Perspektive ArbeitsWelt - Psychische Gesundheit 2030

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Perspektive ArbeitsWelt
Berlin, 24. September 2015
Politische und unternehmerische Verantwortung für
psychische Erkrankungen ausbauen
„Ich wär so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu
viel zu tun. Lass uns später weiter reden. Da draußen
brauchen sie mich jetzt. Die Situation wird unterschätzt.
Muss nur noch kurz die Welt retten, noch 148 Mails
checken. Wer weiß, was mir dann noch passiert, denn
es passiert so viel“, singt Tim Bendzko. Dass dieser Song
zum Hit wurde, zeigt: Mit der schnelllebigen Arbeitswelt
sind Überforderung und Anspruchsdenken an uns selbst
und von außen in unseren Lebensalltag eingezogen.
Nicht selten hat das Depressionen zur Folge. Nach aktuellen Berechnungen der WHO werden Depressionen
innerhalb der nächsten fünf Jahre die zweithäufigste
Volkskrankheit sein. Schon jetzt leiden in Deutschland
rund drei Millionen Menschen unter ihnen.
Die Depression ist die bedeutendste psychiatrische
Störung bei Menschen im erwerbsfähigen Alter. Rund
jeder zehnte Arbeitnehmer in Europa fehlte deswegen schon einmal bei der Arbeit. Durchschnittlich 40
Arbeitstage ist ein Depressionskranker während einer
akuten Episode nicht am Arbeitsplatz, so der BKK
Gesundheitsatlas 2015 „Blickpunkt Psyche“. Depressionen verursachen in Deutschland direkte und indirekte Kosten von rund 22 Milliarden Euro. Diese Fakten
bestimmten das Thema „Mentale Gesundheit ist Wohlstand“ der zweiten Konferenz „Psychische Gesundheit
2030“. Im Vorfeld des 12. Europäischen Depressionstages benannten namhafte Experten die aktuellen
gesellschaftlichen Herausforderungen im Umgang mit
der Krankheit. Sie formulierten klare Anforderungen an
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Arbeit sei der Schlüssel zur Lösung vieler Herausforderungen unserer Gesellschaft. Das gelte auch für das
Thema psychische Gesundheit, so die Parlamentarische
Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales, Anette Kramme, MdB. Sie war Schirmherrin
des Kongresses. Einerseits sei Arbeit gut für unser
psychisches Wohlergehen und die Gesundheit. Arbeit
strukturiere unser Leben, stärke das Selbstwertgefühl
und helfe, wichtige soziale Kontakte zu vermitteln.
Obwohl bei der Gestaltung menschengerechter Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten
große Fortschritte erzielt worden seien, nähmen psychische Belastungen und Erkrankungen zu, so Kramme in
ihrem Grußwort.
Unternehmen müssen stärker auf
Prävention setzen
Die Folgen psychischer Belastungen sind in den Unternehmen deutlich zu spüren, erklärte der Wissenschaftler
Prof. Dr. Tim Hagemann, Professor für Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie sowie Prorektor
der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Neben der
Zunahme stressbedingter Erkrankungen äußerten sich
diese in einer hohen Fluktuation, Konflikten am Arbeitsplatz und einer verminderten Leistungsfähigkeit und
Innovationskraft der Mitarbeiter. Bedingt durch das steigende Renteneintrittsalter und den wachsenden Fachkräftemangel sei ein dramatischer Anstieg der psychisch
bedingten Arbeitsunfähigkeitstage zu verzeichnen.
Der psychiatrische Patient verändert sich
Prof. Dr. Hans Joachim Salize ist Leiter der Arbeitsgruppe Versorgungsforschung des Central Institute
for Mental Health – Mental Health Services Research
Group, Mannheim. Er rückte die große Gruppe der
Menschen mit psychischen Störungen, die von der
Arbeitswelt ausgegrenzt sind, in den Fokus. Die psychiatrische Versorgung marginalisierter Gruppen sei
extrem defizitär, jedoch unter ethischen und finanziellen Gesichtspunkten unabdingbar und dringend geboten. Die Versorgung psychisch Kranker in Deutschland
sei teuer und habe die höchsten Steigerungsraten im
Gesundheitswesen. Salize kritisierte die mangelnde
Evidenz zur Kosteneffektivität der Versorgung und das
geringe Wissen über Effektivitätssteigerungs- oder
Einsparpotenziale. Wenn der soziale Wandel von der
psychiatrischen Versorgung entweder nicht oder nur
schwerfällig erkannt werde, potenzierten sich die volkswirtschaftlichen Folgekosten durch die Vernachlässigung dieses Bedarfs.
