekte. Es
gilt ja als ein Kennzeichen für frühe Persönlichkeitsstörungen, dass diese Menschen über
keine stabilen Selbst- und Objektbilder verfügen und daher auch nicht in der Lage sind, die
Folgen des eigenen Verhaltens für sich und andere abzuschätzen. Die Fähigkeit zur
Realitätsüberprüfung ist dadurch eingeschränkt. Gepaart ist dies meist mit einer geringen
Affekttoleranz und überhaupt nur einer sehr begrenzten Fähigkeit zur Affektwahrnehmung
und -differenzierung.
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In den Arbeiten von Daniel Stern und Otto F. Kernberg wird darauf hingewiesen, dass
Menschen quasi ein angeborenes Bedürfnis nach Beziehung und Bindung haben. An Eltern
wird damit die Erwartung gestellt, dieses Grundbedürfnis nach Geborgenheit und
Zugehörigkeit zu stillen, weil sich nur dadurch eine stabile Persönlichkeit entwickeln kann.
Andersherum gesagt: Wenn Eltern nicht in der Lage sind, diese menschlichen
Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen, besteht für das Kind eine erhöhte
Gefährdung, eine frühe Persönlichkeitsstörung zu entwickeln.
Das Suchtmittel und die Beziehung zum Suchtmittel werden nach diesem Verständnis zum
pathologischen Ersatz für nicht Halt gebende und Liebe spendende Bezugspersonen. Burian
(2003) hat dafür den Begriff „die Suche nach dem guten Objekt“ geprägt. Das Suchtmittel ist
die bequeme und in der Regel leicht verfügbare Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse zu
befriedigen. Es ist leichter, das Suchtmittel zu konsumieren, als Befriedigung in Beziehungen
zu erhalten. Das Suchtmittel hilft, die Spannungszustände auszuhalten, die dadurch
entstehen, dass der Suchtkranke diffus doch spürt, dass mit seinen Beziehungen zu den
Mitmenschen etwas nicht stimmt.
Stimmt am Ende nun doch das über dem Vortrag stehende Urteil: „schuldig!“?
Wenn es so immens wichtig ist, ob die frühen Bezugspersonen die existenziellen
Bedürfnisse des noch nicht selbständig lebensfähigen Säuglings befriedigt haben, dann
muss man diese doch schuldig sprechen, wenn ein Kind seine Ich-Funktionen nicht
ausreichend ausbilden konnte und auf einer frühen Entwicklungsstufe regrediert.
Ich bin selbst Vater von 5 Kindern. Als die Kinder auf die Welt kamen, hatte ich schon ein
Diplom in Psychologie in der Tasche. Man sollte also meinen, dass ich hätte wissen müssen,
wie sich ein guter Vater zu verhalten habe, damit sich seine Kinder optimal entwickeln
können. Aus eigener Erfahrung kann ich da aber nur sagen, etwas zu wissen, heißt noch
lange nicht, dass man es auch stets so umsetzen kann. Ich bin stattdessen davon überzeugt,
dass kein Mensch ein Kind erziehen kann, ohne an dem Kind „schuldig“ zu werden.
Zumindest wenn man davon ausgeht, dass Kinder stets einen Anspruch auf „optimale“
Entwicklungsbedingungen haben und die Fülle der Ratschläge aus den
Erziehungsratgebern stets berücksichtigt werden müssen.
Wir können jetzt noch weiter philosophieren: Kann man Eltern schuldig sprechen, wenn sie
gar nicht in der Lage waren, die hochgesteckten Erwartungen an eine optimale Erziehung –
was immer das auch sein mag – zu erfüllen?
Wichtiger als die Antwort auf diese Frage finde ich, dem Gedanken nachzugehen, was es
denn wirklich bringt, wenn ich jemandem die Schuld zuschieben kann. Geht es dem
Suchtkranken besser, wenn er einen Schuldigen für sein Dilemma benennen kann? Im
ersten Moment mag das ja eine Entlastung bedeuten, doch wir wissen doch alle, sich einen
Schuldigen zu suchen, führt in der Regel dazu, sich im eigenen Elend einzurichten. Der
Schuldige wird als Ausrede benutzt, dass man selbst ja nichts dafür kann und leider am
eigenen Elend auch nichts ändern kann.
Sie merken vermutlich, worauf ich hinaus will. Meine nun fast 30-jährige Erfahrung in der
Arbeit mit suchtkranken Menschen hat mich eins gelehrt: Eine gute Suchttherapie muss
immer dazu führen, den Suchtkranken in seiner Selbstverantwortung zu stärken. Es geht
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immer darum, den Suchtkranken darin zu unterstützen, neue Fähigkeiten zu entwickeln,
damit er sich selbst besser verstehen kann und befähigt wird, mit den Konflikten in seiner
Person und in der Bewältigung seines Lebens besser zurecht zu kommen. Deshalb möchte
ich im letzten Teil meines Vortrags noch eine kleine praktische Einheit zum Thema
Affektdifferenzierung weitergeben.
