Küstenmentalität und Klimawandel

Werbung
Ludwig Fischer, Karsten Reise (Hrsg.)
Küstenmentalität
und Klimawandel
Küstenwandel als kulturelle und
soziale Herausforderung
Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden,
reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag.
Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein
Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 oekom, München
oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH
Waltherstraße 29, 80337 München
Satz + Layout: Sonja Ladebusch, Osnabrück
Umschlaggestaltung: oekom verlag
Umschlagabbildung: Beltringharder Koog, © Karsten Reise
Druck: DIP – Digital-Druck Witten
Der Innenteil dieses Buches wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-86581-221-6
e-ISBN 978-3-86581337-4
Ludwig Fischer, Karsten Reise (Hrsg.)
Küstenmentalität
und Klimawandel
Küstenwandel als kulturelle
und soziale Herausforderung
Inhalt
7
11
Vorwort zum Buch
Einleitung: Küstenmentalität und Klimawandel
Ludwig Fischer und Karsten Reise
29
31
Vorwort zum Mentalitätswandel
Küste – Von der Realität eines mentalen Konzepts
Ludwig Fischer
55
Vom Umgang mit dem Meer
Sturmfluten und Deichbau als mentale Herausforderung
Manfred Jakubowski-Tiessen
65
Die Friesen und das Meer
Bernd Rieken
77
Maritime Gedächtniskultur an der Nordseeküste: Adaptionen der Katastrophe
Norbert Fischer
97
Zur mythischen Funktion deklarierter Natur-Landschaften
Das Beispiel des ›Weltnaturerbes‹ Wattenmeer
Jürgen Hasse
115
117
Vorwort zum Klimawandel
Meeresspiegelanstieg – Prognosen und Szenarien
Rüdiger Gerdes
131
Nordseesturmfluten im Klimawandel
Ralf Weisse und Insa Meinke
141
143
Vorwort zum Küstenwandel
Geschichtlicher Wandel im dänischen Wattenmeer
Mette Guldberg
153
Flutkatastrophen und Küstenschutz in der niederländischen Marschlandschaft:
Zwischen Wirtschaftlichkeit und Sicherheit
Meindert Schroor
167
Das Wattenmeer: Wirklichkeiten und Visionen
Karsten Reise
181
Heimat, Umwelt und Gefahren – Wahrnehmungen der Bevölkerung an der
deutschen Nordseeküste
Beate M.W. Ratter und Cilli Sobiech
197
Ausblick
199
Unbequeme Überlegungen: Zur Geschichte der Küstenmentalitäten und den
Herausforderungen durch den Klimawandel
Karsten Reise und Ludwig Fischer
219
Abschlusserklärung
bearbeitet von Ludwig Fischer, Michael Roth, Ralf Weisse
223
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
227
Danksagung
Vorwort zum Buch
An der Wattenmeerküste hat sich, so könnte man sagen, in den letzten zwei, drei
Jahrzehnten vieles zum Besseren entwickelt. Flüsse tragen wieder weniger Schadstoffe
ein. Der Seehundsbestand erholte sich, und die Tiere sind auch nicht mehr so scheu.
Nutzungsregelungen, die durch die Etablierung der Nationalparks erreicht wurden,
haben manche Belastung der Ökosysteme vermindert. Das Gebiet liefert mit seinen
vielen Windkraftanlagen reichlich klimaneutrale Energie.
Aber der bereits in Gang befindliche Klimawandel wird die Wattenmeerküste vor
neue Herausforderungen stellen. Die globale Erwärmung trifft am stärksten die Küsten.
Die durch CO2-Emissionen und Waldvernichtung aufgeheizte Atmosphäre und das damit verbundene Abschmelzen von immer mehr Eis in den Gebirgen und in den Polarregionen lassen das Meer wärmer werden und ansteigen. Wo die Küsten flach sind und
ihre Substanz leicht vom Wasser weggespült wird, kann das die Bewohner schnell in eine
bedrohliche Lage bringen.
Landverluste und Überflutungen sind aber nichts Neues für die Menschen an der
Nordseeküste. Wie haben die Küstenbewohner sie bisher wahrgenommen? Wie haben
sie sich geschützt, gewehrt und angepasst? Welche mentalen Haltungen sind daraus
hervorgegangen und wie wird auf die neue Herausforderung reagiert?
