NATUR Wandern mit WWF Waldameisen leben in einem Frauenstaat, betreiben Land- und Viehwirtschaft, halten sich Sklaven und können zentnerschwere Wildschweine verjagen. Doch die für den Wald so wichtigen Tiere sind bedroht. Text: Andreas Krebs O Fotos: Dieter Bretz bwohl die Siedlungsdichte im schweizerischen Nationalpark gross ist, sind die Strassen nie verstopft – dafür sind die Waldameisen zu gut organisiert. Hunderttausendfach krabbeln sie aus ihren Nestern, trippeln und trappeln auf Haupt- und Nebenstrassen bis zu 100 Meter in die Ferne, weichen den Heimkehrenden flink aus – links, rechts, wieder links – und jagen mit Mut und gewaltigen, zähnebestückten Oberkiefern (Mandibeln) alles, was sich bewegt. Waldameisen überwältigen selbst Tiere, die hundertmal schwerer sind als sie selbst: Sie verbeissen sich im Opfer, krümmen ihren Unterleib und spritzen aus einer Drüse an dessen Ende zielsicher Ameisensäure in die Bisswunden. Die Säure zerfrisst das Gewebe, das Opfer stirbt und die Ameisen schleppen es in ihren Bau. 28 Natürlich | 8-2007 Das Die Säure verspritzen die Winzlinge auch, um Feinde abzuwehren. Mit der Säure werden Alarmstoffe freigesetzt und alsbald eilen Nestgenossinnen zu Hilfe. So können ein paar hundert Ameisen auch zentnerschwere Braunbären und Wildschweine verjagen. Krabbelnde Arterhalter Neben der tierischen Nahrung fressen Waldameisen aber auch gerne die ölhaltigen Anhängsel von Pflanzensamen, die sie manchmal auf dem Weg ins Nest verlieren; so tragen die Tiere zur Ausbreitung seltener Pflanzen bei: Schöllkraut, Waldveilchen und Lerchensporn werden fast ausschliesslich von Ameisen verbreitet. Ein grosser Teil der Tiere kümmert sich um Blatt-, Schild- und Rindenläuse, die ihnen feinen Honigtau liefern; der zuckerhaltige Saft macht rund 45 Prozent des Waldameisen-Speiseplans aus. Doch Königinnen und Brut – und um diese dreht sich das Leben im Ameisenvolk – verlangen nach tierischer Nahrung. Effiziente Räuberinnen So suchen fast unentwegt Späherinnen die Umgebung ihrer Nester nach toten Tieren und potenzieller Beute ab. Ihre Koloniemitglieder lotsen sie mittels Duftpfaden zu ergiebigen Futterquellen. Dazu genügen winzigste Mengen einer chemischen Substanz: Mit einem Gramm des entsprechenden Lockstoffes könnte die Feuerameise Solenopsis richteri theoretisch eine Fährte von einer Milliarde Kilometer Länge legen. Bis zu 50 000 Spinnen und Würmer und Insekten trägt und schleppt und krampft ein grösseres Volk jeden Tag Wandern mit WWF NATUR Weiberregiment in seinen Bau. Mehr als 90 Prozent aller toten Kleintiere in der Umgebung eines Ameisenbaus werden von den Arbeiterinnen abtransportiert, noch ehe irgendein anderer Fleischfresser überhaupt die Chance hat, dem Frauenvolk die Nahrung streitig zu machen. Dufte Worte «Eine einzelne Arbeiterin ist dumm», sagt Ameisenexperte Daniel Cherix von der Universität Lausanne. «Aber in der Gemeinschaft sind sie zu erstaunlichen Leistungen fähig.» Bei der Kommunikation spielen Gerüche die bei Weitem wichtigste Rolle. Der Zürcher Zoologe Rüdiger Wehner spricht von «kollektiver Intelligenz», wenn innerhalb eines Volkes 200 000 Miniaturgehirne durch Duftkommunikation in Verbindung stehen. «Duftstoffe sind wie Worte», erklärt Cherix. Forscher haben bei staatenbildenden Insekten mehr als 60 verschiedene Drüsen entdeckt, ihre Sekrete übermitteln komplexe Signale. Diese entscheiden oft über Leben und Tod, etwa am Ein- gang der Nester, wo der Geruch als Passwort gilt: Wer nicht vom spezifischen Bukett umhüllt ist, wird getötet, in den Bau verschleppt und aufgefressen. Ein intelligentes Ganzes Das nahm vor etwa 100 Millionen Jahren seinen Anfang. Damals entwickelten sich aus wespenähnlichen Insekten die Vorfahren von Ameisen. In dieser Urzeit lebten wohl mehrere Weibchen zusammen in einem Nest, wobei sich jede um ihren eigenen Nachwuchs kümmerte. Irgendeinmal legten innerhalb eines Nestes nur noch wenige Weibchen Eier, aus denen nun Larven schlüpften, die sich in der Regel zu Arbeiterinnen entwickeln. Und als sie auch noch lernten Natürlich | 8-2007 29 Wandern mit WWF NATUR Das WWF-Alpenprogramm Für die Serie «Wandern mit dem WWF» arbeiten WWF und «Natürlich» zusammen. In der Serie werden Tiere und Pflanzen vorgestellt, die in Smaragd-Gebieten vorkommen oder europäisch wichtige Smaragd-Arten sind. Smaragd ist vom Europarat initiiert und ergänzt Natura 2000 in Nicht-EU-Ländern. Der WWF macht Smaragd in der Schweiz seit acht Jahren bekannt und führt in Smaragd-Gebieten sogenannte Walks durch, Daywalks als Tagesexkursionen und Nightwalks als besinnliche Nachtwanderungen. Mehr dazu unter: www.smaragd.wwf.ch miteinander zu kommunizieren, stand ihrer Weltherrschaft nichts mehr im Wege. Das Gewicht der Menschheit Heute leben schätzungsweise zehn Billiarden Ameisen auf der Erde – gemeinsam wiegen sie etwa so viel wie die gesamte Menschheit. Ihre Familie (Formicidae) umfasst rund 12 000 Arten, 142 leben in der Schweiz. Noch, denn einige Arten sind bereits ausgestorben, andere vom Aussterben bedroht. Die Waldameisen zum Beispiel. Sie wurden 1966 als erste Insekten in der Schweiz unter Schutz gestellt – und trotzdem sieht man ihre Hügel heute seltener als damals. Dabei seien Waldameisen bei guten Bedingungen im Gebirge weitverbreitet, Bisher erschienen: 6-06: Ringelnatter, Mastrilser Auen GR 7-06: Adonislibelle, Les Grangettes VD 8-06: Murmeltier, Fellital UR 9-06: Hirsch, Schwägalp AI 10-06: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert GE 11-06: Gämse, Stockhorn BE 12-06: Kolbenente, Ermatinger Becken TG 1-07: Biber: Chablais de Cudrefin/Fanel NE 2-07: Wasseramsel: Val Müstair GR 3-07: Feuerwanze: Bois-de-l’Hôpital NE 4-07: Hummelragwurz: Erlinsbach SO 5-07: Kleine Hufeisennase: Kleinteil OW 6-07: Spechte: Stazerwald GR 7-07: Zugvögel: Bolle di Magadino TI auch im Jura, sagt Cherix. Im Tiefland hingegen gebe es fast keine mehr. Zu lange wurde zu sorglos geholzt und Insektizide gaben vielen Völkern den Rest. Zudem haben Waldameisen in eintönigen Forstplantagen kaum eine Chance zu überleben – und der Mensch wundert sich dann, dass Schädlinge überhand nehmen. Ein Heer von Königinnen Cherix will nun genau wissen, wie es um die Waldameisen in diesem Land steht. Er leitet eine Arbeitsgruppe, die zum ersten Mal seit den Erhebungen des WWF von 1976 bis 1979 wieder den Schweizer Waldameisenbestand ermittelt. Cherix wird erst in ein bis zwei Jahren klare Aussagen über die Bestan- desentwicklungen machen, doch er befürchtet, dass die Rote Liste um einige Arten ergänzt werden muss. Bisher wurden nur im Kanton Graubünden alle sieben hügelbauenden Waldameisenarten der Schweiz nachgewiesen. Im Nationalpark leben drei: die Schweizer Gebirgsameise (Formicidae paralugubris), die Starkbeborstete Gebirgswaldameise (F. lugubris) und die Schwachbeborstete Gebirgswaldameise (F. aquilonia). Sie bilden polygyne Völker, das heisst, in jedem leben mehrere Dutzend oder sogar Hunderte Königinnen. Bei den monogynen Völkern der Grossen Roten Waldameise (F. rufa) hingegen lebt nur eine einzige Königin. Superkolonien Ein paar Härchen mehr auf dem Rücken oder eine Einbuchtung am Kopf machen den Unterschied einer Art aus. «Anhand der Hügel lassen sich die Waldameisen nicht bestimmen», sagt Cherix. Die Form des Hügels gebe aber Auskunft über das lokale Klima: «An warmen Orten sind Ameisenhügel flach, an kalten bis zu zwei Meter hoch.» Auf der schattigen Seite des Inn zwischen Scuol und Sur En stehen einige Riesennester, manche sind 100 Jahre alt. Stellenweise stehen die Hügel dicht an Mehr als mannshoch: Die Bauten grosser Waldameisen-Völker werden bis über zwei Meter hoch Natürlich | 8-2007 31 NATUR Wandern mit WWF Wandern zwischen Inn und Nationalpark Die protestantische Kirche von Scuol steht auf einem Hügel im Unterdorf und ist nicht zu übersehen. In der Nähe plätschert ein Mineralwasserbrunnen, dort kann man sich stärken für die Wanderung nach Sur En, von wo es weitergehen wird nach Sent und wieder zurück nach Scuol. Dort ladet das Bogn Engiadina zum Baden. Smaragd-Veranstaltungen in der Region: Doch vor dem Vergnügen das Staunen: • Daywalk: Entdecke die Smaragd-Gebiete, Auf der rund fünfstündigen Wanderung 2. und 9. August 2007, 14.30 Uhr, Stazer- werden wir so viele Waldameisenhügel sehen wald bei St. Moritz wie kaum je zuvor. Dazu gehen wir beim • Alpenlager: 14.–20. Oktober, in Tschierv, Münstertal • Weitere Infos und Details: http://www.wwf.ch/de/newsundservice/ • Nightwalk: Spaziergang in der Stille, Brunnen weiter hinunter zum Inn, überqueren 14. September 2007, 20.30 Uhr, Stazerwald ihn und folgen seinem Lauf auf dieser Seite bei St. Moritz news/events/index.cfm Routenvorschläge und weitere Infos: Scuol Tourismus AG, 7550 Scuol, Telefon 081 861 22 22, www.scuol.ch; Graubünden Ferien, 7001 Chur, Tel. 081 254 24 24, [email protected] www.graubuenden.ch. Anreise: Mit den SBB bis Landquart, von dort mit der Rhätischen Bahn bis Scuol. Die SBB fahren von Landquart weiter bis nach Chur; von dort Fotos: Andreas Krebs sind alle Destinationen in Graubünden mit der RhB oder dem Postauto erreichbar. Die Fahrt von Zürich nach Scuol dauert 2 3⁄4 Stunden und kostet mit dem Halbtax Fr. 29.50. ■ Postautohaltestellen bis Sur En. Links der Inn, rechts der Nationalpark – und nach dem Elektrizitätswerk ■ Ameisenhügel dicht an dicht. Dabei gilt: ■ Das rege Treiben nur beobachten und keinesBei Sur En kann man den Inn wieder überqueren und auf einem Pfad hochsteigen zur Hauptstrasse. Wer will, kann von hier mit dem Postauto nach Scuol fahren. Wer weiter wandern mag, setze seinen Weg nach oben fort bis zum sonnenverwöhnten Dörflein Sent, von wo sich eine herrliche Aussicht bietet. Von Sent wandert man in einer gemütlichen Stunde zwischen prächtigen Wiesen hinunter nach Scuol. 32 Natürlich | 8-2007 ■ Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA071432) falls die sensiblen Nester (zer)stören. Wandern mit WWF NATUR Nach dem Hochzeitsflug: Eine begattete Königin wirft ihre Flügel ab dicht, die Völker bilden eine einzige Superkolonie, untereinander verbunden durch breite Ameisenstrassen. Geheimgänge im Ameisenhügel Wird eines Tages ein Volk zu gross, zieht eine Gruppe von Arbeiterinnen mit mehreren Königinnen aus und baut ein neues Nest. In seinem Zentrum steht oft ein Baumstumpf, darüber schichten Legionen von Arbeiterinnen Abermillionen Aststückchen, Harzklümpchen und Grashalme auf und bedecken das Baumaterial mit einer isolierenden Schicht Tannennadeln. Sonne, verrottendes Material und die Bewohner selbst heizen das Nest auf, das von einem komplexen Gänge- und Kammernsystem durchzogen ist, das sich nicht selten ein bis zwei Meter unter die Erdoberfläche erstreckt, wo die Ameisen im Winter gut geschützt sind vor Feinden, etwa dem Specht (siehe «Natürlich» 06-07), und vor Frost. Tod nach dem Hochzeitsflug Die erste Brut entwickelt sich unter normalen Verhältnissen zu Geschlechtstieren: Königinnen und Männchen. Ende April schlüpfen die geflügelten Tiere aus ihren Puppenkokons; bei schwülem sonnigem Wetter verlassen sie ihre Nester zum Hochzeitsflug. Die Königin wird meistens nur ein einziges Mal begattet – der Spermienvorrat reicht für die Befruchtung der vielen Hunderttausend Eier, die sie in ihrem Leben legt. Polygyne Königinnen können zehn Jahre alt werden, monogyne sogar zwanzig; die Männchen hingegen sterben kurz nach dem Hochzeitsflug. Sklavenhaltung Die Königinnen werfen nach der Begattung ihre Flügel ab und versuchen bei einem Waldameisenvolk Unterschlupf zu finden. Doch die meisten finden den Tod. «Etwa eine von Tausend Königinnen schafft es, ein neues Volk zu gründen», sagt Cherix, wozu sie Sklaven braucht. Diese sind meistens Ameisen der deutlich kleineren Untergattung Serviformica. Sie leben in Erdnestern, oft unter Steinen versteckt. Findet die Waldameisenkönigin ein solches Nest, mischt sie sich unters Volk und tötet dessen Königin. Dann legt sie an ihrer statt Eier, worum sich die Hilfsameisen weiter fleissig kümmern. Spätestens in einem Jahr ist das Volk der kleineren Hilfsameisen ausgestorben. Waldameisen haben das Nest übernommen und über Generationen bauen sie einen grossen Hügel, der hundert Jahre und mehr bevölkert sein kann. ■ I N FO B OX Literatur zum Thema: • Otto: «Die roten Waldameisen», Verlag Westarp Wissenschaften 2005, Fr. 48.– • Reihe: Die Neue Brehm-Bücherei 293 Verlag: Westarp Wissenschaften • «Ameisen Nord- und Mitteleuropas», Verlag Lutra 2007, Fr. 64.50 Film • Thaler: «Ameisen – Die heimliche Weltmacht», Verlag Impuls/Polyband 2006, DVD 50 Min., Fr. 33.90 Internet • www.tierlexikon.ch • www.infochembio.ethz.ch/links/ zool_insekt_ameisen.html Ein kurzes Leben: Nach dem Hochzeitsflug stirbt das Ameisenmännchen innert weniger Stunden Winterruh und Sonnenbad Erste wärmende Frühlingssonnenstrahlen locken die wechselwarmen Tiere an die Nestoberfläche, wo sie sich von März bis April dicht gedrängt sonnen. Dann kann man auch die deutlich grösseren Königinnen sehen, die danach für den Rest des Jahres im Bau verschwinden, wo sie nichts anderes tun als Eier legen, jede Königin 20 bis 50 pro Tag. Täglich bis zu 50 000 frische Eier für das Volk. Junge Arbeiterinnen, sogenannte Innendiensttiere, tragen die frischen Eipakete in wohltemperierte Kammern, wenden und belecken sie ständig, damit nicht Schimmelpilz die Brut befällt. Gleich behutsam gehen die Arbeiterinnen mit den Puppen und Larven um. Natürlich | 8-2007 33