UNI PRESS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT BERN APRIL 2003 MENSCH UND KLIMA 116 UNI PRESS APRIL UNIPRESS116 Effizientes Netzwerk der Klimaforschung Seite 5 Klimaforschung auf Weltniveau hat an der Universität Bern seit dem 19. Jahrhundert Tradition. Kaspar Meuli zeigt, wie mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Klima (NFS Klima) ein neues Kapitel dieser Erfolgsgeschichte geschrieben wird. Mit Klimamodellen auf Zeitreise Seite 8 Mathematisch-physikalische Modelle des Klimasystems erlangen eine herausragende Bedeutung, weil mit ihnen zukünftige Klimaänderungen abgeschätzt werden können. Thomas Stocker ist bei der Entwicklung solcher Modelle an vorderster Front dabei. Als Eisforscher in Dome Concordia Seite 11 Seit 1997 sind Wissenschafter in Dome Concordia daran, den rund 3250 Meter mächtigen antarktischen Eisschild zu durchbohren. Jacqueline Flückiger und Matthias Bigler haben über ihre Feldarbeiten ein Tagebuch geführt. Ungehobene Schätze im Reich der Mitte Seite 15 Seite 18 Es gibt zahlreiche historische Klimadaten. Seesedimente, Eisbohrkerne und Baumringe liefern weitere Angaben über frühere Umweltereignisse. Entscheidend ist, all diese Klimaarchive miteinander zu vernetzen, wie Christian Bigler darlegt. Klimawandel vor der Haustür Die Juragewässerkorrektion war der bisher grösste menschliche Eingriff in eine Schweizer Naturlandschaft. 400 km 2 Feuchtgebiete wurden in Kulturland umgewandelt. Nicolas Schneider und Werner Eugster zeigen, wie sich dieser Eingriff auf das Klima im Seeland ausgewirkt hat. Seite 25 Erhöhte Temperaturen als Folge einer Klimaveränderung können die Photosynthese und damit die Produktivität von Pflanzen beeinträchtigen. Pierre Haldimann und Urs Feller beschreiben, welche Rolle Hitzestress bei einzelnen Pflanzen spielt. Klimaszenarien für die Landwirtschaft? Seite 28 Bauernregeln zeugen von der engen Beziehung der Landwirtschaft zur Witterung. Doch nur Klimazenarien mit verbessertem System- und Prozessverständnis erlauben, die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft in einem sich rasch ändernden Klima abzuschätzen. Ein Beitrag von Jürg Fuhrer, Pierluigi Calanca und Karsten Jasper. Wenn Wetterballone streiken Seite 31 Berner Atmosphärenphysiker haben sich durch ihre Ozonmessungen einen Namen gemacht. Nun spüren sie der Verteilung von Wasserdampf bis in 70 km Höhe nach. Kaspar Meuli schildert, dass dabei neuartige, an der Uni Bern entwickelte Messgeräte eine entscheidende Rolle spielen. Jürg Luterbacher und Kaspar Meuli weisen anhand von Beispielen nach, wie historische Aufzeichnungen über das Wettergeschehen in China spektakuläre Klimarekonstruktionen verheissen. Vernetzung natürlicher Klimaarchive Hitzestress bei Pflanzen 2003 Seite 21 Klima und Bevölkerungsbewegungen Seite 34 Die Umwelt hat auf Evolution des Menschen einen grossen Einfluss ausgeübt. Wie Laurent Excoffier darlegt, gibt es den modernen Menschen seit etwa 5000 Generationen. Zwei Eiszeiten und eine Zwischeneiszeit zwangen die prähistorischen Menschen zu erheblichen Wanderungen und Anpassungen. Die Wüste zum Sprechen bringen Seite 37 Die Atacama-Wüste in den Anden ist heute extrem trocken. Berner Klimatologen haben allerdings nachgewiesen, dass diese heutige Wüste vor etwa 10 000 Jahren durchaus Lebensraum für Mensch und Tier geboten hat. Ein Text von Kaspar Meuli. Die ökonomische Dimension des Klimawandels Seite 40 Der Mensch belastet die Atmosphäre zunehmend mit von ihm verursachten Treibhausgasen. Die Volkswirtschafter Gunter Stephan und Georg Müller belegen, dass ohne Gegensteuer massive ökonomische und ökologische Schäden zu erwarten sind. Klima In England gehört es durchaus zum guten Ton, ein Gespräch mit einer Bemerkung über das Wetter einzuleiten. «Nice day, today, isn’t it?», und auch wir in der Schweiz freuen oder ärgern uns übers Wetter und reden immer wieder darüber. Häufig, wenn das Wetter für unser Gefühl zu warm oder zu kalt, zu nass oder zu trocken ist oder aber wenn Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder grosse Lawinenniedergänge auftreten, sprechen wir von der eingetretenen oder bevorstehenden Klimaveränderung. Welcher Zusammenhang besteht denn überhaupt zwischen unserem täglichen Wetter, zwischen mehrtägigen oder mehrwöchigen Wetterperioden und dem Klima? Gebiet betreiben. Dazu gehören neben den Geographen Physiker, Biologen, Chemiker, Geologen und selbst Historiker. Es kommt daher sicher nicht von ungefähr, dass einer der 14 Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS), nämlich derjenige mit der Umschreibung «Variabilität, Vorhersagbarkeit und Risiken des Klimas» von einem Berner, nämlich Prof. Dr. Heinz Wanner vom Geographischen Institut, geleitet wird. 112 Personen aus der ganzen Schweiz und vielen anderen Ländern sind in diesem Schwerpunkt mit insgesamt 13 Teilprojekten involviert. Wir wollen unseren Lesern wenigstens einen partiellen Eindruck davon vermitteln, was in diesen Projekten so geforscht wird. Kaspar Meuli, der Medienbeauftragte des NCCR Climate, wie sich der Schwerpunkt auf Englisch nennt, hat uns die verschiedenen Autoren ausfindig gemacht, manchen von ihnen beim Verfassen des Artikels zur Seite gestanden, und er erscheint in diesem Heft auch als Autor. Wir danken ihm herzlich für seine Hilfe. Annemarie Etter Unter Klima versteht man den mittleren Zustand