Steil auf der Landesgrenze

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48 OUTDOOR
Neuö Zürcör Zäitung
Freitag, 14. August 2015 ! Nr. 186
Steil auf der Landesgrenze
Alpine Klettertouren auf der Bernina-Südseite lassen einen in die Erdgeschichte eintauchen
bungsbereichen trifft man in rascher
Abfolge völlig verschiedene Gesteine
an, mit unterschiedlicher Herkunft und
Entstehungsgeschichte (siehe Zusatz).
Am Pizzo Tremoggia sieht man das
eindrücklich. Man klettert zunächst in
dunklen Gneisen mit Quarzadern von
meist fester, aber nicht überragender
Qualität. Nach zwei Dritteln des Südwestgrats überschreitet man einen Turm
in eine markante Schneise und findet
sich plötzlich im leuchtend hellen Sedimentgestein wieder, das wiederum ganz
andere Kletterei mit wackligen Türmchen bietet.
Das südliche Berninamassiv ist
zwar nur wenig bekannt, doch es
bietet zahlreiche Möglichkeiten
für interessante Hochtouren –
und es ist so etwas wie ein Freiluftmuseum der Alpenarchitektur. Hier werden Klettertouren zu
geologischen Erkundungen.
Dominik Osswald
Als wir die Tür zum Bivacco Colombo
öffnen, kommen wir nicht um den Eindruck herum, dass wir hier an einem
vergessenen Ort gelandet sind. An halb
durchgescheuerten Drahtseilen an den
Berg gebunden, trotzt die mannshohe
Blechdose dem Wind. Das einzige Fenster ist eingeschlagen, die Wolldecken
sind zerfetzt, es hat vier Pritschen, aber
schon zu zweit füllt man den Raum aus.
Wir treten ein, schliessen die Tür und
stellen die Rucksäcke vor das kaputte
Fenster. Endlich können wir dem Wind
entfliehen, der ständig an uns zerrte,
während wir aus dem Val Fex aufstiegen. Über steile Grashänge und dann
über den Vadret dal Tremoggia erreichten wir diesen Ort, der uns nun minimale, aber doch ausreichende Zuflucht
bietet. Es ist August, aber kalt, es
schneit. Obschon uns der Wind hier drin
physisch nichts mehr anhaben kann,
plagt er uns weiter – akustisch. Dieses
unheilvolle Auf und Ab, wie sanftes
Sirenengeheul.
Senkrecht in die Schweiz
Hotspot der Alpenfaltung
Das Bivacco Colombo liegt auf der
schweizerisch-italienischen Grenze am
Fusse einer grossen Felswand, die das
vergletscherte Berninamassiv nach Süden begrenzt. Zahlreiche interessante
Hochtouren findet man hier, auf dieser
weniger bekannten Seite der Bernina,
Niemandsland im Grenzbereich zwischen Italien und der Schweiz. Die
grosse Felswand direkt hinter dem
Biwak wirkt wie eine Mauer, die man
überwinden muss, will man es in die
Fex
Va l
Vadret dal
Tremoggia
Bivacco Colombo
Piz Tremoggia
Va l
Ros
e
g
SCHWEIZ
Piz
Glüschaint
La Sella
ITALIEN
5 Kilometer
NZZ-INFOGRAFIK / lea.
Im Freiluftmuseum der Alpenarchitektur: die Pyramide des Piz Tremoggia.
Schweiz schaffen. Das steht uns noch
bevor.
Zunächst aber reizt uns die Überschreitung des Piz Tremoggia. Dieser
Berg bildet als schöne Pyramide den
Talschluss des Val Fex und sieht aus wie
eines jener Gebäcke, deren eine Hälfte
in Schokolade getaucht ist – dunkles
Gestein wird abrupt von hellem abgelöst. Überschreitet man den Berg von
Südwesten nach Nordosten, so überschreitet man gleichzeitig diesen geologische Wechsel, während man der
Landesgrenze entlanggeht: Auf der linken Seite fällt der Tiefblick in die
Schweiz, rechts nach Italien.
ROBERT BÖSCH
Jede Klettertour ist auch eine geologische Erkundung, Felseigenschaften
erzählen immer auch eine geologische
Geschichte. Das südliche Berninamassiv ist gemeinhin so etwas wie ein Freiluftmuseum der Alpenarchitektur. Gut
einsehbar sind verschiedene Gesteine,
die ineinander verfaltet und verschuppt
sind oder scharfe Grenzen bilden. Solches geschah, als im Zuge der Alpenfaltung Afrika und Europa kollidierten
und so einst distanzierte geografische
Bereiche auf engem Raum landeten.
Man darf sich das ungefähr so vorstellen, wie wenn man einen Teppich zusammenschiebt. In solchen Überschie-
Die gewaltige Südwand, des Piz Glüschaint, an deren Fuss das Bivacco
Colombo steht, erstreckt sich vier Kilometer nach Osten zum Piz Sella und bildet die Landesgrenze. Erklettert man
sie, so steigt man senkrecht von Italien
in die Schweiz. Mehrere alpinistisch verlockende Pfeiler führen durch die rund
550 Meter hohe Wand hoch auf das vergletscherte Plateau, das nach Norden
ins Val Roseg abfällt. Einer jener Pfeiler
führt direkt auf die Schneekuppe namens Cima Sondrio (3536 m).
Die Führerliteratur investiert nur gerade drei Sätze in die Beschreibung dieser Tour, die noch dazu alles andere als
hilfreich sind. Folgt man der Beschreibung, so findet man sich kaum zurecht.
Das passt zu unserem ersten Eindruck
dieser Umgebung: wild, unbeachtet,
vergessen.
Irgendwann klettern wir einfach
drauflos und zwar mit geologischer Orientierung: immer dem festen Fels entlang – wir befinden uns hier nun in ostalpinen Gneisen, die im Zuge der
Alpenfaltung weniger geschert wurden
als die dunklen Gneise am Pizzo Tremoggia, jedenfalls ist das Gestein hier
deutlich fester. Eine Eigenschaft, die
verloren geht, wenn Gesteine geschert
werden und dadurch eine schiefrige Gestalt annehmen.
Die Anfangslängen unseres Pfeilers
haben es in sich: steile Kletterei, die mit
Steigeisen bewältigt werden muss, denn
trotz Südexposition ist der Fels von
einer feinen Eiskruste bedeckt. Bald
gibt es keine Möglichkeit zum Rückzug
mehr, wir haben nur 25 Meter Seil und
können so kaum mehr abseilen. Flucht
nach vorne. Die Sonne erfüllt uns mit
Zuversicht und lässt ausserdem das Eis
zügig schmelzen. Eine senkrechte Passage macht uns zu schaffen, noch ein
paar heikle Züge weit über dem letzten
Klemmkeil. Doch dann ist es geschafft.
Wir sind auf einem sonnigen Pfeilerkopf
angelangt. Vor uns liegt nun eine warme
Felsrippe, die wie eine Himmelsleiter
auf die leuchtende Schneekuppe weit
oben führt. Zurück in die Schweiz.
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Sarah Schmid ! Die Gipfel des Berninamassivs sind aus Gesteinen aufgebaut, deren geologischer Ursprung in
Afrika liegt. Es sind hauptsächlich durch
Druck und Temperatur umgewandelte
Kristallin- und Sedimentgesteine aus jenem Bereich Afrikas, der einst vom Urmeer Tethys überflutet war. Vor rund
100 Millionen Jahren beginnt Afrika auf
Europa zu driften, die Tethys schliesst
sich im Zuge der kollidierenden Kontinente, die Alpen erheben sich.
Ein Meer ist immer auch Bildungsraum von Gesteinen. Je nach Meerestiefe ergeben sich typische Ablagerungsräume für Sedimentgesteine. So auch
beim Urmeer Tethys: Es war Bildungsraum vieler Gesteine, die wir heute im
gesamten Alpenraum finden. In der
Tiefsee der Tethys lagerten sich über der
ozeanischen Kruste aus meist schwarz
und grünlichem Basalt und Gabbro rote
Radiolaritgesteine und graue, feinschichtige Tonschiefer ab. Dieser Tiefsee-Bildungsraum wird als Penninikum
bezeichnet. Gleichzeitig bildeten sich in
den seichteren, tropischen Küstenregionen mächtige Dolomit-, Kalk und Mergel-Abfolgen, die heute die meisten Gipfel der Berner Voralpen, des Juras, aber
Die Geologie der Ostalpen
auch weite Teile der Ostalpen aufbauen.
Diese Abfolgen werden als Helvetikum
zusammengefasst.
Bei der Bildung der Alpen wurde der
Bereich der Tethys über 100 Kilometer
von Süden nach Norden zusammengestaucht. Die unterschiedlichen Sedimentationsräume bildeten im Zuge der
Alpenfaltung Decken aus, die aus den
jeweils typischen Gesteinen eines bestimmten Bildungsraumes bestehen und
sich von Süden nach Norden überschoben. Die Gesteine der Decken wurden
bei der Gebirgsbildung teilweise kompliziert verfaltet, geschert und umgewandelt. Je weiter südlich die Gesteine ihren
Piz Tremoggia
Kristallin
Ostalpin
Dolomitmamore
Gneise
Tiefreesedimente
MalencoSerpentinit
xx Kilometer
VALMALENCO
NZZ-INFOGRAFIK / lea.
Ursprung haben, desto weiter oben finden sie sich im alpinen Deckenstapel
wieder. Die dem afrikanischen Kontinent zugehörigen Gesteine des Ostalpins
bilden demnach die höchsten Bauelemente der Alpen auf. Am deutlichsten
lassen sich Deckengrenzen im Gelände
beobachten, wenn schichtige Sedimentgesteine auf massive, körnige Kristallingesteine folgen. Deutliche Farbkontraste dieser unterschiedlichen Gesteine
unterstreichen Deckengrenzen, an denen Gesteine diverser Herkunft unmittelbar aufeinander folgen und damit von
den massiven Kräften der Alpenfaltung
zeugen.
Eine eindrucksvolle Deckengrenze
findet sich am Piz Tremoggia beim Aufstieg von Italien aus. Namen wie «Sasso
Nero» südlich der Landesgrenze nehmen
Bezug auf die dunklen Serpentinite, welche von der ehemaligen ozeanischen
Kruste des Tethys-Meeres stammen. Zuoberst auf dem Piz Tremoggia lagern
helle Dolomit-Marmore, die sich nicht
nur dort, sondern auch auf zahlreichen
anderen Bündner Gipfeln wiederfinden.
Oft ist die Geologie namengebend, etwa
beim Piz Alv, übersetzt «weisse Spitze» –
dies wegen seiner hellen Gesteine.
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