116 MENSCH UND KLIMA

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UNI PRESS
FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT BERN
APRIL 2003
MENSCH
UND
KLIMA
116
UNI PRESS
APRIL
UNIPRESS116
Effizientes Netzwerk
der Klimaforschung
Seite 5
Klimaforschung auf Weltniveau hat an der Universität Bern seit
dem 19. Jahrhundert Tradition. Kaspar Meuli zeigt, wie mit dem
Nationalen Forschungsschwerpunkt Klima (NFS Klima) ein
neues Kapitel dieser Erfolgsgeschichte geschrieben wird.
Mit Klimamodellen auf Zeitreise
Seite 8
Mathematisch-physikalische Modelle des Klimasystems erlangen
eine herausragende Bedeutung, weil mit ihnen zukünftige Klimaänderungen abgeschätzt werden können. Thomas Stocker ist bei
der Entwicklung solcher Modelle an vorderster Front dabei.
Als Eisforscher in Dome Concordia
Seite 11
Seit 1997 sind Wissenschafter in Dome
Concordia daran, den rund 3250 Meter mächtigen antarktischen Eisschild zu
durchbohren. Jacqueline Flückiger und
Matthias Bigler haben über ihre Feldarbeiten ein Tagebuch geführt.
Ungehobene Schätze
im Reich der Mitte
Seite 15
Seite 18
Es gibt zahlreiche historische Klimadaten. Seesedimente, Eisbohrkerne und Baumringe liefern weitere Angaben über frühere
Umweltereignisse. Entscheidend ist, all diese Klimaarchive miteinander zu vernetzen, wie Christian Bigler darlegt.
Klimawandel vor der Haustür
Die Juragewässerkorrektion war der bisher grösste menschliche Eingriff in eine
Schweizer Naturlandschaft. 400 km 2
Feuchtgebiete wurden in Kulturland umgewandelt. Nicolas Schneider und Werner
Eugster zeigen, wie sich dieser Eingriff auf
das Klima im Seeland ausgewirkt hat.
Seite 25
Erhöhte Temperaturen als Folge einer Klimaveränderung können die Photosynthese und damit die Produktivität von Pflanzen
beeinträchtigen. Pierre Haldimann und Urs Feller beschreiben,
welche Rolle Hitzestress bei einzelnen Pflanzen spielt.
Klimaszenarien für die Landwirtschaft?
Seite 28
Bauernregeln zeugen von der engen Beziehung der Landwirtschaft zur Witterung. Doch nur Klimazenarien mit verbessertem System- und Prozessverständnis erlauben, die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft in einem sich rasch ändernden
Klima abzuschätzen. Ein Beitrag von Jürg Fuhrer, Pierluigi Calanca und Karsten Jasper.
Wenn Wetterballone streiken
Seite 31
Berner Atmosphärenphysiker haben sich durch ihre Ozonmessungen einen Namen gemacht. Nun spüren sie der Verteilung
von Wasserdampf bis in 70 km Höhe nach. Kaspar Meuli schildert, dass dabei neuartige, an der Uni Bern entwickelte Messgeräte eine entscheidende Rolle spielen.
Jürg Luterbacher und Kaspar Meuli weisen anhand von Beispielen nach, wie historische Aufzeichnungen über das Wettergeschehen in China spektakuläre Klimarekonstruktionen verheissen.
Vernetzung natürlicher Klimaarchive
Hitzestress bei Pflanzen
2003
Seite 21
Klima und Bevölkerungsbewegungen
Seite 34
Die Umwelt hat auf Evolution des Menschen einen grossen Einfluss ausgeübt. Wie Laurent Excoffier darlegt, gibt es den modernen Menschen seit etwa 5000 Generationen. Zwei Eiszeiten und
eine Zwischeneiszeit zwangen die prähistorischen Menschen zu
erheblichen Wanderungen und Anpassungen.
Die Wüste zum Sprechen bringen
Seite 37
Die Atacama-Wüste in den Anden ist heute
extrem trocken. Berner Klimatologen haben allerdings nachgewiesen, dass diese
heutige Wüste vor etwa 10 000 Jahren
durchaus Lebensraum für Mensch und Tier
geboten hat. Ein Text von Kaspar Meuli.
Die ökonomische Dimension
des Klimawandels
Seite 40
Der Mensch belastet die Atmosphäre zunehmend mit von ihm
verursachten Treibhausgasen. Die Volkswirtschafter Gunter Stephan und Georg Müller belegen, dass ohne Gegensteuer massive
ökonomische und ökologische Schäden zu erwarten sind.
Klima
In England gehört es
durchaus zum guten Ton,
ein Gespräch mit einer
Bemerkung über das Wetter einzuleiten. «Nice day,
today, isn’t it?», und auch
wir in der Schweiz freuen
oder ärgern uns übers
Wetter und reden immer
wieder darüber. Häufig,
wenn das Wetter für unser Gefühl zu warm oder
zu kalt, zu nass oder zu trocken ist oder aber wenn Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder grosse Lawinenniedergänge auftreten, sprechen wir von der eingetretenen oder bevorstehenden Klimaveränderung.
Welcher Zusammenhang besteht denn überhaupt zwischen unserem täglichen Wetter, zwischen mehrtägigen
oder mehrwöchigen Wetterperioden und dem Klima?
Gebiet betreiben. Dazu gehören neben den Geographen Physiker,
Biologen, Chemiker, Geologen und selbst Historiker.
Es kommt daher sicher nicht von ungefähr, dass einer der 14 Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS), nämlich derjenige mit
der Umschreibung «Variabilität, Vorhersagbarkeit und Risiken
des Klimas» von einem Berner, nämlich Prof. Dr. Heinz Wanner
vom Geographischen Institut, geleitet wird. 112 Personen aus
der ganzen Schweiz und vielen anderen Ländern sind in diesem
Schwerpunkt mit insgesamt 13 Teilprojekten involviert.
Wir wollen unseren Lesern wenigstens einen partiellen Eindruck
davon vermitteln, was in diesen Projekten so geforscht wird. Kaspar Meuli, der Medienbeauftragte des NCCR Climate, wie sich
der Schwerpunkt auf Englisch nennt, hat uns die verschiedenen
Autoren ausfindig gemacht, manchen von ihnen beim Verfassen
des Artikels zur Seite gestanden, und er erscheint in diesem Heft
auch als Autor. Wir danken ihm herzlich für seine Hilfe.
Annemarie Etter
Unter Klima versteht man den mittleren Zustand der Atmosphäre während einer längeren Periode – die nach
den Grundsätzen der der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) 30 Jahre beträgt.
Dass das Klima schwankt, ist nichts Neues; und dass diese
Schwankungen beträchtlich sein können, genau so wenig.
Wir alle wissen von den Eiszeiten, als Schnee und Eis die
grössten Teile unseres Mittellandes bedeckten, und wenn
wir auf dem Belpberg versteinerte Muscheln finden, werden wir daran erinnert, dass dort einmal ein Meer lag.
Klimatischen Veränderungen nachzugehen und ihre Ursachen zu erforschen, ist an sich schon spannend und eine
wissenschaftliche Herausforderung. In der heutigen Zeit
haben aber diese Forschungen eine zusätzliche Bedeutung erlangt. Immer mehr stellt sich die Frage, wie weit
der Mensch mit seinen Eingriffen in die Landschaft, mit
seinem Verbrauch an fossilen Energien, mit seiner Verschmutzung der Umwelt zu einer lokalen oder globalen
Veränderung des Klimas beiträgt.
An der Universität Bern hat Klimaforschung Tradition.
Schliesslich ging von hier vor 140 Jahren die Schaffung
des ersten landesweiten meteorologischen Beobachtungsnetzes aus, aus dem die Schweizerische Meteorologische
Zentralanstalt, die heutige MeteoSchweiz, hervorging. Typisch für Bern ist seit jeher, dass Wissenschafter in den
verschiedensten Disziplinen ihre Forschungen auf diesem
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UNIPRESS116/APRIL 2003
UNIPRESS
Verantwortliche
Herausgeberin
Stelle für Öffentlichkeitsarbeit
der Universität Bern
Prof. Dr. Annemarie Etter
Fred Geiselmann
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Schlösslistrasse 5, 3008 Bern
Tel. 031 631 80 44
Fax 031 631 45 62
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116/April 2003
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nächste Nummer Juni 2003
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Titelbild
Christine Blaser
Auflage
15 000 Exemplare
In Bern laufen die Fäden des Nationalen Forschungsschwerpunkts zusammen
Effizientes Netzwerk
der Klimaforschung
Klimaforschung auf Weltniveau hat an der Uni Bern seit
dem 19. Jahrhundert Tradition. Nun wird mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Klima (NFS Klima) ein neues
Kapitel dieser Erfolgsgeschichte geschrieben. Ziel: ein besseres Verständnis des Klimasystems durch interdisziplinäre
Forschung. Die Uni Bern beherbergt das Management Center
des Programms und ist das Mutterhaus im Netzwerk
der Schweizer Klimaforschung.
Drei persönliche Ziele hat sich der Berner
Klimatologe Heinz Wanner für das gross
angelegte Forschungsprogramm gesetzt,
dem er als Direktor vorsteht: Ein wissenschaftliches, ein politisches und ein pädagogisches.
Auf wissenschaftlicher Ebene, so Wanner, soll der NFS Klima folgende Frage
beantworten: «Ist im atlantisch-europäischen Klima die Handschrift der menschlichen Beeinflussung bereits sichtbar?»
Aus den Antworten ergibt sich der zweite
Anspruch an das Programm: Globale Bekämpfung der Ursachen. «Wir wollen den
Kyoto-Prozess wissenschaftlich unter-
mauern und Argumente zu seiner politischen Umsetzung liefern.» Und schliesslich das dritte Ziel: Es gelte, eine neue
Generation von Klimawissenschaftern
und -wissenschafterinnen «effizient auszubilden» und dazu beizutragen, dass die
Nachwuchsforscher in der Schweiz eine
berufliche Perspektive erhielten.
Ob sich die hochgesteckten Erwartungen
an den NFS Klima erfüllen, zeigt sich im
Jahre 2005. Dann werden die momentan
14 Nationalen Forschungsschwerpunkte
durch internationale Experten grundsätzlich unter die Lupe genommen. Erbringen die Programme den geforderten Leis-
tungsausweis, werden sie für weitere vier
Jahre finanziert.
Das langfristige Engagement ist Teil des
Konzepts. Als die neuen Förderinstrumente 1999 vom Parlament beschlossen
wurden, war die erklärte Absicht, der helvetischen Forschungslandschaft festere
Strukturen zu verleihen. Und als Bundesrätin Ruth Dreifuss zwei Jahre später die
Auswahl der Schwerpunkte präsentierte,
sprach sie von einer neuen «Forschungsarchitektur». Ziel der Neuausrichtung: Die
Konkurrenzfähigkeit der Schweiz in der
internationalen Wissensgesellschaft zu sichern und den Forschungskapazitäten in
Schlüsselgebieten zur kritischen Masse
zu verhelfen.
Vernetzung der Schweizer
Klimaforschung
Das Interesse der Wissenschaft an den Forschungsschwerpunkten war bereits bei ihrer Ausschreibung enorm. In einer ersten
Runde gingen 229 Absichtserklärungen
ein, von denen sich in einer zweiten Phase
82 zu Skizzen entwickelten. Schliesslich
wurden 34 vollumfängliche Gesuche zur
Nachwuchsförderung hilft Grenzen sprengen
Zwei Veranstaltungen haben das erste Jahr im Leben des NFS
Klima geprägt – und bei beiden standen Nachwuchsforscher
und -forscherinnen im Vordergrund. Bei einem zweitägigen
Workshop in Gwatt tauschten sich 30
im Programm tätige Doktoranden und
Postdocs aus – mehr als ein Drittel von
ihnen Frauen. Und an der NFS Klima
Summer School in Grindelwald verbrachten 70 talentierte junge Klimaforscher aus der ganzen Welt eine
Woche mit hochkarätigen Dozenten.
Thema der Vorträge, Poster Sessions
und Exkursionen: «Climate variability,
predictability and climate risks» (Veränderlichkeit, Vorhersagbarkeit und Risiken des Klimas).
Es ist kein Zufall, dass sich diese beiden Anlässe, die in den kommenden
Jahren regelmässig durchgeführt werden sollen, an den wissenschaftlichen Nachwuchs richten. «Die jungen Forscherinnen
und Forscher sind für den Erfolg unseres Programms von zentraler Bedeutung», sagt Martin Grosjean,
Programmleiter des NFS Klima. «Sie
sind offen und interessiert an Zusammenarbeit über ihr eigenes Fachgebiet hinaus. Genau diesen Austausch
streben wir an.» Im Gegensatz zu ihren Betreuern, die als gestandene Professoren in unterschiedlichen wissenschaftlichen Vorhaben engagiert sind,
arbeiten die Doktoranden und Postdocs zum grössten Teil ausschliesslich
für den NFS Klima und identifizieren
sich entsprechend mit dem Programm.
Abb. 1: Nachwuchswissenschafterinnen und -wis- Die über 50 Nachwuchsforscherinsenschafter beim Treffen für Doktoranden und Post- nen und -forscher stammen aus rund
docs in Gwatt.
einem Dutzend Nationen.
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aber auch Ökonomen, Sozialwissenschafter und Historiker. Den unterschiedlichen
Disziplinen zum Trotz steuern sie alle zu
gemeinsamen Forschungszielen bei. Zu
diesen übergreifenden Themen gehören:
Extremereignisse und ihre Vorhersagbarkeit, Klimavariabilität und -trends sowie
Klimapolitik.
Insgesamt umfasst der NFS Klima über
ein Dutzend Projekte. Sie reichen vom Studium klimatischer Extremereignisse in der
Vergangenheit, über das Entwickeln von
regionalen Szenarien des Klimawandels
für den Alpenraum, bis zur Entwicklung
von Computermodellen, mit denen die
Auswirkungen des Klimawandels auf die
Wirtschaft simuliert werden.
Abb. 2: Margit Schwikowski vom PSI ist Spezialistin für Eisbohrungen. Im Rahmen des
NFS Klima erforscht sie natürliche Klimaarchive.
Beurteilung durch Expertenkomitees eingereicht. Die endgültige Auswahl unter
den vorgelegten Programmvorschlägen
traf schliesslich das Eidgenössische Departement des Innern. Entscheidendes
Kriterium neben der hohen wissenschaftlichen Qualität der Vorhaben war: Die Zusammenarbeit der Forscher in einem wissenschaftlichen Netzwerk und über die
Grenzen ihrer Disziplinen hinaus.
Konkret werden diese Vorgaben beim
NFS Klima so umgesetzt: An Universitäten und Forschungsinstituten in der ganzen
Schweiz (siehe Kasten «Klimaforschung
auf einen Blick») gehen rund 100 Wissenschafter Fragen nach wie: Werden Stürme,
Überschwemmungen und Dürren künftig
zunehmen? Lassen sich extreme Klimaereignisse vorhersagen? Und: Wie wird
die Landwirtschaft mit den sich wandelnden Klimabedingungen fertig? Dabei stehen zwei Schwerpunkte im Vordergrund:
Die eigentliche Klimaforschung, die zum
Verständnis der Prozesse beiträgt, die für
den Klimawandel verantwortlich sind,
sowie die Erforschung der Folgen dieses Wandels. Zu den am Programm beteiligten Wissenschaftern zählen Physiker,
Biologen, Klimatologen und Chemiker,
Abb. 3: Olivier Bahn vom PSI simuliert die ökonomischen Auswirkungen des Klimawandels auf Gesellschaft und Wirtschaft.
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Neuland bei der
Zusammenarbeit
Die Tatsache, dass an der Universität Bern
gleich zwei Nationale Forschungsschwerpunkte angesiedelt sind – der zweite,
«Nord-Süd», befasst sich mit den Auswirkungen des globalen Wandels für die
Entwicklungsländer – ist alles andere als
selbstverständlich und zeichnete sich im
Laufe der wissenschaftspolitischen Selektion auch nicht unbedingt ab. Nach einer
eher mittelmässigen Einstufung der ersten groben Projektskizze für einen KlimaSchwerpunkt sank bei den Initianten der
Glaube an ihre Chancen. «Ohne die Unterstützung der Unileitung und die Kollegen der ETH Zürich», sagt Heinz Wanner,
«hätten wir unser Projekt möglicherweise
gar nicht ausgearbeitet und eingereicht.»
Schützenhilfe kam aber auch von Bun-
Abb. 4: Sonia Seneviratne von der ETH Zürich arbeitet mit Klimamodellen.
desämtern wie der MeteoSchweiz, dem
Buwal und dem Bundesamt für Wasser
und Geologie.
Im Gegensatz zu andern selektionierten
Schwerpunkten liegt bei der Klimaforschung der Schritt von der Grundlagenforschung zur technologischen Anwendung, den die Politik von den NFS fordert,
nicht auf der Hand. Das gemeinsame
Schmieden von «Innovationsketten» mit
Partnern aus der Wirtschaft ist nur bedingt
möglich. Diesen Mangel machte der NFS
Klima offensichtlich mit anderen Stärken
wett. Zum Beispiel, so Heinz Wanner, mit
seiner «aktuellen Fragestellung» einerseits
für die Schweiz, die als Gebirgsstaat besonders sensibel auf Klimaänderungen reagiert, vor allem aber auf globaler Ebene.
«Bei den entscheidenden Gremien hat
sich die Einsicht durchgesetzt, dass globale Klimafragen von grosser Bedeutung
sind und dass die Schweiz einen Beitrag zu
ihrer Erforschung leisten kann.»
Zwar existiert weltweit eine Vielzahl grosser Klimaforschungsprogramme, doch das
Schweizer Programm, so glaubt sein Direktor, begeht Neuland: «Gegenüber dem
angelsächsischen Raum hat die Interdisziplinarität unseres Programms eine gewisse Einmaligkeit.» Von der Absichtserklärung zur konkreten Zusammenarbeit
über die Grenzen der Forschungsdisziplinen hinweg führt allerdings ein langer
Abb. 5: Lukas Zimmermann vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Uni Bern arbeitet mit Flaumeichen. Gemessen wird der Saftfluss.
Fotos: Marcus Gyger
Weg – und ein steiniger dazu. Wie andere
Forscher vor ihnen erleben auch die Mitarbeiter des NFS Klima, dass eine gemeinsame Basis zwischen den verschiedenen
Wissenschaftskulturen keine Selbstverständlichkeit ist. «Noch müssen wir», resümiert Heinz Wanner, «eine gemeinsame
Sprache finden.»
Kaspar Meuli, NFS Klima
Klimaforschung auf einen Blick
Der NFS Klima stellt ein wissenschaftliches Netzwerk dar, das folgende Partner umfasst: Uni Bern, Uni Freiburg, Uni Genf, ETH
Zürich, Paul Scherrer Institut (PSI), Eidgenössische Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau (FAL) sowie die MeteoSchweiz.
Das Forschungsprogramm aller am NFS beteiligten Institutionen baut auf vier Pfeilern auf: «Vergangenes Klima»,
«Künftiges Klima», «Folgen für die Umwelt» und «Folgen für
Wirtschaft und Gesellschaft». In einem Dutzend Projekten
sind an die 100 Wissenschafter tätig. Gemeinsames Ziel:
Ein besseres Verständnis der Klimaprozesse und die Erforschung der Folgen des Klimawandels.
Für die ersten vier Jahre seiner Tätigkeit steht dem NFS
Klima bis im Jahr 2005 ein Budget von rund 26 Millionen Franken zur Verfügung. Davon steuert der Schweizerische Nationalfonds gut 11 Millionen und die Uni Bern 2
Millionen Franken bei. An der Finanzierung beteiligt sind
aber auch Partner aus der Wirtschaft (SwissRe) und Verwaltung (MeteoSchweiz, Buwal).
Abb. 6: Das Netzwerk des NFS Klima umspannt die ganze Schweiz.
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Das Klima in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Mit Klimamodellen
auf Zeitreise
Mathematisch-physikalische Modelle des Klimasystems
erlauben, vergangene Klimaschwankungen zu simulieren
und deren Ursachen auf die Spur zu kommen. Ihre herausragende Bedeutung erlangen sie jedoch als wissenschaftliche «Instrumente», mit denen zukünftige Klimaänderungen
abgeschätzt werden.
An der Abteilung für Klima- und Umweltphysik (KUP) werden neben der Rekonstruktion von vergangenen Klimaänderungen aus Archiven, insbesondere polaren
Eisbohrkernen, mit Hilfe von komplexen
physikalischen Messmethoden seit einigen Jahren auch theoretische Modelle des
Klimasystems entwickelt und verwendet.
Eine solche enge Verknüpfung von Theorie und Experiment ist weltweit nur in den
wenigsten Instituten der Klimaforschung
realisiert und erweist sich als besondere
Stärke der Berner Klimaphysik.
Nach dem zweitwärmsten Jahr der letzten 150 Jahre, einem äusserst milden Winteranfang und zunehmenden Häufungen
von lokalen Extremereignissen wie Überflutungen und Hangrutschungen fragt man
sich beunruhigt, ob die globale Klimaveränderung nun auch unser Land erreicht hat.
Eine wissenschaftlich solide Antwort benötigt einerseits eine ausreichende Statistik und andererseits mathematisch-physikalische Modelle, die eine quantitative
Verknüpfung der Beobachtungen mit den
vermuteten Ursachen herstellen können.
Dabei wurden im letzten Jahr im Rahmen
einer Doktorarbeit an der KUP bedeutende Fortschritte erzielt, die in der Fachzeitschrift «Nature» publiziert wurden und
weltweit Beachtung gefunden haben.
Klimamodelle ermöglichen Zeitreisen. Bevor man aber in die Zukunft schaut, muss
man sich vergewissern, dass dieses Klimamodell, mit dem die Zeitreise unternommen werden soll, das bereits Geschehene wiedergeben kann. Zeitreisen in die
Vergangenheit sind unerlässlich für Klimamodellierer, denn nur sie ermöglichen
die Überprüfung der Modelle anhand von
Daten, die aus Klimaarchiven gewonnen
worden sind.
Eine dramatische Kaltphase
als Testfall für Klimamodelle
Die Zeitreise führt uns 13 000 Jahre in
die Vergangenheit, an das Ende der letzten Eiszeit. Bereits ist die Vergletscherung
massiv zurückgegangen, und es herrschen
deutlich wärmere Temperaturen in Europa
als je zuvor während den letzten 60 000
Jahren. Doch 12 700 Jahre vor heute wurde
es plötzlich wieder kälter: Gletscher begannen aus den Alpentälern ins Mittelland
Abb. 1: Reto Knutti, heute Postdoc an der Abteilung für Klimaund Umweltphysik, auf «Zeitreise» mit Klimamodellen. Ein
Ergebnis seiner Doktorarbeit
wird in diesem Artikel vorgestellt.
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vorzurücken, und die Vegetation änderte
sich merklich, wie man aus Pollenablagerungen im Gerzensee ablesen kann. Die
erneute Kaltphase, bekannt unter dem Namen «Jüngere Dryas», dauerte 1200 Jahre
und stellt den letzten von insgesamt 24 abrupten Klimawechseln der letzten Eiszeit
dar. Diese Klimasprünge sind heute unter dem Namen «Dansgaard-OeschgerEreignisse» bekannt. Klimamodelle zeigen, dass diese Kaltphasen wahrscheinlich durch ein Abschalten des Golfstroms,
der «atlantischen Wärmepumpe», verursacht wurden. Ein solches Abschalten ist
das letzte Mal vor 8200 Jahren eingetreten, als sich ein riesiger Gletschersee, der
sich beim Abschmelzen des nordamerikanischen Eispanzers gebildet hatte, in den
Nordatlantik ergoss und so die Meeresströmungen störte.
Ein Ausbleiben der atlantischen Wärmepumpe hat dramatische Auswirkungen auf
das Klima in unseren Breiten. Abschätzungen ergeben, dass sich die mittlere
Temperatur um mehrere Grade abkühlte;
in Grönland waren es über 10 °C! Die
in grönländischen Eisbohrkernen aufgezeichnete Klimageschichte sagt uns, dass
die Abkühlung innert weniger Jahrzehnte
erfolgte. Für Klimamodelle ist ein solch
dramatisches Ereignis ein idealer Testfall.