der Atmosphäre während einer längeren Periode – die nach den Grundsätzen der der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) 30 Jahre beträgt. Dass das Klima schwankt, ist nichts Neues; und dass diese Schwankungen beträchtlich sein können, genau so wenig. Wir alle wissen von den Eiszeiten, als Schnee und Eis die grössten Teile unseres Mittellandes bedeckten, und wenn wir auf dem Belpberg versteinerte Muscheln finden, werden wir daran erinnert, dass dort einmal ein Meer lag. Klimatischen Veränderungen nachzugehen und ihre Ursachen zu erforschen, ist an sich schon spannend und eine wissenschaftliche Herausforderung. In der heutigen Zeit haben aber diese Forschungen eine zusätzliche Bedeutung erlangt. Immer mehr stellt sich die Frage, wie weit der Mensch mit seinen Eingriffen in die Landschaft, mit seinem Verbrauch an fossilen Energien, mit seiner Verschmutzung der Umwelt zu einer lokalen oder globalen Veränderung des Klimas beiträgt. An der Universität Bern hat Klimaforschung Tradition. Schliesslich ging von hier vor 140 Jahren die Schaffung des ersten landesweiten meteorologischen Beobachtungsnetzes aus, aus dem die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt, die heutige MeteoSchweiz, hervorging. Typisch für Bern ist seit jeher, dass Wissenschafter in den verschiedensten Disziplinen ihre Forschungen auf diesem 4 UNIPRESS116/APRIL 2003 UNIPRESS Verantwortliche Herausgeberin Stelle für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Bern Prof. Dr. Annemarie Etter Fred Geiselmann Redaktionsadresse Schlösslistrasse 5, 3008 Bern Tel. 031 631 80 44 Fax 031 631 45 62 E-mail: [email protected] http://publicrelations. unibe.ch/ 116/April 2003 Erscheinungsweise 4mal jährlich; nächste Nummer Juni 2003 Druck und Inserate Stämpfli AG Hallerstrasse 7, 3012 Bern Tel. 031 300 66 66 Tel. 031 300 63 82 (Inserate) Layout Simon Schreiber Adressänderungen Bitte direkt unserer Vertriebsstelle melden: „DER BUND“ Vertrieb UNIPRESS Bubenbergplatz 8 3001 Bern Titelbild Christine Blaser Auflage 15 000 Exemplare In Bern laufen die Fäden des Nationalen Forschungsschwerpunkts zusammen Effizientes Netzwerk der Klimaforschung Klimaforschung auf Weltniveau hat an der Uni Bern seit dem 19. Jahrhundert Tradition. Nun wird mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Klima (NFS Klima) ein neues Kapitel dieser Erfolgsgeschichte geschrieben. Ziel: ein besseres Verständnis des Klimasystems durch interdisziplinäre Forschung. Die Uni Bern beherbergt das Management Center des Programms und ist das Mutterhaus im Netzwerk der Schweizer Klimaforschung. Drei persönliche Ziele hat sich der Berner Klimatologe Heinz Wanner für das gross angelegte Forschungsprogramm gesetzt, dem er als Direktor vorsteht: Ein wissenschaftliches, ein politisches und ein pädagogisches. Auf wissenschaftlicher Ebene, so Wanner, soll der NFS Klima folgende Frage beantworten: «Ist im atlantisch-europäischen Klima die Handschrift der menschlichen Beeinflussung bereits sichtbar?» Aus den Antworten ergibt sich der zweite Anspruch an das Programm: Globale Bekämpfung der Ursachen. «Wir wollen den Kyoto-Prozess wissenschaftlich unter- mauern und Argumente zu seiner politischen Umsetzung liefern.» Und schliesslich das dritte Ziel: Es gelte, eine neue Generation von Klimawissenschaftern und -wissenschafterinnen «effizient auszubilden» und dazu beizutragen, dass die Nachwuchsforscher in der Schweiz eine berufliche Perspektive erhielten. Ob sich die hochgesteckten Erwartungen an den NFS Klima erfüllen, zeigt sich im Jahre 2005. Dann werden die momentan 14 Nationalen Forschungsschwerpunkte durch internationale Experten grundsätzlich unter die Lupe genommen. Erbringen die Programme den geforderten Leis- tungsausweis, werden sie für weitere vier Jahre finanziert. Das langfristige Engagement ist Teil des Konzepts. Als die neuen Förderinstrumente 1999 vom Parlament beschlossen wurden, war die erklärte Absicht, der helvetischen Forschungslandschaft festere Strukturen zu verleihen. Und als Bundesrätin Ruth Dreifuss zwei Jahre später die Auswahl der Schwerpunkte präsentierte, sprach sie von einer neuen «Forschungsarchitektur». Ziel der Neuausrichtung: Die Konkurrenzfähigkeit der Schweiz in der internationalen Wissensgesellschaft zu sichern und den Forschungskapazitäten in Schlüsselgebieten zur kritischen Masse zu verhelfen. Vernetzung der Schweizer Klimaforschung Das Interesse der Wissenschaft an den Forschungsschwerpunkten war bereits bei ihrer Ausschreibung enorm. In einer ersten Runde gingen 229 Absichtserklärungen ein, von denen sich in einer zweiten Phase 82 zu Skizzen entwickelten. Schliesslich wurden 34 vollumfängliche Gesuche zur Nachwuchsförderung hilft Grenzen sprengen Zwei Veranstaltungen haben das erste Jahr im Leben des NFS Klima geprägt – und bei beiden standen Nachwuchsforscher und -forscherinnen im Vordergrund. Bei einem zweitägigen Workshop in Gwatt tauschten sich 30 im Programm tätige Doktoranden und Postdocs aus – mehr als ein Drittel von ihnen Frauen. Und an der NFS Klima Summer School in Grindelwald verbrachten 70 talentierte junge Klimaforscher aus der ganzen Welt eine Woche mit hochkarätigen Dozenten. Thema der Vorträge, Poster Sessions und Exkursionen: «Climate variability, predictability and climate risks» (Veränderlichkeit, Vorhersagbarkeit und Risiken des Klimas). Es ist kein