INHALT 0000Geleitworte 4 6 0100Vorwort 10 0200Einleitung 12 0300Grundlagen 0310 Embryologie, Neurologie 0311Anpassung 0312 Rezeptoren und Leitungsbahnen zum Gehirn 0313Muskelanatomie 0314Muskelphysiologie 0315 Bewegung geht vom Zentrum aus 0316Muskeltraining 0317 Muskelkater – Ursachen und Auslöser 0318 Energiestoffwechsel, Alter und Erkrankungen 0319 Limbisches System, Schmerz und Schmerzgedächtnis 0320 Bewegungssteuerung und Neurologie 0321 Psychosomatik Körpersprache, PTBS, Haltung 16 16 19 23 27 32 38 40 46 48 51 55 58 0400Diagnostik 0410 Mit allen Sinnen für einen effektiven Untersuchungsablauf 0411 Bildgebende Verfahren 64 64 72 0500Therapien 0510 Wie funktioniert die Myoreflextherapie? 76 76 0600Beschwerdebilder 0610 Halswirbelsäule, Schulter und Arme 0611 Becken und Bein 0612 Wirbelsäule – Lumbago und Rückenschmerz 0613Arthrose 0614Osteoporose 0615Fibromyalgie 0616 Neurologische Erkrankungen 78 78 91 110 122 125 127 130 0700Schlussbemerkungen 0710Eigenverantwortung 0720 »Spezialist« ist relativ 134 134 136 0800Literaturhinweise 140 0900 Wörterbuch medizinischer Bezeichnungen 144 1000Index 152 Das Myoreflexkonzept verbindet ganz­ heitlich die Medizin der westlichen und der östlichen Hemisphäre. Das Ziel ist, dass alle Systeme im Gleichgewicht sind. Dieses Gleichgewicht ist extrem dynamisch. Die TCM spricht beispiels­ weise über Energieflüsse, wie den Strom von warmer zu kalter Luft. Dynamik bedeutet in dem Zusam­men­hang »in Bewegung sein«. Sein und Leben sind also Bewegung und ein Ausdruck in der Bewegung. Lebendig sein ist ein ständiger Fluss. Dementsprechend verändern wir uns ständig und passen uns auch körperlich an. Wir verstehen unsere Gesundheit und unseren Körper, indem wir auf seine Signale achten und verbessern unser Sein, indem wir achtsam mit uns umgehen. 5 0300 GRUNDLAGEN 0313 Muskelanatomie Wir unterscheiden drei Arten von Muskelgeweben, die glatte Muskulatur, die quergestreifte Muskulatur und die Herzmuskulatur. Die glatte Muskulatur befindet sich hauptsächlich in Eingeweiden wie dem Darm, dem Uterus und in den Gefäßen. Sie besteht aus lang gestreckten 40 bis 200 µm langen und 4 bis 20 µm dicken Muskelzellen mit einem einzel­ nen Zellkern. Die Myofibrillen sind nicht sichtbar. Die quergestreifte Muskulatur ist das Gewebe der Skelettmuskulatur. Sie besteht aus zu Muskelfasern verschmolzenen Muskelzellen. Ihre Länge kann bis zu 15 cm betragen, ihre Dicke 10 bis 100 µm. In jeder Muskelfaser liegen mehrere Zellkerne, angeordnet in Faserlängsrichtung unter der Zellmem­ bran. Die Anzahl der Mitochondrien im Sarkoplasma hängt von der Aktivi­ tät des Muskels ab. Die Myofibrillen sind gut sichtbar und erzeugen durch ihre regelmäßige Anordnung die Querstreifung. Schmale hellere und breite dunklere Streifen wechseln einander ab. Ein zweites, noradrenerges System erhält über den Locus coeruleus die unterdrückenden Informationen. Er ist ein Alarmsystem des Gehirns. Er wird in körperlichen und seelischen Stresssituationen aktiviert. Die zugehörige Emotion ist Angst, die körperliche Reaktion ist Herzrasen (nach Trepel 2004: 138). Der Locus coeruleus steht ebenfalls unter dem Einfluss des präfrontalen Cortex und des Hypothalamus. Im helleren I-Streifen findet sich ein zarter dunklerer Zwischenstreifen (Z). Der Myofibrillenabschnitt zwischen zwei Z-Streifen wird Sarkomer genannt. Die Sarkomerlänge beträgt in Ruhe 2,2 µm. Im dunkleren A-Streifen befindet sich eine etwas hellere Mittelscheibe (M). Die Farbe des Muskels wird vom Myoglobin bewirkt. Dieses eisenhaltige rötliche Eiweiß hat Ähnlichkeit mit dem roten Blutfarbstoff, dem Hämoglobin, und dient dem Sauerstofftrans­ port in der Muskelzelle. Eine bindegewebige Hülle, das Sarkolemm, umgibt die einzelnen Muskelfa­ sern. Zwischen den Fasern befindet sich das Endomysium, das eigentliche Bindegewebe. Mehrere Muskelfasern werden