Eine mächtige Deichlinie teilt die Nordseeküste in eine intensiv genutzte Kulturlandschaft auf der einen und eine nur relativ wenig veränderte Naturlandschaft auf der
anderen Seite. Die wird von Wind, Wellen und Gezeiten geformt. Dort flügeln spektakuläre Vogelschwärme durch die Lüfte, hält Dünengras den Sand und werfen Krabbenkutter ihre Netze aus. In dieser Watt- und Insellandschaft werden Naturvorgänge in den
Zonen der Nationalparks geschützt, und große Teile wurden 2009 zum ›Weltnaturerbe‹
erklärt. Ob Naturerbe oder Kulturerbe – beides ist dem steigenden Meeresspiegel ausgesetzt.
Wie leben die Menschen mit dieser Zweiteilung ihrer Küste in eine Kulturlandschaft, die genutzt und bewirtschaftet wird, und in eine Naturlandschaft, in der wir vor
allem Besucher und Beobachter sind? Verschärft der Klimawandel mit schneller steigendem Meeresspiegel diese Trennung, oder könnte dadurch die Grenze mehr und mehr
verschwimmen? Erstarrt die Küste in einer extrem befestigten Deichlinie, oder lassen
8
Vorwort zum Buch
sich Wege zu einer flexibleren Anpassung an den Meeresspiegelanstieg finden? Welche
Haltungen, welche Konzepte und Visionen können entstehen?
In List auf Sylt, in der Wattenmeerstation des Alfred-Wegener-Instituts für Polarund Meeresforschung und in dem assoziierten Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt
tagten im Februar 2010 der Küste verbundene Kultur- und Naturwissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler zusammen mit Küstenbewohnern, um über den Wandel an der
Küste als kulturelle und soziale Herausforderung zu debattieren. Den Anlass dazu gaben
Kontroversen um angemessene Strategien im Umgang mit dem zu erwartenden Anstieg
des Meeresspiegels.
Wissenschaftliche Debatten über den Klimawandel finden bislang nahezu ausschließlich in den naturwissenschaftlichen Disziplinen statt. Die Indikatoren und
Auswirkungen des sich beschleunigenden Klimawandels zeigen sich aber nicht nur im
physikalischen oder biologischen Erdsystem. Für die menschlichen Gesellschaften sind
ebenso gravierende Folgen zu erwarten. Das gilt ganz besonders für die Menschen an
den Meeresküsten, deren Lebens- und Wirtschaftsraum überproportional starken Veränderungen ausgesetzt sein wird.
Aber die gesellschaftsanalytischen Debatten über die möglichen sozialen und kulturellen Folgen des zu erwartenden Klimawandels stehen noch aus und müssen in den
Sozial- und Kulturwissenschaften stattfinden, will man das brisante Feld nicht den ‚fachfremden’ Kontroversen in der politischen Arena überlassen. Dass eine solche intensive
Befassung mit dem Klimawandel als einer in eminentem Maß sozialen und kulturellen
Herausforderung in den einschlägigen Disziplinen immer noch nicht in größerem Umfang eingesetzt hat, ist mehrfach beklagt worden.
Auf komplexe Herausforderungen kann man nicht mit isolierten Ansätzen in einzelnen Fachwissenschaften antworten. Die Tagung war deshalb programmatisch als ein
wirklich fächerübergreifender Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern von
Natur-, Technik-, Sozial- und Kulturwissenschaften geplant worden. Der interdisziplinäre Dialog erwies sich, wie nicht anders zu erwarten, als stellenweise schwierig, aber
auch für die Beteiligten als spannend, lehrreich und anregend.
Die internationale Zusammensetzung des Teilnehmerkreises ergab sich zwingend
schon aus dem Umstand, dass die Flachwasserküsten der Nordsee, genauer: die Wattenmeerregion, im Hoheitsgebiet der drei Staaten Niederlande, Deutschland und Dänemark
liegen. Nationalkulturelle Unterschiede in der Beschäftigung mit dem Wattenmeer, ausgehend von regionalen Besonderheiten schon in der Beschaffenheit des Gebiets und vor
allem in der geschichtlichen Entwicklung, traten deutlich zu Tage und führten zum Teil
zu überraschenden wechselseitigen Einsichten.