Zufall, dass sich diese beiden Anlässe, die in den kommenden Jahren regelmässig durchgeführt werden sollen, an den wissenschaftlichen Nachwuchs richten. «Die jungen Forscherinnen und Forscher sind für den Erfolg unseres Programms von zentraler Bedeutung», sagt Martin Grosjean, Programmleiter des NFS Klima. «Sie sind offen und interessiert an Zusammenarbeit über ihr eigenes Fachgebiet hinaus. Genau diesen Austausch streben wir an.» Im Gegensatz zu ihren Betreuern, die als gestandene Professoren in unterschiedlichen wissenschaftlichen Vorhaben engagiert sind, arbeiten die Doktoranden und Postdocs zum grössten Teil ausschliesslich für den NFS Klima und identifizieren sich entsprechend mit dem Programm. Abb. 1: Nachwuchswissenschafterinnen und -wis- Die über 50 Nachwuchsforscherinsenschafter beim Treffen für Doktoranden und Post- nen und -forscher stammen aus rund docs in Gwatt. einem Dutzend Nationen. UNIPRESS116/APRIL 2003 5 aber auch Ökonomen, Sozialwissenschafter und Historiker. Den unterschiedlichen Disziplinen zum Trotz steuern sie alle zu gemeinsamen Forschungszielen bei. Zu diesen übergreifenden Themen gehören: Extremereignisse und ihre Vorhersagbarkeit, Klimavariabilität und -trends sowie Klimapolitik. Insgesamt umfasst der NFS Klima über ein Dutzend Projekte. Sie reichen vom Studium klimatischer Extremereignisse in der Vergangenheit, über das Entwickeln von regionalen Szenarien des Klimawandels für den Alpenraum, bis zur Entwicklung von Computermodellen, mit denen die Auswirkungen des Klimawandels auf die Wirtschaft simuliert werden. Abb. 2: Margit Schwikowski vom PSI ist Spezialistin für Eisbohrungen. Im Rahmen des NFS Klima erforscht sie natürliche Klimaarchive. Beurteilung durch Expertenkomitees eingereicht. Die endgültige Auswahl unter den vorgelegten Programmvorschlägen traf schliesslich das Eidgenössische Departement des Innern. Entscheidendes Kriterium neben der hohen wissenschaftlichen Qualität der Vorhaben war: Die Zusammenarbeit der Forscher in einem wissenschaftlichen Netzwerk und über die Grenzen ihrer Disziplinen hinaus. Konkret werden diese Vorgaben beim NFS Klima so umgesetzt: An Universitäten und Forschungsinstituten in der ganzen Schweiz (siehe Kasten «Klimaforschung auf einen Blick») gehen rund 100 Wissenschafter Fragen nach wie: Werden Stürme, Überschwemmungen und Dürren künftig zunehmen? Lassen sich extreme Klimaereignisse vorhersagen? Und: Wie wird die Landwirtschaft mit den sich wandelnden Klimabedingungen fertig? Dabei stehen zwei Schwerpunkte im Vordergrund: Die eigentliche Klimaforschung, die zum Verständnis der Prozesse beiträgt, die für den Klimawandel verantwortlich sind, sowie die Erforschung der Folgen dieses Wandels. Zu den am Programm beteiligten Wissenschaftern zählen Physiker, Biologen, Klimatologen und Chemiker, Abb. 3: Olivier Bahn vom PSI simuliert die ökonomischen Auswirkungen des Klimawandels auf Gesellschaft und Wirtschaft. 6 UNIPRESS116/APRIL 2003 Neuland bei der Zusammenarbeit Die Tatsache, dass an der Universität Bern gleich zwei Nationale Forschungsschwerpunkte angesiedelt sind – der zweite, «Nord-Süd», befasst sich mit den Auswirkungen des globalen Wandels für die Entwicklungsländer – ist alles andere als selbstverständlich und zeichnete sich im Laufe der wissenschaftspolitischen Selektion auch nicht unbedingt ab. Nach einer eher mittelmässigen Einstufung der ersten groben Projektskizze für einen KlimaSchwerpunkt sank bei den Initianten der Glaube an ihre Chancen. «Ohne die Unterstützung der Unileitung und die Kollegen der ETH Zürich», sagt Heinz Wanner, «hätten wir unser Projekt möglicherweise gar nicht ausgearbeitet und eingereicht.» Schützenhilfe kam aber auch von Bun- Abb. 4: Sonia Seneviratne von der ETH Zürich arbeitet mit Klimamodellen. desämtern wie der MeteoSchweiz, dem Buwal und dem Bundesamt für Wasser und Geologie. Im Gegensatz zu andern selektionierten Schwerpunkten liegt bei der Klimaforschung der Schritt von der Grundlagenforschung zur technologischen Anwendung, den die Politik von den NFS fordert, nicht auf der Hand. Das gemeinsame Schmieden von «Innovationsketten» mit Partnern aus der Wirtschaft ist nur bedingt möglich. Diesen Mangel machte der NFS Klima offensichtlich mit anderen Stärken wett. Zum Beispiel, so Heinz Wanner, mit seiner «aktuellen Fragestellung» einerseits für die Schweiz, die als Gebirgsstaat besonders sensibel auf Klimaänderungen reagiert, vor allem aber auf globaler Ebene. «Bei den entscheidenden Gremien hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass globale Klimafragen von grosser Bedeutung sind und dass die Schweiz einen Beitrag zu ihrer Erforschung leisten kann.» Zwar existiert weltweit eine Vielzahl grosser Klimaforschungsprogramme, doch das Schweizer Programm, so glaubt sein Direktor, begeht Neuland: «Gegenüber dem angelsächsischen Raum hat die Interdisziplinarität unseres Programms eine gewisse Einmaligkeit.» Von der Absichtserklärung zur konkreten Zusammenarbeit über die Grenzen der Forschungsdisziplinen hinweg führt allerdings ein langer Abb. 5: Lukas Zimmermann vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Uni Bern arbeitet mit Flaumeichen. Gemessen wird der Saftfluss. Fotos: Marcus Gyger Weg – und ein steiniger dazu. Wie andere Forscher vor ihnen erleben auch die Mitarbeiter des NFS Klima, dass eine gemeinsame Basis zwischen den verschiedenen