vom Perimysium, eine straffe Bindegewebshülle, umgeben und bilden die Muskelbündel. Um den Mus­ keln herum befindet sich die Faszie. Sie ist entweder die Hülle des Muskel­ bauch oder der Ansatz und Ursprung weiterer Muskelfasern. Die Herzmuskulatur ist quergestreift. Ihre Sarkomere sind kürzer, und die Kerne liegen zentral in der Herzmuskelfaser. Die Zahl der Mitochondrien ist wesentlich höher als bei den Skelettmuskeln, da das Herz ununterbrochen schlägt und dafür ständig Energie braucht. Je nach Muskelform unterschei­ den wir spindelförmige, einseitig und doppelseitig gefiederte Muskeln. Manche Muskeln sind einbäuchig, andere zwei- und mehrbäuchig wie der Musculus rectus abdominis, der gerade Bauchmuskel. Zu den ein- bis vier­ köpfigen Muskeln gehört der Musculus bizeps. Einer unserer flächigen Mus­ keln ist der Kapuzenmuskel, der Musculus trapezius. Muskeln überschrei­ ten ein oder mehrere Gelenke. Der Musculus tibialis posterior, der hintere Schienbeinmuskel, verläuft über das obere und untere Sprunggelenk sowie über das Gelenk zwischen Talus, das Sprungbein, und Naviculare, das Kahn­ bein, hinweg. 26 27 0300 GRUNDLAGEN 0315 Bewegung geht vom Zentrum aus Das Ziel der Fortbewegung ist, den Körper von einem Ort an den anderen zu bringen. Schlangen und Fische nutzen dazu den Rumpf. Flossenartige Extre­ mitäten helfen auch der Robbe, mit mehr und mehr geradlinigen Rumpfbe­ wegungen vom Fleck zu kommen. Die Flossen geben ihr den Vortrieb und steuern die Bewegungsrichtung. Echsen und vierbeinige Säugetiere besit­ zen differenziertere mehrgliedrige Extremitäten. Die Verlängerung der Körperausstülpungen ermöglicht eine höhere Fortbe­ wegungsgeschwindigkeit. Diese Biomechanik gilt auch für den Menschen. Die Bewegung startet zentral. Die Beine tragen die »in Gang gesetzte« Bewe­ gung des Rumpfs fort. Physikalisch können wir dieses Phänomen mit der Trägheit der Masse und mit Hebelgesetzen begründen, zum Beispiel bei der Bewegungsanalyse und bei den Trainingsmethoden in den folgenden Sportarten. Der startende Sprinter beschleunigt unter Mithilfe von Armen und Beinen. Eine Schulter und das gegenüberliegende Bein werden vorgebracht, der Oberkörper wird gegenüber dem Becken weit verdreht. Arme und Beine ver­ halten sich wie gegenläufige Pendel. Die Beschleunigung geht primär von der autochthonen, der wirbelnahen Muskulatur aus. Unsere Rumpfmuskulatur liegt im Zentrum des Körpers. Eine Verstärkung der Beschleunigung ist durch den Einsatz der Extremitätenmus­ kulatur nur bedingt möglich. Hat der Dauerläufer seine Endgeschwindigkeit erreicht, beschleunigt er kaum noch. Skater setzen das Standbein unter den Rumpf, um zu gleiten. Wird das Stand­ bein zum Schwungbein, schiebt er es von innen nach außen und hinten. Der Skater beschleunigt stärker, wenn er die Bewegung jenseits der Mittellinie startet. Der Turner versetzt seinen Rumpf auf Kreisbahnen. Die Arme dienen als Spei­ chen der Drehkreise. Die Muskelpakete benötigt er für isometrische Bewer­ tungseinlagen und dafür, den Rumpf auf der Kreisbahn zu halten. Ohne die richtige Koordination wird der Aufschwung am Barren nicht gelingen. Ein Fußballer spannt beim Freistoß eine ganze Körperdiagonale an, ähnlich dem Indianerbogen. Die Rumpfmuskulatur liegt im Zentrum dieses Bogens. Die Kraft für den Schuss wird aus dieser Vorspannung und einer schnellen Kontraktionsgeschwindigkeit gewonnen. Die Bewegung eines Judoka gehorcht den gleichen Bewegungsgesetzen. In der Auftaktphase (Kuzushi) stellt der Werfer den eigenen Körper so, dass er sich in der Schwungphase eindrehen kann. Dies ist eine konzentrische beschleunigende Bewegung, der Körper wird also so punktuell wie nur mög­ lich zentriert. Der Judoka bringt sich unter den Schwerpunkt seines Partners. 