Naturwissenschaftliche Prognosen waren die Grundlage für Einschätzungen des Klimawandels und seiner Auswirkungen, aber veränderliche Wahrnehmungen des Klimaund Küstenwandels, Handlungsoptionen und Mentalitätslagen standen im Mittelpunkt
der Tagung. Anders als in früheren Jahrhunderten können wir heute wahrscheinliche
Entwicklungen und auch Katastrophen zu einem guten Teil voraussehen. Dass wir
Vorwort zum Buch
9
dafür Szenarien modellieren, über Vermeidungs- und Anpassungsstrategien debattieren, Vorsorge zu treffen versuchen, unterscheidet unsere Lage von der unserer Eltern
und Ureltern. Die haben Katastrophen zwar immer gefürchtet, aber mussten sie mehr
oder weniger abwarten. So jedenfalls kommt es uns heute vor. Deswegen und nicht nur
wegen der vom Menschen verursachten Erwärmung des Erdsystems stehen wir heute
vor einer historischen Zäsur. Die Tagung war als ein Beitrag gedacht, im Bewusstsein
von dieser Zäsur sich den mit ihr gegebenen Herausforderungen zu stellen. Das Buch
dokumentiert diesen Anspruch.
Aus den Referaten der Tagung sind dreizehn Kapitel entstanden. Fünf Beiträge befassen sich mit der Geschichte der mentalen Haltungen der Küstenmenschen zu ihrer
veränderlichen Heimat an der oft bedrohlichen Nordsee. Zwei naturwissenschaftliche
Beiträge diskutieren die physikalischen Grundlagen für den Meeresspiegelanstieg und
für die Sturmwetterlagen in der Nordseeregion. Die vier Beiträge des letzten Teils geben
auch dazu Einblicke in unterschiedliche nationale Ansätze und in ›Befindlichkeiten‹ der
Küstenbewohner im dänischen, niederländischen und deutschen Wattenmeerraum. Ein
Beitrag schließlich wagt einen kühnen Entwurf für eine veränderte Küstenlandschaft, in
der die Auswirkungen des Klimawandels nicht einfach mit den bisher üblichen Mitteln
abgewehrt werden, sondern neue Möglichkeiten einer ›Synergie‹ mit den natürlichen
Dynamiken eröffnen.
Einen Monat nach der Tagung, ebenfalls auf der Insel Sylt, fand eine niederländischdeutsch-dänische Regierungskonferenz statt. Sie erneuerte eine erstmals 1982 verabschiedete Erklärung zum Schutz des trilateralen Wattenmeeres an der Nordseeküste.
Versichert wurde die Absicht, weiterhin das Wattenmeer als eine ökologische Einheit zu
bewahren und die Küstenlandschaft sowohl als natürliches als auch kulturelles Erbe an
künftige Generationen weiter geben zu wollen. Die vierzig Teilnehmer der Tagung richteten auf der Grundlage ihrer Beratungen dazu einen Appell an die Ministerkonferenz
(siehe Anhang).
Allen Autorinnen und Autoren sei herzlich gedankt, ebenso dem oekom-Verlag, der
sich dieses Buches angenommen hat, sowie der Volkswagen-Stiftung und dem Alfred
Wegener-Institut, die die Tagung ermöglicht haben, und allen Einrichtungen, die zum
Zustandekommen dieses Buch beigetragen haben.
Sylt und Ottersberg, im Februar 2011
Karsten Reise und Ludwig Fischer
10
Vorwort zum Buch
Ort der Tagung mit Naturgewaltenzentrum Sylt (vorne) und Wattenmeerstation des AlfredWegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (hinten). Der Ortsname ›List‹ steht im Altdänischen für Kante oder Rand (Aufn. Karsten Reise, 2010).
Einleitung: Küstenmentalität und Klimawandel
Ludwig Fischer und Karsten Reise
Dass der Klimawandel, der durch die technisch-industrielle Entwicklung der letzten
200 Jahre wesentlich angetrieben wird, längst eingesetzt hat, bestreitet in der seriösen Wissenschaft heute kaum noch jemand. Allenfalls wird unterschiedlich beurteilt,
inwieweit sich einzelne ›extreme‹ Wetterkonstellationen in bestimmten Regionen –
Wirbelstürme, Dürreperioden, außerordentlich starke Niederschläge und dergleichen
– unmittelbar auf die erdumspannenden, von menschlichen Aktivitäten voran getriebenen Veränderungen des Klimahaushalts zurück führen lassen.