Sie haben dabei längst registriert, dass ich damit zum 3. Statement meiner therapeutischen
Grundhaltung komme, nämlich für „Gefühle Worte finden“.
Menschliches Verhalten wird vielmehr durch Gefühle und Stimmungen bestimmt, als wir uns
meistens eingestehen wollen. Diese Steuerungsprozesse laufen in der Regel unbewusst und
sehr schnell ab. Ich denke, hier wiederholt sich, was sich entwicklungspsychologisch
belegen lässt: das Fühlen kommt vor dem Denken. In dem ich einem Menschen helfe, seine
Gefühle besser wahrzunehmen, befähige ich ihn, vom unbewussten Reagieren zum
verantwortlichen Handeln wechseln zu können.
Lassen Sie mich anhand einiger Gedanken von Wolfgang Wöller (2006) aufzeigen, was mit
Affektdifferenzierung gemeint ist. (Folie 11)
Ein Therapeut sollte also in seinem Arbeitskoffer, sprich seinem Gehirn, existentielle
Gefühlszustände gespeichert haben, die er aus seiner Erfahrung in der Arbeit mit psychisch
belasteten Menschen kennt, und die er dem jeweils Betroffenen als Beschreibungshilfe für
den selbst erlebten bzw. in der psychotherapeutischen Arbeit phantasierten Gefühlzustand
als Beschreibungshilfe anbietet. Wöller hat aus seiner Arbeit mit traumatisierten Patienten
eine Auflistung solcher Gefühlszustände zusammengestellt, die ich Ihnen hier gerne noch
vorstellen möchte. (Folie 12)
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In der Arbeit mit unseren zumeist frühgestörten Patienten geht es also darum, sie
aufzufordern, ihre Gefühle möglichst konkret und bildhaft zu beschreiben. Gemeinsam mit
dem Patienten versuchen wir, für diese Gefühle ein Thema zu finden, das zu den Gefühlen
passt und das uns die Botschaft vermittelt, welche Lebensaufgaben bisher noch nicht
zufriedenstellend gelöst werden konnten. Letztere gilt es in der Therapie anzugehen. Wir
stehen als Therapeuten vor der Aufgabe, sich gemeinsam mit dem Patienten seinen Ängsten
und Sehnsüchten zu stellen und ihn anzuregen, nach neuen Lösungsschritten für seine
Lebensthemen zu suchen und diese dann auch auszuprobieren.
Was hat nun dieser Ausflug in die Affektdifferenzierung mit unserm Vortragsthema zu tun?
Halten wir zum Schluss noch mal fest:
Nach einem ersten Ausflug in die psychoanalytische Suchttheorie haben wir eine erste
Schlussfolgerung gezogen: Mütter und Väter haben als die wichtigen ersten
Bezugspersonen einen ganz entscheidenden Anteil an der Entstehung einer
Suchterkrankung.
Im zweiten Schritt habe ich diese Aussage dann relativiert durch die Auffassung, dass nicht
in erster Linie die scheinbar objektiven Lebenserfahrungen entscheidend sind, sondern es
viel wichtiger ist, darauf zu achten, wie diese Erfahrungen vom Betroffenen interpretiert und
verarbeitet wurden.
Im abschließenden dritten Teil des Vortrags war es mein Anliegen, aufzuzeigen, dass uns
die Schuldfrage nicht wirklich weiterbringt. Es bleibt unbestritten, dass alle Erfahrungen die
wir in unserem Leben machen, und die Frage, wie wir diese Erfahrungen in unser Selbstund Weltbild einordnen, einen enormen Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung
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haben. Therapeuten sollten meiner Meinung nach ihre Energie nicht bei der Suche nach
Erklärungsmöglichkeiten vergeuden, sondern ihren Fokus auf die Suche nach
Lösungsschritten legen. Gefühle sind für uns dabei der Wegweiser zu den bisher noch nicht
zufriedenstellend gelösten Lebensaufgaben. Sie weisen uns also den Weg zu den
Therapiezielen.
Wenn ich einem Menschen helfen kann, seine Gefühle besser zu verstehen, dann versetze
ich ihn damit auch in die Lage, sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt seinen
Lebensaufgaben zu stellen. Es ist also gar nicht mehr notwendig, Eltern schuldig zu
sprechen, oder langwierig gescheiterte Elternbeziehungen aufzuarbeiten. Vielmehr sollte es
in einer modernen Suchttherapie darum gehen, Menschen darin zu unterstützen, sich ihren
individuellen Entwicklungsaufgaben zu stellen, und sie zu befähigen, selbstverantwortlich
und möglichst zufrieden am Leben teilhaben zu können.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!
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