Wissenschaftskulturen keine Selbstverständlichkeit ist. «Noch müssen wir», resümiert Heinz Wanner, «eine gemeinsame Sprache finden.» Kaspar Meuli, NFS Klima Klimaforschung auf einen Blick Der NFS Klima stellt ein wissenschaftliches Netzwerk dar, das folgende Partner umfasst: Uni Bern, Uni Freiburg, Uni Genf, ETH Zürich, Paul Scherrer Institut (PSI), Eidgenössische Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau (FAL) sowie die MeteoSchweiz. Das Forschungsprogramm aller am NFS beteiligten Institutionen baut auf vier Pfeilern auf: «Vergangenes Klima», «Künftiges Klima», «Folgen für die Umwelt» und «Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft». In einem Dutzend Projekten sind an die 100 Wissenschafter tätig. Gemeinsames Ziel: Ein besseres Verständnis der Klimaprozesse und die Erforschung der Folgen des Klimawandels. Für die ersten vier Jahre seiner Tätigkeit steht dem NFS Klima bis im Jahr 2005 ein Budget von rund 26 Millionen Franken zur Verfügung. Davon steuert der Schweizerische Nationalfonds gut 11 Millionen und die Uni Bern 2 Millionen Franken bei. An der Finanzierung beteiligt sind aber auch Partner aus der Wirtschaft (SwissRe) und Verwaltung (MeteoSchweiz, Buwal). Abb. 6: Das Netzwerk des NFS Klima umspannt die ganze Schweiz. UNIPRESS116/APRIL 2003 7 Das Klima in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Mit Klimamodellen auf Zeitreise Mathematisch-physikalische Modelle des Klimasystems erlauben, vergangene Klimaschwankungen zu simulieren und deren Ursachen auf die Spur zu kommen. Ihre herausragende Bedeutung erlangen sie jedoch als wissenschaftliche «Instrumente», mit denen zukünftige Klimaänderungen abgeschätzt werden. An der Abteilung für Klima- und Umweltphysik (KUP) werden neben der Rekonstruktion von vergangenen Klimaänderungen aus Archiven, insbesondere polaren Eisbohrkernen, mit Hilfe von komplexen physikalischen Messmethoden seit einigen Jahren auch theoretische Modelle des Klimasystems entwickelt und verwendet. Eine solche enge Verknüpfung von Theorie und Experiment ist weltweit nur in den wenigsten Instituten der Klimaforschung realisiert und erweist sich als besondere Stärke der Berner Klimaphysik. Nach dem zweitwärmsten Jahr der letzten 150 Jahre, einem äusserst milden Winteranfang und zunehmenden Häufungen von lokalen Extremereignissen wie Überflutungen und Hangrutschungen fragt man sich beunruhigt, ob die globale Klimaveränderung nun auch unser Land erreicht hat. Eine wissenschaftlich solide Antwort benötigt einerseits eine ausreichende Statistik und andererseits mathematisch-physikalische Modelle, die eine quantitative Verknüpfung der Beobachtungen mit den vermuteten Ursachen herstellen können. Dabei wurden im letzten Jahr im Rahmen einer Doktorarbeit an der KUP bedeutende Fortschritte erzielt, die in der Fachzeitschrift «Nature» publiziert wurden und weltweit Beachtung gefunden haben. Klimamodelle ermöglichen Zeitreisen. Bevor man aber in die Zukunft schaut, muss man sich vergewissern, dass dieses Klimamodell, mit dem die Zeitreise unternommen werden soll, das bereits Geschehene wiedergeben kann. Zeitreisen in die Vergangenheit sind unerlässlich für Klimamodellierer, denn nur sie ermöglichen die Überprüfung der Modelle anhand von Daten, die aus Klimaarchiven gewonnen worden sind. Eine dramatische Kaltphase als Testfall für Klimamodelle Die Zeitreise führt uns 13 000 Jahre in die Vergangenheit, an das Ende der letzten Eiszeit. Bereits ist die Vergletscherung massiv zurückgegangen, und es herrschen deutlich wärmere Temperaturen in Europa als je zuvor während den letzten 60 000 Jahren. Doch 12 700 Jahre vor heute wurde es plötzlich wieder kälter: Gletscher begannen aus den Alpentälern ins Mittelland Abb. 1: Reto Knutti, heute Postdoc an der Abteilung für Klimaund Umweltphysik, auf «Zeitreise» mit Klimamodellen. Ein Ergebnis seiner Doktorarbeit wird in diesem Artikel vorgestellt. 8 UNIPRESS116/APRIL 2003 vorzurücken, und die Vegetation änderte sich merklich, wie man aus Pollenablagerungen im Gerzensee ablesen kann. Die erneute Kaltphase, bekannt unter dem Namen «Jüngere Dryas», dauerte 1200 Jahre und stellt den letzten von insgesamt 24 abrupten Klimawechseln der letzten Eiszeit dar. Diese Klimasprünge sind heute unter dem Namen «Dansgaard-OeschgerEreignisse» bekannt. Klimamodelle zeigen, dass diese Kaltphasen wahrscheinlich durch ein Abschalten des Golfstroms, der «atlantischen Wärmepumpe», verursacht wurden. Ein solches Abschalten ist das letzte Mal vor 8200 Jahren eingetreten, als sich ein riesiger Gletschersee, der sich beim Abschmelzen des nordamerikanischen Eispanzers gebildet hatte, in den Nordatlantik ergoss und so die Meeresströmungen störte. Ein Ausbleiben der atlantischen Wärmepumpe hat dramatische Auswirkungen auf das Klima in unseren Breiten. Abschätzungen ergeben, dass sich die mittlere Temperatur um mehrere Grade abkühlte; in Grönland waren es über 10 °C! Die in grönländischen Eisbohrkernen aufgezeichnete Klimageschichte sagt uns, dass die Abkühlung innert weniger Jahrzehnte erfolgte. Für Klimamodelle ist ein solch dramatisches Ereignis ein idealer Testfall. Sind Modelle in der Lage, solche Sprünge zu simulieren? Geben diese Modelle auch Veränderungen anderer Grössen im Klimasystem zuverlässig wieder? Neben der Temperatur, den Niederschlägen, der Vegetation und anderen Indikatoren zeigt auch