Morgens drei, Mittags zwei, abends drei tabletten …

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rubin | winter 09|10
Problem Multimedikation:
Studie soll Lösungsansätze bringen
Morgens drei, mittags zwei,
abends drei Tabletten …
Zehn oder mehr Tabletten am Tag sind
für viele Ältere keine Seltenheit. Die eine
gegen Knieschmerz durch Arthrose, die
andere gegen Diabetes, noch eine gegen
Bluthochdruck und eine fürs Herz, dazu
vielleicht noch rezeptfreie Nahrungsergänzungsmittel. Das kann nicht gut sein,
meinen Forscher im Verbund PRISCUS (s.
Info S. 52). Sie haben erstmals ermittelt,
wie viele Medikamente Ältere tatsächlich
einnehmen, und eine Liste von Substanzen erarbeitet, die man älteren Menschen
besser nicht oder nur unter Vorbehalt verschreiben sollte.
Die Telefoninterviewer staunten nicht
schlecht, wie lang die Medikamentenlisten
waren, die ihre Gesprächspartner zu Protokoll gaben. Rund 2.500 Patienten über 70,
die fünf Jahre zuvor in die getABI-Studie
(s. Info S. 57) eingeschlossen worden waren, wurden angerufen. Zuvor hatte man
sie schriftlich gebeten, sich alle ihre Medikamente, die sie regelmäßig einnehmen –
ob verordnet oder frei verkäuflich – zurechtzulegen, um die Pharmazentralnummer angeben zu können. Sie gibt Aufschluss über
Wirkstoff, Dosierung und Packungsgröße.
Es zeigte sich: Im Durchschnitt nahm jeder
Befragte sechs verschiedene Medikamente
regelmäßig ein. Bei einigen Patienten waren
es durchaus auch über zehn Medikamente,
je älter der Patient war desto mehr (s. Abb.
2). Blutdruckmedikamente, Lipidsenker und
Diabetesmedikamente gehörten zu den am
häufigsten verordneten Präparaten.
Eine genauere Auswertung dieser Ergebnisse förderte ein besorgniserregendes
Bild zutage: „Die Patienten werden mit
wilden Mischungen von Wirkstoffen behandelt, die sich teils in ihrer Wirkung
gegenseitig aufheben und teils Wechselwirkungen hervorrufen können, über
die man kaum Kenntnisse hat“, sagt Dr.
Ulrich Thiem, Altersmediziner am RUBKlinikum Marienhospital Herne und
PRISCUS-Mitarbeiter.
„Es gibt ein Dilemma, vor dem Ärzte
bei der Behandlung älterer Patienten oft
stehen: Bei Patienten, die mehrere chronische Erkrankungen gleichzeitig haben –
wir sprechen von Multimorbidität – kann
man nicht jede einzelne Erkrankung ohne
Rücksicht auf die anderen behandeln“,
umreißt er das Grundproblem. Selbst ein
Arzt, der sich strikt an die Leitlinien für
jede Einzelerkrankung hält, verabreicht seinem Patienten dann einen ungünstigen
Medikamentenmix. Da wirken Schmerzmittel, z.B. gegen Arthrose verordnet, negativ auf die Nierenfunktion, das wiederum
steigert den Blutdruck, der womöglich ohnehin schon erhöht war und anderweitig
behandelt wird, und so weiter. Die tatsächliche Behandlung, das hat die Telefonbefragung gezeigt, ist allerdings meistens nicht
einmal an den Leitlinien (s. Info) für einzelne Erkrankungen ausgerichtet. „Es werden zwar weniger Medikamente verordnet
als in den verschiedenen Leitlinien empfohlen“, so Thiem, „nur leider nach keinem sinnvollen Muster.“
Was aber wäre ein sinnvolles Muster?
Die PRISCUS-Forscher gehen dieses Problem von verschiedenen Seiten an. Da
man keine Chance hat, alle Erkrankungen
eines multimorbiden Patienten gleichermaßen zu behandeln, muss man Prioritäten setzen. Worauf der Schwerpunkt der
Behandlung liegen soll, kann man nur entscheiden, wenn man weiß, was dem Patienten wichtig ist. Genau das ermitteln die
Forscher. „Wir führen zurzeit im Rahmen
der Siebenjahres-Befragung der getABIGruppe eine groß angelegte telefonische
Umfrage durch, in der wir herausbekommen wollen, was die Leute überhaupt für
chronische Erkrankungen haben“, sagt Dr.
Ulrich Thiem. Noch liegen die Ergebnisse
nicht vor, es zeichnen sich jedoch Trends
ab. „Es scheint zum Beispiel einen ‚Herztyp‘ zu geben, der durch langjährigen
Diabetes, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen Gefäßprobleme hat“,
so Thiem. Die Forscher erwarten, auch
andere typische Erkrankungskombinationen zu finden, allein schon deswegen,
weil sich viele chronische Erkrankungen
bei Älteren statistisch häufen. So wird es
wahrscheinlich viele Patienten geben, die
zugleich Arthrose mit Gelenkschmerzen
haben und Diabetes. Oder Patienten mit
Herzschwäche und Arthrose.
„Wir fragen darüber hinaus, was diese Patienten sich vorrangig von einer Behandlung wünschen“, erklärt Dr. Thiem.
„Ein 80-jähriger Patient mit Bluthochdruck und Arthrose wünscht sich erfahrungsgemäß zuallererst, seinen Alltag weiterhin alleine bewältigen zu können. Dafür braucht er Schmerzmittel. Ob er Bluthochdruck hat, der auf mehrere Jahre hinaus sein Schlaganfallrisiko erhöht, ist
ihm nicht so wichtig. Bei einem Patienten,
der zugleich Herzschwäche hat, die Luftnot verursacht und ihm mitunter Todesangst macht, und Arthrose, die einen chronischen Schmerz ohne akutes Geschehen
verursacht, ist vielleicht eher die Behandlung der Herzprobleme vordringlich.“ Generell stellt er fest, dass ältere Leute vor
allem Beschwerden behandelt wissen wollen, die sie im Alltag einschränken. Was in
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Abb. 1: Zehn oder mehr Tabletten am Tag sind bei älteren Menschen keine Seltenheit.
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rubin | winter 09|10
info
Leitlinien
Für verschiedene Erkrankungen gibt es medizinische Leitlinien, die das aktuelle Expertenwissen dazu öffentlich zugänglich machen. Die Leitlinien sind nicht bindend, sondern Handlungsempfehlungen, die es auch Medizinern anderer Fachrichtungen und
Hausärzten ermöglichen, auf wissenschaftlich fundierte Informationen zu speziellen
Themen zurückzugreifen.
Idealerweise bilden medizinische Leitlinien einen nach einem definierten, transparenten Vorgehen erzielten Konsens interdisziplinärer Experten unter Berücksichtigung
der verfügbaren wissenschaftlichen Daten („Evidenz“) ab.
Entwickelt werden die Leitlinien in Deutschland vor allem von den Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften, der Bundesärztekammer und Kassenärztlichen Vereinigungen oder von Berufsverbänden.
fünf oder zehn Jahren ist, ist ihnen weniger wichtig. „Da sagen viele: Wer weiß, ob
ich das überhaupt noch erlebe.“
Sollte sich dieser Trend anhand der
Ergebnisse der Befragung, die Anfang
2010 erwartet werden, bestätigen, würde das nach Thiems Einschätzung die
Medizin umkrempeln. „Heute geht es
immer um langfristige Risiken und deren Prävention, und bei 30- oder 40-Jährigen ist das auch gut so. Aber ich kann
einen 80-Jährigen nicht genauso behandeln. Da geht es um gegenwärtige Probleme. Die Spätfolgen etwa eines nicht
so streng eingestellten Blutzuckers wird
dieser Patient nicht mehr erleben. Das
heißt, dass man mit der Behandlung
ganz andere Ziele verfolgt.“
Darüber hinaus haben die PRISCUSForscher eine Idee aus Amerika aufgegriffen. Der Altersmediziner Mark H. Beers
hat 1991 eine Liste mit 60 Medikamenten
veröffentlicht, die über 65-Jährige möglichst nicht verordnet bekommen sollen.
Hintergrund ist, dass diese Wirkstoffe bei
Älteren vermehrt zu unerwünschten Nebenwirkungen führen können, was u.a. mit
verminderter körperlicher Aktivität, verän-
derter Nieren- und Leberfunktion im Alter
zusammenhängt. Die PRISCUS-Forscher
glichen zunächst die inzwischen mehrfach aktualisierte US-Liste mit der Medikamentenverordnung an ältere Menschen
in Deutschland ab, die sie in der telefonischen Befragung erhoben hatten. „Leider hat sich dabei herausgestellt, dass die
US-Liste für den deutschen Markt nicht
taugt“, sagt Ulrich Thiem. Einige in der
Liste aufgeführte Wirkstoffe sind hierzulande gar nicht zugelassen. Hinzu kommt
eine andere „Schule“, die Mediziner in
Deutschland ganz andere Medikamente
verordnen lässt als in den USA, was dem
Gesundheitswesen und den herrschenden
Lehrmeinungen geschuldet ist. Über die
Hälfte der Medikamente auf der Liste wurde keinem der befragten Patienten verordnet. Fazit: Es wird eine eigene Liste für den
deutschen Markt gebraucht.
Diese Liste entwickelten im PRISCUSVerbund Forscher um Prof. Dr. Petra Thürmann (Universität Witten-Herdecke). Sie
stellten eine Auswahl von 131 häufig verordneten Wirkstoffen zusammen – nur was
mindestens eine Million Mal pro Jahr verordnet wurde, wurde berücksichtigt – und
sammelten alles, was es an wissenschaftlichen Veröffentlichungen dazu gab. Eine
Kommission mit 38 Experten aus verschiedensten Disziplinen war aufgerufen, die
Wirkstoffe webbasiert auf Basis der Literatur und ihrer eigenen Erfahrung zu kom-
1
Prozent von 2120 Interview Patienten
12,5 %
0,9
Mittel: 5,7 Medikamente
Median: 5
10,0 %
Alter
0,8
70-75
75-80
≥ 80
p < 0.001
0,7
0,0
7,5 %
0,5
0,4
5,0 %
0,3
0,2
2,5 %
0,1
0
0,0 %
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1112 13 14 15 16 1718 19 20 2126
0
1
2
3
Anzahl Arzneimittel anhand PZN
Abb. 2: Sechs Medikamente nehmen ältere Menschen durchschnittlich regelmäßig ein – nicht selten sind es
wesentlich mehr. Der Spitzenreiter in der telefonischen Befragung nahm 26 Präparate. Je älter ein Patient ist,
desto mehr Medikamente nimmt er regelmäßig ein.
4
5
6
7
8
9
10
Anzahl Medikamente anhand PZN
11
12
13
14
59
mentieren und zu bewerten. Sie vergaben
Noten von 1 bis 5, wobei 5 für unbedenklich stand und 1 bedeutete: nicht empfehlenswert für Ältere. Alle 61 „Einser“ kamen
dann auf die Liste von Medikamenten, auf
die man bei Älteren möglichst generell verzichten sollte, darunter viele Schmerzmittel, zum Beispiel Indometacin. „Es gibt
aber fast immer Alternativen“, weiß Prof.
Thürmann zu beruhigen, „auch zum Beispiel bei Antibiotika. Diese Ausweichmöglichkeiten haben wir in der Liste auch immer angegeben.“ Die 17 „Fünfer“ wurden
als unbedenklich ebenfalls in eine eigene Liste aufgenommen. Alles, was in der
Grauzone dazwischen lag, 58 Wirkstoffe,
ging in die zweite Runde.
„Bei einigen Wirkstoffen entschieden sich
die Experten in der zweiten Runde dann
doch für eine der beiden Möglichkeiten
„unbedenklich“ oder „nicht empfehlenswert“, so dass insgesamt 82 Arzneistoffe
als potenziell inadäquat für ältere Menschen eingestuft wurden. „Andere Wirkstoffe versahen sie mit Kommentaren und
Hinweisen, zum Beispiel zu möglichen Neben- oder Wechselwirkungen“, erklärt Prof.
Thürmann. So gibt es eine ganze Reihe von
Mitteln gegen Blasenschwäche oder Darmprobleme, die bei Älteren zu Gedächtnisschwierigkeiten führen – da ist eine Alternative angebracht. Ebenso bei bestimmten
Kreislaufmittel, die die Sturzgefahr erhöhen, oder diversen Psychopharmaka wie
47; 30 %
Olanzapin, die in hohem Alter zu vermehrter Schlaganfallhäufigkeit führen.
Im Herbst werden die Listen auf verschiedenen Kongressen öffentlich vorgestellt; eine Publikation ist ebenfalls in Planung. Interessant könnten die Listen zum
Beispiel für Krankenkassen sein, die die
Verordnungspraxis in bestimmten Bezirken oder Praxen damit prüfen und das
Verordnungsverhalten vergleichen können. Denn die Nebenwirkungen mancher
Medikamente sind erwiesenermaßen auch
Ursache für viele Arzt- oder Krankenhausbesuche, die sich durch eine andere Wahl
verhindern ließen.
In die Hausarztpraxen sollen die Listen
nicht in Gänze: „Wir werden im nächsten
Schritt noch unsere Listen abgleichen mit
den Ergebnissen der Befragung der getABI-Gruppe, die zurzeit läuft“, erläutert
Prof. Thürmann. Im Rahmen der 7-JahresBefragung werden auch mögliche Arzneimittelnebenwirkungen abgefragt. Nur in
den Fällen, in denen sich die Verordnung
von Medikamenten der Liste mit den entsprechenden Nebenwirkungen in Verbindung bringen lässt, wollen die Forscher
das Medikament auf die Liste setzen, die
sie Hausärzten an die Hand geben wollen.
„Wir peilen eine Top-Ten-Liste der Medikamente an, bei denen bei Älteren Vorsicht
geboten ist, denn wir wollen den einzelnen Arzt im Praxisalltag auch nicht überfordern“, so Prof. Thürmann.
md
82; 53 %
82; 53 %
PIM
Nicht-PIM
? PIM ?
PIM = potentiell inadäquate Medikamente
Abb. 3: Nur 17 Prozent der 131 von den Experten bewerteten Wirkstoffe wurden als unbedenklich für ältere
Menschen eingestuft. Von über der Hälfte (53 Prozent) rieten die Experten grundsätzlich ab, 30 Prozent erfordern ihrer Ansicht nach eine gründliche Abwägung der Risiken und Nutzen im Einzelfall.
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