Sind Modelle in der Lage, solche Sprünge
zu simulieren? Geben diese Modelle auch
Veränderungen anderer Grössen im Klimasystem zuverlässig wieder?
Neben der Temperatur, den Niederschlägen, der Vegetation und anderen Indikatoren zeigt auch der Gehalt von 14 C
(Kohlenstoffatome mit 6 Protonen und
8 Neutronen im Atomkern, statt wie normalerweise 6 Neutronen), dem in der Umwelt natürlich vorkommenden Radionuklid des Kohlenstoffs, in der Atmosphäre
deutliche Veränderungen während der
Jüngeren Dryas. Das Nuklid 14 C nimmt
am globalen Kohlenstoffkreislauf teil
und verteilt sich damit auf Atmosphäre,
Ozean und Vegetation. Da die Halbwertszeit von 14 C etwa 5730 Jahre beträgt, kön-
Änderung [%]
80
14C
Abb. 2: Die Jüngere Dryas (hellgrau unterlegt) ist eine Kaltphase, die vor
12 700 Jahren abrupt begann und ebenso abrupt ca. 1200 Jahre später
endete. Die aus Klimaarchiven rekonstruierte 14C-Konzentration in der Atmosphäre (rote Punkte) zeigt einen Anstieg während den ersten 300 Jahren, danach einen sinkenden Trend. Das Klimamodell simuliert diese Veränderungen in guter Übereinstimmung (dunkelgraues Band).
40
0
-40
-80
13 000
12 000
11 000
Jahre vor heute
nen Veränderungen im 14 C-Gehalt nur bis
etwa 40 000 Jahre vor heute noch gemessen werden. Anhand solcher Messungen
an Baumringen und Meeressedimenten
kann der Gehalt von 14 C in der Atmosphäre rekonstruiert werden (Abb. 2, rote
Punkte). Zu Beginn der Kaltphase steigt
14 C an, um dann nach etwa 300 Jahren
während der ganzen Jüngeren Dryas wieder abzunehmen. Ein Anstieg von 14 C in
der Atmosphäre bedingt eine Abnahme
vor allem im Ozean.
letzten 50 Jahren messbar erwärmt hat.
Daraus, und aus vielen weiteren wichtigen
Erkenntnissen, hat das Intergovernmental
Panel on Climate Change (IPCC) der
UNO 2001 erklärt, dass der grösste Teil
der Erwärmung der letzten 50 Jahre durch
den Anstieg der Treibhausgase (CO 2 , CH4 ,
N2 O und andere) – und damit durch den
Menschen – verursacht ist.
Wärmere Atmosphäre – mehr
thermische Energie im Ozean
Die global gemittelte Temperatur an der
Erdoberfläche hat seit 1900 um 0.6 °C zugenommen; seit Mitte der 1950er Jahre hat
der Ozean etwa 2×10 23 Joule Energie aufgenommen. Diese beiden Resultate, die
sich aus Tausenden von Messungen weltweit berechnen lassen, belegen eindrücklich, dass sich die Erdoberfläche in den
Diese Frage kann nur mit einem sehr effizienten Klimamodell beantwortet werden,
das erlaubt, viele verschiedene Kombinationen durchzurechnen. Die Klimamodelle, die an der KUP verwendet werden,
sind dazu ideal geeignet, denn eine Simulation über 250 Jahre benötigt nur gerade
eine 1 /100 Sekunde Rechenzeit (siehe Kasten «Hierarchie von Klimamodellen»). Bei
jeder Simulation wird nun eine zufällig
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Werden nun nur noch diese Simulationen
bis ins Jahr 2100 weiter gerechnet, so erhält man erstmals eine Abschätzung der
Wahrscheinlichkeit der Erwärmung (Abb.
3). Für ein moderates Emissionsszenario,
das eine Verdoppelung der CO 2 -Konzentration erst im Jahr 2100 vorsieht – ergibt
sich im globalen Mittel eine wahrscheinlichste Erwärmung von etwa 2 °C. Das Erstaunliche dieser Berechnungen: fast die
Hälfte der Simulationen zeigen eine Erwärmung, die wesentlich höher liegt als
der vom IPCC angegebene Bereich. Die
globale Erwärmung könnte also durchaus stärker ausfallen, als dies bisher angenommen worden ist. Mit diesem effizienten Klimamodell wurde eine Methodik
vorgestellt, die mit steigender Rechenleistung in Zukunft auch mit komplexeren Modellen der Hierarchie angewendet werden kann. Erst damit werden dann
auch detaillierte Aussagen über die Auswirkungen der Erwärmung auf regionaler
Ebene möglich.
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Abb. 3: Simulation der global gemittelten Temperatur über die letzen 150
Jahre bis ins Jahr 2100 (links). Die beiden schwarzen Linien umfassen 90 % der
Simulationen. Die Wahrscheinlichkeitsdichte (rechts) zeigt, dass die Erwärmung
im Jahr 2100 in fast 50 % der Fälle höher
ausfällt, als der Bereich, der von IPCC
angegeben wurde (grauer Bereich).
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Diese Umverteilung von 14 C im Klimasystem kann mit unseren Modellen simuliert werden (Abb. 2, grau gerasterter Bereich). Die Modelle, die das Abstellen des
Golfstroms als Ursache der Abkühlung
angeben, simulieren auch ziemlich genau
die rekonstruierten 14 C-Werte (Abb. 2, rote
Punkte). Somit hat dieses Klimamodell einen wichtigen Test bestanden: ein vergangenes Klimaereignis ist realistisch nachgebildet worden. Die Zeitreise in die Zukunft
kann also beginnen.
Die Temperatur an der Erdoberfläche
wird jedoch nicht nur durch die Konzentration der Treibhausgase beeinflusst.
Die Änderung der Solarstrahlung, Ozonkonzentration, Staub von Vulkanausbrüchen und natürliche Schwankungen wie
El Niño und die Nordatlantische Oszillation können Schwankungen der global
gemittelten Temperatur von 0.1 bis 0.3 °C
auslösen. Die Frage stellt sich deshalb, ob
es allenfalls Kombinationen dieser Einflussfaktoren gibt, die die Temperaturentwicklung der letzten 150 Jahre ohne
den Anstieg der Treibhausgase zu erklären vermögen.
bestimmte Auswahl der Einflussfaktoren
innerhalb ihrer Unsicherheitsbereiche getroffen und der simulierte Temperaturverlauf von 1860 bis 2000 mit demjenigen der
Messungen verglichen. Dabei erfüllen nur
bestimmte Kombinationen die Bedingungen, dass sowohl der Anstieg der Temperatur wie auch die Aufnahme von Wärme
in den Ozean mit den gemessenen Werten
übereinstimmt.
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Abb. 4: Simulation der Veränderung der
Stärke der atlantischen Wärmepumpe. Die
globale Erwärmung führt zu einer Reduktion dieser Strömung im Atlantik, die in den
kommenden Jahrzehnten messbar werden
sollte. Der graue Bereich umfasst 90 % aller
Simulationen, die die bis jetzt beobachtete
Klimaveränderung korrekt wiedergeben.
Genau hier setzen unsere neuesten Arbeiten im Rahmen des NCCR-Climate
an. Dabei kommt eines der zurzeit besten
komplexen Klimamodelle zum Einsatz. Es
wurde am National Center for Atmospheric Research (NCAR) in Boulder (USA)
entwickelt. Es koppelt Atmosphäre, Ozean
und Landoberfläche, und simuliert in realistischer Weise das Klima. Die KomplexiHierarchie von Klimamodellen
Es gibt kein «bestes Klimamodell», vielmehr
werden für verschiedene Fragestellungen unterschiedliche Modellformulierungen angewendet. Klima-Simulationen über geologische Zeiträume erfolgen mit Modellen, die
nur gerade global gemittelte Werte liefern,
während für Klimasimulationen der nächsten 100 Jahre oft Modelle verwendet werden, die Wetterphänomene auflösen können.
Man spricht von einer Hierarchie von Klimamodellen. Mit der Komplexität eines Modells
und den darin dargestellten Prozessen steigt
auch der Rechenaufwand (Abb. 5). Für eine
Simulation von 250 Jahren werden mit den
vollständigsten Modellen einige Monate benötigt, während die effizientesten Modelle
dafür nur wenige Minuten rechnen. Der Preis
ist eine reduzierte Aussagekraft bezüglich der
Prozesse und der räumlichen Auflösung.
In einem Klimamodell werden im wesentlichen die Strömungen in der Atmosphäre und
im Ozean, die Bewegungen des Meereises
und der Energiehaushalt dieser Komponenten berechnet. Die Rechnungen basieren auf
den Gesetzen der klassischen Physik, also auf
den Erhaltungsgleichungen von Masse, Energie und Impuls, welche auf einem Gitter, das
den Globus umspannt, gelöst werden. Die
10
UNIPRESS116/APRIL 2003
Mit diesen komplexen Modellen soll
schliesslich auch eine zentrale Frage, die
durch die Paläoklimatologie gestellt wird,
beantwortet werden. Wird die atlantische
Wärmepumpe abstellen? Die Simulationen mit unserem Klimamodell zeigen,
dass eine Reduktion dieser Ozeanströmung wahrscheinlich ist (Abb. 4). Es ist
zu erwarten, dass noch in diesem Jahrzehnt eine solche Veränderung im Atlantischen Ozean messbar werden wird. Ein
Gitterpunkte liegen dabei, je nach Modell,
etwa 300 bis 500 km auseinander. Da viele
lokale Prozesse auf dieser Skala nicht mehr
108
10
Monate
1 Monat
6
1 Woche
104
1 Stunde
Minuten
102
1
10-2
Bern 2.5D
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Climber 2
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UVic / ECBilt
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CSM 1 Paleo
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CCSM 2
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tät dieses Modells hat einen hohen Preis:
so kann nur noch ein Cluster von Hochleistungsrechnern die Resultate innert
nützlicher Frist liefern. Dank einer engen
Zusammenarbeit mit dem Centro Svizzero del Calcolo Scientifico (CSCS) werden Simulationen über mehrere hundert
Jahre möglich. Das Ziel ist ein besseres
Verständnis der natürlichen Klimavariabilität der letzten 500 Jahre. Verschiedene
Experimente werden Aufschluss geben
über die Mechanismen, die Schwankungen wie zum Beispiel die kleine Eiszeit
oder verlängerte Phasen der Nordatlantischen Oszillation verursachen.
CPU Zeit (sec)
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10−2s
Neuronale
Netzwerke
Abb. 5: Ungefährer Zeitaufwand, um eine Klimasimulation von 250 Jahren mit verschieden
komplexen Modellen zu rechnen. Ein typisches
dreidimensionales Klimamodell, das Ozean, Atmosphäre und Meereis simuliert, benötigt für
diese Berechnung einige Monate, während das
an der Abteilung für Klima- und Umweltphysik
entwickelte vereinfachte globale Klimamodell
dafür nur einige Minuten benötigt. Noch einmal
ein Faktor 1000 kann an Rechenzeit eingespart
werden, wenn zur Berechnung Neuronale Netzwerke benutzt werden. Dies eröffnet erstmals
die Möglichkeit, dank vielen Klimasimulationen
Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen.
abruptes Abstellen, wie dies vor 8200 Jahren und während der Jüngeren Dryas geschehen ist, ist allerdings weniger wahrscheinlich und tritt in diesen Simulationen
nicht auf.
Numerische Modelle sind so zu einem
unerlässlichen Instrument der Klimaforschung geworden, die es ermöglichen,
Mechanismen und Prozesse im System
Erde quantitativ zu untersuchen. Klimamodelle müssen ständig verbessert werden, indem mehr Prozesse einbezogen
werden, Parametrisierungen durch fundamentale Berechnungen ersetzt werden,
und die räumliche Auflösung verfeinert
wird. Dabei kommt dem Vergleich von
Modellresultaten mit Beobachtungen und
Klimarekonstruktionen besondere Bedeutung zu. Ohne «harte» Daten aus der Natur
wären Klimamodelle kaum mehr als interessante und theoretische Konstrukte ohne
Aussagekraft.
Prof. Dr. Thomas Stocker
Physikalisches Institut
fundamental berechnet werden können (zum
Beispiel die Bildung von Wolken aus der Ansammlung von Tröpfchen in der Atmosphäre),
werden sogenannte Parametrisierungen verwendet, die diese Prozesse summarisch beschreiben. Seit Mitte der 1960er Jahre werden Klimamodelle entwickelt; sie haben heute
einen Grad von Realität erreicht, die Klimasimulationen in die Zukunft möglich machen.
Neueste Modelle enthalten auch vereinfachte
Darstellungen der Vegetationsbedeckung und
ihrer Veränderungen. Die atmosphärischen
Komponenten dieser Klimamodelle sind uns
seit langem vertraute Instrumente: Sie werden
in erhöhter räumlicher Auflösung als Wettervorhersagemodelle weltweit eingesetzt.
Effiziente Klimamodelle entstehen, wenn neuronale Netzwerke eingesetzt werden. Diese
stellen eine der schnellsten Möglichkeiten dar,
Klimasimulationen durchzuführen. Ein neuronales Netzwerk ist eine Verknüpfung, die ein Eingangssignal nach einer bestimmten Vorschrift
in ein Ausgangssignal umwandelt. Die Vorschrift entsteht in der «Lernphase» des neuronalen Netzwerkes, in der zuerst einige Klimasimulationen mit dem zu ersetzenden Modell
durchgeführt werden und das Netzwerk damit trainiert wird.
Berner Klima- und Umweltphysiker in der Antarktis
Als Eisforscher in Dome C
– ein Tagebuch
Seit 1997 sind Wissenschafter und Techniker aus zehn
europäischen Ländern in Dome Concordia daran, den rund
3250 Meter mächtigen antarktischen Eisschild zu durchbohren. Die Untersuchungen an den Eisbohrkernen sollen
die längste Klimarekonstruktion dieser Art ermöglichen.
Insbesondere möchte man die Zusammenhänge im Klimasystem und die Ursachen von vergangenen natürlichen
Klimaschwankungen besser verstehen – wesentliche
Voraussetzungen, um Klimamodelle weiterentwickeln und
immer genauere Klimaprognosen für die Zukunft erstellen
zu können. Im Südsommer 2001/2002 haben erneut Berner
Wissenschafter der Abteilung für Klima- und Umweltphysik
an den Feldarbeiten in der Antarktis teilgenommen.
Ein Tagebuch...
8.–18. November 2001 –
Reise ans andere Ende der Welt
Bereits einige Wochen vor unserer Abreise haben wir zwölf grosse Kisten Messgeräte und sonstiges Material in die Antarktis verschickt. Jetzt beginnt auch unsere
im Innern des Kontinents, Dome Concordia oder in unserem Jargon kurz Dome C,
erreichen wir zehn Tage später von Terra
Nova Bay aus mit einer kleinen zweimotorigen Propellermaschine.
20. November 2001 –
Dome Concordia
Wir haben Europa im trüben November
verlassen. Dome C, innerhalb des südlichen Polarkreises gelegen, erwartet uns
mit Sonnenschein rund um die Uhr und
in den ersten Tagen mit Temperaturen um
–45 °C. Die Station, bestehend aus grossen
Zelten und Containern, beherbergt jeweils
zwischen November und Februar rund
fünfzig Personen vorwiegend aus Europa,
darunter Wissenschafter, technisches PerReise, eine Reise mit Linienflugzeugen
sonal, Köche und einen Arzt. Wir befinden
nach Christchurch in Neuseeland und von
uns auf dem weissen, flachen Hochplateau
dort weiter mit einem Transportflugzeug der Antarktis auf über 3000 Meter über
in die Antarktis zur italienischen Küsten- Meer. Die hier unendlich erscheinende
station Terra Nova Bay. Unser eigentliches
Ebene erstreckt sich ohne die kleinste ErZiel, die europäische Forschungsstation
hebung bis an den Horizont und darf zu
Abb. 1: Das Dome Concordia Camp mit dem Bohrzelt (hinten links), dem Wissenschaftstrakt (hinten rechts) und den Schlafzelten im
Vordergrund.
Foto: Niels Kjaer
UNIPRESS116/APRIL 2003
11
Recht als eisige Wüste bezeichnet werden,
denn Dome C gehört zu den trockensten
Gebieten der Erde. Leben hier ist nur dank
grossem logistischem Aufwand möglich.
22. November 2001 –
Die ersten Arbeitstage
Nach zwei Tagen Akklimatisation an die
Höhe beginnt die Arbeit im grossen Bohrzelt und im Wissenschaftstrakt. Zweiundzwanzig Personen aus sieben Ländern
arbeiten im Zusammenhang mit der Eiskernbohrung in Dome C: acht Techniker,
die für die Bohrung zuständig sind, und
vierzehn Wissenschafter, darunter vier aus
Bern. Offizielle Sprache im Camp ist Englisch. In unserem bunt gemischten Team
fliessen zudem französische und italienische Wortfetzen in die Gespräche ein – wir
entwickeln sozusagen unsere eigene Sprache. Die ersten Arbeitstage verbringen wir
mit dem Einrichten der Arbeitsplätze, dem
Aufstellen der Messgeräte und ausführlichen Tests, um zu gewährleisten, dass im
Anschluss ein routinemässiger Betrieb aufgenommen werden kann. Die Arbeit mit
Eis hat ihren Preis, das haben wir erwartet. Die meisten Leute arbeiten bei –20 °C
– eine Temperatur, die garantiert, dass das
Eis in gutem Zustand bleibt, die für uns
aber gewöhnungsbedürftig ist.
4. Dezember 2001 –
Wissenschaft im Feld
Rund 700 Meter Eis sind die Wissenschafter gegenüber der Bohrequipe im Verzug.
Dieses Eis liegt im Lagerraum am Anfang des 40 Meter langen Wissenschaftstrakts zur Verarbeitung bereit. In mehreren Schritten wird das Eis längs der Tiefe
für verschiedene Labors und unterschied-
Abb. 3: Leitfähigkeitsmessung am Eisbohrkern durch Jacqueline
Flückiger.
Foto: Niels Kjaer
12
UNIPRESS116/APRIL 2003
Abb. 2: Im Bohrzelt wird rund um die Uhr gearbeitet.
lichste Analysen zersägt. Messungen der
elektrischen Leitfähigkeit, unter anderem
mit einem an der Abteilung für Klimaund Umweltphysik des Physikalischen
Instituts der Universität Bern entwickelten Gerät, liefern erste Informationen über
den Eiskern. Dünnschnitte ergeben Daten
über die Grösse der Eiskristalle und deren
Orientierung. Ein Teilstück des Eisbohrkerns wird auf einer geheizten Platte langsam geschmolzen und das Schmelzwasser in einem geheizten Labor mit einem
in Bern entwickelten CFA-System (Continuous Flow Analysis) und Ionenchromatographen kontinuierlich auf eine Vielzahl
von chemischen Spurenstoffen untersucht.
Der grösste Teil des Eises wird jedoch für
den Transport in dreissig verschiedene Labors in Europa verpackt und bereitgestellt.
Foto: Jacqueline Flückiger
Dort sollen später unter anderem Messungen von Treibhausgasen wie CO 2 oder von
Isotopenverhältnissen durchgeführt werden. Letztere liefern Informationen über
die Temperatur der Vergangenheit.
6. Dezember 2001 –
Ein Besuch im Bohrzelt
Das Bohrzelt ist gross und hell und steht
unweit vom Wissenschaftstrakt. Geschäftiges Treiben herrscht hier zu jeder
Zeit, denn die Bohrequipe arbeitet in drei
Schichten rund um die Uhr. Gebohrt wird
mit einem 11 Meter langen elektromechanischen Bohrer, der an einem Kabel in das
Bohrloch hinuntergelassen und über das
gleiche Kabel gesteuert wird. Der letzte
Durchgang hat rund anderthalb Stunden
gedauert. Wieder an der Oberfläche, wird
der gebohrte Kern sorgfältig aus dem Rohr
des Bohrers heraus geschoben, ein Stück
glasklares Eis von rund 3 Meter Länge
und einem Durchmesser von knapp 10
Zentimetern. Während im Bohrzelt aufgeräumt und das frisch gebohrte Eis in den
Lagerraum gebracht wird, überwacht ein
Techniker den Bohrer bereits wieder auf
seinem Weg hinunter ins Bohrloch, Routinearbeit, die mit höchster Präzision ausgeführt werden muss.
15. Dezember 2001 –
Die Launen des Wetters
Schlechtes Wetter und Sturm sind in
Dome C eine Seltenheit. Heute aber bläst
ein unerbittlicher, heftiger Wind über die
Ebene. Feinste Schneekristalle wirbeln
durch die Luft, und für einmal bleibt die
Sonne hinter den Wolken verborgen. Niemand hält sich länger als unbedingt nötig
draussen auf, denn zusammen mit dem
Wind wird die Kälte beinahe unerträglich.
Im unendlichen Grau empfinden wir das
Gefühl der Isolation stärker als sonst, und
die schlechte Laune des Wetters scheint
bis zum Abend auch auf uns abzufärben.
25. Dezember 2001 –
Weihnachten
Zwei Freitage über Weihnachten sind ein
willkommener Unterbruch und lassen uns
Zeit für gesellige Stunden. Dank den für
Dome C hochsommerlichen Temperaturen
von –20 °C ist es draussen herrlich. Spa-
Die europäischen Eiskernbohrungen in der Antarktis
Dome Concordia (Dome C) ist einer der unwirtlichsten Orte unseres Planeten. Er liegt
auf dem antarktischen Eisschild (3233 Meter über Meer, 75° 06’ Süd, 123°24‘ Ost),
gut 1000 Kilometer von der Küste entfernt (Karte unten). Die Jahresmitteltemperatur
liegt unter –50 °C, der jährliche Schneefall beträgt knapp 3cm Wasseräquivalent.
Aufgrund der geringen Niederschlagsrate bietet sich dieser Ort für eine Eiskernbohrung an, die einen zeitlich möglichst weit zurückreichenden Datensatz zur Erforschung von Klimaschwankungen liefern soll. Seit 1997 sind im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts EPICA (European Project for Ice Coring in Antarctica),
die Arbeiten an einer Tiefbohrung durch die rund 3250 Meter dicke Eisschicht von
Dome C im Gang.
Unter EPICA läuft eine weitere Bohrung auf Kohnen Station in Dronning Maud Land
(DML). In dieser Region, die an den Südatlantik grenzt, möchte man einen detailreichen Eisbohrkern gewinnen, der nicht so weit zurückreicht wie derjenige von Dome
C, dafür möglicherweise Bezüge zum Klima im Nordatlantischen Raum und in Europa zeigt.
Koordiniert wird das EPICA-Projekt (www.esf.org, search: epica) durch die ESF (European Science Foundation) und finanziert durch die zehn beteiligten Länder und die
Europäische Union. Die Abteilung für Klima- und Umweltphysik am Physikalischen
Institut der Universität Bern ist wesentlich an diesem Projekt beteiligt und wird durch
massgebliche Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds, des Bundesamts für Bildung und Wissenschaft sowie des Bundesamts für Energie, unterstützt.
ziergänge in die weisse Weite hinaus sowie ein Volleyballturnier im Schnee sorgen für Abwechslung. Das Weihnachtsfest
selbst feiern wir mit einem ausgiebigen
Festessen und in ausgelassener Stimmung
bis in die frühen Morgenstunden hinein,
was viele die Distanz von zu Hause ein
wenig vergessen lässt.
1. Januar 2002 –
Eine besondere Abwechslung
Dreimal pro Südsommer wird Dome C
von der französischen Küstenstation Dumont d’Urville her über den 1100 Kilometer langen Landweg mit den notwendigen
Gütern wie Brennstoff und Baumaterial
versorgt. Heute trifft der Schlittenkonvoi,
gezogen von schweren Raupenfahrzeugen,
zum zweiten Mal an seinem Ziel ein. Bereits Stunden vor der Ankunft haben wir
den Konvoi am Horizont erkennen können. Während der Einfahrt der schweren
Gespanne in Dome C stehen nun die meisten von uns winkend dem Trassee entlang.
Innerhalb von kurzer Zeit verdoppelt sich
das Treiben auf der Station, und sowohl
für uns wie auch für die Fahrer, die während rund zwölf Tagen unterwegs waren,
sind andere Gesichter und Gespräche eine
willkommene Abwechslung.