der Gehalt von 14 C (Kohlenstoffatome mit 6 Protonen und 8 Neutronen im Atomkern, statt wie normalerweise 6 Neutronen), dem in der Umwelt natürlich vorkommenden Radionuklid des Kohlenstoffs, in der Atmosphäre deutliche Veränderungen während der Jüngeren Dryas. Das Nuklid 14 C nimmt am globalen Kohlenstoffkreislauf teil und verteilt sich damit auf Atmosphäre, Ozean und Vegetation. Da die Halbwertszeit von 14 C etwa 5730 Jahre beträgt, kön- Änderung [%] 80 14C Abb. 2: Die Jüngere Dryas (hellgrau unterlegt) ist eine Kaltphase, die vor 12 700 Jahren abrupt begann und ebenso abrupt ca. 1200 Jahre später endete. Die aus Klimaarchiven rekonstruierte 14C-Konzentration in der Atmosphäre (rote Punkte) zeigt einen Anstieg während den ersten 300 Jahren, danach einen sinkenden Trend. Das Klimamodell simuliert diese Veränderungen in guter Übereinstimmung (dunkelgraues Band). 40 0 -40 -80 13 000 12 000 11 000 Jahre vor heute nen Veränderungen im 14 C-Gehalt nur bis etwa 40 000 Jahre vor heute noch gemessen werden. Anhand solcher Messungen an Baumringen und Meeressedimenten kann der Gehalt von 14 C in der Atmosphäre rekonstruiert werden (Abb. 2, rote Punkte). Zu Beginn der Kaltphase steigt 14 C an, um dann nach etwa 300 Jahren während der ganzen Jüngeren Dryas wieder abzunehmen. Ein Anstieg von 14 C in der Atmosphäre bedingt eine Abnahme vor allem im Ozean. letzten 50 Jahren messbar erwärmt hat. Daraus, und aus vielen weiteren wichtigen Erkenntnissen, hat das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UNO 2001 erklärt, dass der grösste Teil der Erwärmung der letzten 50 Jahre durch den Anstieg der Treibhausgase (CO 2 , CH4 , N2 O und andere) – und damit durch den Menschen – verursacht ist. Wärmere Atmosphäre – mehr thermische Energie im Ozean Die global gemittelte Temperatur an der Erdoberfläche hat seit 1900 um 0.6 °C zugenommen; seit Mitte der 1950er Jahre hat der Ozean etwa 2×10 23 Joule Energie aufgenommen. Diese beiden Resultate, die sich aus Tausenden von Messungen weltweit berechnen lassen, belegen eindrücklich, dass sich die Erdoberfläche in den Diese Frage kann nur mit einem sehr effizienten Klimamodell beantwortet werden, das erlaubt, viele verschiedene Kombinationen durchzurechnen. Die Klimamodelle, die an der KUP verwendet werden, sind dazu ideal geeignet, denn eine Simulation über 250 Jahre benötigt nur gerade eine 1 /100 Sekunde Rechenzeit (siehe Kasten «Hierarchie von Klimamodellen»). Bei jeder Simulation wird nun eine zufällig � � ����������� � � ���� ���� ���� ���� Werden nun nur noch diese Simulationen bis ins Jahr 2100 weiter gerechnet, so erhält man erstmals eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit der Erwärmung (Abb. 3). Für ein moderates Emissionsszenario, das eine Verdoppelung der CO 2 -Konzentration erst im Jahr 2100 vorsieht – ergibt sich im globalen Mittel eine wahrscheinlichste Erwärmung von etwa 2 °C. Das Erstaunliche dieser Berechnungen: fast die Hälfte der Simulationen zeigen eine Erwärmung, die wesentlich höher liegt als der vom IPCC angegebene Bereich. Die globale Erwärmung könnte also durchaus stärker ausfallen, als dies bisher angenommen worden ist. Mit diesem effizienten Klimamodell wurde eine Methodik vorgestellt, die mit steigender Rechenleistung in Zukunft auch mit komplexeren Modellen der Hierarchie angewendet werden kann. Erst damit werden dann auch detaillierte Aussagen über die Auswirkungen der Erwärmung auf regionaler Ebene möglich. ���������������������� Abb. 3: Simulation der global gemittelten Temperatur über die letzen 150 Jahre bis ins Jahr 2100 (links). Die beiden schwarzen Linien umfassen 90 % der Simulationen. Die Wahrscheinlichkeitsdichte (rechts) zeigt, dass die Erwärmung im Jahr 2100 in fast 50 % der Fälle höher ausfällt, als der Bereich, der von IPCC angegeben wurde (grauer Bereich). ���������������������� Diese Umverteilung von 14 C im Klimasystem kann mit unseren Modellen simuliert werden (Abb. 2, grau gerasterter Bereich). Die Modelle, die das Abstellen des Golfstroms als Ursache der Abkühlung angeben, simulieren auch ziemlich genau die rekonstruierten 14 C-Werte (Abb. 2, rote Punkte). Somit hat dieses Klimamodell einen wichtigen Test bestanden: ein vergangenes Klimaereignis ist realistisch nachgebildet worden. Die Zeitreise in die Zukunft kann also beginnen. Die Temperatur an der Erdoberfläche wird jedoch nicht nur durch die Konzentration der Treibhausgase beeinflusst. Die Änderung der Solarstrahlung, Ozonkonzentration, Staub von Vulkanausbrüchen und natürliche Schwankungen wie El Niño und die Nordatlantische Oszillation können Schwankungen der global gemittelten Temperatur von 0.1 bis 0.3 °C auslösen. Die Frage stellt sich deshalb, ob es allenfalls Kombinationen dieser Einflussfaktoren gibt, die die Temperaturentwicklung der letzten 150 Jahre ohne den Anstieg der Treibhausgase zu erklären vermögen. bestimmte Auswahl der Einflussfaktoren innerhalb ihrer Unsicherheitsbereiche getroffen und der simulierte Temperaturverlauf von 1860 bis 2000 mit demjenigen der Messungen verglichen. Dabei erfüllen nur bestimmte Kombinationen die Bedingungen, dass sowohl der Anstieg der Temperatur wie auch die Aufnahme von Wärme in den Ozean mit den gemessenen Werten übereinstimmt. ���� ���� � � ���� � � � ��� ��� ��� �������������������������������� UNIPRESS116/APRIL 2003 9 ���� ���� ���� ���� ���� ���� Abb. 