frage „IDEA: The Impact of Depression at Work in
Europe Audit“. Teilnehmende waren 18- bis 64-jährige
Erwerbstätige in sieben europäischen Ländern. Ihn
habe alarmiert, dass von 1.000 Befragten „nur“ bei 19
Prozent schon einmal eine Depression diagnostiziert
wurde. Wissenschaftler nähmen an, die Häufigkeit
von Depressionen in der arbeitenden Bevölkerung sei
deutlich höher als in der Studie ermittelt. Nach wie vor
würden viele Menschen Symptome wie Vergesslichkeit
und Konzentrationsstörungen nicht unmittelbar einer
Depression zuordnen. Zudem hätte die IDEA-Umfrage
ergeben, dass lediglich jeder vierte der Befragten
seinen Arbeitgeber darüber informieren würde, wenn
bei ihm eine Depression festgestellt würde. 31 Prozent
sprachen sich klar dagegen aus, und 42 Prozent waren
sich unschlüssig.
Vergleichbare Ergebnisse wurden in allen EU-Staaten
ermittelt. Deswegen hat sich im vergangenen Jahr
eine Gruppe von Europaparlamentariern gegründet.
Gemeinsam mit der EDA wollen sie das Thema Depression auf europäischer Ebene politisch bearbeiten. In
dem gemeinsamen „Depression Manifesto“ werden
wichtige Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation
depressiv erkrankter Menschen detailliert beschrieben.
Prävention – Behandlung – Rehabilitation
Der Ärztliche Direktor der Burghof-Klinik Rinteln und
Repräsentant für Deutschland der European Depression
Association (EDA), Prof. Dr. Detlef E. Dietrich, präsentierte die Deutschlandergebnisse der EDA-Onlineum-
Dr. Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde (DGPPN), wies nachdrücklich darauf
hin, dass Depressionen rasch erkannt werden müssten, damit frühzeitig interveniert und den negativen
Auswirkungen der Erkrankung entgegengewirkt werden
könne. Wichtige Ansatzpunkte liefere die Dreierkette
aus Prävention, Behandlung und Rehabilitation. Im
Rahmen der Burn-out-Diskussion habe ihre Gesellschaft
ein sogenanntes Stepped-Care-Modell für betriebliches
Gesundheitsmanagement und Behandlung entwickelt.
Das Modell bestehe aus fünf Stufen: 1. Gesundheitsförderung, 2. Überlastungserkennung, 3. individuelle
Unterstützung, 4. gestufte Versorgung, 5. Wiedereingliederung.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Direktor der Klinik
und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des
Universitätsklinikums Leipzig, sah die Versorgungswirklichkeit kritisch. Das Problem sei nicht ein Mangel an
wirksamen Behandlungsoptionen. Vielmehr herrschten
große diagnostische und therapeutische Defizite. Die
Depression ist für Hegerl die Krankheit mit dem größten Optimierungsspielraum. Hier bestünde dringender
Handlungsbedarf. Hegerl, er leitet auch die European
Alliance Against Depression, wies auf den dramatischen Anstieg der Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen hin. Von 1983 bis 2012 sei deren
Anteil von knapp 9 auf rund 42 Prozent angewachsen.
Populationsbasierte Studien zeigten allerdings, dass es
keinen Zuwachs an psychisch Erkrankten gäbe. Für die
günstige Entwicklung spräche auch der Rückgang der
Suizide von etwa 18.000 im Jahr 1980 auf rund 10.000
im Jahr 2013.
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Direktor des Instituts für
Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden, veranschaulichte das Ausmaß
der Problematik psychischer Störungen. In Deutsch-
land seien jedes Jahr 27,7 Prozent der Bevölkerung von
mindestens einer Störung betroffen. Neben einem überwiegenden Anteil nicht definierter Erkrankungen lägen
Angststörungen mit 9,8 und unipolare Depressionen mit
4,9 Millionen Betroffenen an der Spitze. In Europa und
Deutschland würden trotz effektiver medikamentöser
und psychotherapeutischer Verfahren je nach Land nur
30 bis 52 Prozent überhaupt vom Versorgungssystem
erfasst, lediglich 8 bis 16 Prozent vom spezialisierten
Sektor für psychische Störungen. Nur 2 bis 9 Prozent der
Betroffenen erhielten eine minimal adäquate Therapie.
