Wie und warum lernt ein Kind rechnen?

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Fortbildung zur Dyskalkulie am 03. 03. 2004
Wie und warum lernt ein Kind rechnen?
I.
Der Zahlensinn, die Entwicklung des Zählens und der Verschriftung der Zahlen
als paralleler Verlauf zur Geschichte der Zahlen.
Piagets konstruktivistischer Ansatz zur Entwicklung des Zahlbegriffs bei Kindern geht davon
aus, dass bei der Geburt das Gehirn ein unbeschriebenes Blatt ist, das nur die Möglichkeiten
der Wahrnehmung mit allen Sinnen und der Motorik bietet. Erst durch die sensomotorische
Wechselwirkung mit der Umwelt kann der Zahlbegriff konstruiert werden. Piaget beschreibt
diese Entwicklung in Phasen, die aufeinander aufbauen: erst muss die Objektpermananz verstanden werden, bevor das Kind die Mengeninvarianz erkennen kann und somit die Basis für
den Zahlbegriff hat. Dies passiert nach den Versuchen Pia gets im Alter von 4 - 5 Jahren.
Es folgten verschiedene Folgeuntersuchungen, die belegen konnten, dass sowohl das Alter der
Kinder, als auch der von Piaget beschriebene Entwicklungsverlauf zweifelhaft sind. Der Streit
unter den Entwicklungspsychologen, ob ein Kind zuerst abzählen können muss (? Ordinalzahlbegriff) oder Mengenauffassung (? Kardinalzahlbegriff) besitzen muss, oder ob sich
beide Arten des Zahlbegriffs parallel entwickeln und in der Grundschule zum Begriff der natürliche Zahl integrieren (Piaget), bevor ein Kind rechnen lernen kann, beschäftigte viele
Entwicklungspsychologen.
Die Gehirnforschung verfolgt einen anderer Ansatz und kann heute besonders mit Hilfe der
bildgebenden Verfahren zu mehr Klarheit über neuropsychologische Prozesse beitragen. Wie
werden Zahlen mental repräsentiert? Wie verändert sich die Repräsentanz im Lauf der Entwicklung? Gibt es eine genetische Aus stattung für die Fähigkeit, Mengen und Größen zu
erfassen? Das heißt, sie versucht die neuropsychologische Basis für den Umgang mit Zahlen
und das Rechnen zu erkunden. Dehaene (1999) folgt in seinem Buch „Der Zahlensinn oder:
Warum wir rechnen können“ dazu folgender These:
„Mathematische Kenntnisse hängen direkt von der Beschaffenheit unseres Gehirns ab. Jeder
Gedanke, den wir erwägen, jede Rechnung, die wir durchführen, ist das Ergebnis der Aktivierung spezieller neuronaler Schaltkreise, die in unserer Hirnrinde eingepflanzt sind.“
An Hand der Ergebnisse verschiedener Studien konnte er zeigen:
-
Jeder Mensch ist mit einem Zahlensinn ausgestattet; oder anders formuliert: das Gehirn ist auf die Wahrnehmung und Repräsentation numerischer Größen spezialisiert.
-
Kinder haben von Geburt an eine kognitive Repräsentanz von Zahlen (zuerst
protonume rische Fähigkeiten, die nicht über Mengen von drei Elementen hinausgeht
-
Zahlen sind verbunden mit einem Gefühl für Mengen und Größen.
-
-
Zahlen sind verbunden mit einem Gefühl von räumlicher Ausdehnung ? mentale
Repräsentation der Zahlen als einer im Raum gerichteten Geraden.
Die Sprache und der Umgang mit Symbolen erlauben dem Menschen über Näherungsrechnungen hinauszugehen, genau zu berechnen, unendlich viele Zahlen zu benennen,
Systeme zu erschaffen, formale Regeln für Addition, Subtraktion, Multiplikation,
Division usw. zu entwickeln.
Die intuitive Kodierung ist nur mit den natürlichen Zahlen möglich und schließt Nachbarschaftsbeziehungen ein (z. B. Vorgänger / Nachfolger einer Zahl). Die Null und die negativen
ganzen Zahlen werden bereits über Modellvorstellungen entwickelt. Erst recht alle weiteren
-1Beate Kotonski, Staatliche Schulberatungsstelle für Stadt und Landkreis München
Fortbildung zur Dyskalkulie am 03. 03. 2004
Zahlen wie Brüche, reelle Zahlen und irrationale Zahlen. Um sie wirklich zu verstehen, muss
man ein neuartiges mentales Modell erstellen, das es erlaubt, sie unmittelbar wahrzunehmen.
(Beispiel für negative Zahlen: Thermometer, Schulden, „unter Normal-Null „)
Interessant für das Verständnis der Entwicklung des Zahlensinns und sind Parallelen zur Geschichte der Mathematik, besonders der Geschichte der Zahlen:
Evolution – Entwicklung der Zahlen
Entwicklung des Zahlensinns
Mentale Repräsentation numerischer Größen, die Mensch und Tier gemeinsam haben:
?
eins
? ?
zwei
? ? ?
drei
Was passiert mit Anzahlen größer drei?
Man muss zählen und braucht Zeichen:
Beziehungen zu den Körperteilen werden
hergestellt:
Hände, Füße ...
Kinder zählen und rechnen mit Hilfe der
Finger (und der Zehen)
Überwindung der Endlichkeit:
Mit Wortschatz und Zahlensyntax werden die
Probleme überwunden.
(z.B. römische Schreibweise ? arabische
Schreibweise ? Null ? Zehnersystem)
2 Hände und 2 Finger ( 12)
Kinder lernen die arabischen Ziffern und das
Dezimalsystem – die Voraussetzungen für die
Rechenverfahren.
Schätzung und Näherung:
Problem wird mit Zweiwortkonstruktionen
gelöst:
Zehn bis zwölf Menschen
ungefähr 12 Millionen
Für Kinder zunächst schwierig; wird im
Kontext der Sprachentwicklung und des
Zählens erworben.
-2Beate Kotonski, Staatliche Schulberatungsstelle für Stadt und Landkreis München
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II.
Mathematiklernen in der Vor- und Grundschulzeit
1.
Vorschulzeit – Zeit der Erfindung eigener Rechenwege oder: Der positive Effekt von
„Mensch–ärgere–dich–nicht“
In Verbindung mit der Sprachentwicklung lernen Kinder Zahlwortsequenzen, Zählen und
Vergleiche wie „mehr“ bzw. „weniger als“ ebenso intuitiv, wie das Sprechen und die Sprache.
Stern (1998) bezeichnet das Ergebnis dieses Lernprozesses primäre oder intuitive mathematische Kompetenz.
In Alltagssituationen entdecken Kinder die Addition, Subtraktion; das Kommutativgesetz der
Addition und die beiden Methoden der Subtraktion (abziehen , ergänzen). Zur Anschauung
dienen häufig die Finger. Hierbei wechseln je nach Problemstellung sowohl kardinale (simultane Mengenerfassung) als auch ordinale (d. h. abzählende) Methoden. Der Lernweg erfolgt über Versuch und Irrtum, erfolgreiche Strategien werden behalten, erfolglose verworfen.
Somit verstehen Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren nicht nur was ihre Rechnungen
bedeuten, sondern sie wählen auch die besten Rechenverfahren.
Wie Dehaene betonen auch Probst und Waniek (2003) die Rolle familiärer Interaktionen und
Spiele in dieser Entwicklungsphase, in der Kinder lernen, „die Welt der Zahlen mit der Welt
der Größen in Beziehung zu setzen und folglich zu verstehen, dass Zahlen eine Bedeutung
haben und dazu benutzt werden können, die wirkliche Welt vorherzusagen, zu erklären und
mit Sinn zu erfüllen.“ (Dehaene, S. 167) Dies bildet die Basis für den nächsten Ent wicklungsund Lernschritt, der ungefähr mit dem Schuleintritt beginnt.
2.
Grundschule – vom Kopfrechnen zu den schriftlichen Rechenverfahren
Jetzt beginnt die Möglichkeit einer gezielten Vermittlung „sekundärer oder kulturvermittelter
Kompetenzen“ (Stern, 1998). Mit dem arabischen Notationssystem lernt das Kind eine visuell
repräsentierte Zahlensprache mit ihrer stellenwertbezogenen Syntax und die Verschriftung des
gesprochenen Zahlenworts. Damit kann sich das Kind bei einer Zahl von der dabei vorgestellten konkreten Menge lösen und sich den Ort abstrakt auf dem inneren Zahlenstrahl vorstellen. Es bekommt die Fähigkeit, neue Zugangsweisen zur Welt der Zahlen und verschiedene Strategien im Umgang mit Zahlen zu erwerben. Die Kinder können sich Verfahren aneignen, auf die sie nicht von selbst gekommen wären, und sie lernen explizit Regeln für die
Wahl der besten Strategie.
Das Gedächtnis bekommt mit zunehmenden Fertigkeiten und wachsenden Zahlengrößen eine
bedeutsame Rolle.
Beispiel: Multiplikation zwischen Automatisierung und aktiv-entdeckendem Lernen
Mit „Automatisierung“ sei hier das Auswendiglernen der Einmaleins-Tabellen gemeint, was
den meisten zunächst schwer fällt, aber dennoch bald sicher beherrscht wird. Dehaenes Erklärung: Unser Gedächtnis ist assoziativ struktur iert. Es kann viele Einzelheiten miteinander
verflechten, und somit auch assoziativ abrufbar machen. Arithmetische Tatsachen werden
deshalb im verbalen Gedächtnis gespeichert, das wesentlich robuster ist, als das Zahlengedächtnis. (Beispiel: Rechnen in der Muttersprache bei Menschen, die schon lang im Ausland
leben). Das Einmaleins kann beispielsweise mit Hilfe der Sprache nach dem gleichen Prinzip
wie Verse auswendig gelernt werden. Der entdeckende Teil beim Lernen bewirkt langfristig
-3Beate Kotonski, Staatliche Schulberatungsstelle für Stadt und Landkreis München
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die Fähigkeit, bestimmte Regelhaftigkeiten bei der Multiplikation zu nutzen, um sofort Fehler
zu entdecken( 5 ? 23 = 113), Überschlagsaufgaben zu bewältigen, mit Hilfe von
Rechenvorteilen Aufgaben schnell lösen zu können ( 39 ? 75 = 40 ? 75 – 75). In China wird
bereits das Kommutativgesetz der Multiplikation vor dem Auswendiglernen eingesetzt. Die
Schüler lernen, die Aufgaben umzustellen, d. h. die kleinere Ziffer immer zuerst zu sagen und
müssen somit nur 36 Produkte aus ihrem Gedächtnis abrufen.
Die halbschriftlichen Rechenverfahren bekommen somit einen hohen Stellenwert bei der
Entwicklung arithmetischer Fertigkeiten – nicht nur bei der Multiplikation. Ihre Vermittlung
verlangt ein hohes Maß an mathematisch fachlichen und didaktisch- methodischen Kompetenzen der LehrerInnen, Offenheit und Flexibilität bei der Gestaltung des Unterrichts und Umgang mit Schülervorschlägen. Der Lösungs prozess und nicht nur das Lösungsergebnis sollten
im Zentrum stehen, der Mut zu Irrwegen immer wieder betont werden.
Dies gilt auch und besonders für rechenschwache Kinder. Werden die schriftlichen Normalverfahren zu früh, d.h. wenn das Verarbeiten der Zahlen unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung, ihrer Besonderheiten und Beziehungen noch nicht erfasst worden ist, eingeführt und
trainiert, so bleibt es bei der Anwendung einer Technik, die unter diesen Umständen sehr
fehleranfällig sein kann, da das Gedächtnis wenig Entlastung bekommt.
Beispiele zur mechanischen Anwendung vo n Regeln bei der schriftlichen Subtraktion:
„Subtrahiere immer die kleinere!“
von der größeren Zahl“
„Übertrage die Eins“
(o. ä. Formulierung)
54
612
307
428
–28
–39
– 9
–26
34
627
208
302
Zum Abschluss ein Zitat von Dehaene für alle, die Mathematik unterrichten und /oder selbst
Kinder haben:
„Kinder mit anfangs gleichen Fähigkeiten können hervorragende Mathematiker oder hoffnungslose Versager werden, je nachdem wie gern sie das Fach haben. Das besondere an Experten ist die Leidenschaft für Zahlen und Mathematik.“
Literatur:
Dahaene, Stanislas (1997). Der Zahlensinn oder Warum wir rechnen können. Basel / Boston / Berlin:
Birkhäuser.
Stern, E. (1998). Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses im Kindesalter. Lengerich:
Pabst Sience Publishers.
Aster, von Michael (2003). Verstehen, wie sie rechnen. In Pädagogik, 55 (4), S.36-39.
Probst, H. & Waniek, D. (2003). Kommentar: Erste numerische Kenntnisse von Kindern und ihre
didaktische Bedeutung. In: Fritz, Annemarie, Ricken, Gabi & Schmidt, Siegbert (Hrsg.),
Rechenschwäche,S. 65-78. Weinheim: Beltz.
Krauthausen, G. (2003). Entwicklung arithmetischer Fertigkeiten und Strategien – Kopfrechnen und
halbschriftliches Rechnen. In: Fritz, Annemarie, Ricken, Gabi & Schmidt, Siegbert (Hrsg.).
Rechenschwäche, S. 80-97. Weinheim: Beltz.
-4Beate Kotonski, Staatliche Schulberatungsstelle für Stadt und Landkreis München
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