4: Simulation der Veränderung der Stärke der atlantischen Wärmepumpe. Die globale Erwärmung führt zu einer Reduktion dieser Strömung im Atlantik, die in den kommenden Jahrzehnten messbar werden sollte. Der graue Bereich umfasst 90 % aller Simulationen, die die bis jetzt beobachtete Klimaveränderung korrekt wiedergeben. Genau hier setzen unsere neuesten Arbeiten im Rahmen des NCCR-Climate an. Dabei kommt eines der zurzeit besten komplexen Klimamodelle zum Einsatz. Es wurde am National Center for Atmospheric Research (NCAR) in Boulder (USA) entwickelt. Es koppelt Atmosphäre, Ozean und Landoberfläche, und simuliert in realistischer Weise das Klima. Die KomplexiHierarchie von Klimamodellen Es gibt kein «bestes Klimamodell», vielmehr werden für verschiedene Fragestellungen unterschiedliche Modellformulierungen angewendet. Klima-Simulationen über geologische Zeiträume erfolgen mit Modellen, die nur gerade global gemittelte Werte liefern, während für Klimasimulationen der nächsten 100 Jahre oft Modelle verwendet werden, die Wetterphänomene auflösen können. Man spricht von einer Hierarchie von Klimamodellen. Mit der Komplexität eines Modells und den darin dargestellten Prozessen steigt auch der Rechenaufwand (Abb. 5). Für eine Simulation von 250 Jahren werden mit den vollständigsten Modellen einige Monate benötigt, während die effizientesten Modelle dafür nur wenige Minuten rechnen. Der Preis ist eine reduzierte Aussagekraft bezüglich der Prozesse und der räumlichen Auflösung. In einem Klimamodell werden im wesentlichen die Strömungen in der Atmosphäre und im Ozean, die Bewegungen des Meereises und der Energiehaushalt dieser Komponenten berechnet. Die Rechnungen basieren auf den Gesetzen der klassischen Physik, also auf den Erhaltungsgleichungen von Masse, Energie und Impuls, welche auf einem Gitter, das den Globus umspannt, gelöst werden. Die 10 UNIPRESS116/APRIL 2003 Mit diesen komplexen Modellen soll schliesslich auch eine zentrale Frage, die durch die Paläoklimatologie gestellt wird, beantwortet werden. Wird die atlantische Wärmepumpe abstellen? Die Simulationen mit unserem Klimamodell zeigen, dass eine Reduktion dieser Ozeanströmung wahrscheinlich ist (Abb. 4). Es ist zu erwarten, dass noch in diesem Jahrzehnt eine solche Veränderung im Atlantischen Ozean messbar werden wird. Ein Gitterpunkte liegen dabei, je nach Modell, etwa 300 bis 500 km auseinander. Da viele lokale Prozesse auf dieser Skala nicht mehr 108 10 Monate 1 Monat 6 1 Woche 104 1 Stunde Minuten 102 1 10-2 Bern 2.5D � Climber 2 �� UVic / ECBilt �� CSM 1 Paleo �� CCSM 2 �� tät dieses Modells hat einen hohen Preis: so kann nur noch ein Cluster von Hochleistungsrechnern die Resultate innert nützlicher Frist liefern. Dank einer engen Zusammenarbeit mit dem Centro Svizzero del Calcolo Scientifico (CSCS) werden Simulationen über mehrere hundert Jahre möglich. Das Ziel ist ein besseres Verständnis der natürlichen Klimavariabilität der letzten 500 Jahre. Verschiedene Experimente werden Aufschluss geben über die Mechanismen, die Schwankungen wie zum Beispiel die kleine Eiszeit oder verlängerte Phasen der Nordatlantischen Oszillation verursachen. CPU Zeit (sec) �������������������������� ��� 10−2s Neuronale Netzwerke Abb. 5: Ungefährer Zeitaufwand, um eine Klimasimulation von 250 Jahren mit verschieden komplexen Modellen zu rechnen. Ein typisches dreidimensionales Klimamodell, das Ozean, Atmosphäre und Meereis simuliert, benötigt für diese Berechnung einige Monate, während das an der Abteilung für Klima- und Umweltphysik entwickelte vereinfachte globale Klimamodell dafür nur einige Minuten benötigt. Noch einmal ein Faktor 1000 kann an Rechenzeit eingespart werden, wenn zur Berechnung Neuronale Netzwerke benutzt werden. Dies eröffnet erstmals die Möglichkeit, dank vielen Klimasimulationen Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. abruptes Abstellen, wie dies vor 8200 Jahren und während der Jüngeren Dryas geschehen ist, ist allerdings weniger wahrscheinlich und tritt in diesen Simulationen nicht auf. Numerische Modelle sind so zu einem unerlässlichen Instrument der Klimaforschung geworden, die es ermöglichen, Mechanismen und Prozesse im System Erde quantitativ zu untersuchen. Klimamodelle müssen ständig verbessert werden, indem mehr Prozesse einbezogen werden, Parametrisierungen durch fundamentale Berechnungen ersetzt werden, und die räumliche Auflösung verfeinert wird. Dabei kommt dem Vergleich von Modellresultaten mit Beobachtungen und Klimarekonstruktionen besondere Bedeutung zu. Ohne «harte» Daten aus der Natur wären Klimamodelle kaum mehr als interessante und theoretische Konstrukte ohne Aussagekraft. Prof. Dr. Thomas Stocker Physikalisches Institut fundamental berechnet werden können (zum Beispiel die Bildung von Wolken aus der Ansammlung von Tröpfchen in der Atmosphäre), werden sogenannte Parametrisierungen verwendet, die diese Prozesse summarisch beschreiben. Seit Mitte der 1960er Jahre werden Klimamodelle entwickelt; sie haben heute einen Grad von Realität erreicht, die Klimasimulationen in die Zukunft möglich machen. Neueste Modelle enthalten auch vereinfachte Darstellungen der Vegetationsbedeckung und ihrer Veränderungen. Die atmosphärischen Komponenten dieser Klimamodelle sind uns seit langem vertraute Instrumente: Sie werden in erhöhter räumlicher Auflösung als Wettervorhersagemodelle