38 Aktivierte Muskelketten bei einer KID-Übung (KID = Kraft in der Dehnung). In der Wurfphase (Nageru) explodiert die gesammelte Energie und zwingt den Partner in eine Kreis- oder Translationsbewegung. Der Impuls des Angreifenden wird dabei auf den anderen übertragen. Wird eine Extremität bewegt, geht dies also immer mit der Aktivierung einer Muskelkette einher, die mit dem Rumpf unzertrennlich verbunden ist. Das haben wir mit der Schlange gemeinsam. Mehr noch: Eine isolierte Bewegung bei alltäglichen Bewegungen gibt es nicht! Wegen dieser Kopplung gibt es zu jedem Schmerz in einem Abschnitt einer Extremität immer auch Veränderungen im Körperstamm. Tut zum Beispiel der Ellbogen weh, gibt es auch schmerzhafte Verspannungen des Muskulus levator scapulae. Und Beschwerden im Fuß wie bei einer Achillodynie gehen immer auch mit Rückenschmerzen einher. 39 0300 GRUNDLAGEN Eine Patientin berichtete, dass sie jedes Mal, wenn sie sich als Beifahrerin in ein Auto setzt, Kopf- und Nackenschmerzen bekommt. Die Analyse der Vor­ geschichte ergab, dass sie 20 Jahre zuvor als Beifahrerin in einen Autoun­ fall verwickelt war. An diesen konnte sie sich zunächst nicht mehr erinnern. Auch ihre Angst war ihr nicht bewusst, bis ich Druck auf einen angespan­ nten, schmerzhaften Nackenmuskel ausübte. Das limbische System hatte den Unfall samt seiner emotionalen, vegetativen und muskulären Zustände ­ge­speichert. Es reaktivierte diese Spannung in vergleichbaren Situationen der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins – oder eben beim Besteigen eines Fahr­zeugs als Beifahrer. Das Unterbewusstsein greift in die Regulation unserer muskulären Span­ nung ein (vgl. Kapitel Bewegungssteuerung), es steuert sinnvolle Ausweich­ bewegungen, aber auch unangemessene Bewegungsmuster. Ein übermäßig angespannter Muskel erzeugt an seinem Ursprung und an seinem Ansatz eine Anpassungsreaktion, die die Knochenhaut reizt. Damit beginnen die funktionellen orthopädischen Beschwerden und Erkrankungen. Bleiben Muskeln dauerhaft gespannt, so kann es, wie am Beispiel des Mu­­scu­ lus semimembranosus und Musculus semitendinosus zu sehen, zu Meniskus­ schäden und medialer Gonarthrose kommen (vgl. Kapitel Arthrose, Gonar­ throse). Die Funktionsstörung schafft morphologische Veränderungen, denn die Form folgt der Funktion. Regulierende Maßnahmen im funktionellen Sta­ dium beugen der Entstehung von Organschäden vor. Dazu gehören Gym­ nastik, Yoga oder gezieltes, bewusstes Dehnen und Bewegen. Sie verringern Schmerzen und von außen erkennbare Schäden und Folgekosten. weiße Substanz graue Substanz sensorische Nerven motorische Nerven Hirnäute Motoneuron Muskelfasern 0320 Bewegungssteuerung und Neurologie Nervenbahnen führen von den Muskelfasern zum Rückenmark und zurück. Im Rückenmark liegen die motorischen Fasern vorne, die sensorischen hinten. Die Entwürfe für unsere Bewegungen entstehen im Gehirn, ausgeführt wer­ den sie dann über Impulse auf der Ebene des Rückenmarks. Als motorische Einheit werden die große Vorderhornzelle und das Alphaneuron zusam­ mengefasst. Die Vorderhornzelle wird von hemmenden und aktivierenden Fasern des übergeordneten motorischen Systems sowie hemmenden Ren­ shaw-Zellen auf Rückenmarksebene kontrolliert. Die Leitbahnen, die zu den alpha- und gamma-Motoneuronen im Vorder­ horn des Rückenmarks gelangen, stammen aus den motorischen Zentren von Hirnstamm, Klein- und Großhirn. Die wesentliche Schaltstelle mit hem­ menden und aktivierenden Einflüssen ist die Formatio reticularis. Von hier aus wird das Rückenmark beeinflusst und die übergeordnete Motorik im Sinne von Muskelkettensteuerung reguliert. Optische, statische (Gleichgewichtssinn) und propriozeptive (insbesondere vom Atlanto-occipital-Gelenk) Signale spielen eine wesentliche Rolle bei der Orientierung des Kopfes und des Körpers im Raum. Die Augenachse soll immer parallel zur Erdoberfläche, also horizontal stehen. Störungen dieses Systems bewirken Schwindelgefühle bis hin zum Erbrechen. Wer einmal auf einem schaukelnden Schiff unter Deck saß, wird diese irritierte Signalverar­ beitung, die zur Seekrankheit führt, nachvollziehen können. 54 55 0500 THERAPIEN 0510 Wie funktioniert die Myoreflextherapie? Im Vordergrund der Myoreflextherapie steht die Ausübung von Druck auf bestimmte Punkte am Körper. Nach der Anamnese, der klinischen Untersu­ chung und dem visuellen Eindruck weiß der Therapeut, auf welche Punkte am Körper des Patienten er drücken muss. All diese Punkte befinden sich am Übergang der Muskeln in die Sehnen, teilweise auch am Übergang von der Sehne in den Knochen. An diesen Stellen ist die Dichte der Sehnenrezepto­ ren, der Golgi-Organe am größten und die Therapie am effektivsten. Durch den Druck werden auf der Ebene des Rückenmarks Muskeleigenreflexe bis zu deren Ermüdung ausgelöst. Unter Umständen wird der Druck und die Reak­ tion des Körpers zunächst als unangenehm empfunden. Nach der erfolgrei­ chen Lösung der Verspannung fühlen sich die Patienten jedoch befreit und leicht. Auf der Rückenmarksebene werden die Gegenspieler des gedrückten Muskels gehemmt und die Synergisten in der Muskelkette aktiviert. Der Druck stellt zudem eine Spürhilfe dar. Alte Traumata und Verspannungen werden wieder ins Bewusstsein gerufen und reflektiert. Die Selbstwahrnehmung wird geschult. Viele Patienten beginnen von sich aus über Themen zu sprechen, die sie schon lange beschäftigen oder an die sie sich spontan erinnern. Behindernde Bewegungsmuster werden analysiert und neue, passendere Muster eingeübt. Sensomotorische Übungen sind die Grundlage auch dafür, dass die beiden Hirnhälften wieder besser zusammenarbeiten. Die Selbst­ wahrnehmung und die Bewegungssteuerung können durch gezielte Übun­ gen verbessert werden. So nehmen manche Patienten gar nicht wahr, dass zum Beispiel der Rücken krumm und die Hüfte beinahe steif ist. Dass diese Störungen der Funktionen bewusst werden und ihnen dann auch begegnet werden kann, benötigt viel Zeit und Übung. Auf der Gelenkebene werden durch Übungen die Faszien, Sehnen und Gelenkkapseln auf der Beugeseite gedehnt und das Muskelspiel gefördert. Solange der Muskel ein Gelenk in eine Schonhaltung zwingt, verkürzen sich die Sehnen und Kapselanteile. Als Hausaufgaben werden dem Patienten Übungen mitgegeben, die wir mit ihm abstimmen, damit er seinen Heilungsweg Schritt für Schritt beschreiten kann. Ein Hochleistungssportler hat dabei andere Ziele und braucht dazu einen anderen Übungsplan als ein Patient, der noch in den »Auswirkungen des Rastens und Rostens« gefangen ist. Die Grundlagen der Therapie und die Übungen sind für beide jedoch nahezu gleich. Sie unterscheiden sich nur in der Durchführung, in der Dauer, in der Zahl der Wiederholungen und in der Komplexität. Wie wir in der Myoreflextherapie die jeweiligen Symptome und Behandlungen verstehen, wird in diesem Buch in den jeweiligen Kapiteln zu den Beschwerdebildern erläutert. 76 77 0600 BESCHWERDEBILDER Stärkung der schrägen Bauchmuskulatur in der Diagonale. Stärkung der schrägen Bauchmuskulatur – vereinfacht durch Kniestand. Acht Sekunden halten, drei Wiederholungen. Weitere Maßnahmen zur Prophylaxe der Rückenschmerzen sind die aufrechte spielerisch dynamische Körperhaltung, die Stärkung der Bauchmuskulatur und das Schaffen eines funktionstüchtigen Netzes der schrägen Bauchmus­ kulatur. Eine weitere Übung ist der Vierfüßlerstand mit Hyperextension des Beines im Hüftgelenk, wobei insbesondere der Musculus gluteus maximus, die Ischiocruralmuskulatur und der Quadratus lumborum aktiviert werden, um den Musculus iliopsoas durch die Antagonistenhemmung zu dehnen. Stärkung der schrägen Bauchmuskulatur durch seitliches Ablegen der Beine (hier gestreckt). Der Vierfüßlerstand mit Hyperextension des Beines im Hüftgelenk und des gegenseitigen Arms. 116 117