7. Januar 2002 –
Alltag und Routine
Nach mehr als der Hälfte der Feldsaison
sitzt jeder Handgriff, die Arbeitsabläufe
sind längst bis in die letzten Details optimiert. Die Arbeitstage sind lang, insbesondere für die Leute, die seit Wochen in
zwei Schichten rund um die Uhr die Messapparaturen im Berner CFA-Labor bedienen. Die Tage unterscheiden sich kaum
voneinander und sind längst zur Routine
geworden. Nur die seltenen Messunterbrüche aufgrund von Defekten vermögen uns
aus dem Trott zu werfen. Sie fordern von
uns höchste Konzentration, damit die Arbeit so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden kann.
2. Februar 2002 –
Ende einer erfolgreichen Saison
Seit einigen Tagen stehen Bohrer, Sägen
und Messgeräte still. Alles was die unwirtlichen Temperaturen von unter –80 °C im
Südwinter nicht überstehen würde, wird
für den Rücktransport verpackt. Die bisher erfolgreichste Dome-C-Saison geht
dem Ende entgegen. Die Bohrequipe hat
UNIPRESS116/APRIL 2003
13
mit einer erreichten Tiefe von 2864 Metern ihr Ziel weit übertroffen. Bis zum
Felsbett verbleiben nur noch knappe 400
Meter, schwierig zu bohrende Meter, da
die Temperatur im Bohrloch mit grösserer Tiefe schon bald unangenehm nahe
an den Druckschmelzpunkt kommen
wird. Auch wir Wissenschafter haben mit
1430 Metern verarbeitetem Eis und einer
erreichten Tiefe von 2200 Metern einen
neuen Rekord aufgestellt. Vorerst ist unsere Arbeit abgeschlossen. Doch zu Hause
wird sie weitergehen. Riesige Datenmengen warten darauf ausgewertet zu werden,
und eine Vielzahl von zusätzlichen Messungen sind geplant, sobald das Eis in Europa eintreffen wird.
5.-16. Februar 2002 – Der Weg
zurück in die Zivilisation
Der Rückweg führt uns über die französische Küstenstation Dumont d’Urville, eine
Forschungsstation auf einer kleinen Insel,
unweit des gewaltigen Inlandeisabbruchs.
Eine Woche warten wir auf die Abfahrt
des Schiffes und verbringen einzigartige
Tage inmitten von Eisbergen und Tausenden von Adéliepinguinen. Nur der stürmische Südliche Ozean fordert uns auf dem
kleinen, den Launen der Wellen ausgelieferten Eisbrecher anschliessend noch
sechs Tage lang alles ab, bevor wir in Hobart, Tasmanien, nach drei Monaten Forschungsarbeit in der Antarktis zurück in
der Zivilisation ankommen.
EPICA Saison 2002/2003
Zwischen November 2002 und Februar
2003 nahmen erneut vier Wissenschafter
und ein Techniker der Universität Bern an
den Feldarbeiten im Rahmen von EPICA
(European Project for Ice Coring in Antarctica), in der Antarktis teil. Die Bohrung in Dome C soll mit dem weiterentwickelten Bohrer so weit wie möglich
vorangetrieben werden. An der zweiten
Bohrstelle Kohnen Station in Dronning
Maud Land ist die erste routinemässige
Saison geplant.
Jacqueline Flückiger und Matthias Bigler
Physikalisches Institut,
Abteilung Klima- und Umweltphysik
14
UNIPRESS116/APRIL 2003
Erstmals über 500 000 Jahre altes Eis gebohrt
Aus Eisbohrkernen können Informationen zu Klimaschwankungen und zur früheren
Atmosphäre in hoher zeitlicher Auflösung vergleichsweise direkt rekonstruiert werden. Messungen am Vostok-Eisbohrkern aus der Antarktis (siehe Kasten «Die europäischen Eiskernbohrungen...»), deren Resultate am 3. Juni 1999 in «Nature» publiziert wurden, haben unter anderem ergeben, dass die Treibhausgaskonzentration
parallel zu den Temperaturänderungen zwischen Eis- und Warmzeiten geschwankt
und einen oberen und unteren Grenzwert in den vergangenen 400 000 Jahren nie
überschritten haben. Im Gegensatz dazu liegen die seit Beginn der Industrialisierung drastisch angestiegenen Treibhausgaskonzentrationen heute weit über der natürlichen Obergrenze (30% beim Kohlendioxid, 150% beim Methan).
Aufgrund der generell besseren Qualität des Eisbohrkerns von Dome C sowie der
heutzutage vielfältigeren und verfeinerten Analysemethoden werden im Vergleich
zum Vostok Eisbohrkern detailliertere und umfassendere Erkenntnisse über das Klima
der Vergangenheit erwartet. Aus Modellrechnungen und aus der Hochfrequenzleitfähigkeit des Eises von Dome C kann zudem geschlossen werden, dass das Eis
aus der im Januar 2002 erreichten Tiefe von 2864 Metern bereits über 500 000
Jahre alt ist (Abb. unten). Damit steht fest, dass die Tiefbohrung von Dome C weiter
in die Vergangenheit zurückreicht als diejenige von Vostok und somit das älteste je
gebohrte polare Eis liefert. Da mit zunehmender Tiefe die Schichtdicken abnehmen,
kann – vorausgesetzt die glaziologischen Eisflussmodelle stimmen – in einer Tiefe von
3050 Metern bereits ein Alter von 800 000 Jahren erwartet werden. Dies würde
Einblick geben in eine erdgeschichtliche Zeitspanne mit schnelleren Abfolgen von
Eis- und Warmzeiten als in der jüngeren Vergangenheit. Dabei interessiert insbesondere die Reaktion des Kohlenstoffkreislaufes auf diesen Sachverhalt.
Abb. 5: Hochfrequenzleitfähigkeitsmessungen (Dieletric Profiling DEP bei 100 kHz, 1mMittelwerte) am Dome-C-Eisbohrkern zeigen im wesentlichen den Säuregehalt des Eises (Daten von Eric Wolff, British Antarctic Survey, Cambridge, England). In der unteren Kernhälfte, die einem Alter von 120 000 bis 500 000 Jahren vor heute entspricht,
zeigen die Daten vier Klimazyklen mit den Warmzeiten 5.5 (Eem), 7.5, 9.3 und 11.3.
Die hier nicht dargestellte obere Kernhälfte beinhaltet die gegenwärtige Warmzeit
(Holozän) und die letzte Eiszeit. Die provisorische Datierung beruht auf einem glaziologischen Eisflussmodell von Dr. Jakob Schwander (Abteilung für Klima- und Umweltphysik am Physikalischen Institut der Universität Bern).
Chinesische Dokumente verheissen spektakuläre Klimarekonstruktionen
Ungehobene Schätze
im Reich der Mitte
Aussagen über die Art des laufenden Klimawandels sind
von grosser Brisanz. Gesicherte Informationen darüber,
wie und warum sich das Klima zur Zeit verändert, sind aber
nur mit Blick in die Vergangenheit möglich. Eine lange
unterschätzte Rolle bei dieser Rekonstruktion des Klimas
vergangener Jahrtausende spielen historische Aufzeichnungen. Ein ungeahnter Reichtum an Klimainformationen lagert
in chinesischen Archiven. An der Auswertung dieser Daten
sind auch Berner Forscher beteiligt.
Hin und wieder brauchen Klimahistoriker starke Nerven – in China jedenfalls.
«Die Strassenränder waren mit Leichen
gesäumt», heisst es in einem Bericht aus
dem Jahr 1017, «das Wetter in Jingshi war
bitter kalt, und viele Menschen erfroren.»
Aufzeichnungen dieser, aber auch weniger
dramatischer Art lagern in chinesischen
Archiven in einer Fülle, von der westliche
Forscher nur träumen können. Vor allem,
weil die Quellen zeitlich so weit zurück
reichen wie kaum anderswo auf der Welt.
Allein für die Zeit zwischen dem Jahr 137
vor Christus und 1470 etwa sind 30 000
Dokumente verfügbar, die unter anderem über Extremereignisse wie Flut und
Dürre Auskunft geben. Dies erklärten chinesische Forscher ihren Kollegen aus dem
Westen im vergangenen Oktober an einem
Workshop zum Thema «Historische Klimarekonstruktion über Ostchina».
Vor allem in den vergangen Jahren haben
chinesische Wissenschafter Teile dieses
klimahistorischen Schatzes gehoben, und
nun folgen Auswertungen der gewonnenen Daten. Am Workshop in Peking etwa
präsentierten die Pekinger Klimatologen
einen rekonstruierten Wintertemperaturverlauf für ausgewählte Gebiete ihres Landes für die vergangenen 2000 Jahre. Die
wärmsten Jahre dieser Periode, so eine
der Erkenntnisse, lagen zwischen 1230
und 1250. Ab 1310 nahmen die Temperaturen schnell ab. Ein Trend, der sich bis
ins späte 19. Jahrhundert fortsetzte. Im 20.
Jahrhundert allerdings setzte eine dramatische Erwärmung ein.
An Resultaten dieser Art zeigt die weltweite Forschungsgemeinde zunehmend
grösseres Interesse. So hat zum Beispiel
das internationale, auf den Klimawandel
in der Vergangenheit ausgerichtete Forschungsprogramm PAGES (Past Global
Changes) China zu einem seiner Schwerpunkte bestimmt. Die aussergewöhnlich
vielfältigen historischen Quellen (siehe
Kasten «Jahrhundertdürre kostete Kaiser...»), so die Hoffnung, sollen besseren
Einblick ins vergangene Klimageschehen
ermöglichen. Insbesondere, was die dem
Monsun-Regime unterworfenen Gebiete
Asiens angeht.
Interesse an historischen
Dokumenten erwacht
Die Überzeugung, auch schriftliche Quellen könnten zur Rekonstruktion der Klimageschichte beitragen, hat sich auf der
ganzen Welt erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Dies unter anderem durch die Arbeit
von Christian Pfister vom Historischen Institut der Universität Bern. Lange herrschte
unter den Klimaforschern die Meinung
vor, natürliche Archive wie Baumringe,
Eisbohrkerne, Seesedimente oder Gletscher böten Daten genug. Rückschlüsse
aufs regionale Klimageschehen mit einer hohen zeitlichen Auflösung aber lassen sie kaum zu. Auch chinesische Klimatologen interessierten sich lange Zeit nicht
sonderlich für Wetteraufzeichnungen, Tagebücher oder Reisenotizen aus dem Reich
der Mitte. Sie stützten sich für Rekonstruktionen zum Beispiel auf die Analyse
von Baumringen aus Tibet.
Dies hat sich nun, parallel zum gewachsenen Interesse im Westen, geändert. In
den vergangenen Jahren finanzierte die
chinesische Akademie der Wissenschaften eine eigentliche Kampagne zur Aufarbeitung von klimageschichtlich relevanten Dokumenten. Ganze Equipen von
Geografen, Historikern und Physikern
durchforsteten die Archive und übertrugen die gesichteten Informationen auf
Karteikarten. (Beispiel: «Während der
Nord Song Dynasty (960-1126) wuchsen Lychees in den Präfekturen von Quan,
Fu, Zhang, Jia, Shu, Xinghua, Guangdong
und Gaungxi.») Diese Karteikarten lagern
nun zu Hunderttausenden an verschiedenen Orten (China Historical Archive Library sowie lokale Bibliotheken), zugänglich gemacht, wie Besucher anlässlich des
Klimaworkshops staunend feststellten, in
drehbaren Paternoster-Archiven.
Der Berner Beitrag an der Pekinger Klimatagung war eine Rekonstruktion der
Niederschlagsmengen für die Landgebiete Ostchinas. Die Rekonstruktion umfasst 530 Jahre und beschränkt sich jeweils
auf Mai bis September, die Zeit des Sommermonsuns, in der bis zu 90 Prozent der
jährlichen Regenmenge fällt. Das untersuchte Gebiet ist vom Gelbem Fluss und
vom Yangtse geprägt und gilt traditionell
als besonders überschwemmungsgefährdet. Welchen Einfluss die regelmässig
wiederkehrenden Fluten auf Gesellschaft
und Wirtschaft haben, zeigte sich 1998,
als ein katastrophales Hochwasser 3600
Tote forderte und Schäden in der Höhe
von 45 Milliarden Franken verursachte.
Für die globale Rückversicherungsbranche war dieses Ereignis der teuerste Schaden des Jahres.
Aus Index Niederschlagsmengen ermitteln
Grundlage der Rekonstruktion waren
weit über 2000 schriftliche Aufzeichnungen aus so genannten «Zhi», lokalen Chroniken mit Informationen über den Verlauf
des Sommermonsuns ab 1470. Die Dokumente stammen aus rund 100 Ver-
UNIPRESS116/APRIL 2003
15
Abb. 1: Beispiele von rekonstruierten Sommerniederschlägen Chinas. Links: Niederschlagssummen (in mm) für einen sehr trockenen
Sommer (1640) ohne nennenswerte Überschwemmungen in ganz China. Mitte: Niederschlagssummen (in mm) für einen sehr feuchten Sommer (1746) mit zahlreichen Überschwemmungen, vor allem im Mündungsgebiet des Gelben und Yangtse-Flusses. In beiden
Sommern nehmen die Regenmengen von Nordwesten nach Südosten zu. Die grössten Unterschiede zwischen diesen Karten liegen
vor allem im Einzugsgebiet des Yangtse-Flusses, der bei rund 30 °N von Westen nach Osten fliesst. Im Sommer 1746 liegen die Niederschlagsmengen deutlich höher als im Sommer 1640 ohne Überschwemmungen. Der zweite Unterschied liegt im Mündungsgebiet des Gelben Flusses bei rund 37 Grad Nord und 120 °E mit höheren Regenmengen im Sommer 1746. Zum Vergleich: Im Schweizerischen Mittelland fallen zwischen Mai und September rund 500-600 mm Regen. Rechts: Geografische Übersicht Ostchinas.
waltungsbezirken. Die darin enthaltenen
Wetter- und Klimainformationen wurden
in einem nationalen Forschungsprogramm
von über 100 Chinesischen Wissenschaftern aus mehr als 30 Instituten, Universitäten und meteorologischen Diensten
verschiedener Provinzen gesammelt und
kritisch begutachtet. Sie systematisierten
die qualitativen Informationen («nicht genügend Regen», «Dörfer der Umgebung
überflutet») und erstellten daraus einen
so genannten Dryness/Wettness-Index.
Darin wird jedem Sommer auf einer fünfstufigen Skala ein Wert zugeordnet. Die
Stufen reichen von sehr trocken (keine
Überschwemmungen) bis extrem feucht
(aussergewöhnliche Überschwemmungen
in vielen Teilregionen).
Der Ansatz der Berner Gruppe für Klimatologie und Meteorologie unter der
Leitung von Heinz Wanner und Jürg Luterbacher war nun, anhand dieser Indizes absolute Niederschlagsmengen zu rekonstruieren. Möglich ist dies, da für die
letzten hundert Jahre nicht nur qualitative, sondern auch instrumentell gemessene Niederschlagsmengen existieren.
Obwohl sich diese Angaben auf relativ
wenige Messstellen beschränken, liessen
sich daraus mit Hilfe statistischer Methoden die Niederschläge sowie deren Unsicherheiten für rund 3500 hypothetische
Standorte ermitteln. Diese Beziehungen
16
UNIPRESS116/APRIL 2003
wurden in einem nächsten Schritt auf die
100 Bezirke mit Wetness/Dryness-Informationen vor 1901 angewendet und damit
schliesslich die Niederschläge über Ostchina geschätzt.
Bei diesem Ansatz wird vorausgesetzt,
dass der Zusammenhang, der aus der modernen Instrumentenperiode abgeleitet
wurde, auch in der Vergangenheit seine
Gültigkeit hatte. Weiter geht man davon
aus, dass die Qualität der abgeleiteten Indizes über die Zeit gleich vertrauenswürdig bleibt.
Historische Dokumente helfen
Simulationen verbessern
Auch wenn es sich bei diesen Werten um
– wenn auch qualifizierte – Schätzungen handelt, bieten sie gegenüber einem
Dryness/Wetness-Index beachtliche Vorzüge. Die Bearbeitung der historischen
Daten mit so genannt multivariaten statistischen Methoden ermöglicht:
• Anhaltspunkte über die Unsicherheit
der Schätzungen für jeden einzelnen
Gitterpunkt.
Vor allem aber erlaubt die Niederschlagsrekonstruktion einen aussagekräftigeren
Blick in die Vergangenheit. Sind die rekonstruierten Daten erst einmal analysiert, werden Trends ersichtlich und lassen sich möglicherweise Muster bei den
immer wiederkehrenden Trockenperioden und Überschwemmungen erkennen.
Und schliesslich können die historischen
Aufzeichnungen in der jetzt vorliegenden
Form auch in Computermodelle eingespeist werden.
Klimarekonstruktion ist
Vertrauenssache
Die Zusammenarbeit zwischen den Klimatologen in China und an der Uni Bern,
die auf verschlungenen Wegen durch persönliche Kontakte zu Stande kam, soll
auch künftig weitergeführt werden. Denkbar ist in nächster Zeit etwa eine gemein• Eine hohe räumliche Auflösung. Die same Publikation der rekonstruierten 530
3500 Messstandorte entsprechen Git- Jahre Sommermonsun-Niederschläge, deterpunkten mit einem Abstand von 60
ren Variabilität und des Zusammenhangs
Kilometern.
mit der atmosphärischen Zirkulation. Da• Eine feine Auflösung der Nieder- bei könnte der chinesische Beitrag etwa
schlagsintervalle. Niederschlagsmen- aus einer Einordnung der historischen
gen können in Millimeterwerten dar- Quellen bestehen – Einschätzungen, die
gestellt werden und nicht bloss auf auf Distanz und losgelöst vom jeweiligen
einer fünfstufigen Skala.
Kontext, kaum vorzunehmen sind.
Jahrhundertdürre kostete Kaiser den Thron
Zeng Guofan zählte zu den einflussreichsten chinesischen Persönlichkeiten seiner Zeit
– und sein Nachlass ist für heutige Klimaforscher von unschätzbarem Wert. Grund:
Der prominente General und Politiker war ein disziplinierter Tagebuchschreiber, der
bis zu seinem Tod 1872 praktisch täglich Bemerkungen zu Wind und Wetter notierte. Aus klimahistorischer Sicht besonders interessant ist, dass Zeng im Laufe seiner Karriere in verschiedensten Gebieten Chinas stationiert war. Seine Aufzeichnungen decken grosse Teile des Landes ab.
Die Tagebücher des Zeng Guofan
sind nur eines unter Tausenden von
Beispielen für historische Dokumente,
die chinesische Archive zu einer wahren Fundgrube für Klimarekonstrukteure machen. Die Quellen sind von
erstaunlicher Breite. Sie reichen von
lokalen und regionalen Chroniken, so
genannten «Zhi», die seit Jahrhunderten extreme Wetterereignisse praktisch lückenlos dokumentieren, bis
zur offiziellen Geschichtsschreibung
der einander folgenden Herrscherdynastien. Das Schicksal des legendären Ming-Regimes beispielsweise
war aufs Engste mit dem Klimageschehen verknüpft. Eine grosse Dürreperiode um 1640 liess die Ernten im
Norden Chinas mehrere Jahre hintereinander praktisch ausbleiben. Die allgemeine Hungersnot, die sich in der
Folge breit machte, gipfelte in der gewaltsamen Auflehnung der Bauern gegen ihre Herrschaft und war einer der
Hauptgründe für den Sturz der MingDynastie im Jahre 1643.
Was zum Beispiel sollen Berner Klimatologen der Information entnehmen, dass
die Schneedecke im Gebiet des Taihu Sees
im Jahr 1132 den ganzen Winter über liegen blieb? Denkbar ist, dass laufend neuer
Schnee fiel und der Winter besonders niederschlagsreich war, oder aber, dass ein
einmaliger Schneefall wegen konstanter Kälte den ganzen Winter liegen blieb.
Der breite Interpretationsspielraum ist nur
eine der Tücken. Schon auf die Qualität
der Aufzeichnungen ist nicht immer Verlass. Denn die Wetterbeobachter versahen
ihre Aufgabe mit unterschiedlich grossem
Pflichtgefühl. Derartige Fehlerquellen lassen sich aber mit so genannten Plausibilitätsabschätzungen wenigstens zum Teil
erkennen.
So oder so braucht es viel Vertrauen, wenn
Klimarekonstrukteure bei ihrer Arbeit auf
historische Aufzeichnungen bauen. Ob die
Dokumente aus den Berner Alpen des 15.
Jahrhunderts stammen oder aus der Präfektur Gunagxi zur Zeit der Song-Dynastie spielt dabei allerdings keine Rolle.
Abb. 2:
Aus einem Manuskript
von Zeng Guofan
Dr. Jürg Luterbacher, Gruppe für
Klimatologie und Meteorologie des
Geographischen Instituts und Nationaler
Forschungsschwerpunkt Klima (NFS)
Kaspar Meuli, NFS Klima
Ausgesprochen gut dokumentiert sind in China – wie auch anderswo auf der Welt
– klimatische Extremereignisse. Allein für die Zeit zwischen 1471 und 1950 werteten chinesische Forscher 110 000 Dokumente mit entsprechenden Beschreibungen aus.
Systematische Wetteraufzeichnungen gibt es in China seit 1720, als die lokalen Beamten den Auftrag erhielten, künftig über Sonnenschein, Niederschlag und Wind
präzise Buch zu führen. Die gesammelten Werte hatten sie monatlich an den kaiserlichen Hof weiterzuleiten. Aufgezeichnet wurden aber auch Daten zur Bodenfeuchtigkeit. Und besonders detailreiche Angaben lieferte der Beamtenapparat zu
Umfang und Qualität der Ernten – eine wichtige indirekte Quelle zur Veränderlichkeit des Klimas.
Ergiebig für Klimarekonstruktionen sind auch Informationen zu Entwicklungs- und
Wachstumsstadien von Pflanzen, die so genannte Phänologie. (Beispiel: «Im ersten Mondmonat blühten in Luoyang die Aprikosen.») Und schliesslich liefern auch
ganz persönliche Aufzeichnungen wertvolle Hinweise: Reiseberichte, Tagebücher
und sogar Gedichte.
Herzlicher Dank gebührt folgenden Personen, die uns wertvolle Informationen zu
historischen chinesischen Dokumenten sowie Grafiken zur Verfügung gestellt haben: Dr. Daoyi Gong (Normal University
Peking), Prof. Piyuan Zhang, Prof. Quansheng Ge und Dr. Jingyun Zheng (Institute of Geographic Sciences, Chinese
Academy of Sciences, Peking).
UNIPRESS116/APRIL 2003
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Von der Umsetzung einer viel versprechenden Idee
Vernetzung natürlicher
Klimaarchive
Klimaforscher aus unterschiedlichen wissenschaftlichen
Disziplinen versuchen, für die letzten 500 Jahre im Oberengadin ein kohärentes, hochaufgelöstes Bild der Klimageschichte zu schaffen. Doch die Eigenarten der einzelnen
Umweltarchive machen die Vernetzung zur Herausforderung. Aufgrund des ungeeigneten Gletschereises im
Bernina-Massiv muss die ursprünglich aufs Oberengadin
beschränkte Testregion bis ins Wallis erweitert werden.
Doch damit sind noch nicht alle Probleme vom Tisch. Erst
eine verlässliche Kalibrierung der einzelnen Umweltarchive
und eine sorgfältige Umwandlung der erhobenen Daten in
Temperatur- und Niederschlagsschätzungen wird zeigen, ob
in den verschiedenen Archiven die Klimarekonstruktionen
zuverlässig gelingen.
Steil windet sich der schmale Wanderweg von der Bernina-Passstrasse hinauf
Richtung Diavolezza, und die umfangreiche Feldausrüstung macht den Weg nicht
minder beschwerlich. An diesem Tag steht
weder der Helikopter zur Verfügung, noch
liegt der zu beprobende See in der Nähe
einer Zufahrtstrasse. Das Ziel ist der Lej
da Diavolezza, 2573 m ü.M., einer von
30 Seen, die im Engadin im Rahmen des
VITA-Projekts (siehe Kasten «VITA im
Überblick») beprobt werden. Nach 70 Minuten Fussmarsch erreicht das dreiköpfige
Team das Ziel. Da insgesamt schon zwei
Dutzend Seen beprobt sind, ist das Team
eingespielt, die Handgriffe sitzen. Das
Gummiboot wird aufgepumpt, das Echolot installiert, der Sedimentbohrer vorbereitet, und die Wasserchemie-Messgeräte
werden geeicht. Die Beprobung dauert im
Abb. 1: Lej da Diavolezza, 2573 m ü.M., einer der beprobten Seen im Engadin.
Foto: Oliver Heiri
18
UNIPRESS116/APRIL 2003
Idealfall etwa zwei Stunden und beginnt
mit dem Ausfindigmachen der tiefsten
Stelle im See. Dort werden in verschiedenen Wassertiefen zuerst die WasserchemieMessungen vorgenommen und Parameter
wie pH, Leitfähigkeit und Temperatur direkt vor Ort bestimmt. Für zusätzliche
Analysen der Nährstoffe und weiterer
Spurenelemente im Labor werden zwei
Wasserproben mitgenommen. Anschliessend wird der einfache Sedimentbohrer,
welcher aus einem offenen PVC-Rohr besteht, dessen Schliessvorrichtung sich bei
Zugsentlastung selber auslöst, langsam im
Seeboden versenkt, um Probematerial der
Sedimentoberfläche zu gewinnen.
Wozu dienen natürliche
Umweltarchive im Alpenraum?
Die instrumentellen Klimamessungen setzen in den Alpen ungefähr in der Mitte des
19. Jahrhunderts ein. Aber wie haben Temperatur und Niederschlag im Alpenraum
vorher variiert? Und wie werden sie in den
natürlichen Klimaarchiven überhaupt gespeichert? Angesichts der Klimamodelle,
welche eine zunehmende Variabilität und
Amplitude des künftigen Klimas projizieren, spielen Kenntnisse über langfristige, natürliche Klimaveränderungen eine
zunehmend wichtige Rolle. Bei diesem
Punkt hakt das Projekt VITA ein: Das
Klima der letzten 500 Jahre soll in hoher Auflösung studiert und rekonstruiert
werden, um die fehlenden instrumentellen
Messungen zu kompensieren.
Voraussetzungen für die
Vernetzung der Klimaarchive
Das geborgene Oberflächensediment
vom Lej da Diavolezza wird auf die relative Häufigkeit der biologischen Klimaindikatoren (siehe Kasten «Klimaindikatoren in Seesedimenten») untersucht. Mit 30
Seen entlang eines Höhengradienten wird
es möglich sein, die Ansprüche der einzelnen Indikatorarten genau zu bestimmen
und zu kalibrieren. Die gewonnene Information lässt sich dann in Transferfunktionen umwandeln, die an Sedimentkernen
angewendet werden können, die mehrere
Kasten: «Wie datiert man natürliche Klimaarchive?»). Erst wenn genaue Datierungen vorliegen, können einzelne Ereignisse oder Trends in den unterschiedlichen
Archiven verfolgt und verglichen werden.
Mit Ausnahme der Torfkerne ist allen Archiven eine hohe zeitliche Auflösung gemeinsam, die jahrgenaue Rekonstruktionen ermöglichen werden.
Abb. 2: Entnahme von Sedimentproben auf
dem Lej da Diavolezza.
Foto: Andy Lotter
hundert Jahre zurückreichen. Somit können die historischen Bedingungen in einem beliebigen Engadiner See rekonstruiert werden.
Neben Seesedimenten werden im Oberengadin auch Arven-Baumringe und
Gletschereis beprobt. Doch am Piz Zupo
im Bernina-Massiv spielt die Natur den
Wissenschaftern einen Streich, und die
ursprüngliche Idee von VITA, nämlich
die Vernetzung der Umweltarchive in der
«Testregion Oberengadin», muss neu definiert werden. Das Gletschereis am Piz
Zupo weist ungünstige Eigenschaften für
eine Klimarekonstruktion auf, d.h. es ist
ab einer gewissen Tiefe temperiert, und
die jährlichen Schichtungen, die eine genaue Datierung erlauben würden, sind teilweise aufgelöst. Zusätzlich reicht der 40
m lange Eiskern nur etwa 10 Jahre weit
zurück, zu wenig für die Interessen von
VITA. Als Konsequenz wird die ursprünglich eng gefasste Testregion räumlich wesentlich erweitert, und eine weitere Bohrung wurde am Fieschergletscher (Wallis)
durchgeführt. Der Kern des Fieschergletschers ist mit einer Länge von 150 m äusserst ergiebig und wird den Bedürfnissen
für VITA voraussichtlich weit besser entsprechen als der Eiskern des Piz Zupo.
Doch mit den erfolgreichen Feldkampagnen sind noch längst nicht alle Probleme vom Tisch, im Gegenteil. Die gewonnenen Proben werden nun analysiert
und ausgewertet. Die gemessenen Werte
in Eiskernen, die Baumringbreiten und
auch die relative Häufigkeit von biologischen Organismen im Seesediment müssen in vergleichbare Messgrössen, z.B.
Sommertemperatur, umgerechnet werden.
Um die Archive zu vernetzen, ist eine robuste Chronologie unabdingbar (siehe
Vergleich von natürlichen und
historischen Klimaarchiven
Die Klimarekonstruktionen von VITA
sollen unter anderem auch aufzeigen, wie
gut die verschiedenen Umweltarchive das
Klima überhaupt aufzuzeichnen vermögen. Einerseits ist ein Vergleich zwischen
den einzelnen Archiven am selben Ort
möglich. Das Risiko besteht, dass unterschiedliche Archive trotz ihrer räumlichen
Nähe das Klima unterschiedlich aufzeichnen und somit die archivspezifischen Umwelteinflüsse grösser sind als die regionalen Klimamuster. Beispielsweise könnte
das Vorkommen von Diatomeen (Kieselalgen) seit Beginn des 20. Jahrhunderts
vor allem durch den Eintrag von Dünger
(Eutrophierung) als Folge der zunehmen-
VITA im Überblick
VITA ist die Abkürzung für «Varves, Ice-cores and Tree rings – Archives with Annual Resolution», ein Projekt, welches vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes (NFS) Klima initiiert wurde. Klimaforscher rekonstruieren in unterschiedlichen natürlichen Umweltarchiven (Sedimentkerne,
Baumringe, Eisbohrkerne, Torfkerne) mit möglichst hoher zeitlicher Auflösung das
Klima der letzen 500 Jahre. Es ist das erste Mal überhaupt, dass eine räumlich
eng begrenzte Vernetzung von Archiven angestrebt wird.
Varven in Seesedimentkernen (Abb. 3)
Varven werden unter besonderen Umständen bei der Ablagerung von Seesedimenten gebildet. Helle und dunkle
Schichten repräsentieren einen Jahreszyklus, wobei verschiedene Faktoren
wie die Seetiefe, das Klima und geochemische Prozesse die Varvenbildung
beeinflussen.
Foto: Peter Rosén
Eisbohrkerne (Abb. 4)
Eisbohrkerne von alpinen Gletschern enthalten Informationen zur chemischen Zusammensetzung und Herkunft der Luftmassen. Der Schnee wird auf den
Gletschern fortlaufend abgelagert und
kontinuierlich von Firnschnee zu Eis verdichtet. Im Bild sind zusätzlich dunkle
Schichten von Saharastaubeinträgen
sichtbar.
Foto: Anja Eichler
Baumringe (Abb. 5)
Die Dichte und Breite eines Baumrings
reflektieren hauptsächlich die Temperatur während der Vegetationsperiode.
Neben klimatischen Faktoren beeinflussen beispielsweise auch Krankheiten,
das Alter und der Standort des Baumes die Bildung von Jahrringen.
Foto: Jan Esper
UNIPRESS116/APRIL 2003
19
den Siedlungstätigkeit beeinflusst worden sein, während diese Eutrophierung
die Arvenbaumringe an der Waldgrenze
nicht beeinflusst. Die konkreten Vergleiche könnten also durchaus unterschiedliche Resultate liefern.
Andererseits steht auch die Möglichkeit
offen, die VITA Daten mit Rekonstruktionen aus historischen Quellen zu vergleichen. Trotz der Fülle von historischen
Klimadaten ist der Vergleich jedoch nicht
unproblematisch. Oft wurden historische
Ereignisse nämlich in tiefen Lagen des
Mittellandes aufgezeichnet, und es muss
erst noch überprüft werden, inwiefern sie
für den Alpenraum repräsentativ sind.
In der Luftseilbahn hoch über dem Lej
da Diavolezza schweben zurzeit Skifahrer der Wintersonne entgegen, derweil
Kieselalgen und Zuckmückenlarven unter
dem dicken Eis auf bessere Zeiten warten. Diese kommen bestimmt, spätestens
im nächsten Frühling, wenn die Eisdecke
schmilzt.
Dr. Christian Bigler
Institut für Pflanzenwissenschaften
Biologische Klimaindikatoren in Seesedimenten
Im Rahmen von VITA werden Kieselalgen (Diatomeen) und Kopfkapseln von Zuckmückenlarven (Chironomiden) als Klimaindikatoren genauer unter die Lupe genommen.
Diatomeen sind einzellige Algen, die
äusserst vielfältige und formenreiche
Kieselhüllen besitzen. Die ornamentartigen Strukturen der Hüllen sind wichtige
Unterscheidungsmerkmale.
Generell werden die Kieselalgen aufgrund ihrer Lebensform in zwei Hauptgruppen unterteilt, einerseits die Centrales, welche radiär aufgebaut sind (siehe
Foto) und vorwiegend freischwimmend
als Plankton vorkommen, und andererseits die Pennales, welche einen schiffchenförmigen Aufbau aufweisen und
meist angeheftet an verschiedenen Substraten (z.B. Steine, Sand, Sedimentoberfläche) oder als Epiphyten auf Wasserpflanzen wachsen.
Chironomiden sind nicht-stechende Mücken, die das Larvenstadium im Wasser
durchlaufen. Die Kopfkapseln der Chironomiden-Larven werden im Sediment
abgelagert und konserviert. Sie können
zumindest bis zur Gattung – im Idealfall
auch bis zur Art – bestimmt und zugeordnet werden.
Beide Organismengruppen eignen sich
hervorragend als paläolimnologische Indikatoren, da sie im Sediment oft gut
erhalten bleiben und in hoher Anzahl
abgelagert werden; zudem haben einzelne Arten genau definierte ökologische Ansprüche bezüglich Temperatur,
Säuregrad (pH), Sauerstoff- oder Nährstoffkonzentration.
Abb. 6: Planktische Kieselalge Cyclotella antiqua (links)und Kopfkapsel einer Zuckmückenlarve der Gattung Dicrotendipes (rechts): zwei Beispiele für mikroskopische
Klimaindikatoren in Seesedimenten.
Fotos Christian Bigler, Oliver Heiri
20
UNIPRESS116/APRIL 2003
Wie datiert man
natürliche Klimaarchive?
Präzise Datierungen der natürlichen Klimaarchive sind die Grundvoraussetzung,
die verschiedenen Archive zu vernetzen.
Eine genaue Altersbestimmung erlaubt
festzustellen, welche einzelnen Ereignisse in Seesedimenten (Varven), Baumringen und Eisbohrkernen überhaupt festgehalten sind, und ob sie synchron oder
mit einer gewissen Verzögerung aufgetreten sind. In verschiedenen Archiven werden unterschiedliche Datierungsmethoden
angewendet.
Der Kalender in geschichteten Seesedimenten wird unter anderem mittels Zählen der dunklen und hellen Schichten (Varven) in Dünnschliffpräparaten ermittelt. Bei
undeutlichen oder fehlenden Varven können für den Zeitraum der letzten 150 Jahre
auch radiometrische Methoden beigezogen werden, wie die Aktivitätsmessung
von Blei- und Cäsium-Isotopen, welche
charakteristische Aktivitätsmuster zeigen.
Um ältere Sedimentsequenzen wie auch
Torfkerne zu datieren, wird die Radiokarbonmethode verwendet, welche auf dem
Verhältnis von unterschiedlichen Kohlenstoff-Isotopen beruht.
Die Altersbestimmung von Baumringen
basiert auf dem Zählen der einzelnen
Jahrringe, die sich aufgrund von Witterungsbedingungen in der Breite unterscheiden. Werden Jahrringbreiten über
den ganzen Stammquerschnitt analysiert,
lässt sich eine charakteristische Jahrringbreitenkurve ableiten. Die Jahrringbreitenkurven von verschiedenen Bäumen derselben Art lassen sich verknüpfen, wenn
der Überlappungsbereich genügend
gross ist. Anhand dieser Methode können auch Hölzer, welche zu einem unbestimmten Zeitpunkt gefällt wurden, in die
Chronologie eingepasst und aufs Jahr genau datiert werden.
Für die Datierung von Eisbohrkernen können einerseits – ähnlich wie bei Baumringen – die jährlichen Schichtungen
analysiert und gezählt werden. Die
Schichtungen entstehen aufgrund von
saisonalen Temperaturunterschieden, welche die Eigenschaften des Niederschlages beeinflussen. Andererseits kann auch
das Verhältnis von Sauerstoffisotopen zur
Datierung verwendet werden. Es unterliegt saisonalen, temperaturabhängigen
Schwankungen, wobei im Winter der Anteil an 18O-Isotopen relativ hoch ist.
Auswirkungen der Juragewässerkorrektion auf das Lokalklima
Klimawandel vor der Haustür
Die Juragewässerkorrektion im 19. Jahrhundert ist der
grösste menschliche Eingriff in eine Schweizer Naturlandschaft. Etwa 400 km2 Feuchtgebiete wurden in Kulturland
umgewandelt – eine für helvetische Verhältnisse gigantische Umwandlung der Landschaft. Wie hat sich diese Landnutzungsänderung auf das Klima im Seeland ausgewirkt?
Eine Berner Studie liefert erste Ergebnisse.
«Den Rettern aus grosser Not. Das dankbare Seeland». Mit dieser Inschrift erinnert in Nidau ein Denkmal mit Büste und
Medaillon an Johann Rudolf Schneider
und an Robert La Nicca. Der politisierende Arzt und der Bündner Oberingenieur waren die beiden treibenden Kräfte
der ersten Juragewässerkorrektion (1868–
1891). Die positiven Auswirkungen dieser
ingenieursmässigen Grosstat sind unbestritten (siehe Kasten: «Malariagebiet»).
Doch hatten die beiden Juragewässerkorrektionen auch Auswirkungen, die für die
Initianten des Jahrhundertwerks nicht abschätzbar waren: Die Umgestaltung des
Seelands und die veränderte Nutzung
der Landschaft wirkte sich auf das lokale
Klima aus. Tendenziell sind im Sommer
die Temperaturen gesunken und hat die
Luftfeuchtigkeit zugenommen.
Möglich geworden sind solche Aussagen
dank Computermodellierungen, die Vergleiche zwischen den heutigen Klimabedingungen und jenen vor der ersten Juragewässerkorrektion zulassen. Um die
Klimawirksamkeit der Landnutzungs-
Abb. 1: Überschwemmung bei Aegerten
(Oberer Kanalweg) vor der zweiten Juragewässerkorrektion.
änderungen zu simulieren, haben wir in
unserer Studie1 ein Computermodell mit
einer hohen räumlichen Auflösung von
1×1 km 2 verwendet. Modelliert wurden
die meteorologischen Prozesse in einem
Bereich von 150×80 km 2 , der die südlichen Teile des Juras, das Seeland und einen Teil der Voralpen umfasst. Es galt dabei nicht zuletzt, mit Hilfe des Modells die
klimatischen Bedingungen im Seeland vor
rund 150 Jahren zu ermitteln, denn flächendeckende Messdaten für diese Zeit
gibt es nicht.
Unterste Atmosphärenschicht
von besonderem Interesse
Als Grundlage für die Vergleichsberechnungen wurde mittels historischer Karten die Landnutzung vor den Korrekturmassnahmen rekonstruiert. Die Daten zur
heutigen Landnutzung entstammen der
schweizerischen Arealstatistik der Jahre
1979–85. Danach wurden den jeweiligen
Landnutzungstypen Modellgrössen zugewiesen, welche die Boden-, die Oberflächen- sowie die Pflanzeneigenschaften beschreiben und als Eingabegrössen für das
Computermodell dienten.
1siehe:
http://www.giub.unibe.ch/klimet/iluclims/
Die Gewässer des Seelands vor der ersten Korrektion
Abb. 2: Auswirkungen der ersten Juragewässerkorrektion
auf die Gew ä sser
des Seelands (nach
Ehrsam, 1974: Zu sammenfassende
Darstellung der beiden Juragewä sserkorrektionen).
Die Gewässer des Seelands nach der ersten Korrektion
UNIPRESS116/APRIL 2003
21
Modelliert wurde schliesslich das meteorologische Geschehen an drei typischen
Sommertagen. Um die Modellrechnungen mit der Wirklichkeit vergleichen und
somit abschätzen zu können, wie gut das
Modell in der Lage ist, das regionale Klimageschehen wiederzugeben, rechneten
wir mit den Wetterbedingungen von drei
realen Sommertagen (4.–6. Juli 1998).
Dies erlaubte es, die Resultate der Simulation mit meteorologischen Messungen
derselben drei Tage zu vergleichen und
Korrekturen vorzunehmen. Mit den identischen Wetterbedingungen simulierten
wir anschliessend drei Sommertage zur
Zeit vor den Juragewässerkorrektionen.
Die Modellgrössen, welche die Landnutzung betreffen, wurden den Verhältnissen
vor dem Eingriff angepasst. Aus dem Unterschied dieser zwei Modellläufe konnte
schliesslich der Einfluss der Landnutzungsänderungen auf das regionale Tagesklima von typischen Sommertagen
ermittelt werden. Von besonderem Interesse war die Temperatur in den untersten Metern der Atmosphäre. Einerseits
stellt dieser oberflächennahe Bereich der
Atmosphäre den menschlichen Lebensraum dar; Veränderungen in dieser Luftschicht können somit auch von Menschen
wahrgenommen werden. Andrerseits ist
die Lufttemperatur nahe der Oberfläche
auch für die Landwirtschaft von grosser
Bedeutung.
Folgen der Gewässerkorrektion überlagern Treibhauseffekt
Die Resultate dieser Simulation waren
von ihrer Tragweite her nicht unbedingt
zu erwarten. Unsere Zahlen deuten darauf hin, dass der lokale Effekt der Juragewässerkorrektionen in der Vergangenheit eine deutlich stärkere Wirkung auf
das Sommerklima des Seelands hatte als
der globale Treibhauseffekt. Die veränderte Landnutzung hat die Folgen der globalen Klimaerwärmung im Seeland teilweise überdeckt.
Im Einzelnen lieferte unsere Studie folgende Ergebnisse: Insgesamt haben die
Eingriffe in die Landschaft – insbesondere die 1. Juragewässerkorrektion, aber
auch verloren gegangener Wald – zwi-
schen 1850 und heute zu einer Abkühlung
geführt. Das Tagesmittel der Temperatur
der modellierten Sommertage hat bis zu
0.3 °C abgenommen. Tagsüber lag dabei
die Temperaturabnahme im Bereich von
0.1 °C bis 0.3 °C, während gegen Ende der
Nacht eine Temperaturabnahme von bis zu
0.6 °C berechnet wurde.
Ausgeprägte Temperaturunterschiede in der Nacht
Grosse Unterschiede zwischen Tag und
Nacht zeigten sich auch bei den räumlichen Mustern der Temperaturänderungen.
Am Tag sind die Temperaturunterschiede
sehr ungleichförmig verteilt. Gebieten mit
deutlicher Temperaturabnahme stehen solche mit einer Zunahme der Temperatur gegenüber. So wurde in seit der ersten Juragewässerkorrektion wieder bewaldeten
Gebieten tagsüber eine um bis zu 1.0 °C
gestiegene Temperatur berechnet. Allerdings betrifft dies nur einen sehr kleinen
Teil des Untersuchungsgebiets am nördlichen Ufer des Bielersees.
Umgekehrt verhält es sich bei Flächen,
die früher bewaldet waren: Für diese
zeigten die Modellrechnungen während
dem Tag eine Temperaturabnahme von
bis zu 2.0 °C (siehe Abb. 3). In Gebieten,
wo der Waldverlust seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts relativ hoch ist – in der Gegend um Aarberg und Lyss und auch teilweise am Jäissberg südlich des Bielersees
– hat diese Temperaturabnahme das lokale
Klima geprägt. Insgesamt ist der Waldanteil im Untersuchungsgebiet um rund 30%
gesunken.
Verändert hat sich auch das lokale Klima
rund um den Murtensee. Als Folge des gesunkenen Wasserspiegels wurden sowohl
am westlichen wie auch am östlichen
Ufer neue Landflächen gewonnen, welche heute zumeist bewaldet sind. Zusätzlich wurden weite Teile um den Murtensee
trockengelegt, die heute landwirtschaftlich genutzt werden. Diese Landgewinne
haben zu deutlich wärmeren Tagestemperaturen in diesem Gebiet geführt.
Abb. 3: Temperaturunterschiede im Vergleich zur Situation vor der ersten Juragewässerkorrektion für zwei typische Landnutzungsveränderungen. Negative Differenzen zeigen
eine Abkühlung im Vergleich zur Zeit vor 1850. Der schattierte Bereich gibt jeweils die
Unsicherheit von einer Standardabweichung an.
22
UNIPRESS116/APRIL 2003
Die deutlichsten Temperaturunterschiede
allerdings zeigten sich während der
Nacht, wobei die grösste Abkühlung kurz
vor Sonnenaufgang erreicht wird. Betroffen von diesen kühleren Nacht-Temperaturen sind vor allem ehemalige Moorflä-
tiven Charakter für andere Regionen im
In- und Ausland – Gebiete, in denen Gewässerkorrektionen, Trockenlegungen von
Feuchtgebieten oder Landgewinnung in
Küstenzonen ähnliche Auswirkungen auf
das lokale und regionale Klima bewirken
können. Dies sind Mechanismen von allgemeiner Bedeutung, die noch lange nicht
geklärt sind. Denn insgesamt ist die Forschung noch weit davon entfernt, die
komplexen Wechselwirkungen zwischen
Landnutzung und Klima in allen Details
zu verstehen. Insbesondere ist es schwierig, Aussagen über die Auswirkungen von
globalen Landnutzungsänderungen auf
das regionale und lokale Klima zu machen. Dies gilt sowohl für die Zukunft
wie auch für die Vergangenheit.
Abb. 4: Luftbild der Region um Aarberg. Die nach den Juragewässerkorrektionen drainierten Flächen werden heute intensiv genutzt. Im Vordergrund ist der Hagneck-Kanal
zu sehen, in der Bildmitte der von Wald umgebene alte Aarelauf.
chen, die heute landwirtschaftlich genutzt
werden (siehe Abb. 4). In diesen Gebieten erreichen die kälteren Luftmassen allerdings nur eine Mächtigkeit von rund
50 Metern.
ken sich nicht nur auf das Gebiet des Seelands. Unsere Modellierungen zeigen, dass
Luftmassen aus dem Seeland vom Wind
zum Beispiel bis zu 40 Kilometer pro Tag
Richtung Voralpen transportiert werden.
Erkenntnisse aus dem Seeland
von allgemeiner Bedeutung
Die veränderte landwirtschaftliche Nutzung des Seelands wirkte sich nicht nur
auf die Temperaturen aus, sondern auch
auf die Feuchtigkeit – und zwar auf unerwartete Weise. Vor den Korrekturmassnahmen waren weite Teile des Seelands
durch Feuchtgebiete und eine hohe Verdunstung geprägt. Seither hat die Luftfeuchtigkeit in der untersten Luftschicht
tagsüber tendenziell eher noch zugenommen, und dies, obwohl diese Moorgebiete
im Rahmen der Korrektion trockengelegt
wurden. Der Grund: Bei den früher vorherrschenden porösen Torf-Böden führte
die starke Sonneneinstrahlung tagsüber zu
einem raschen Austrocknen der obersten
Bodenschicht, was die Verdunstung stark
reduzierte. Die heutigen, stark mineralisierten Böden hingegen trocknen an der
Oberfläche weniger schnell aus. Dazu
kommt, dass die Verdunstung bei der heutigen landwirtschaftlichen Nutzvegetation
deutlich höher sein dürfte als bei den früher verbreiteten Riedgräsern.
Vor allem aber haben die im Seeland gewonnenen Erkenntnisse auch repräsenta-
Die klimatischen Auswirkungen der beiden Juragewässerkorrektionen beschrän-
Blick in Vergangenheit
wichtig für Verständnis
Umgekehrt ist es ebenso wichtig zu wissen,
wie und wie stark kleinräumige Landnutzungsänderungen das Klima eines Gebietes beeinflussen. Denn wie sich am Beispiel des Seelands zeigen lässt, können
menschliche Eingriffe in die natürliche
Landschaft Folgen haben, deren Wirkung
auf das lokale Klima stärker spürbar wird
als globale Klimaänderungs-Signale. Von
besonderer Bedeutung sind dabei Erkennt-
Vom Malariagebiet zur Gemüsekammer
Überschwemmungen, hohe Sterblichkeit und zu gewissen Zeiten gar Malaria prägten die unwirtliche Gegend. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die erste Juragewässerkorrektion Wirkung zeigte, war in den tieferen Lagen des Seelands wenig
vom Charme der heutigen Drei-Seen-Region zu merken. Moor-, Sumpf- und Auenlandschaften beanspruchten einen grossen Teil des Seelands, und das Grosse
Moos mit seinen fast 400 km2 bildete die grösste zusammenhängende Moorfläche der Schweiz.
Dies änderte sich, als durch den Bau des Hagneck-Kanals, die Erweiterung des
Zihl- und Broye-Kanals sowie die Erweiterung des Abflusskanals aus dem Bielersee
ein zusammenhängendes Gewässersystem geschaffen wurde. Es diente fortan als
Ausgleichsbecken für Hochwasser. Mit diesen Massnahmen verbunden war die
Absenkung des Wasserspiegels der drei Juraseen um rund 2.5 m, wodurch neues
Land gewonnen wurde. Zusätzlich wurden grosse Flächen des Seelands trockengelegt und Massnahmen zur Bodenverbesserung eingeleitet, so dass seither grosse
Teile der ehemaligen Sumpflandschaft intensiv landwirtschaftlich bewirtschaftet werden können.
Die Absenkung des Grundwasserspiegels und die Umwandlung der torfigen Böden
in mineralische Böden hatte aber auch unliebsame Folgen: Der Boden sackte so stark
ab, dass das Seeland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder vermehrt
von Überschwemmungen betroffen war. Die zweite Juragewässerkorrektion (1962–
1973) wurde nötig, um die Arbeiten der ersten Korrektion zu verfeinern und zu ergänzen und so eine dauerhafte hochproduktive Landwirtschaft zu ermöglichen.
UNIPRESS116/APRIL 2003
23
nisse über die Klimawirksamkeit von historischen Umgestaltungen der Landschaft.
Nur so ist es möglich, verlässliche Aussagen über den Einfluss des verstärkten
Treibhauseffekts einerseits und von Landnutzungsänderungen andrerseits auf den
Klimawandel der letzten 150 Jahre zu
machen. Denn der Klimawandel ist ein
komplexes Resultat vieler Faktoren, die
teilweise verstärkend und teilweise abschwächend in nicht-linearer Weise zusammenwirken.
Doch wie bedeutend sind lokale Einflüsse
wie die Juragewässerkorrektionen verglichen mit dem allgemeinen Klimawandel?
24
UNIPRESS116/APRIL 2003
Eine Antwort darauf liefern die Berechnungen des Intergovernmental Panel on
Climate Change, IPCC. Der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderung
rechnet, um Vergleiche anstellen zu können, die verschiedenen Prozesse, die zum
globalen Klimawandel beitragen, in so genannte Strahlungsantriebe um. Der Treibhauseffekt zum Beispiel verursacht heute
im Vergleich zur Zeit vor 1750 einen mittleren jährlichen Strahlungsantrieb von
2.4 W m -2 . Den globalen Landnutzungsänderungen schreibt der IPCC einen negativen Wert von –0.2Wm -2 zu. Im Vergleich dazu beträgt die mittlere Abnahme
der sommerlichen Netto-Strahlung im
Seeland hohe –6.3 W m -2 . Dementsprechend gross dürfte die den Treibhauseffekt überlagernde Wirkung sein. Entwarnung wäre aber auch im Seeland fehl am
Platz. Denn es ist nur eine Frage der Zeit,
bis der lokale Gegeneffekt zur Klimaerwärmung durch die globale Entwicklung überprägt wird.
Nicolas Schneider und Dr. Werner Eugster
Geographisches Institut
Gruppe für Klimatologie und Meteorologie
Ein Photosynthese-Enzym als Temperatursensor in Blättern?
Hitzestress bei Pflanzen
Erhöhte Temperaturen als Folge der Klimaveränderung
können die Photosynthese1 und damit die Produktivität von
Pflanzen beeinträchtigen. Die artspezifischen Unterschiede
bezüglich Hitzetoleranz sind beträchtlich. Ein wichtiges
Enzym2 der Photosynthese wird bei leicht erhöhter Temperatur reversibel und bei stark erhöhter Temperatur
irreversibel inaktiviert. Die Hitzeempfindlichkeit dieses
Enzyms hängt von der Pflanzenart ab. Wie weit es primär
für die Reduktion der Photosyntheseaktivität während und
nach einer Hitzestressperiode verantwortlich ist, ist ein zentraler Punkt laufender Forschungsprojekte.
Hohe Temperaturen als
Problem für die Vegetation
Nicht nur weltweit, sondern auch auf lokaler Ebene wachsen Pflanzen an Standorten mit sehr unterschiedlichen Boden- und Klimaverhältnissen. Unter den
ökologischen Bedingungen, welche die
Verbreitung der einzelnen Pflanzenarten
und die Produktivität der landwirtschaftlich genutzten Kulturpflanzen bestimmen,
spielen Temperatur und Wasserverfügbarkeit eine entscheidende Rolle. Temperaturunterschiede während der Vegetationsperiode können beträchtlich sein. Pflanzen
können durch morphologische und physiologische Veränderungen an spezielle
Klimaverhältnisse angepasst sein. Sinkt
die Temperatur aber tiefer als die untere
Schwelle oder steigt sie über die obere
Schwelle des Temperaturbereiches, innerhalb welchem sich eine Pflanze gegen die
durch ungünstige Temperaturen bewirkten
Störungen schützen kann, so kommt es zu
Schädigungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind und die im Extremfall
zum Tod des Organismus führen.
Die globale Erwärmung ist einer der
wichtigsten Aspekte der in den letzten
Jahrzehnten beobachteten Klimaveränderungen. Gekoppelt mit dem fortlaufenden
Anstieg der Jahresdurchnittstemperaturen
ist eine erhöhte Häufigkeit von Perioden
mit überdurchnittlich hohen Temperatu1 Photosynthese
= Lichtabhängiger Aufbau organi
scher Stoffe aus anorganischen Stoffen
2 Ein Enzym ist ein Eiweiss, das Stoffwechselreaktionen ermöglicht.
3 Transpiration bedeutet hier: die Abgabe von Wasserdampf durch die Spaltöffnungen der Pflanzen.
ren. Modelle, die von Klimatologen entwickelt wurden, deuten darauf hin, dass
das Ausmass und die Frequenz von Ereignissen mit extrem hohen Temperaturen in
der Zukunft noch zunehmen werden. Die
Vegetation dürfte also häufiger von Hitzestressperioden betroffen sein. Hitzeperioden sind oft auch trockene Perioden. Die
Kombination von Hitze und Trockenheit
versetzt die Pflanzen in eine besonders
schwierige Situation, weil sie einerseits
mit dem Wasser haushälterisch umgehen
müssen, andererseits aber auch die Temperatur mittels Wärmeabgabe durch die
Transpiration3 regulieren sollten. Bei Sonneneinstrahlung kann die Blatttemperatur
deutlich höher als die Lufttemperatur sein
Pflanzenart
(s. Tabelle). Dies gilt insbesondere, wenn
die Pflanzen ihre Spaltöffnungen schliessen, um den Wasserverlust zu vermindern.
In den wärmsten Regionen der Schweiz,
wie zum Beispiel im Zentralwallis, ist es
schon heute nicht mehr selten, dass Lufttemperaturen über 35 °C gemessen werden. Blatttemperaturen können also auch
in unseren Breitengraden vorübergehend
auf über 40 °C ansteigen. Viele Pflanzenarten, vor allem aber diejenigen, die an ein
gemässigtes Klima angepasst sind, könnten dadurch vermehrt unter akutem Hitzestress leiden. Auswirkungen auf die
Produktivität hitzeempfindlicher Kulturpflanzen und Veränderungen in der Flora
sind zu erwarten.
Beeinträchtigung der
Photosynthese durch Hitze
Hohe Temperaturen beeinflussen die
Pflanzen auf vielfältige Art und Weise.
Viele Studien haben aber gezeigt, dass der
Photosyntheseapparat in den Chloroplasten (chlorophyllhaltige Zellbestandteile)
auf Hitzestress besonders empfindlich reagiert. Eine Abnahme der Photosyntheserate findet oft schon statt, bevor andere
Zellfunktionen durch erhöhte Temperaturen betroffen sind. Bei leichtem bis mittelstarkem Hitzestress, typisch zwischen
30 °C und 40 °C, wird die Photosynthese
Blatt-Temperatur [°C]
Volles Sonnenlicht
Beschattet
27. Juli 2002, 13–15 Uhr (Luft-Temperatur: 25.5±1.0 °C)
Kartoffel
28.0±1.5
24.8±1.2
Sonnenblume
23.0±0.9
21.2±1.5
Haselstrauch
37.5±2.0
26.6±0.7
Buche
29.0±1.2
24.7±1.4
Eiche (leichter Wind)
25.5±2.0
21.6±1.3
Eiche (windstill)
37.8±4.8
26.4±1.7
28. Juli 2002, 14–17 Uhr (Luft-Temperatur: 29.5±1.0 °C)
Kartoffel
31.2±2.3
25.1±1.1
Sonnenblume
22.8±1.6
20.0±1.1
Haselstrauch
40.0±2.0
28.7±0.5
Buche
32.1±1.0
25.0±0.7
Eiche (leichter Wind)
32.3±1.9
25.0±0.7
Eiche (windstill)
41.0±1.2
31.9±1.9
Tabelle: Blatt-Temperaturen verschiedener Pflanzenarten (Mittelwerte und Standardabweichungen von 10 Messungen). Neben der Luft-Temperatur sind auch die Licht- und
Windverhältnisse von entscheidender Bedeutung.
UNIPRESS116/APRIL 2003
25
Abb. 1: Photosyntheseaktivität in Erbsenblättern vor, während und nach einem Hitzestress bei verschiedenen Temperaturen.
zwar gehemmt, aber dieser Prozess bleibt
reversibel, ist also noch rückgängig zu machen (Abb. 1).
Oberhalb von 40 °C kann der Photosyntheseapparat indessen bereits irreversibel
geschädigt werden. Der Zustand des Photosyntheseapparates während und nach einem Hitzestress wird nicht nur durch die
Intensität und die Dauer der Stresseinwirkung bestimmt, sondern auch durch eine
ganze Reihe anderer Faktoren (z.B. Pflanzenart, Entwicklungsstadium, Wechselwirkungen mit anderen Stressfaktoren).
Die Hitzetoleranz des Photosyntheseapparates ist ein wichtiger Faktor für die
Empfindlichkeit von Pflanzen gegenüber erhöhten Temperaturen. Es geht daher darum, diejenigen Komponenten des
Photosyntheseapparates zu identifizieren,
die primär für die Hitzeempfindlickeit der
Photosynthese verantwortlich sind.
Schon früh wurde erkannt, dass Komponenten der Thylakoidmembranen in
den Chloroplasten (ein Membransystem
innerhalb der Chloroplasten (vgl. Abb.
2), wo die Lichtreaktionen der Photosynthese stattfinden, hitzelabil sind. Extrem hohe Temperaturen bewirken irreversible Schädigungen in der Struktur
der Thylakoidmembranen. Bei etwas tieferen Stresstemperaturen wird vor allem
eine Komponente in den Thylakoidmembranen beeinträchtigt, nämlich das Photosystem II (PSII), welches für die Produktion von Sauerstoff verantwortlich ist.
Die durch Hitzestress bedingte Reduktion der PSII-Aktivität, welche zu einer
gesamthaften Abnahme des photosynthetischen Elektronentransportes führt,
beruht primär auf einer Schädigung einer PSII-Komponente, die bei der Wasserspaltung eine wichtige Rolle spielt.
Dieser Schaden am Photosyntheseapparat könnte die Hauptursache dafür sein,
dass sich die Photosynthese nach einem
mittelstarkem Hitzestress meistens nicht
mehr gänzlich erholen kann. Andererseits
gibt es aber auch Hinweise, dass die Integrität der Thylakoidmembranen beeinträchtigt werden könnte, bevor es zu einer Hemmung der PSII-Aktivität kommt.
Eine erhöhte Durchlässigkeit der Membranen ist mit Störungen verbunden, die zu
einer Reduktion der CO 2 -Assimilationsrate4 führen.
Die Photosyntheseaktivität wird aber
oft schon durch Temperaturen gehemmt,
welche die Thylakoidmembranen und deren Komponenten nicht beeinträchtigen.
4Assimilation
Abb. 2:
Querschnitt durch einen Chloroplast
26
UNIPRESS116/APRIL 2003
bedeutet hier: die Bildung von Kohlenhydraten aus Kohlendioxid (CO 2) und aus Wasser unter dem Einfluss von Licht, wobei Zucker entsteht und Sauerstoff (O 2) abgegeben wird.
Das Enzym Ribulose-1,5-bis-PhosphatCarboxylase/Oxygenase (kurz «Rubisco»
genannt) ist das CO 2 -Fixierungsenzym
in den Chloroplasten. Das Enzym Rubisco kann sowohl CO 2 wie auch O 2 binden. Die beiden Aktivitäten konkurrenzieren sich gegenseitig. Steigt die Temperatur,
so erhöht sich sowohl das Verhältniss O 2 /
CO 2 am Ort des Enzyms als auch die Verwendung der beiden Substrate durch die
Rubisco. So erhöht sich die OxygenaseAktivität (d.h. die Photorespiration, die
Reaktion mit Sauerstoff) auf Kosten der
Carboxylase-Aktivität (der CO 2 -Assimilation), wodurch sich die Abnahme der
Photosyntheserate bei erhöhter Temperatur erklären liesse. Zudem wurde beobachtet, dass bei erhöhter Temperatur
der Export der Photoassimilate – d.h. jener Produkte, die durch Umwandlung körperfremder in körpereigene Produkte, wie
etwa Stärke, entstehen – aus den Blättern
gehemmt ist. Dieses Phänomen könnte zu
einer Hemmung der Photosynthese durch
Rückstau führen. Eine erhöhte Photorespirationsrate und eine Hemmung der Photosynthese durch Rückstau genügen aber
nicht, um die Reduktion der Photosyntheserate bei erhöhter Temperatur zu erklären.
Eine Abnahme der Photosyntheserate findet nämlich sowohl unter photorespiratorischen wie auch unter nicht-photorespiratorischen Bedingungen statt und kann
auch dann gemessen werden, wenn der
Export der Photoassimilate nicht beeinträchtigt ist.
Rubisco-Aktivase:
das hitzeanfälligste Enzym?
In verschiedenen Studien wurde beobachtet, dass die lichtabhängige Aktivierung
der Rubisco bei mildem Hitzestress abnimmt und dass diese Hemmung eng mit
einer reversiblen Inaktivierung der Photosynthese gekoppelt ist. Zuerst nahm man
an, dass die Rubisco selbst hitzelabil sein
könnte. Spätere Laborexperimente haben
aber bewiesen, dass das Enzym selbst bei
50 °C noch voll funktionsfähig ist. (Auch
die anderen Hauptenzyme der Photosynthese erwiesen sich alle als relativ hitzetolerant.) Die Rubisco ist ein Enzym, das
langsam arbeitet und das zudem immer
wieder in einen inaktiven Zustand zurückfällt. Sie hat also ineffiziente katalytische Eigenschaften; d.h. sie kann chemische Prozesse nicht (inaktive Form) oder
nur langsam (aktive Form) herbeiführen.
Damit das Enzym optimal arbeitet, muss
es zuerst aktiviert werden. Durch höhere
Temperaturen kann der Aktivierungsmechanismus der Rubisco gehemmt werden.
Die Magnesiumkonzentration, die CO 2 Konzentration und der Säurewert (pHWert) spielen in der Regulation der Rubisco-Aktivität eine wichtige Rolle. Die
Rubisco-Aktivität wird aber auch durch
Aktivatoren (Stoffe, welche die Wirksamkeit eines Enzyms erhöhen) und Inhibitoren (Hemmstoffe eines Enzyms) reguliert.
Dabei spielt nun das Chloroplastenenzym
Rubisco-Aktivase eine zentrale Rolle.
Diese Rubisco-Aktivase wandelt die inaktive Form der Rubisco in die aktive Form
um. Der Mechanismus der lichtabhängigen Aktivierung der Rubisco durch die Rubisco-Aktivase ist noch nicht vollständig
geklärt. Verschiedene Studien deuten aber
darauf hin, dass die Rubisco-Aktivase direkt mit der Rubisco interagiert und durch
einen bislang unbekannten Mechanismus
die Befreiung des Enzyms von gebundenen Inhibitoren fördert. Sobald die Rubisco von den Inhibitoren befreit ist, kann
dieses Enzym durch die Bindung von CO 2
und Magnesium spontan aktiviert werden.
Die Rubisco wird, wie bereits oben erwähnt, laufend inaktiviert und muss daher immer wieder aktiviert werden.
Experimente haben gezeigt, dass die Rubisco-Aktivase durch eine Erhöhung der
Temperatur rasch beeinträchtigt wird. Offenbar nimmt bei erhöhter Temperatur der
Aktivierungsgrad der Rubisco ab, weil erstens die Aktivität der Rubisco-Aktivase
gehemmt ist und zweitens die Deaktivierungsrate der Rubisco erhöht ist (Abb. 3).
Die ungenügende Kapazität der Aktivase
scheint somit eine der primären Ursachen
für die Reduktion der Photosyntheseaktivität bei erhöhter Temperatur zu sein. Die
Hitzeempfindlichkeit der Rubisco-Aktivase hängt von der Pflanzenart ab und
Abb. 3 : Einfluss
von Hitze auf die
Rubisco -Aktivase
und auf den Ake
tz
tivierungszustand
Hi
der Rubisco: Die
Rubisco, das CO2 fixierende Enzym
in den Chloroplasten, erträgt hohe
Temperaturen vergleichsweise gut. (In
der Zeichnung links die Aktivierung dieses Enzyms im Normalzustand, bei etwa 25 °C). Es
kann aber bei Hitze nicht mehr von der inaktiven in die aktive Form übergeführt werden,
da die Rubisco-Aktivase durch Hitze inaktiviert wird (dargestellt in der Zeichnung rechts,
bei einer Temperatur von 35 °C und mehr — die Pflanze gerät in eine Stresssituation).
könnte für die unterschiedliche Hitzetoleranz mitverantwortlich sein. So ist die
Rubisco-Aktivase und als Folge davon
auch die Photosyntheserate in hitzetoleranten Baumwollpflanzen im Vergleich
zu hitzeempfindlicheren Weizenpflanzen
durch eine Temperaturerhöhung weniger
beeinträchtigt.
Die meisten Pflanzenarten zeigen zwei
Formen von Rubisco-Aktivase mit unterschiedlicher Hitzeempfindlichkeit. Eine
bevorzugte Bildung der hitzetoleranteren Form könnte somit ein Mechanismus
sein, mit dem Pflanzen die Thermotoleranz ihres Photosyntheseapparates erhöhen könnten.
Unter Hitzestress bilden verschiedene
Pflanzenarten zusätzlich noch alternative Formen der Rubisco-Aktivase, die
beim Stressende wieder abgebaut werden.
Die temporäre Vermehrung hitzetoleranter Formen der Aktivase könnte somit ein
anderer Mechanismus sein, durch den gewisse Pflanzen ihre Thermotoleranz verbessern könnten. Auch die reversible Inaktivierung der Rubisco könnte allerdings
einen Schutzmechanismus darstellen, der
Abb. 4: Mit diesem Gerät
wird die CO2 -Assimilation
und zudem – mit dem kabelartigen Teil links oben –
die Fluoreszenz von Erbsen
gemessen.
es den Pflanzen erlaubt, gravierendere
Schäden an der Rubisco und an anderen
Komponenten des Photosyntheseapparates zu verhindern.
In einem Projekt im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Klima»
werden biochemische und biophysikalische Methoden eingesetzt, um die Effekte
erhöhter Temperaturen auf die Photosyntheseaktivität verschiedener Pflanzenarten genauer zu untersuchen. Messungen
werden sowohl im Labor als auch im Freiland durchgeführt. Gaswechselmessungen
erlauben es uns, die durch eine Erhöhung
der Temperatur ausgelöste Abnahme der
Photosyntheserate zu analysieren und zu
quantifizieren (Abb. 4).
Messungen der Fluoreszenz (Eigenschaft
bestimmter Stoffe, bei Bestrahlung selbst
zu leuchten) von Chlorophyll a, die gleichzeitig an der selben Probe durchgeführt
werden, liefern uns Informationen über
Veränderungen in den Thylakoidmembranen, wo Lichtabsorption, Elektronentransport und Bereitstellung der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat
(ATP) lokalisiert sind. Ergänzende biochemische Methoden sollen beitragen zur
Beantwortung der Frage, wie weit temperaturabhängige Veränderungen in der Aktivität des Enzyms Rubisco-Aktivase für
die Reduktion der Photosyntheserate während und nach einem Hitzestress verantwortlich sind.
Dr. Pierre Haldimann
und Prof. Dr. Urs Feller
Institut für Pflanzenwissenschaften,
Uni Bern
UNIPRESS116/APRIL 2003
27
Klimaveränderungen und ihre Auswirkungen auf landwirtschaftliche Erträge
Bauernregeln oder Klimaszenarien für die Landwirtschaft?
«Sind März und April trocken und licht,
so gerät das Futter nicht.»
Bauernregeln zeugen von der engen Beziehung der Landwirtschaft zur Witterung, aber auch vom Bedürfnis der
Landwirte, Ertragsprognosen für ihre Kulturen aufgrund
der Erfahrung zu erstellen. Nur, die Klimaveränderung
bringt Bedingungen, welche künftig ausserhalb des Erfahrungsbereichs liegen. Es braucht deshalb Klimaszenarien
und ein verbessertes System- und Prozessverständnis,
um die neuen Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft
in einem sich rasch ändernden Klima abschätzen können.
Prognosen als Grundlagen
für eine Anpassung
Der Erfolg im Landbau war stets eng an
die Witterung gebunden, oder anders ausgedrückt, das Wetter bildete immer einen
integralen Bestandteil der Landwirtschaft.
Der technische Fortschritt hat die Beziehung etwas gelockert. Beispielsweise verkürzt der Einsatz moderner, maschineller
Methoden in der Graswirtschaft die Zeit
der Heutrocknung auf dem Feld und vermindert so die Gefahr einer verregneten
Heuernte und schlechter Rauhfutterqualität. Auch der Einsatz moderner Pflanzenzüchtungen im Acker- und Futterbau
sorgt für eine verbesserte Ertragsstabilität. Trotzdem, die Abhängigkeit von der
Witterung bleibt; die Auswirkungen von
heftigen Frühlingsniederschlägen auf den
Gemüseanbau im Seeland oder von langen Trockenperioden auf den Futterbau
Abb. 1: Ver ä nde rung von Temperatur
(in Grad Kelvin) und
Niederschlag (%) als
mittlerer monatlicher
Jahresgang für 2080–
2100 im Vergleich zu
heute. Testgebiete :
Einzugsgebiete der
Thur und des Ticino.
28
UNIPRESS116/APRIL 2003
im Tessin und andere Extremsituationen
sind bestens bekannt – auch ohne Klimaforschung.
Die Bauern, ihre Organisationen und
Ämter interessieren sich aber nicht nur für
das ‹Heute›, sondern auch für das ‹Morgen› und sind an kurz-, mittel- und langfristigen Prognosen der Witterungs- und
Klimaentwicklung interessiert. Diese Art
der Früherkennung kann mithelfen, Anbaupläne frühzeitig anzupassen oder längerfristige Investitionen und Betriebsveränderungen besser zu planen. Gleichzeitig
steigt die Forderung unserer Gesellschaft
für eine umweltschonende Landbewirtschaftung, was ebenfalls Anpassungen
verschiedenster Art erfordert. Die Forschungsgruppe Lufthygiene/Klima der
Eidg. Forschungsanstalt für Agrarökologie
und Landbau (FAL) in Zürich-Reckenholz
nahm diese Bedürfnisse auf und versucht
seit einem Jahrzehnt, die Klimaforschung
mit der landwirtschaftlichen Forschung
zu verbinden und Entscheidungsgrundlagen anzubieten.
Vom globalen Klima
zum lokalen Wetter
Die Klimaveränderung ist ein globales
Phänomen, dessen Auswirkungen regional und lokal unterschiedlich ausgeprägt
in Erscheinung treten. Die lokale Ebene
ist für die Praxis besonders wichtig, denn
jeder Bauer interessiert sich verständlicherweise in erster Linie für das, was in
seinem direkten Umfeld und auf seinen
Feldern passiert. Er stellt deshalb den Anspruch an die Forschung in der Schweiz,
seine Anliegen besonders ernst zu nehmen
– ein berechtigter Anspruch, der aber Konsequenzen für die Wahl der Methodik hat.
Es darf aber nicht vergessen gehen, dass
sich Klimafolgen ausserhalb der Schweiz
auch auf die einheimische Landwirtschaft
auswirken und dass die Bedeutung dieser
indirekten Beeinflussung im Zuge der internationalen Marktöffnung im Agrarsektor sogar steigen dürfte.
Globale Klimamodelle (GCMs) mit unterschiedlichen Annahmen u.a. bezüglich der
Entwicklung der Emission von Treibhausgasen geben die Spannweite der langfristigen Klimaentwicklung für unsere Erde
vor. Diese Vorgaben müssen auf die regionale oder sogar lokale Ebene abgebildet werden. Dieses ‹Downscaling› ist
im Fall der Alpen und des Alpenvorlandes besonders wichtig, da die kleinräumige Topographie grössere Abweichungen vom grossräumigen Trend bewirkt.
Die Regionalisierung von globalen Klimaszenarien kann z.B. mit Hilfe einer
statistischen Methode (vgl. Kasten ‹Regionale Klima- und Wetterszenarien›) erfolgen, welche von Klimatologen der Universität Bern ausgearbeitet worden ist.
Als Ergebnis stehen der FAL hoch aufgelöste Wetterdaten für ausgewählte Regionen der Schweiz zur Verfügung. Zur
Illustration zeigt Abb. 1 die Spannweite
der Veränderungen in den Jahresverläufen von Temperatur und Niederschlag für
die Einzugsgebiete der Thur und des Ticino, wie sie aufgrund der neusten GCMVorgaben für die Zeitperiode 2080–2100
berechnet wurden.
Abb.2: Verlauf der
Bodenfeuchte im
Thur- und Ticinogebiet unter heutigen
(schwarz) und veränderten (rot) Klimabedingungen. Die
Berechnungen stel len Mittelwerte über
20 Jahre dar (15 t ä giges Gleitmit tel) und beschreiben
die Bodenfeuchte
in der durchwurzelten Bodenzone. NFK
= nutzbare Feldkapazit ä t ( pflanzen verfügbares Bodenwasser).
Die Rahmenbedingungen
für den Bauern ändern sich
Mit der Produktion von Rauhfutter deckt
die schweizerische Landwirtschaft den
Bedarf der einheimischen Bevölkerung an
Energie, welche über Fleisch- und Milchprodukte in der Schweiz konsumiert wird.
Grossräumige Schwankungen in der Produktivität der Wiesen wirken sich somit
auf das Angebot direkt aus. Produktivitätseinbrüche wirken sich besonders stark auf
die Betriebe aus: ein Milchbauer in einer
betroffenen Region muss Rauhfutter zukaufen, um seine Tiere zu ernähren, und
wenn der Preis dafür den Erlös aus dem
Verkauf der Produkte übersteigt, so ist er
unter Umständen gezwungen, notfallmässig Tiere zu verkaufen. Aber auch weniger
dramatische Ereignisse wirken sich auf die
Produktivität aus, und die Witterungsemp-
findlichkeit der Wiesen, die in der Schweiz
etwa 2/3 der landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmachen, ist in vielen Gebieten ein
besonders wichtiges Thema.
Zurzeit sind Aussagen in Bezug auf die
Wahrscheinlichkeit besonders kritischer
Situationen (Extremereignisse) aber noch
beschränkt, und Wetterprognosen für den
Zeitraum von einigen Monaten stecken
noch in den Kinderschuhen. Besser ist
die Grundlage bezüglich der langfristigen
Voraussage von Veränderungen der allgemeinen Klimasituation. Zurzeit steht der
Forschung eine ganze Anzahl von globalen Klimaszenarien für die nächsten 100
Jahre zur Verfügung. Werden diese globalen Klimaszenarien regionalisiert (siehe
oben), so können sie auf der Wirkungsseite mit Ökosystem- und Bewirtschaf-
NFS Klima: GRASS – Climate Change and Food Production
Im Projekt GRASS des NFS Klima befasst sich die Gruppe Lufthygiene/Klima der
FAL mit der Frage, wie sich die künftige Klimaentwicklung und insbesondere extreme
Klimaereignisse auf die Agrarökosysteme und deren Bewirtschaftung in der Schweiz
auswirken. Besondere Beachtung finden die Folgen von Veränderungen in den Niederschlägen und damit der Wasserbilanz. Zur ‹Werkzeugkiste› gehören Simulationsmodelle, u.a. ein regionales Wasserhaushalts-Modell WASIM-ETH sowie das
Ökosystem-Modell PASIM der FAL. In Kombination mit regionalen und lokalen Wetterdaten wird damit die Klimasensitivität von Agrarökosystemen untersucht und quantifiziert. Davon ausgehend können die Folgen der Klimaveränderung für Produktivität,
Produktequalität, Umweltbelastung und Bewirtschaftung von Acker- und Graslandsystemen für ausgewählte Regionen der Schweiz abgeschätzt werden. GRASS wird
ergänzt durch Arbeiten des Instituts für terrestrische Ökologie (Systemökologie, Dr.
A. Fischlin) zur Abschätzung von langfristigen Auswirkung der gleichen Klimaszenarien auf die Entwicklung von Waldökosystemen.
tungsmodellen verknüpft werden, um so
die Auswirkung von langfristigen Klimabzw. Witterungsveränderungen zu untersuchen. Dies geschieht im Projekt GRASS
– Climate Change and Food Production
der FAL (s. Kasten) im Rahmen des NFS
Klima. Damit ist es möglich u.a. folgende
Fragen zu bearbeiten:
• Wie verändern sich der Wasserhaushalt und insbesondere der Jahresverlauf
der Bodenfeuchte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in einer bestimmten Region?
•Wie verändert sich die Gefahr von kritischen Bedingungen für die Pflanzenproduktion, für die Bodenbearbeitung
im Ackerbau oder für die Beweidung
im Tal- und Berggebiet? Welche Anpassungen auf Betriebsstufe werden
nötig?
•Welches sind die Folgen der früheren
Ausaperung in Berggebieten, verbunden mit der Verlängerung der Vegetationsperiode?
Nasser Frühling –
trockener Sommer
Die vorliegenden Trends für den jahreszeitlichen Witterungsverlauf weisen für
die Schweiz in Richtung vermehrter Niederschläge von Herbst bis Frühling und
wärmerer und trockener Sommermonate mit entsprechenden Veränderungen
in der Wasserbilanz und in der Bodenfeuchte (Abb. 2). Ein niederschlagsreicher Frühling ist schlecht für die Boden-
UNIPRESS116/APRIL 2003
29
Abb. 3:
In Oensingen (SO)
wird die Bildung von
Treibhausgasen im
Boden und der Austausch von CO2, N 2 O
und CH4 über einer
Wiese gemessen, um
die physikalischen
und biologischen
Prozesse, welche die
Treibhausgasbilanz
landwirtschaftlicher
Ökosysteme bestimmen, besser zu verstehen und modellieren zu können.
bearbeitung und die Aussaat von Gemüse
und Sommerkulturen, ein trockener Sommer für die Ertragsbildung vieler Ackerkulturen und den Futterbau. Andererseits
ermöglicht ein milderes Klima mit weniger Frosttagen den Anbau von Früchten
und Gemüse aus wärmeren Klimaregionen. Palmen im Mittelland ist ein oft verwendetes Klischee mit möglicherweise realem Hintergrund.
In Tallagen spielt die Veränderung der
Niederschläge für die landwirtschaftliche Praxis eine besonders wichtige Rolle,
während in Bergregionen die Zunahme
der Temperatur ebenso wichtig ist. Dies
deshalb, weil die veränderte Schneedecke einerseits direkte Folgen für die Vegetation hat und die Dauer der Beweidung
entscheidend verändert wird, andererseits
weil viele Landwirte auf ein zusätzliches
Einkommen z.B. aus dem Tourismus angewiesen sind. Sinkt die Schneesicherheit,
so wirkt sich dies negativ auf eine wichtige Einkommensquelle aus. Der Bergbauer, der ohnehin mit erschwerten Bedingungen konfrontiert ist, steht also vor
einer zusätzlichen Herausforderung.
Indirekte Umweltfolgen
Veränderte Rahmenbedingungen für die
landwirtschaftliche Tätigkeit sind aber
nur ein Aspekt der Klimaproblematik.
Daneben ist die Belastung der Umwelt
durch Tierhaltung und Landbau zu beachten. Beispielsweise entstehen bei der
Haltung von Milchkühen pro Liter Milch
durchschnittlich etwa 30 Gramm Methan (CH4) oder beim Einsatz von mineralischen Düngern pro Kilogramm Stickstoff (N) etwa 10 Gramm Lachgas (N2 O).
30
UNIPRESS116/APRIL 2003
Beides sind Treibhausgase mit einer viel
stärkeren Klimawirksamkeit als Kohlendioxid (CO 2). Weiter lagern in der schweizerischen Landwirtschaftsböden zwischen
150 und 200 Mio Tonnen Kohlenstoff.
Oxidation und Freisetzung dieser Kohlenstoffreserven in Form von CO 2 infolge der
Bewirtschaftung oder von Klimaveränderungen fördern den weiteren Anstieg des
atmosphärischen CO 2 (C-Quelle), während eine stärkere Bindung von CO 2 aus
der Atmosphäre im Boden (C-Senke) diesen Anstieg bremsen könnte. Die Klimaerwärmung könnte die Verbesserung der
Treibhausgasbilanz der Landwirtschaft erschweren, indem die Geschwindigkeit der
Bildungsprozesse für Treibhausgase, z.B.
der Abbau der organischen Substanz im
Boden, stärker auf die Erwärmung reagieren als jene Prozesse, die zur Bindung von
Kohlenstoff und Stickstoff im Boden und
in den Ernteprodukten führen.
Mit ihren Emissionen von Treibhausgasen
übernimmt die Landwirtschaft also auch
eine Verantwortung in der Klimafrage,
und ein Ziel der Forschung muss es sein,
Mittel und Wege zu finden, die Emissionen pro Einheit Fläche oder Produkt zu
minimieren. Dazu ist ein gutes Systemund Prozessverständnis nötig, welches
u.a. durch die Untersuchung des Stoffhaushalts und der Bildung von Treibhausgasen im Boden sowie deren Austauschflüsse über dem Pflanzenbestand
gewonnen wird (Abb. 3).
Ausblick
Die Landwirtschaft in der Schweiz ist
im Umbruch und hat eine unsichere Zu-
kunft. Einerseits muss sie marktfähig werden, und andererseits müssen höhere Umweltstandards eingehalten werden. Dazu
kommt nun die Unsicherheit bezüglich
der künftigen Klimaentwicklung, welche
die Kosten der Produktion steigern und die
Umweltverträglichkeit erschweren könnte.
Die Forschung kann diese Probleme nicht
lösen, sie kann aber dazu beitragen, dass
die Veränderungen in den natürlichen
Rahmenbedingungen und ihre Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Systeme besser verstanden und Anpassungen
rechtzeitig ergriffen werden. Ausserdem
kann sie zeigen, wie die Rückkopplung der
Auswirkungen verschiedener Produktionsmethoden und -systeme auf das Klimasystem künftig besser quantifiziert und auch
vermindert werden kann.
Prof. Dr. Jürg Fuhrer, Dr. Pierluigi Calanca
und Karsten Jasper
Eidg. Forschungsanstalt für Agrarökologie
und Landbau (FAL), Lufthygiene/Klima,
Zürich-Reckenholz
Regionale Klimaund Wetterszenarien
Regionale Klima- und Wetterszenarien werden mit Hilfe von Regionalisierungsmethoden (Downscaling) aus
den Ergebnissen der globalen Klimamodelle (GCM) abgeleitet. Man unterscheidet zwischen dynamischen
(regionalen Klimamodellen) und statistischen Methoden. Die statistische
Methode der Universität Bern geht
davon aus, dass zwischen der grossräumigen Druck- und Temperaturverteilung über dem Nordatlantik und
Europa und den Witterungsgrössen
an ausgewählten Standorten statistische Beziehungen bestehen, welche
für das gegenwärtige Klima aufgrund
von Messdaten bestimmt werden können. Davon ausgehend können GCMVorgaben (globale Klimaszenarien für
verschiedene Annahmen bezüglich
der künftigen Emission von Treibhausgasen) in Form von Temperatur- und
Niederschlagsverläufen auf einzelne
Gebiete der Schweiz abgebildet werden. Schliesslich werden aus den monatlichen Wetterverläufen mit Hilfe eines stochastischen Wettergenerators
stündliche Wetterdaten erzeugt.
Mikrowellenphysik hilft Klimawandel entschlüsseln
Wenn Wetterballone streiken
Berner Atmosphärenphysiker haben sich durch ihre
Ozonmessungen international einen Namen gemacht.
Nun spüren sie der Verteilung von Wasserdampf nach,
und dies auf eine Höhe von bis zu 70 Kilometern.
Eine entscheidende Rolle spielen dabei neuartige, an
der Universität Bern entwickelte Messgeräte. Hintergrund dieser Forschungsanstrengungen ist die zentrale
Bedeutung von Wasserdampf für das Verständnis
des Klimawandels.
Die Lage ist paradox. Wasserdampf ist
das wichtigste unter den Treibhausgasen,
doch die Zusammenhänge zwischen Wasserdampf und Klimawandel sind kaum erforscht. So ist zwar theoretisch unbestritten, dass ein genereller Temperaturanstieg
auch zu einer Zunahme des Wasserdampfanteils in der Atmosphäre führen muss –
nachgewiesen jedoch hat diesen Effekt
bis heute niemand. Ebenso wenig ist klar,
wie sich die zusätzliche, durch mehr Wasserdampf hervorgerufene Bewölkung auswirkt: Wird der Treibhauseffekt dadurch
verstärkt oder im Gegenteil gar ausgeglichen?
Gründe für diese Wissenslücken gibt es
durchaus: Wasserdampf ist örtlich stark
variabel konzentriert und in der Luft alles
andere als gleichmässig verteilt. Dieselben komplexen physikalischen Interaktionen mit der Atmosphäre, die für den Klimawandel von entscheidender Bedeutung
sind, verhindern seine gleichmässige Verteilung. Deshalb ist die flächendeckende
Ermittlung von Wasserdampfwerten auch
ungleich schwieriger als etwa bei CO 2 .
Dieses bekannteste unter den Treibhausgasen breitet sich derart homogen aus, dass
eine Hand voll Messstationen ausreichen,
um weltweit gültige Daten über seine Konzentration zu erheben.
Ein nicht unerhebliches Problem stellt
beim Messen des Wasserdampfs bereits
die Messtechnik dar. Zwar lassen Meteorologen seit Jahrzehnten Wetterballone steigen, die beim Aufstieg Daten zur
Luftfeuchtigkeit liefern, doch tun sie dies
mit zunehmender Höhe immer ungenauer
– und nach wenigen Kilometern Höhe ist
ganz Schluss. Die empfindlichen Sensoren frieren ein.
Das lückenhafte Wissen um die Verteilung der Luftfeuchtigkeit in der Atmosphäre dürfte in nächster Zeit um wesentliche Bausteine ergänzt werden. Dies
jedenfalls hat sich das Institut für angewandte Physik der Universität Bern vorgenommen. «Wasserdampf», sagt Niklaus Kämpfer, der Direktor des Instituts,
«ist das Hauptthema in unserer Abteilung
für Mikrowellenphysik.» Zusammen mit
Christian Mätzler ist Kämpfer für das Projekt STARTWAVE (Studies in Atmospheric Radiative Transfer and Water Vapour
Effects) verantwortlich, einen Bereich
des Nationalen Forschungsschwerpunkts
Klima (NFS Klima).
Geschehen in der Stratosphäre
beeinflusst Klima
In diesem Projekt erheben die beiden Atmosphärenphysiker und ihr Team Daten zur Wasserdampfverteilung über der
Schweiz.
Sie liefern aber auch Messergebnisse von
globaler Bedeutung – aus der Stratosphäre.
Zwar sind in einer Höhe von zwischen 20
und 70 Kilometern nur noch kleinste
Spuren von Wasserdampf anzutreffen –
auf eine Million Luftmolekühle entfallen
ganze sechs Wasserteilchen –, doch können sich diese Messungen als viel aussagekräftiger erweisen als jene in erdnahen
Schichten. Grund: Im Gegensatz zur tiefer gelegenen Troposphäre, in der Wasserdampf nach wenigen Tagen wieder ausgeschieden wird, beträgt die Verweildauer
in der Stratosphäre mehrere Jahre. In diesen stabilen Verhältnissen, so die Überlegung, müssten sich durch den Klimawandel verursachte Veränderungen wesentlich
besser nachweisen lassen als im turbulenten Wasserhaushalt nahe der Erdoberfläche. Tatsächlich deuten erste Trends auf
eine Zunahme des Wasserdampfs auch
in grossen Höhen hin. «Je länger je mehr
wird erkannt, dass stratosphärische Prozesse auch grossen Einfluss aufs Klima
haben», erklärt Niklaus Kämpfer. Je nach-
Abb. 1: Der Physiker Beat Deuber mit dem Miawara-Messgerät auf dem Dach des Instituts für angewandte Physik.
UNIPRESS116/APRIL 2003
31
Satellitennavigation für Wetterfrösche
«GPS und Wetterbericht – was hat denn das miteinander zu tun?»
Wenn Guergana Guerova mit Aussenstehenden über ihre Arbeit
spricht, erntet sie erst einmal ungläubige Blicke. Aber mit ein paar
Sätzen hat die Physikerin am Berner Institut für angewandte Physik
das Wichtigste geklärt. Der Wasserdampf in der Atmosphäre, so die
Kürzestfassung ihrer Erläuterung, lenkt die Signale der Satellitennavigation ab, und dieser Effekt lässt sich für präzisere Wetterprognosen
nutzen. Und zwar nicht nur theoretisch: «Es ist ziemlich sicher», sagt
Guerova, «dass die Meteorologen in ihre Vorhersagemodelle künftig
GPS-Daten einbauen werden.»
Der Versuchsbetrieb jedenfalls, den MeteoSwiss im vergangenen
Jahr auf Initiative der Berner Physikerin durchführte, zeigte viel versprechende Resultate: Unter Einbezug der GPS-Daten entsprachen
die vorhergesagten Niederschläge der Realität wesentlich besser
als ohne.
Doch blenden wir zurück: Als das Global Positioning System (GPS) in
den 1970er Jahren entwickelt wurde, dachte niemand an seinen Einsatz in der Meteorologie. Die Satellitennavigation war exklusive Domäne des Militärs. Und die Daten, welche die 24 GPS-Satelliten aus
einer Höhe von ca. 20 000 Kilometern lieferten, waren geheim. Dies
sollte sich in den kommenden zwei Jahrzehnten ändern. Immer mehr
zivile Anwendungen des revolutionären Navigationssystems tauchten
auf – darunter auch wissenschaftliche. Grosses Interesse zeigte zum
Beispiel die Geodäsie. Heute ist die traditionelle Methode der Landvermessung mit den vertrauten Triangulationspunkten auf Berggipfeln
vielerorts durch GPS-Messungen ersetzt. In der Schweiz betreibt die
zu Swisstopo umbenannte Landestopographie dazu ein Netz von
GPS-Satelliten-Basisstationen.
aufhorchen, die an neuen Methoden zur quantitativen Bestimmung
von Wasserdampf interessiert waren. Und so fand schliesslich – despektierlich gesagt – ein Abfallprodukt der Satellitennavigation seinen
Weg in die Meteorologie.
GPS beeindruckt Meteorologen
«Das grösste Plus des GPS aus Sicht der Meteorologen ist seine Verfügbarkeit», sagt Guergana Guerova, «24 Stunden am Tag bei jedem
Wetter.» Und noch einen Vorteil bietet das System: die Infrastruktur
ist günstig – ein stationärer, qualitativ hochstehender Empfänger kostet um die 5000 Franken – und relativ gut ausgebaut. Im für europäische Verhältnisse dichten Schweizer AGNES-Netz sind 30 Basisstationen im Betrieb. In Japan sind es gar Tausend, denn das hochpräzise
Messsystem soll dort als Frühwarnung bei Erdbeben dienen.
Abb. 4:Wie die Grafik zeigt, verbessert der Einsatz von GPS die
Niederschlagsprognose. Die prognostizierten Niederschlagswerte
(aLMo-Wettermodell von MeteoSchweiz) nähern sich in Kombination mit GPS-Daten (rote gestrichelte Linie) den gemessenen
Niederschlagsmengen deutlich an.
Im gross angelegten Versuch, den Guerova zusammen mit Kollegen
von MeteoSwiss durchführte, konnte sie auf GPS-Daten aus mehreren europäischen Ländern zurückgreifen, die ihr in «near real time»
zur Verfügung gestellt wurden. Will heissen: Zwei Stunden nach Erhebung konnten die Meteorologen die Wasserdampfwerte von 250
Messpunkten in ihr Prognosemodell einbauen. Geliefert erhielten sie
die Summe des atmosphärischen Wasserdampfs, der sich aus der
Verzögerung des GPS-Signals unter Einbezug von Luftdruck und -temperatur errechnen lässt. Dann wurde das so genannte aLMo-Wettermodell jeweils mit und ohne GPS-Wasserdampfwerte gespeist und
die beiden Modellläufe schliesslich mit der tatsächlich eingetroffenen
Wetterentwicklung verglichen.
Abb. 3: Bodenstationen aus mehreren europäischen Ländern lieferten GPS-Daten, aus denen Wasserdampfwerte von 250 Messpunkten ermittelt wurden.
Die Wissenschafter stellen höchste Ansprüche an die Präzision der
GPS-Messung – so werden heute zum Beispiel die Bewegungen
von tektonischen Platten via Satellit auf den Millimeter genau verfolgt.
Eine Abweichung von rund zwei Metern, wie sie die Geodäten feststellten, als sie anfingen, sich für die Möglichkeiten des GPS zu interessieren, war deshalb schlicht untolerierbar. Der Fehler, so stellte
sich heraus, war auf die Ablenkung der Satellitensignale in der Atmosphäre zurückzuführen. Verantwortlich dafür war unter anderem
der Wasserdampf. Diese Erkenntnis liess jene Atmosphärenphysiker
32
UNIPRESS116/APRIL 2003
Mit offenbar erstaunlichen Ergebnissen: «Bei MeteoSwiss war man
verblüfft», erzählt Guergana Guerova, «die Meteorologen haben nicht
damit gerechnet, dass GPS-Daten einen solchen Einfluss haben könnten.» Besonders ergiebig, so stellte sich heraus, war der Einbezug der
GPS-Werte für die Vorhersage von Niederschlägen – und zwar bei
Zeitpunkt und Menge. Noch ist der Beitrag der neuen Technologie
zur Prognosegenauigkeit nicht bei allen Wetterbedingungen gleich
gross, wie die detaillierte Analyse von drei verschiedenen Wetterregimes zeigte. Doch Atmosphärenphysikerin Guerova ist überzeugt
von Potential und Praxistauglichkeit dieser Methode. Speziell für den
Alpenraum. «Wettervorhersagen in der Schweiz», sagt die aus Bulgarien stammende Forscherin, «sind etwas vom Schwierigsten, eine
dauernde Herausforderung.»
Abb. 2: Mit dem Instrument MIAWARA
im August 2002 gemessenes Wasser dampfprofil über
Bern (rot). Zum Vergleich ist das Mo natsmittel für August
1998/1999 des HALOE Satelliteninstruments zwischen 40°N
und 50 °N dargestellt
(schwarz).
dem in welcher Höhe der Wasserdampf zunehme, könne dies allerdings einen Kühloder einen zusätzlichen Wärmeeffekt zur
Folge haben.
Um dem flüchtigen Wasserdampf auf die
Spur zu kommen, bedient sich das Institut für angewandte Physik gleich mehrerer Messmethoden, die zum Teil in Bern
entwickelt und perfektioniert wurden. Sie
alle erlauben, die Gesamtsumme des atmosphärischen Wasserdampfs zu messen
– eine imaginäre Säule von kondensiertem
Wasser, deren Höhe im Jahresmittel rund
einen Zentimeter beträgt.
Traditionellerweise wird Wasserdampf in
der Atmosphäre mit einem so genannten
Sonnenphotometer gemessen, einem optischen Gerät, das direkt auf die Sonne
ausgerichtet wird. Nachteil: In der Nacht
und bei bewölktem Himmel können keine
Messungen durchgeführt werden.
Erst seit kurzem nutzen die Atmosphärenphysiker die Möglichkeiten eines Messsystems, das ursprünglich für ganz andere Zwecke entwickelt wurde: AGNES,
das Netz fix installierter GPS-Stationen
der Landestopographie SwissTopo (siehe
Kasten «Satellitennavigation»).
Berner setzen internationalen
Messstandard
Eigentlicher Schwerpunkt der Berner Wasserdampfforschung ist die Arbeit mit Mikrowellentechnologie, die in einer neuen
Generation von Radiometern zum Einsatz kommt. Es sind Geräte mit klingenden Namen wie MIAWARA oder ASMU-
hätten sich die Klimamodellierer nämlich bei der Luftfeuchtigkeit auf Daten
aus der Wettervorhersage gestützt. Mit
anderen Worten: «Ein Modell speiste das
andere.» Ihre Messdaten, so hoffen die
Atmosphärenphysiker, könnten insbesondere zur Verbesserung der Klimamodelle
für den Alpenraum beitragen. Und noch
etwas soll die STARTWAVE-Datenbank
möglich machen: Durch den Vergleich von
gemessenen mit den simulierten Feuchtigkeitswerten soll sich die Qualität der Computermodelle überprüfen lassen und eine
Eichung möglich werden.
WARA, die in den Gruppen von Niklaus
Kämpfer und Christian Mätzler entwickelt
wurden. Sie ermöglichen Messungen rund
um die Uhr und auch bei schlechten Wetterbedingungen – und sie gehören zu den
weltweit wenigen Messvorrichtungen, die
nicht nur die Summe des Wasserdampfs
ermitteln, sondern auch seine vertikale
Verteilung. MIAWARA etwa, das der
Physiker Beat Deuber konzipiert hat, liefert ein komplettes Höhenprofil, und dies
über 70 Kilometer bis hinauf in die so genannte Mesopause.
Der Stellenwert dieser Arbeiten zeigt sich
nicht zu letzt darin, dass die Berner Radiometriemessungen zum internationalen
Vergleichsstandard werden sollen. Dies
auf Anregung des International Network
for the Detection of Stratospheric Change
(NDSC), einem weltweiten Forschungsnetzwerk, das mit der Überwachung der
Atmosphäre betraut ist.
Zurück zu spezifisch helvetischen Daten: Ziel des Berner STARTWAVE-Projekts ist eine Art Dienstleistungsangebot
für andere Wissenschafter im NFS Klima.
In den kommenden Jahren soll eine umfassende Datenbank zur Verteilung von
Wasserdampf über der Schweiz aufgebaut werden, und zwar für die Klima und
Wetter bestimmenden tieferen Schichten
der Atmosphäre. Diese Messwerte wollen
die Berner ihren Forscherkollegen anbieten, die sich mit der Simulation von Klimaszenarien beschäftigen. Sie sollen ihre
Computermodelle künftig mit «Daten aus
der Realität» füttern können, wie sich
Christian Mätzler ausdrückt. Bis anhin
Unterschiedliche
Forschungskulturen
Noch ist diese Datenbank aber nicht ganz
Wirklichkeit. Die Messresultate liegen
noch nicht in benutzerfreundlicher Form
vor, und es werden nicht alle Messungen
kontinuierlich durchgeführt, denn für den
Dauerbetrieb wurden die bestehenden Geräte nicht gebaut. All dies soll sich jedoch
in den kommenden zwei Jahren ändern.
Bis dann werden Atmosphärenphysiker
und Klimamodellierer hoffentlich auch
Dienstleistungsangebot und effektive Bedürfnisse aufeinander abgestimmt haben.
Denn eigentlich wissen die potentiellen
Partner noch herzlich wenig von der gegenseitigen Arbeit. Es gebe da, räumen
Niklaus Kämpfer und Christian Mätzler unumwunden ein, «ein Problem unterschiedlicher Kulturen». Das gemeinsame Interesse aller Klimaforscher am
Thema Wasserdampf liegt allerdings auf
der Hand. Jede Veränderung des Wasserdampfanteils in der Atmosphäre wirkt sich
auf den Treibhauseffekt aus – und umgekehrt.
Kaspar Meuli, NFS Klima
UNIPRESS116/APRIL 2003
33
Die Rolle der Umwelt in der Evolution des Menschen
Klima und prähistorische
Bevölkerungsbewegungen
Seit dem Erscheinen des anatomisch modernen Menschen
(Homo sapiens sapiens) vor etwa 120–150 000 Jahren ist
das Klima auf unserem Planeten mit zwei grossen eiszeitlichen Perioden und einer Zwischeneiszeit, welche durch
schnelle Wechsel zwischen kälteren und wärmeren Zeiten
geprägt wurden, starken Schwankungen ausgesetzt, die
mit Sicherheit ihre Auswirkungen auch auf die menschliche
Spezies hatten.
lichten, zu Fuss nach Japan, auf die Britischen Inseln, Indonesien oder Amerika
zu gelangen.
Diese Klimawechsel wurden begleitet
von Meeresspiegelschwankungen und
drastischen Veränderungen der Vegetationsdecke (vgl. Abb. 1). So war das Letzte
Glaziale Maximum (LGM) gekennzeichnet durch einen Aufbau von grossen Gletschermassen in den nördlichen Breitengraden und den Gebirgen, eine markante
Ausdehnung der Wüsten und einen fast
gänzlichen Rückgang der äquatorialen
Wälder.
und Pflanzen innerhalb eines bestimmten
Lebensraums vorgegeben und beschränkt
waren. Jedwede Veränderung der äusseren Bedingungen brachte als Konsequenz
vermutlich auch eine Veränderung der
Anzahl Individuen, die einen bestimmten Lebensraum besiedeln konnten, mit
sich. Ein Zusammenhang der Demographie des modernen Menschen mit den klimatischen Schwankungen ist deshalb sicher wahrscheinlich.
Dieser zweite Haupteffekt von Klimaschwankungen bestand also in der markanten Einwirkung auf den Umfang der
Migration innerhalb und zwischen den
Kontinenten. Daraus kann sicher abgeleitet werden, dass Kaltzeiten im späten
Pleistozän einher gingen mit einer weltweiten Dezimierung der Menschheit und
deren Aufsplitterung in kleine, durch
Trockengebiete oder Gletscher voneinander abgetrennte Gruppen. Als Gegenpol
dazu waren Warmzeiten offenbar gleich
bedeutend mit einem globalen Bevölkerungswachstum, das auf die Ausbreitung
der modernen Menschen in zuvor lebensfeindliche Gebiete zurückzuführen war.
Der Anstieg der Meeresspiegel allerdings
hat vermutlich die Isolation gewisser Völker mit verursacht.
Es ist schwierig, genaue Schlüsse über
das Schicksal, welches unsere Vorfahren
während dieser Zeiträume ereilte, zu ziehen. Klar scheint aber, dass Umweltveränderungen das Leben der damaligen Menschen in mindestens zwei Bereichen stark
beeinflussten. Einmal, weil unsere Vorfahren Jäger und Sammler und die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen durch die Anzahl vorhandener Tiere
Die zweite Auswirkung der Umweltveränderungen auf das Leben unserer Vorfahren manifestierte sich im Ausbreitungsvermögen (Abb. 2) der Menschen. Grössere
Wüsten und gletscherbedecktes Gebirge
verwandelten sich in unüberwindbare
Hindernisse, was zur Isolierung gewisser
Populationen beitrug, während infolge des
Meeresspiegelrückgangs zeitweise freiliegende Landbrücken den Menschen ermög-
Genetische Diversität und
demographische Geschichte
Einer der jüngsten Fortschritte der Populationsgenetik bestand darin, den engen Zusammenhang zwischen der genetischen Vielfalt einer Population und deren
demographischen Geschichte aufzuzeigen. Wenn man genau eruieren könnte,
wie viele Individuen während eines bestimmten Zeitraums an einem bestimm-
Abb. 1: Vegetationstypen der Alten Welt, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Nicolas Ray.
A: Vegetation, wie sie sich heute präsentieren könnte, ohne menschliche Intervention.
B: Vegetation während des Letzten Glazialen Maximums, vor ca. 22 000 Jahren.
34
UNIPRESS116/APRIL 2003
ten Ort lebten und wie viele Migranten
zwischen den Populationen ausgetauscht
wurden, könnte man Umfang und Struktur der innerhalb der menschlichen Populationen herrschenden genetischen Diversität exakt ermitteln. Äusserst wertvolle
Informationen also, denn sie würden uns
beispielsweise helfen, Bereiche auf unseren Chromosomen zu finden, welche
nicht mit jenen Erkenntnissen übereinstimmen. Solche Bereiche kämen potentiell für eine Selektion in Frage, weil sie
mit der Anfälligkeit für Krankheiten in
Zusammenhang stehen, oder weil sie anpassungsfähige Gene enthalten, welche in
einer bestimmten Umgebung vorteilhafte
Eigenschaften aufweisen.
Leider stehen uns keine detaillierten Daten zur demographischen Geschichte aus
paläontologischen oder archäologischen
Aufzeichnungen zur Verfügung, aber es
konnte nachgewiesen werden, dass unsere genetische Vielfalt Spuren früherer demographischer Expansionen oder
Neubesiedelungen trägt, die vor 200 000
bis 100 000 Jahren oder in noch jüngerer
Vergangenheit in europäischen Bevölkerungen stattgefunden haben. Diese Spuren decken sich mit der Hypothese einer
raschen, von einem einzigen gemeinsa-
-145
men geographischen Ursprungsort ausgehenden Expansion der Menschheit. Wo
auf dem Atlas dieser Ursprungsort genau
liegt, ist noch immer unklar, aber Indizien
deuten auf den afrikanischen Kontinent
hin. Interessanterweise fällt diese Expansion zeitlich zusammen mit dem Auftreten des modernen Menschen vor ungefähr
120 000–150 000 Jahren. Dies würde darauf hindeuten, dass diese Expansion mit
einem Speziationsereignis eingeleitet worden war.
Daten als Grundlagen
von Migrationsszenarien
Die Hypothese einer raschen räumlichen Ausbreitung der menschlichen Spezies drängt sich auf, und dennoch werden
Ursache und Merkmale dieser Expansion
oder der Vorgang, wie sich die genetischen Unterschiede zwischen den kontinentalen Gruppen über die Zeit hinweg
akkumuliert haben, völlig ausser Acht
gelassen. Auch wird man in der nahen
Zukunft voraussichtlich keine neuen Erkenntnisse über die Demographie- und
Migrationsgeschichte des Menschen gewinnen. Während die Rekonstruktion
historischer Demographieszenarien nur
schwer vorankommt, wird die Aufarbeitung von Klima- und Umweltdaten der
Abb. 2: Buschbewohner im südlichen Afrika unterwegs in der Kalahari-Wüste. Menschen vermögen unter härtesten Umweltbedingungen zu leben und mobil zu sein.
© Copyright 2003 Corbis
Vergangenheit hingegen mit beeindruckendem Tempo vorangetrieben. Die vorgenannten Gründe verdeutlichen, dass der
Mensch den Gesetzen seiner Umwelt unterliegt. Sie ist es, die vorgibt, wie viele Individuen in einem bestimmten Zeitraum in
einem bestimmten Lebensraum unter bestimmten technologischen Voraussetzungen leben können. So kann eine Savanne
einer grösseren Anzahl Menschen als Lebensraum dienen als eine Wüste. Ebenso
liegt auf der Hand, dass gewisse Umgebungen einfacher durchwandert werden
können als andere. Es ist natürlich we-
-130
-120
-70
-22
-5
Abb. 3: Sechs Ansichten einer simulierten
Kolonisierung der Alten Welt, mit zufällig
ausgewähltem Zeitpunkt vor 5000 Generationen (rund 150 000 Jahre) und Ursprungsort südliches Afrika. Dunklere Grauschattierungen bezeichnen grössere Migrationsraten.
Rote Balken symbolisieren Intensität und
Richtung der Nettoflux-Migrationen. Zahlen sind als Zeitangaben vor dem heutigen
Datum in Jahrtausenden (vor 22 000 Jahren entspricht ungefähr dem Letzten Glazialen Maximum) zu verstehen. Man beachte
die Veränderungen der Meereskonturen und
den Umstand, dass in unseren Simulationen
keinerlei technologische Entwicklungen berücksichtigt wurden.
UNIPRESS116/APRIL 2003
35
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Abb. 4: Einsatz umweltabhängiger Simulationen zur Erforschung von Menschheitsentwicklungs- und Demographieszenarien.
niger schwierig, Grasland zu durchqueren als äquatoriale Wälder. Die Nutzung
von Informationen über Paläolandschaften zur retrospektiven Untersuchung von
Populationsdichten und Verbreitungsstrukturen erscheint ebenso verheissungsvoll wie das Einfliessenlassen historischer
Klimadaten zur Modellierung von Phasen
der Bevölkerungsexpansion und -kontraktion während der wichtigsten Phasen der
menschlichen Evolution.
Migrationen in einer
virtuellen Welt
An unserem Institut haben wir ein Computermodell entwickelt, das die Alte Welt
darstellt. Diese virtuelle Welt ist in ca.
10 000 quadratische Zellen eingeteilt, welche ungefähr 100 auf 100 Kilometer entsprechen. Jede Zelle kann eine Bevölkerung aufnehmen, deren Grösse von der zu
einer bestimmten Zeit vorhandenen Vegetation abhängt und die mit ihren Nachbarbevölkerungen Migranten austauscht. Die
Häufigkeit dieses Migrantenaustauschs
wiederum hängt vom Schwierigkeitsgrad der Durchquerung einer bestimmten
Umgebung ab. Nachdem wir einen zufällig gewählten Ursprung für die modernen
Menschen definiert haben, lassen wir die
Populationen lokal wachsen, schicken Migranten zu Nachbarzellen und kolonisieren
schliesslich nach und nach unsere virtuelle
Welt (Abb. 3). Zu jeder Generation halten
wir in einer Datenbank sowohl die Anzahl
Bewohner jeder Zelle als auch die Anzahl
der zwischen den Zellen ausgetauschten
Migranten fest (Abb. 4). Diese Demogra-
36
UNIPRESS116/APRIL 2003
netische Diversität können wir anschliessend mit unseren realen Beobachtungen
vergleichen und so herausfinden, ob unser Demographie- und Migrationsmodell
Sinn macht. Es scheint uns angebracht,
hier genetische Daten zur Wertung und
zum Test eines bestimmten Demographie- und Migrationsszenario zu verwenden (s. Abb. 4).
Schwierigkeiten
und Anwendungen
Obwohl das Prinzip dieser Simulationen
recht einfach ist, steckt hoher Informatikaufwand dahinter. Ausserdem hängt
ihre Verlässlichkeit zentral von mehreren nur schwer kalkulierbaren Parametern ab: der genauen Anzahl Bewohner,
die in einem bestimmten Lebensraum leben können, der durchschnittlichen Distanz, die ein Individuum innerhalb einer
Generation zurücklegen kann, der Häufigkeit von Migration über weite Distanzen, der Wachstumsrate einer bestimmten
Population oder der Grösse des Bevölkerungsanteils, der in Nachbarpopulationen auswandert. Wir sind also noch
weit davon entfernt, alle Schwierigkeiten einer Simulation der vergangenen
Bevölkerungsbewegungen überwunden
zu haben. Trotzdem sind wir überzeugt,
dass die Migrationen in einem wesentlichen Masse von den während der letzten
120 000 Jahre auf unserem Planeten herrschenden Klima- und Umweltbedingungen beeinflusst wurden.
phie- und Migrationsdatenbank wird dann
zur Simulation der genetischen Diversität
einiger Populationen eingesetzt, über welche wir bereits genetische Daten besitzen.
Dieser genetische Simulationsprozess soll
die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen
den Genen der Individuen, die wir gesammelt haben, rekonstruieren. Wir versuchen
so, die geographische Herkunft der Vorfahren dieser Gene sowie Alter und Herkunft der gemeinsamen Ahnen der Gene
zu entschlüsseln und so fort, bis wir den
jüngsten gemeinsamen Ur-Ahnen aller bis
heute gesammelten Gene gefunden haben.
Wenn man sich das vor Augen führt, wird
klar, dass Ur-Gene sich tatsächlich räumlich fortbewegen können. Nachforschungen im eigenen Familienstammbaum erge- Wenn es uns gelingt, die Migrationen der
ben nämlich meistens, dass die Vorfahren Menschheitsgeschichte korrekt zu rekon(und damit deren Gene) woanders lebten
struieren, könnte dasselbe Modell – in
als wir und dass sie in den Ort, an dem wir sämtlichen geographischen Dimensionen
jetzt ansässig sind, einst einwanderten. Es – auch auf jedes andere Lebewesen überkann aber auch sein, dass wir selbst (und
tragen werden, über welches wir Informit uns unsere Gene) kürzlich migriert mationen hinsichtlich Populationsdichten
sind. Wenn wir also in die Vergangenheit
und Verbreitungsvermögen in verschiedezurückblicken, können die Vorfahren un- nen Lebensräumen erhalten können. Eine
serer Gene an ziemlich weit entfernten und
andere Herausforderung als die Rekonunerwarteten Orten zu finden sein.
struierung früherer Migrationen wäre sicher auch die Modellierung der AuswirSobald wir die Genealogie der Gene ein- kungen zukünftiger Klimaveränderungen
mal bis zum jüngsten gemeinsamen Vor- auf die genetische Vielfalt einer bestimmfahren zurückverfolgt haben, lässt sich die
ten Spezies, was nicht zuletzt für die
aktuelle genetische Diversität durch das Schaffung wirksamer Massnahmen zur
Wissen bestimmen, dass die Gene seit die- Erhaltung der Umwelt von wichtiger Besem gemeinsamen Vorfahren Veränderun- deutung sein könnte.
gen erfahren haben, weil Mutationen sich
im Laufe der Zeit mehr oder weniger re- Prof. Dr. Laurent Excoffier
gelmässig anhäufen. Diese simulierte ge- Zoologisches Institut
Natürliche Klimaarchive in den Anden
Die Wüste zum
Sprechen bringen
Nichts deutet in dieser Einöde auf Leben hin: Salzseen,
wolkenloser Horizont und kahles Geröll prägen die Szenerie
am Fuss der Anden. Vor 10 000 Jahren allerdings, so haben
Berner Klimatologen nachgewiesen, bot die Atacama-Wüste
Lebensraum für Mensch und Tier. Diese Erkenntnis ist Teil
einer langjährigen Untersuchung zum Klimawandel auf
der Südhemisphäre.
Das Leben in der Atacama-Wüste ist nicht
nach jedes Forschers Geschmack. Die
Hochebene im Norden Chiles ist extrem
trocken, und die Nächte im Zelt sind bitterkalt. Weshalb also zieht es Berner Geographen seit 15 Jahren immer von neuem
zu monatelangen Feldforschungskampagnen in die Anden? Antwort: Weil noch
fast keine anderen Klimawissenschafter
vor ihnen da waren.
Etwas nuancierter ausgedrückt: Das
Grenzgebiet zwischen Chile, Peru und
Bolivien bietet Paläoklimatologen, die
sich für den Klimawandel seit der letzten
Eiszeit interessieren, einzigartige Möglichkeiten. Zum einen umfasst die Atacama-Region das ganze geographische
Höhenspektrum – von Meereshöhe bis
zu Gipfeln auf über 7000 Metern. Zum
anderen liegt sie in der Südhemisphäre,
deren Klimageschichte im Vergleich zu
nördlichen Breiten bis vor kurzem kaum
erforscht war. Daten über das Klima der
Vergangenheit auf der Südhalbkugel jedoch sind von grosser allgemeiner Bedeutung: Je detaillierter diese Informationen,
desto besser können die Ergebnisse von
globalen Klimamodellen überprüft und
optimiert werden.
Es war nicht zuletzt das viele Neuland,
das in den späten 1980er Jahren die Neugier der Berner Forscher an Chile weckte.
Und, so räumt Martin Grosjean ein, der
heute als Programmleiter des NFS Klima
arbeitet, die Klimaforschung in der Atacama-Wüste zeichnete sich bald einmal
als viel versprechende Strategie im hart
umkämpften Wissenschaftsbetrieb ab.
«Hier gab es eine Nische zu besetzen. Ein
Forschungsgebiet, das uns die Möglichkeit bot, trotz beschränkter Mittel einen
international beachteten Beitrag zur Paläoklimatologie zu liefern. In Gebieten, wo
grosse Forschungsnationen seit Jahrzehnten Projekte am Laufen haben, wäre dies
nie möglich gewesen.»
Abb. 1: Die extrem trockene AtacamaWüste liegt eingebettet zwischen einer
Zone tropischer Niederschläge im Norden und einer vom Westwindregime geprägten Zone im Süden.
Tatsächlich trafen die Berner Geographen in Südamerika einen grossen weissen Fleck auf der Landkarte der Klimaforschung an. Über das klimatische Auf
und Ab in der Atacama-Wüste war vor 15
Jahren so gut wie nichts bekannt. «Von
der Sahara», sagt Heinz Veit, der mehrere Jahre in Chile lebte und heute Direktor des Geographischen Instituts in Bern
ist, «weiss man seit langem, dass sie im
Neolithikum sehr feucht war. Dort gab es
eine von vielen Tieren bevölkerte Savanne.
Wir wollten wissen, ob es in der Atacama
eine vergleichbare Entwicklung gab.» Von
Interesse war aber nicht nur, ob die heute
extrem trockene Region im Laufe ihrer
Geschichte mehr Niederschläge kannte,
sondern auch, woher eventueller Regen
kam. Hintergrund: Die Atacama-Wüste
befindet sich in einem für die Wetter- und
Klimadynamik besonders aufschlussreichen Gebiet zwischen einer Zone tropischer Niederschläge im Norden und einer
vom Westwindregime geprägten Zone im
Süden. Könnten diese Niederschlagsgürtel, so eine Vermutung der Klimaforscher
zu Beginn ihrer Arbeit, im Lauf der Jahrtausende nicht gewandert sein?
Breite Palette von
Datenquellen genutzt
Antworten auf diese und andere Fragen
versprachen sich die verschiedenen Forscherteams von natürlichen Klimaarchiven. Auf der Suche nach Feuchtperioden
in der Vergangenheit der Atacama-Wüste
boten sich eine ganze Palette von Datenquellen an: Böden, Vulkanseen, Gletscherablagerungen sowie Grundwasservorkommen.
• In gebohrten Sedimentkernen oder
an so genannten Aufschlüssen in der
Landschaft lassen sich Feuchtphasen
an fossilen Böden erkennen. Die fossilen Bodenschichten sind einst durch
eine geschlossene Vegetationsdecke
entstanden und zeugen von feuchtem
Klima in der Vergangenheit. Diese
Hinweise lassen sich zwar nicht sehr
genau datieren, sind aber weiträumig
vorhanden.
• Genau umgekehrt steht es mit den abgeschlossenen Vulkanseen. Sie lassen
sich in der Atacama-Region an einer
UNIPRESS116/APRIL 2003
37
Abb. 2: Feldlabor im
Amazonas-Regenwald.
Foto: Heinz Veit
Hand abzählen, liefern aber auf zehn
Jahre genaue Ergebnisse. Untersucht
werden Bohrkerne, die Aufschluss
darüber geben, wie der Seespiegel je
nach Niederschlag und Verdunstung
schwankte.
• Der grossen Trockenheit wegen sind
Gletscher aus dem Hochgebirge der
Atacama längst verschwunden. Deshalb lassen sich hier nicht Eisbohrkerne als Informationsquelle nutzen
wie etwa in den Alpen, sondern lediglich Moränen. Sie belegen die Existenz
von Gletschern und sind ein untrügliches Zeichen für vergangene Feuchtphasen. Das Datieren der Moränen allerdings ist eine knifflige Aufgabe: In
der Atacama fehlen Baumstämme im
Gletschergeschiebe, mit denen man
sich anderswo zur Altersbestimmung
behilft. Was bleibt, ist die Bestimmung
von Findlingen oder Gletscherschliffen
mittels kosmogenen Nukliden, die so
genannte Expositionsalter-Methode.
• Auch mehrere Tausend Jahre altes
Grundwasser liefert in der Atacama
klimarelevante Informationen. Die
Bildung dieser Vorkommen lässt sich
datieren und mit Hinweisen auf Feuchtperioden in den anderen Archiven vergleichen. Und: Aus der chemischen
Zusammensetzung des Grundwassers kann ermittelt werden, woher der
historische Regen über der Atacama
stammte – ob aus dem Amazonasgebiet oder vom Pazifik.
38
UNIPRESS116/APRIL 2003
Abb. 3: In der Laguna Miscanti in der chilensichen Atacama-Wüste
werden Seesedimente entnommen.
Mehrere Feuchtphasen
nachgewiesen
Was nun haben 15 Jahre Klimaforschung
in der Atacama gebracht? Zu welchem
Erkenntnisgewinn trugen Hunderte von
durchgefrorenen Nächten und ein Dutzend Diplom- und Doktorarbeiten bei?
Klar geworden ist, dass der Norden Chiles
tatsächlich nicht immer die lebensfeindliche Wüste war, die er heute ist. «Wir konnten anhand der natürlichen Archive mehrere Feuchtphasen seit der letzten Eiszeit
nachweisen», sagt Heinz Veit. Dies gilt allerdings nicht für das ganze untersuchte
Gebiet, das rund sechs Mal so gross ist
wie die Schweiz. Im Gegensatz zu den Anden war die Küstenkordilliere in den vergangenen 15 Millionen Jahren permanent
trocken – genauer: Sie ist trocken, seit im
Miozän die Anden emporgehoben wurden
und sich als Barriere den feuchten Luftmassen aus dem Amazonas in den Weg
stellten. Denn auch dies steht mittlerweile
fest: Der Norden der heutigen Atacama
lag einst im Einflussbereich des tropischen Niederschlaggürtels.
Foto: Martin Grosjean
So stellen denn die Berner Atacama-Daten einen Baustein in einem weit ambitionierteren Vorhaben dar: PAGES (Past Global Changes), das internationale, auf den
Klimawandel in der Vergangenheit ausgerichtete Forschungsprogramm, ist bestrebt, natürliche Klimaarchive weltweit
miteinander zu verknüpfen, und zwar entlang von drei Transsekten (Messstreifen)
von Pol zu Pol.
Noch ist die Forschung der Berner Geographen in Südamerika längst nicht abgeschlossen. Die Feldarbeit allerdings hat
sich mittlerweile aus Chile nach Osten
ins argentinische und bolivianische Vorland der Anden verlagert. Wenn die Niederschläge auf dem Altiplano, so die Hypothese, einst aus dem Amazonas-Gebiet
Für sich alleine genommen, mag dieser
Wissenszuwachs bescheiden erscheinen,
aber, so betont Heinz Veit: «Unsere Art
von Forschung liefert nicht innert weniger
Jahre komplette Ergebnisse. Um die grossen Fragen der Klimageschichte zu klä- Abb. 4: Auf eine Höhe von über 5000 Meren, braucht es viele Forschungsgruppen, ter über Meer wird in den chilenischen Andie sich zum Teil über mehrere Genera- den eine Wetterstation einbetoniert
tionen mit demselben Thema befassen.» .
Foto: Martin Grosjean
stammten, müssten sich dort ebenfalls paläoklimatische Beweise für Klimaänderungen finden lassen. Und vielleicht liegt
im Amazonas-Becken gar der Grund für
die sich abwechselnden Feucht- und Trockenphasen der zentralen Anden. Ein stark
zurückgedrängter Regenwald, so lässt sich
vermuten, verdunstete weniger Feuchtigkeit, womit auch weniger ergiebige Niederschläge westwärts, Richtung Anden transportiert wurden.
Abb. 5:
An einem Lössauf schluss in den bolivianischen Yungas
lassen sich Feucht phasen an fossilen
Böden erkennen.
Foto: Heinz Veit
Pionierarbeit im Regenwald
Über diese Zusammenhänge gibt es bis
heute wenig Gewissheit. Die einzigen,
aus natürlichen Klimaarchiven des Regenwalds erhobenen Daten sind so genannte Pollenprofile. Sie geben Auskunft
über die Verbreitung unterschiedlicher
Pflanzenarten in der Vergangenheit und
erlauben Rückschlüsse auf das Klima. Die
wenigen vorhandenen Amazonas-Profile
werden von der Fachwelt aber höchst kontrovers diskutiert: Manchen Biologen gelten sie als Beweis dafür, dass sich an der
Ausdehnung des Regenwalds in den ver-
gangen 20 000 Jahren kam etwas geän- kampagnen in Bolivien geplant. Im Hochdert hat. Andere Interpretationen sehen land sollen – ähnlich wie in der Atacama
den Regenwald während Trockenphasen – Spuren von Gletschern gesucht und dabis auf wenige Inseln von einer Savanne
tiert werden. Im bolivianischen Tiefland,
zurückgedrängt.
den Yungas, jedoch wollen die Forscher
ein weiteres Klimaarchiv nutzen: Dünen
Erstmals wollen Forscher des Berner Geo- und Flugstaubablagerungen in den Berggraphischen Instituts nun den biologi- regenwäldern. In diesen Sand- und Lössschen Befunden zu Klimaschwankungen
sedimenten haben sich in feucht-warmen
im Amazonasgebiet geowissenschaftliche Perioden jeweils Böden ausgebildet, wähErkenntnisse gegenüberstellen. Dazu sind
rend die Sedimente selbst trockene Verim laufenden Jahr zunächst zwei Feld- hältnisse mit spärlicher Vegetationsbedeckung anzeigen. Zusammensetzung und
Klimaforschung unterstützt Archäologie
Mächtigkeit dieser Schichten liefern DaDas Interesse an seiner Arbeit kam auch für Martin Grosjean überraschend. Als der
ten über den Klimawandel. Im Nordwesten
Berner Geograph im vergangenen Oktober die Resultate seiner zehnjährigen For- von Argentinien war anhand von 50 Meschung im Norden Chiles in einem Artikel in der renommierten Zeitschrift «Science»
ter starken Lössaufschlüssen eine Rekonpräsentierte, wurde er für amerikanische Journalisten zum gefragten Mann. Unter anstruktion der Feuchtperioden über die verderem war Grosjeans Arbeit über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und
gangenen 1,3 Millionen Jahre möglich.
Besiedlung der Atacama-Wüste der «Washington Post» einen gross aufgemachten
Artikel wert. Unter dem Titel «Klima liefert Hinweis auf chilenisches Urvolk» hob das
Feldarbeit nur für hart gesottene AbenteuWeltblatt hervor, die Studie werfe neues Licht auf die Migrationen der frühesten Berer? Nein, nein, wehrt Heinz Veit ab, der
wohner des amerikanischen Kontinents.
die neuen Projekte leitet. Um eigentliche
Grosjean und der chilenische Archäologe Lautaro Nuñez weisen in ihrer Publikation
nach, dass menschliche Aktivitäten eng mit dem Klimawandel verknüpft sind. Die Besiedlung der Atacama-Region habe erst eingesetzt, als sich rund 11 000 Jahre vor
Christus günstige klimatische Bedingungen einstellten. Als sich die Verhältnisse 3500
Jahre später einschneidend wandelten, seien die Menschen aus dem Gebiet verschwunden und erst 5000 Jahre später wieder zurückgekehrt. Diese Erkenntnisse verdanken Grosjean und seine Kollegen einem innovativen Forschungsansatz: Zuerst ermittelten sie mit Hilfe klimageschichtlicher Rekonstruktionen Standorte, beispielsweise
Seeufer, die in der Vergangenheit für die Besiedlung besonders geeignet sein mussten. Danach führten sie an diesen Stellen Ausgrabungen durch und stiessen dabei auf
höchst zahlreiche, bisher unbekannte Spuren früher menschlicher Aktivität. Unter anderem konnte das chilenisch-schweizerische Team anhand von Knochenfunden und
frühen Werkzeugen nachweisen, dass in der Atacama Menschen und Eiszeitiere am
selben Ort zusammenlebten – eine Premiere im tropischen Südamerika!
Das Projekt, lobt die «Washington Post», sei ein «Modell» dafür, wie die Klimaforschung Archäologen bei der Suche nach Zeugen menschlicher Besiedlung unterstützen könnten. Und auch «National Geographic» unterstreicht in einem mehrseitigen
Beitrag die Bedeutung des «interdisziplinären Ansatzes» für den wissenschaftlichen
Erfolg in der Atacama-Wüste.
Expeditionen handle es sich bei den aktuellen Vorhaben in Bolivien nicht. «Da
reicht ein Allradjeep und die Bereitschaft,
viel zu Fuss zu gehen.» In den tropischen
Yungas-Hügeln allerdings sind die Klimaforscher bei der Suche nach Dünen auf die
Hilfe von Macheten schwingenden Führern angewiesen. Nur sie können ihnen
den Weg abseits der Strassen frei schlagen. Und möglicherweise kommen unter
den Berner Nachwuchsforschern, die demnächst nach Südamerika reisen, auch besonders abenteuerlustige Charaktere auf
ihre Rechnung: «Im Tiefland Boliviens»,
erläutert ihr Betreuer Heinz Veit, «befinden wir uns im Hauptanbaugebiet der
Welt für Coca – das ist ein echtes Gefahrenpotential. Schon möglich, dass man da
zwischen die Fronten gerät, wenn man irgendwo drauflos bohrt.»
UNIPRESS116/APRIL 2003
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Die ökonomische Dimension des Klimawandels
Klimaökonomie
«Gott würfelt nicht, doch der Mensch spielt mit dem Klima»,
könnte man in Anspielung auf Einstein unseren Umgang mit
dem Klima beschreiben. Denn obwohl die Atmosphäre nur
beschränkt Treibhausgase verarbeiten kann, steigen die
anthropogenen, d.h. von Menschen verursachten, Emissionen dieser Gase Jahr für Jahr. Ohne Gegensteuer sind massive ökonomische und ökologische Schäden zu erwarten.
Ökonomische Entscheidungen beeinflussen unsere Zukunft und die künftiger
Generationen in vielfältiger Weise. Beispielsweise werden knappe Ressourcen
eingesetzt, um physisches Kapital und Infrastrukturen aufzubauen, Forschung zu
betreiben und Wissen zu vermitteln. Auch
Klimaschutz ist eine Investition in die Zukunft. Massnahmen zur Vermeidung von
Treibhausgasemissionen beugen einem potentiellen Klimawandel vor. Diese Investitionen unterbleiben jedoch, wenn ökonomische Anreize fehlen.
Klimaschutz kann aber nicht um jeden
Preis betrieben werden. Eine wirksame
Reduktion von Emissionen bindet Ressourcen, die anderen Verwendungen entzogen werden müssen. Das Potential so ge-
nannter no-regret-Massnahmen ist viel zu
klein, um diese Verwendungskonkurrenz
zu umgehen. Für einen rationalen Umgang
mit dem Klimaproblem ist es deshalb unverzichtbar, Vor- und Nachteile von Vermeidungspolitiken abzuwägen und effiziente Strategien zu entwickeln.
Der methodische Ansatz
Die Notwendigkeit, Kosten und Nutzen
des Klimaschutzes abzuwägen, hat zur
Entwicklung von Integrated Assessment
Models (IAM) geführt. Ein IAM besteht
mindestens aus zwei Modulen: einem ökonomischen und einem Klima-Submodell
(siehe Abb. 1). IAMs ermöglichen nicht
nur allgemeine Einsichten in die komplexen Zusammenhänge zwischen Ökonomie
und Ökologie; sie gestatten es auch, op-
Temperaturänderungen
timale globale Vermeidungsstrategien zu
ermitteln (siehe Abb. 2) sowie ihre Umsetzung in einer Marktwirtschaft zu diskutieren.
Datenmangel und beschränkte Rechenkapazitäten haben den frühen IAMs enge
Grenzen gesetzt. So musste unterstellt
werden, die Welt sei eine Region, und die
individuellen Entscheidungskompetenzen
seien an eine supranationale Institution delegiert. Um eine effiziente Klimapolitik zu
ermitteln, vergleicht diese Institution die
Kosten von Vermeidungsmassnahmen
mit den vermiedenen, monetär bewerteten Klimaschäden.
Beide Einschränkungen sind in der Zwischenzeit überwunden. Einerseits wurden
räumlich differenzierte IAMs entwickelt.
Somit können heute die Auswirkungen
des Klimawandels regional differenziert
und global optimale Klimastrategien in
regionale Politik übersetzt werden. Andererseits basieren moderne IAMs auf
dem Konzept einer überlappenden Generationenökonomie mit dezentralen Entscheidungsstrukturen. Dadurch können
Aspekte wie Gerechtigkeit über Generationen hinweg, langfristige Durchsetzbarkeit von Klimapolitiken oder die Rolle von
Kapital und Versicherungsmärkten bei der
Überwindung des Treibhausproblems untersucht werden.
Treibhausgasemission
Intergenerative Gerechtigkeit
Zu behaupten, der anthropogene Treibhauseffekt sei in erster Linie eine Frage
der effizienten Ressourcenverwendung, ist
nur die halbe Wahrheit. Zwar neigen viele
Ökonomen dazu, die Klimaproblematik
aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive zu
betrachten. Es gibt aber auch Wirtschaftswissenschafter, die das Treibhausproblem
weniger als ein Effizienz- denn als ein
Verteilungsproblem sehen. Sie geben normativen Gerechtigkeitspostulaten Vorrang
vor effizienztheoretischen Überlegungen.
Abb. 1: Integrated Assessment Modelling (IAM): Ein IAM erfasst die Interaktion zwischen
Ökonomie und Klima. Anthropogene Treibhausgasemissionen sind primär eine Folge der
energetischen Nutzung fossiler Brennstoffe. Sie reichern sich in der Atmosphäre an, was
Klimaänderungen mit sich bringt. Die Klimaänderung wiederum verändert die Produktions- und Konsummöglichkeiten.
Eine Schlüsselgrösse hierbei ist die Diskontrate. Die Kosten des Klimaschutzes
fallen in naher, der Nutzen in ferner Zukunft an. Um Nutzen und Kosten dennoch
vergleichen zu können, muss diskontiert
Ökonomisches
Modell
fossile
Energieträger
40
Produktion
Konsum
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KlimaModell
Temperaturänderung
Kohlenstoffakkumulation
werden. Diskontierung ist also eine technische Notwendigkeit, wenn Grössen, die
zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten, aufeinander bezogen werden sollen.
Allerdings wird mit der Wahl der Diskontrate das Gewicht bestimmt, mit dem zukünftige Kosten und Nutzen in das ökonomische Kalkül eingehen (siehe Abb. 3).
Gegenwartswert von 100 GE
Abb. 2: Optimale Klimapolitik: Ökonomische Klimapolitik stellt den Kosten der Vermeidung von Emissionen die vermiedenen Klimaschäden gegenüber. Der optimale Vermeidungsgrad ist erreicht, wenn die Grenzvermeidungskosten gerade den Grenzklimaschäden entsprechen. (Grenzvermeidungskosten sind die zusätzlichen Kosten einer zusätzlich
vermiedenen Emissionseinheit. Grenzklimaschäden sind die zusätzlichen monetären Schäden einer weiteren Emissionseinheit.)
Zeit (Jahre)
Abb. 3: Diskontierung: Die Abbildung zeigt den Gegenwartswert von 100 Geldeinheiten in Abhängigkeit vom Zeitpunkt und der Diskontrate. Ein monetär bewerteter Klimaschaden von 100 Einheiten in 50 Jahren wird bei einer Diskontrate von 3 % heute mit
22 Einheiten beziffert.
Einfach ausgedrückt verlangt intergenerative Gerechtigkeit, alle Generationen
gleich zu behandeln. Eine Diskontierung
von Kosten und Nutzen mit einer positiven
Rate widerspricht scheinbar diesem moralischen Postulat, denn sie impliziert ein
Verteilungskriterium zu Ungunsten künftiger Generationen: je höher die Diskontrate
ist, desto kleiner wird das Gewicht, mit
dem Wünsche und Wohlergehen zukünftiger Generationen in die Bewertung eingehen. Umgekehrt führt eine Diskontrate
von Null zu massiven Effizienzverlusten
und zu einer Umverteilung von Wohlfahrt
zulasten der gegenwärtigen Generation.
Internationale Gerechtigkeit
Das Klimaproblem definiert nicht nur ein
intergeneratives, sondern auch ein internationales Verteilungsproblem. Einem einzelnen Staat kann es nicht gelingen, das
Klimaproblem nachhaltig zu lösen. Vielmehr ist eine internationale Kooperation
erforderlich. Dies bedeutet, die Fragen zu
beantworten:
1. Wo finden Vermeidungsaktivitäten vorrangig statt?
2. Wie werden die Kosten von Klimaschutzmassnahmen zwischen den Nationen geteilt?
Die traditionelle Antwort der ökonomischen Theorie lautet, Klimaschutz solle
dort praktiziert werden, wo die Grenzvermeidungskosten am niedrigsten sind
(zu Grenzkosten siehe Abb. 2). Andernfalls sei der Klimaschutz ineffizient und
führe zu Wohlfahrtsverlusten. Daraus wiederum folgt, Vermeidung sei vor allem in
Entwicklungsländern und den Staaten der
ehemaligen UdSSR durchzuführen. Dort
nämlich finden sich die tiefsten Grenzvermeidungskosten. Ohne Kompensationszahlungen sind diese Länder allerdings
nicht bereit, Klimaschutzmassnahmen zu
ergreifen. Dies hat sich auf dem Klimagipfel zu Kyoto gezeigt, wo die Entwicklungsländer den Standpunkt einnahmen,
moralische Verantwortung sei wichtiger
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als ökonomische Rationalität. Sie forderten daher, die Industrienationen sollten für
ihre Klimasünden der Vergangenheit einstehen und die Last des Klimaschutzes
selbst tragen.
Ohne die Entwicklungsländer werden die
Bemühungen, das Weltklima zu schützen,
jedoch langfristig erfolglos sein. Wie aber
können die heute armen Länder in die
Klimaverantwortung eingebunden werden? Von welchem Zeitpunkt an sollten
sie wie die Industrienationen zum Klimaschutz beitragen? Lässt sich ein System von Kompensationsmechanismen
einrichten, das hinreichende Anreize
zur Kooperation setzt, und das gleichzeitig Flexibilität zur Umsetzung effizienter
Vermeidungsstrategien schafft?
Die aktuelle Klimaökonomik sucht Antworten auf diese Fragen. Wegen der starken Interdependenz zwischen dem Anliegen des globalen Klimaschutzes, den
Vermeidungskosten sowie der Wahl der
klimapolitischen Instrumente ist eine
solche Analyse sehr vielschichtig. Denn
einerseits beeinflusst Klimaschutz die
Standortkosten, die internationalen Kapitalflüsse und den internationalen Handel.
Andererseits sind regional unterschiedliche Ausprägungen des Klimaeffektes zu
erwarten. Am stärksten betroffen werden
wohl die wirtschaftlich schwachen Regi-
onen sein. So entsteht der Eindruck, Klimapolitik der Industrieländer sei primär
Entwicklungshilfe, da der Nutzen hauptsächlich den Entwicklungsländern zugute
kommt. Doch darf nicht vergessen werden,
dass den direkten Kosten einer Klimaänderung indirekte Kosten beispielsweise in
Form von Migrationswellen folgen, welche in Europa und Nordamerika die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen erheblich belasten können.
Globale Klimapolitik
Ökonomen sind mehrheitlich der Auffassung, dass die konkrete Umsetzung einer
globalen Klimapolitik über handelbare
Emissionszertifikate stattfinden sollte.
Emissionszertifikate berechtigen deren
Inhaber, innerhalb eines gegebenen Zeitraums eine bestimmte Menge an Treibhausgasen zu emittieren. Diese Rechte
sind teilbar und können international gehandelt werden. Damit ist der höchstmögliche Grad an Flexibilität und Effizienz
garantiert.
Auf dem Klimagipfel zu Kyoto hat sich
dieses Instrument durchgesetzt. Trotz Vorbehalten der Entwicklungsländer ist Handel von Emissionsrechten zumindest zwischen den ANNEX-I-Staaten (einem Teil
der OECD-Staaten) möglich. Allerdings
sind die Details und die Ausgestaltung eines solchen Systems noch offen.
Ein globales System international handelbarer Zertifikate lässt sich nur auf freiwilliger Basis errichten. Daraus entsteht ein
so genanntes Anreizproblem. Weil keine
Eigentumsrechte spezifiziert sind, kann
jeder in beliebigem Umfang Treibhausgase in die Atmosphäre einleiten. Umgekehrt profitieren alle von den Anstrengungen einzelner, das globale Klima zu
schützen. Klimaschutz ist somit ein öffentliches Gut, was eine typische Ausgangslage für ein soziales Dilemma darstellt (siehe Abb. 4). Obwohl es optimal
wäre, wenn alle Staaten zum Schutz des
Weltklimas beitrügen, ist es für den einzelnen Staat rational, nicht zu kooperieren
und von den Anstrengungen der anderen
als Trittbrettfahrer zu profitieren.
Verschärft wird dieses Problem durch die
Phänomene Unsicherheit und Irreversibilität. Noch längst sind nicht alle Fakten
erforscht. Unter Umständen ist völlige
Gewissheit erst erlangt, wenn die Klimakatastrophe eingetreten ist. Sollen wir das
Risiko irreversibler Klimaschäden eingehen und warten, bis eine bessere Wissenslage gezieltes und effizientes Handeln
ermöglicht? Oder sollen wir trotz unvollständiger Informationen bereits heute handeln, auch auf die Gefahr hin, dass sich
unsere Entscheidungen im nachhinein teilweise als unrichtig erweisen?
Obwohl die ökonomische Theorie auch
eine Theorie des Entscheides unter Unsicherheit ist, gibt es keine einfachen Antworten. Abwarten verringert zwar die
Gefahr möglicher Fehlinvestitionen, kann
aber eine irreversible Änderung des Klimas auslösen. Unter dieser Perspektive
ist es ökonomisch rational, auch im Sinne
künftiger Generationen, Klimaschutzmassnahmen bereits heute zu beschliessen, selbst wenn das Risiko einer globalen
Katastrophe als gering eingeschätzt wird.
Klimaschutz hätte somit die Funktion einer Versicherungsprämie gegen Klimaeventualitäten.
Abb. 4: Soziales Dilemma: Zwei Nationen entscheiden über Klimaschutz, wobei vereinfachend zwei Alternativen bestehen: Ja oder Nein. Die monetär bewerteten Resultate
der Entscheidungskombinationen sind in den Matrixfeldern angegeben. Die exemplarischen Zahlen auf den weissen Flächen gelten für Land A, die auf den grauen Flächen
für Land B. Entscheiden beide rational für sich, so resultiert mit einer Ablehnung von Klimaschutz das für beide schlechteste Ergebnis.
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Prof. Dr. Gunter Stephan
Dr. Georg Müller-Fürstenberger
Abteilung angewandte Mikroökonomie
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