weltweit eingesetzt. Effiziente Klimamodelle entstehen, wenn neuronale Netzwerke eingesetzt werden. Diese stellen eine der schnellsten Möglichkeiten dar, Klimasimulationen durchzuführen. Ein neuronales Netzwerk ist eine Verknüpfung, die ein Eingangssignal nach einer bestimmten Vorschrift in ein Ausgangssignal umwandelt. Die Vorschrift entsteht in der «Lernphase» des neuronalen Netzwerkes, in der zuerst einige Klimasimulationen mit dem zu ersetzenden Modell durchgeführt werden und das Netzwerk damit trainiert wird. Berner Klima- und Umweltphysiker in der Antarktis Als Eisforscher in Dome C – ein Tagebuch Seit 1997 sind Wissenschafter und Techniker aus zehn europäischen Ländern in Dome Concordia daran, den rund 3250 Meter mächtigen antarktischen Eisschild zu durchbohren. Die Untersuchungen an den Eisbohrkernen sollen die längste Klimarekonstruktion dieser Art ermöglichen. Insbesondere möchte man die Zusammenhänge im Klimasystem und die Ursachen von vergangenen natürlichen Klimaschwankungen besser verstehen – wesentliche Voraussetzungen, um Klimamodelle weiterentwickeln und immer genauere Klimaprognosen für die Zukunft erstellen zu können. Im Südsommer 2001/2002 haben erneut Berner Wissenschafter der Abteilung für Klima- und Umweltphysik an den Feldarbeiten in der Antarktis teilgenommen. Ein Tagebuch... 8.–18. November 2001 – Reise ans andere Ende der Welt Bereits einige Wochen vor unserer Abreise haben wir zwölf grosse Kisten Messgeräte und sonstiges Material in die Antarktis verschickt. Jetzt beginnt auch unsere im Innern des Kontinents, Dome Concordia oder in unserem Jargon kurz Dome C, erreichen wir zehn Tage später von Terra Nova Bay aus mit einer kleinen zweimotorigen Propellermaschine. 20. November 2001 – Dome Concordia Wir haben Europa im trüben November verlassen. Dome C, innerhalb des südlichen Polarkreises gelegen, erwartet uns mit Sonnenschein rund um die Uhr und in den ersten Tagen mit Temperaturen um –45 °C. Die Station, bestehend aus grossen Zelten und Containern, beherbergt jeweils zwischen November und Februar rund fünfzig Personen vorwiegend aus Europa, darunter Wissenschafter, technisches PerReise, eine Reise mit Linienflugzeugen sonal, Köche und einen Arzt. Wir befinden nach Christchurch in Neuseeland und von uns auf dem weissen, flachen Hochplateau dort weiter mit einem Transportflugzeug der Antarktis auf über 3000 Meter über in die Antarktis zur italienischen Küsten- Meer. Die hier unendlich erscheinende station Terra Nova Bay. Unser eigentliches Ebene erstreckt sich ohne die kleinste ErZiel, die europäische Forschungsstation hebung bis an den Horizont und darf zu Abb. 1: Das Dome Concordia Camp mit dem Bohrzelt (hinten links), dem Wissenschaftstrakt (hinten rechts) und den Schlafzelten im Vordergrund. Foto: Niels Kjaer UNIPRESS116/APRIL 2003 11 Recht als eisige Wüste bezeichnet werden, denn Dome C gehört zu den trockensten Gebieten der Erde. Leben hier ist nur dank grossem logistischem Aufwand möglich. 22. November 2001 – Die ersten Arbeitstage Nach zwei Tagen Akklimatisation an die Höhe beginnt die Arbeit im grossen Bohrzelt und im Wissenschaftstrakt. Zweiundzwanzig Personen aus sieben Ländern arbeiten im Zusammenhang mit der Eiskernbohrung in Dome C: acht Techniker, die für die Bohrung zuständig sind, und vierzehn Wissenschafter, darunter vier aus Bern. Offizielle Sprache im Camp ist Englisch. In unserem bunt gemischten Team fliessen zudem französische und italienische Wortfetzen in die Gespräche ein – wir entwickeln sozusagen unsere eigene Sprache. Die ersten Arbeitstage verbringen wir mit dem Einrichten der Arbeitsplätze, dem Aufstellen der Messgeräte und ausführlichen Tests, um zu gewährleisten, dass im Anschluss ein routinemässiger Betrieb aufgenommen werden kann. Die Arbeit mit Eis hat ihren Preis, das haben wir erwartet. Die meisten Leute arbeiten bei –20 °C – eine Temperatur, die garantiert, dass das Eis in gutem Zustand bleibt, die für uns aber gewöhnungsbedürftig ist. 4. Dezember 2001 – Wissenschaft im Feld Rund 700 Meter Eis sind die Wissenschafter gegenüber der Bohrequipe im Verzug. Dieses Eis liegt im Lagerraum am Anfang des 40 Meter langen Wissenschaftstrakts zur Verarbeitung bereit. In mehreren Schritten wird das Eis längs der Tiefe für verschiedene Labors und unterschied- Abb. 3: Leitfähigkeitsmessung am Eisbohrkern durch Jacqueline Flückiger. Foto: Niels Kjaer 12 UNIPRESS116/APRIL 2003 Abb. 2: Im Bohrzelt wird rund um die Uhr gearbeitet. lichste Analysen zersägt. Messungen der elektrischen Leitfähigkeit, unter anderem mit einem an der Abteilung für Klimaund Umweltphysik des Physikalischen Instituts der Universität Bern entwickelten Gerät, liefern erste Informationen über den Eiskern. Dünnschnitte ergeben Daten über die Grösse der Eiskristalle und deren Orientierung. Ein Teilstück des Eisbohrkerns wird auf einer geheizten Platte langsam geschmolzen und das Schmelzwasser in einem geheizten Labor mit einem in Bern entwickelten CFA-System (Continuous Flow Analysis) und Ionenchromatographen kontinuierlich auf eine Vielzahl von chemischen Spurenstoffen untersucht. Der grösste Teil des Eises wird jedoch für den Transport in dreissig verschiedene Labors in Europa verpackt und bereitgestellt. Foto: Jacqueline Flückiger Dort sollen später unter anderem Messungen von Treibhausgasen wie CO 2 oder von Isotopenverhältnissen durchgeführt werden. Letztere liefern Informationen über die Temperatur der Vergangenheit. 6. Dezember 2001 – Ein Besuch im Bohrzelt Das Bohrzelt ist gross und hell und steht unweit vom Wissenschaftstrakt. Geschäftiges Treiben herrscht hier zu jeder Zeit, denn die Bohrequipe arbeitet in drei Schichten rund um die Uhr. Gebohrt wird mit einem 11 Meter langen elektromechanischen Bohrer, der an einem Kabel in das Bohrloch hinuntergelassen und über das gleiche Kabel gesteuert wird. Der letzte Durchgang hat rund anderthalb Stunden gedauert. Wieder an der Oberfläche, wird der gebohrte Kern sorgfältig aus dem Rohr des Bohrers heraus geschoben, ein Stück glasklares Eis von rund 3 Meter Länge und einem Durchmesser von knapp 10 Zentimetern. Während im Bohrzelt aufgeräumt und das frisch gebohrte Eis in den Lagerraum gebracht wird, überwacht ein Techniker den Bohrer bereits wieder auf seinem Weg hinunter ins Bohrloch, Routinearbeit, die mit höchster Präzision ausgeführt werden muss. 15. Dezember 2001 – Die Launen des Wetters Schlechtes Wetter und Sturm sind in Dome C eine Seltenheit. Heute aber bläst ein unerbittlicher, heftiger Wind über die Ebene. Feinste Schneekristalle wirbeln durch die Luft, und für einmal bleibt die Sonne hinter den Wolken verborgen. Niemand hält sich länger als unbedingt nötig draussen auf, denn zusammen mit dem Wind wird die Kälte beinahe unerträglich. Im unendlichen Grau empfinden wir das Gefühl der Isolation stärker als sonst, und die schlechte Laune des Wetters scheint bis zum Abend auch auf uns abzufärben. 25. Dezember 2001 – Weihnachten Zwei Freitage über Weihnachten sind ein willkommener Unterbruch und lassen uns Zeit für gesellige Stunden. Dank den für Dome C hochsommerlichen Temperaturen von –20 °C ist es draussen herrlich. Spa- Die europäischen Eiskernbohrungen in der Antarktis Dome Concordia (Dome C) ist einer der unwirtlichsten Orte unseres Planeten. Er liegt auf dem antarktischen Eisschild (3233 Meter über Meer, 75° 06’ Süd, 123°24‘ Ost), gut 1000 Kilometer von der Küste entfernt (Karte unten). Die Jahresmitteltemperatur liegt unter –50 °C, der jährliche Schneefall beträgt knapp 3cm Wasseräquivalent. Aufgrund der geringen Niederschlagsrate bietet sich dieser Ort für eine Eiskernbohrung an, die einen zeitlich möglichst weit zurückreichenden Datensatz zur Erforschung von Klimaschwankungen liefern soll. Seit 1997 sind im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts EPICA (European Project for Ice Coring in Antarctica), die Arbeiten an einer Tiefbohrung durch die rund 3250 Meter dicke Eisschicht von Dome C im Gang. Unter EPICA läuft eine weitere Bohrung auf Kohnen Station in Dronning Maud Land (DML). In dieser Region, die an den Südatlantik grenzt, möchte man einen detailreichen Eisbohrkern gewinnen, der nicht so weit zurückreicht wie derjenige von Dome C, dafür möglicherweise Bezüge zum Klima im Nordatlantischen Raum und in Europa zeigt. Koordiniert wird das EPICA-Projekt (www.esf.org, search: epica) durch die ESF (European Science Foundation) und finanziert durch die zehn beteiligten Länder und die Europäische Union. Die Abteilung für Klima- und Umweltphysik am Physikalischen Institut der Universität Bern ist wesentlich an diesem Projekt beteiligt und wird durch massgebliche Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds, des Bundesamts für Bildung und Wissenschaft sowie des Bundesamts für Energie, unterstützt. ziergänge in die weisse Weite hinaus sowie ein Volleyballturnier im Schnee sorgen für Abwechslung. Das Weihnachtsfest selbst feiern wir mit einem ausgiebigen Festessen und in ausgelassener Stimmung bis in die frühen Morgenstunden hinein, was viele die Distanz von zu Hause ein wenig vergessen lässt. 1. Januar 2002 – Eine besondere Abwechslung Dreimal pro Südsommer wird Dome C von der französischen Küstenstation Dumont d’Urville her über den 1100 Kilometer langen Landweg mit den notwendigen Gütern wie Brennstoff und Baumaterial versorgt. Heute trifft der Schlittenkonvoi, gezogen von schweren Raupenfahrzeugen, zum zweiten Mal an seinem Ziel ein. Bereits Stunden vor der Ankunft haben wir den Konvoi am Horizont erkennen können. Während der Einfahrt der schweren Gespanne in Dome C stehen nun die meisten von uns winkend dem Trassee entlang. Innerhalb von kurzer Zeit verdoppelt sich das Treiben auf der Station, und sowohl für uns wie auch für die Fahrer, die während rund zwölf Tagen unterwegs waren, sind andere Gesichter und Gespräche eine willkommene Abwechslung. 7. Januar 2002 – Alltag und Routine Nach mehr als der Hälfte der Feldsaison sitzt jeder Handgriff, die Arbeitsabläufe sind längst bis in die letzten Details optimiert. Die Arbeitstage sind lang, insbesondere für die Leute, die seit Wochen in zwei Schichten rund um die Uhr die Messapparaturen im Berner CFA-Labor bedienen. Die Tage unterscheiden sich kaum voneinander und sind längst zur Routine geworden. Nur die seltenen Messunterbrüche aufgrund von Defekten vermögen uns aus dem Trott zu werfen. Sie fordern von uns höchste Konzentration, damit die Arbeit so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden kann. 2. Februar 2002 – Ende einer erfolgreichen Saison Seit einigen Tagen stehen Bohrer, Sägen und Messgeräte still. Alles was die unwirtlichen Temperaturen von unter –80 °C im Südwinter nicht überstehen würde, wird für den Rücktransport verpackt. