Multifokales Sehen im Alter. Ist eine 100%-Zufriedenheit möglich? H. Aurich Zusammenfassung Das erweiterte Spektrum der Linsen im Rahmen der Kataraktoperation lässt bei geeigneter Patientenauswahl und fachgerechter Anwendung deutlich mehr Möglichkeiten der individuellen Erfüllung von refraktiven Wünschen bei weniger Nebenwirkungen zu. Wichtig ist und bleibt die immer äußerst zeitintensive Patientenauswahl. Potenzielle Probleme lassen sich besser im Vorfeld aushebeln als postoperativ die Ansprüche nachzujustieren. Jede, auch die modernste Multifokallinse bleibt für den Patienten und für uns Augenärzte ein Kompromiss. Ein kompromissbereiter Patient kann aber wahrscheinlich auch schon mit einem wiedererlangten Teil des jugendlichen Sehens sehr gut leben. Einleitung Die Kataraktoperation wird heutzutage von immer mehr Patienten als refraktive Operation wahrgenommen. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Komorbiditäten und steigende Ansprüche seitens der Patienten sind Störfaktoren, die eine 100%ige Zufriedenheit erschweren können. Innovationen Im Rahmen der Kataraktoperation ist neuerdings der verbesserte Intermediärvisus en vogue. Ein weiteres Bestreben der Hersteller ist es, die optischen Nebenwirkungen zu reduzieren. Die refraktive Mplus Linse von Oculentis ist weiter entwickelt worden und weist nun zentral eine sphärische Zone auf, die die Asphärizität der Hornhaut in eine verbreiterte Fokuszone im Sinne einer größeren Tiefenschärfe umwandeln soll. Die Linse soll nach Herstellerangaben geringe optische Phänomene haben, da das Nahbild halbkreisförmig unter der Fovea auftrifft. Ein weiterer Vorteil ist laut Hersteller der geringe Lichtverlust. Die Trifokallinsen der Firmen Physiol und Zeiss stehen ebenfalls für einen verbesserten Intermediärvisus. Das Prinzip der Linsen lässt vermuten, dass die optischen Phänomene im Vergleich zu den bifokalen Multifokallinsen nicht vermindert sind. Ein weiteres Problem ist das verminderte Kontrastsehen, das ebenfalls aus dem diffraktiven Prinzip resultiert. 163 Presbyopie Ein anderes Konzept verfolgt die Firma Alcon, die ihre Intermediärlinse mit 2,5 dpt Nahaddition mit einer Optik ähnlich der einer Monofokallinse bewirbt. Das optische Konzept der diffraktiven Linsen mit 2,5 und 3 dpt Nahaddition soll sich aufgrund der konstruktionsbedingten Ähnlichkeit ergänzen. Das „Mix and Match“-Verfahren ist dabei bereits seit Langem im Hause AMO mit der refraktiven ReZoom und der diffraktiven Tecnis-Linse bekannt. Insgesamt bleibt ein Vergleich der unterschiedlichen Konzepte untereinander schwierig aufgrund des Bias der entsprechenden Studien und der Subjektivität der zur Evaluation möglichen Untersuchungsmethoden. Daher zählen immer noch in erster Linie die persönlichen Erfahrungen des einzelnen Operateurs. Damit das multifokale Konzept kein so eingeschränktes Indikationsspektrum mehr hat, war die Einführung von torischen Multifokallinsen erforderlich, die es mittlerweile bei allen vorgestellten Plattformen gibt – je nach Hersteller maßangefertigt bis zu einem hohen Torus über die Grenzen der inzisionalen Astigmatismuskorrektur hinaus bis an die Grenze der Amblyopie. Die „Mix and Match“-Konzepte der unterschiedlichen Firmen lassen sich auch untereinander kombinieren [1]. Gut funktioniert auch die Implantation einer Multifokallinse nur in eines der beiden Augen [2]. So steigen die Kombinationsmöglichkeiten für den einzelnen Patienten. Probleme mit Multifokallinsen Es gibt bei den Multifokallinsen natürlich immer noch Dysphotopsien durch die divergenten Strahlen aus dem jeweils anderen Fokusbereich. Brillenunabhängigkeit hat also oft Lichteffekte und vermindertes Kontrastsehen zur Folge, wenn man sich nicht zur Monovision entschließt. Diese bedeutet aber wiederum ein vermindertes Stereosehen [3]. Dabei ist zu bedenken, dass die Katarakt selbst oft stärkere Dysphotopsien zur Folge hat als die Kunstlinse. Dem störenden Einfluss der Nebenwirkungen steht die Neuroadaptation gegenüber, die nach bis zu einem Jahr die genannten Symptome subjektiv oft deutlich abmildert. Dabei haben sich die spezifischen optischen Probleme diffraktiver Linsen heutzutage schon deutlich vermindert, insbesondere im Vergleich zu den efraktiven Linsen der vorletzten Generation. Das Fallbeispiel eines 51-jährigen Taxifahrers mit dem Wunsch nach Brillenfreiheit demonstriert die Wichtigkeit der richtigen Biometrie: Es wurde bei subkapsulärer Katarakt eine blended vision mit Linsen von Alcon umgesetzt. Bei der Kontrolle nach der Operation des ersten Auges war der Patient unzufrieden und klagte trotz Aufklärung darüber im Vorfeld über uner­trägliche Halos. Es lag ein Fehler in der optischen Biometrie bei subkapsulärer Katarakt vor. Somit war eine Restrefraktion von –1,0 dpt geblieben. Nach dem Linsentausch gegen die korrekte Multifokallinse mit erreichter Emme­ tropie 164 Aurich: Multifokales Sehen im Alter: Linsenauswahl nach Freizeitprofil. Ist 100%-Zufriedenheit möglich? war der Patient sehr zufrieden, die Symptome waren subjektiv komplett verschwunden. Bei der Analyse der Explantationen von eigenen Multifokallinsen zeigte sich bis 1997 eine Rate von 1 %, die sich seither auf 0 % reduziert hat [eigene Daten]. Einerseits sind natürlich die Linsen besser geworden und halten eher das, was sie versprechen. Es hat sich andererseits seither auch ein besseres Verständnis für unsere potenziellen Multifokallinsenpatienten entwickelt. Der einzugehende Kompromiss wird mittlerweile noch deutlicher präoperativ kommuniziert, und es wird auch auf das individuelle Freizeitverhalten verstärkt eingegangen. Was ist bei der Wahl des richtigen Patienten und der richtigen Linse zu beachten? Seitens des Patienten muss eine hohe Motivation zur Brillenfreiheit bestehen. Ein gutes Verständnis für die zu erwartenden Nebenwirkungen muss unbedingt vorhanden sein. Das Freizeitverhalten bekommt immer mehr Wichtigkeit. So sind spezielle Sportarten oder Hobbys für bestimmte Linsenmodelle oder -kombinationen prädestiniert. Der Trend zu immer mehr verbrachter Zeit am Computer ist deutlich. Dabei hat der Absatz von Laptops und Tablets den der Desktop-PCs schon lange überholt [4]. Ein Vorteil dieser Entwicklung liegt darin, dass sich die neuen elektronischen Geräte manuell auf den geeigneten Leseabstand fokussieren lassen und den Bedarf nach mehr Tiefenschärfe etwas relativieren. Es bietet sich in der Regel an, das nicht dominante Auge zuerst zu operieren, um dann am Führungsauge den E-Wert weiter optimieren zu können. Postoperativ sollten dringend auch alle anderen Umstände, die das Wohlbefinden des Patienten einschränken könnten, behandelt werden. Dazu gehört vor allem die häufige Siccasymptomatik. Weiterhin sollten präoperativ Makulaerkrankungen ausgeschlossen und intraoperativ Komplikationen vermieden werden. Ein geeigneter Fragebogen kann den Patienten schon im Vorfeld dazu anleiten, seine Präferenzen für das postoperative Sehen einzugrenzen und so auch die Limitationen der gewählten Methode zu erkennen [5]. Das fängt mit der Eingrenzung der wichtigsten Zonen für das Sehen an. Eine konkrete Frage für einen Fragebogen oder das Patientengespräch könnte sein: „Für welche Zone wäre Ihnen eine Brille genehm?“ Weitere Kompromissfragen wie „Wie wichtig ist Ihnen das Sehen bei Nacht?“ oder Fragen bezogen auf mögliche oder sichere Dysphotopsien können dem Patienten aufzeigen, dass er auch immer noch die Wahl einer Monofokallinse hat. Eine Selbsteinschätzung des Patienten und Fremdeinschätzung durch den Arzt bezogen auf das psychologische Profil kann viele Probleme im Vorfeld vermeiden. Dabei bietet sich eine visuelle Analogskala von „Entspannte Persönlichkeit“ bis „Perfektionistische Persönlichkeit“ an. Hier ist auch ein starkes Über-Ich nach Freud mit viel 165 Presbyopie Motivation und Durchhaltekraft für die Gewöhnungsphase nach der Operation wichtig. Wichtige Informationen für den Patienten sind noch die Aufklärung über die zu erwartende Zeit für die Neuroadaptation und damit verbunden das medizinische und finanzielle Risiko eines Laser-Touch-ups oder Linsentausches. Ausreichend im Vorfeld auf ein realistisches Maß gebrachte Erwartungen führen zu mehr Zufriedenheit. Dabei ist die Biometrie ein wesentlicher Faktor: Die Zielrefraktion ist auch in Zeiten der optischen Biometrie und der verbesserten theoretischen Biometrieformeln noch sehr schwierig zu erreichen. So verwundert es nicht, dass nur verhältnismäßig wenige Patienten postoperativ die idealen anatomischen Voraussetzungen für ein zufriedenstellendes und die Erwartungen erfüllendes Sehen haben [6, 7]. Im Happy-Patient-Project der ESCRS war es eine Kernaussage, dass vor allem zwanghafte und stark ordnungsliebende Patienten zumindest eine große Herausforderung für den refraktiv tätigen Kataraktchirurgen darstellen [8]. Literatur 1. Yoon SY, Song IS, Kim JY et al.: Bilateral mix-and-match versus unilateral multifocal intraocular lens implantation: Long-term comparison. J Cataract Refract Surg 2013; 39:1682–1690 2. Mayer S, Böhm T, Häberle H et al.: Kombinierte Implantation einer Mono- und einer Multifokallinse zur Presbyopiekorrektur bei Kataraktpatienten. Klin Monatsbl Augenheilkd 2008;225:812–817 3.http://www.absatzwirtschaft.de/content/online-marketing/news/tablets-weiter-auf-der-ueberholspur;77888, gelesen am 13.5.2014 4. Aurich H: Monovision als Möglichkeit der Presbyopiekorrektur im Rahmen der Kataraktoperation. In: Kuchenbecker J, Kohnen T (Hrsg.): 26. Kongress der DGII. Gießen: DGII 2012;262–268 5. Dell SJ: Screening and Evaluating Presbyopic Patients. CRStoday, March 2007 6. Gale RP et al.: Benchmark standards for refractive outcomes after NHS cataract surgery. Eye 2009 Jan; 23(1):149–152 7.http://doctor-hill.com 8. Schmickler St, Goes F, Hütz W et al.: Das Happy Patient Projekt – Korrelation zwischen Persönlichkeitsstruktur und postoperativer Zufriedenheit bei Multifokallinsenpatienten. In: Kuchenbecker J, Kohnen T (Hrsg.): 26. Kongress der DGII. Gießen: DGII 2012;283–287 166