Die Versorgungskapazität müsse entscheidend erhöht,
bessere koordinierte Modelle entwickelt und konzertiert gehandelt werden. Nur so könnten Patienten früher
und schneller in den Genuss der bestehenden effektiven
Therapien kommen und qualitätsgesichert behandelt und
versorgt werden.
Engagement auf europäischer Ebene
Experten aus Politik, Verbänden und Unternehmen
diskutierten die Chancen und Möglichkeiten europäischer Ansätze für mehr psychische Gesundheit am
Arbeitsplatz für den deutschen Arbeitsmarkt. Zu Beginn
dieser Session wurde auf den OECD-Report „Fit Mind,
Fit Job“ hingewiesen. Die Hälfte aller Anträge auf
Arbeitsunfähigkeit werde aufgrund psychischer Probleme gestellt, so der Bericht. Die SPD-Europaabgeordnete Jutta Steinruck, sie ist Mitglied des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten,
erklärte, psychische Erkrankungen seien ein neues
Thema auf der Agenda des Europäischen Parlaments.
Auf die Herausforderungen einer sich permanent verändernden Arbeitswelt müssten aber Antworten gefunden werden. Steinruck betonte, die europäische Ebene
habe hier nur eingeschränkte Kompetenzen. Sie könne
Rahmenbedingungen erlassen und den Austausch von
Best-Practice-Beispielen fördern. Die EU habe aber kein
eigenes Recht, Gesetze zu initiieren. Steinruck warnte
davor, eine Zweiklassengesellschaft von Arbeitnehmern
zu erzeugen. Sicherheits- und Gesundheitsstandards
müssten für alle gelten. Da sowohl in der Kommission
als auch in den 28 EU-Mitgliedstaaten wenig an koor-
dinierten Aktivitäten geschehe, habe sich im vergangenen Jahr eine fraktionsübergreifende Initiative von
Parlamentariern gegründet, die sich als Depressionsbotschafter engagieren.
Der Vorstand des BKK Dachverbandes, Franz Knieps,
zitierte die Versorgungsreports der Krankenkassen.
Diese zeigten, psychische Erkrankungen seien ein
Topthema. Im Dialog mit der Politik sei erreicht worden,
dass sich im Versorgungsstärkungsgesetz und bei der
Krankenhausreform die Vergütungen psychotherapeutischer und psychiatrischer Leistungen, die Besetzung
von ärztlichen und psychotherapeutischen Stellen
sowie die Veränderungen bei der Bedarfsplanung am
realen Bedarf orientierten. Illusorisch sei allerdings,
zu erwarten, Gesetzesänderungen würden die Versorgungswirklichkeit automatisch verändern. Auch wenn
die großen Firmen die Problematik erkannt hätten,
mittlere und kleine Betriebe müssten für psychische
Belastungen noch stärker sensibilisiert werden. Um
dies zu erreichen, habe der Gesetzgeber die Kassen
verpflichtet, auf Landesebene Koordinierungsstellen für
die Vertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu
schaffen, erklärte Knieps.
Für Dirk Heidenblut, MdB, Berichterstatter „Psychiatrie und Psychologie“ der SPD-Fraktion im Deutschen
Bundestag, sei es nicht Aufgabe des Präventionsgesetzes, eine Enttabuisierung psychischer Erkrankungen zu
erreichen. Es solle allerdings helfen, Möglichkeiten und
Wege zu finden, die Krankheit zu verstehen, und sich so
zu verhalten, dass Depressionen erst gar nicht entstehen. Im Präventionsgesetz habe man die Lebenswelt
Arbeit sehr deutlich in den Fokus genommen. Denn,
so Heidenblut, Ziel der Politik sei es, alle Lebenswelten – und damit auch die Depression – insgesamt zu
betrachten.
Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, erklärte, es sei „höchste
Zeit, sich endlich damit zu beschäftigen, wie die Reintegration psychisch Kranker in die Arbeitsorganisation
gelingen kann“. Arbeitsschützer seien fest davon überzeugt, dass es Standards guter Arbeit gebe, die eine
gesunde Psyche förderten, bzw. dass diese geschaffen
werden könnten.
Fazit dieser Diskussion
Vereinzelte Best-Practice-Beispiele und Initiativen sind
ein wichtiger Schritt. Entscheidend ist aber, auf politischer, unternehmerischer und gesamtgesellschaftlicher
Ebene koordinierter und öffentlichkeitswirksamer zu
arbeiten, damit das tatsächliche Ausmaß psychischer
Erkrankungen erkannt und eine effizientere Versorgung
geschaffen werden kann.
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