Ungleichheiten
Der Klimawandel ist ein globaler Prozess. Seine Auswirkungen treffen jedoch die in
unterschiedlichem Maßstab definierten Regionen der Erde unterschiedlich. Selbst der
deutlich beschleunigte Anstieg des Meeresspiegels erfolgt in verschiedenen Teilen der
Ozeane und der Randmeere nicht gleichmäßig (s. den Beitrag von Rüdiger Gerdes). Die
menschlichen Bevölkerungen werden, je nachdem wo auf dem Globus sie unter welchen
Bedingungen leben, sehr unterschiedlich von den Effekten des Klimawandels betroffen
sein, und wir stehen erst am Anfang der Folgen, die daraus für die sozialen und politischen Verhältnisse in vielen Gebieten, ja in ganzen Erdteilen entstehen werden (Welzer
2008). Sind schon die klimatischen Auswirkungen, die der Klimawandel erzeugt und
verstärkt erzeugen wird, ungleichmäßig verteilt, so sind es die gesellschaftlichen Möglichkeiten, darauf mit notwendigen und angemessenen Maßnahmen zu reagieren, noch
mehr.
Pauschal gilt: Die ärmsten, politisch instabilen, am wenigsten ›entwickelten‹ Länder
vor allem in Afrika und einige außerordentlich dicht besiedelte Regionen Asiens, wird
es am härtesten treffen, und sie besitzen die geringsten »Bewältigungskapazitäten«
(Leggewie/Welzer, 36). Aus der Kumulation von klimatischen und technisch-organisatorischen, ökonomischen, politischen und sozialen Ungleichverteilungen werden
sich brisante Spannungen weltweit und in manchen Gebieten besonders stark ergeben.
Einen Vorschein davon kann man nicht bloß an ersten, klimabedingten Migrationsbe-
12
Ludwig Fischer und Karsten Reise
wegungen und kriegerischen Konflikten, sondern nicht zuletzt auf den zum Teil nahezu
ergebnislosen Klimakonferenzen der Vereinten Nationen schon erahnen.
Aber selbst innerhalb enger definierter Gebiete in der gemäßigten Zone der nördlichen
Hemisphäre, die weniger gravierende Auswirkungen des Klimawandels zu erwarten
haben, wird es zu enorm unterschiedlichen Folgen für die menschlichen Lebensverhältnisse und für die mehr oder weniger von ihnen beeinflussten Ökosysteme kommen. So
werden auch in Mittel- und Nordeuropa die Flachwasserküsten durch einen schleichenden, aber unaufhaltsamen Anstieg des Meeres vor ungleich stärkere Herausforderungen
gestellt als küstenfernere Landesteile (vgl. Daschkeit/Sterr 2005, 271ff.).
Nun könnte man sagen: An solchen Flachwasserküsten wie dem Wattenmeer der
südlichen Nordsee, dem weltweit größten tideabhängigen Wattgebiet, war seit Jahrhunderten der Aufwand für eine sichere Besiedelung und Bewirtschaftung erheblich größer
als in höher gelegenen Regionen. Entsprechend werde ja auch die Bewerkstelligung des
Küstenschutzes im Wattenmeerraum seit langem als eine nationale Aufgabe betrachtet,
für die der Gesamtstaat beträchtliche Mittel bereit stellt – in der Bundesrepublik ebenso
wie in den Niederlanden und in Dänemark. Der Klimawandel erhöhe zwar die Anforderungen, aber an dem zumindest nationalen ›Ausgleich‹ für den gegenüber anderen
Arealen größeren Aufwand werde sich gewiss nichts grundsätzlich ändern.
So könnte man in der Bundesrepublik, als einem in mancher Hinsicht vom Klimawandel sogar ›begünstigten‹ Land, sich beim nationalen Ausbalancieren der regionalen
Ungleichverteilung von Klimawandeleffekten beruhigen. Doch an der Küste werfen die
Folgen des Klimawandels noch mehr Fragen auf. Wir stehen vor der Frage, ob absehbare
Auswirkungen der globalen Klimaveränderungen womöglich an der Wattenmeerküste
ein Ausmaß erreichen, das uns nicht bloß an die Grenzen des technisch Machbaren
und des Finanzierbaren, mithin des politisch Durchsetzbaren führt, sondern darüber
hinaus auch eine Debatte über das sozial und das kulturell wie das ökologisch noch
Verantwortbare eines herkömmlichen Küstenschutzes und eines gewohnten Lebens an
der Küste erzwingt.
Dass eine solche Debatte unabweisbar wird, zeichnet sich bereits ab. Man denke etwa
an die im Vergleich winzigen Schwierigkeiten, die immer wieder bei Schutzmaßnahmen
für die prominenteste der Wattenmeerinseln, Sylt nämlich, zu bewältigen sind – von der
Entscheidung über Art und Umfang der Maßnahmen, ihre Finanzierung und Durchführung bis hin zu Kontroversen über ihre ökologischen Effekte. Sie geben nur einen
Hauch von Vorgeschmack für das, was bei einem stärkeren Meeresspiegelanstieg und
seinen Folgewirkungen politisch, sozial und kulturell zu bestehen sein wird. Indem der
wirtschaftliche Sinn, die politische Zielsetzung, das sozial und kulturell ›Verträgliche‹
und das ökologisch Verantwortbare bei erwogenen Maßnahmen gegen die immer stärkeren Auswirkungen des Klimawandels gesellschaftlich ›ausgehandelt‹ werden müssen,
werden wir nicht mehr nur über einige so genannte Stellschrauben im technisch-industriellen Komplex, zu dem der Küstenschutz am Wattenmeer längst gehört, zu reden
Einleitung
13
haben. Es geht letztlich darum, den unweigerlich eintretenden Küstenwandel in dieser
Region als eine kulturelle und soziale Herausforderung anzunehmen.
Regionale Besonderheiten
Mögliche Optionen für die Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel und seinen Folgen werden in der Wattenmeerregion durch weit zurück reichende und tief verankerte Unterschiede zwischen holländischen, deutschen und dänischen Einstellungen,
Denkmustern und Handlungsstrategien beeinflusst. Die klimatischen Veränderungen,
deren Tragweite wir im Einzelnen noch nicht völlig überblicken können, spielen sich in
einem globalen Prozess ab. Aber sie ›erreichen‹ die Menschen immer in je besonderen,
kulturell geprägten Lebenswirklichkeiten. Deshalb kann man auch eine wirklich nachhaltige Umgestaltung unserer Lebensverhältnisse unter dem Imperativ, die menschlich
bewirkte Dynamik des Klimawandels zurück zu fahren und möglichst abzustellen, nicht
einfach von transnationalen politischen Vereinbarungen oder einem UN-Krisenmanagement erwarten.
So unerlässlich verbindliche, global wirksame Richtlinien und Beschlüsse wenigstens
zum Eindämmen der immer noch zunehmenden Befeuerung des Klimawandels sind –
›vor Ort‹, wo die Effekte der klimatischen Entwicklungen je unterschiedlich ausfallen,
wahrgenommen und von den Menschen in ihre kulturellen Deutungsmuster eingefügt
werden, müssen sich Folgerungen und Handlungsstrategien auch auf das je Besondere
der Lebenswelten ausrichten. In nahezu allen Kulturkreisen und regional unterschiedene
Alltagswirklichkeiten weltweit wirken die mächtigen Einflüsse einer wirtschaftlichen,
technologischen und auch kulturellen Globalisierung inzwischen mehr oder weniger
umwälzend hinein. Sie löschen aber das je Spezifische einer historisch entwickelten,
›im Inneren‹ der Menschen verankerten Eigenheit ihres Weltverständnisses und ihrer
Verhaltensweisen nicht einfach aus. Im Gegenteil, vielerorts erzeugen sie die Gegenbewegung eines Rückgriffs auf das je Besondere des Kulturraums, einer verwandelnden
Adaption in die Muster eines vertrauten Daseins.
In einer analogen Weise verhält es sich mit dem Klimawandel: »Obwohl es sich beim
Klimawandel um ein globales Phänomen par excellence handelt, wird in der Klimapolitik kulturell ganz unterschiedliche Wahrnehmungsmuster einkalkulieren müssen, wer
erfolgreich handeln möchte. Der Wasserspiegel wird an allen Küsten, auf den HalligInseln, in Dubai und Jakarta mehr oder weniger ähnlich ansteigen. Aber die Mechanismen der Wahrnehmung und Anpassung an dieses Phänomen werden sich kulturell
danach unterscheiden, wie Wasser, Fluten und Überschwemmungen gedeutet werden
und historisch gemanagt wurden.« (Leggewie/Welzer, 35)
Dass der vorliegende Band den Herausforderungen gewidmet ist, die der Klimawandel für das Wattenmeergebiet zwischen dem holländischen Den Helder und dem
dänischen Esbjerg bedeuten dürfte, soll daher mehr als eine bloße ›Fallstudie‹ ergeben.
Herunterladen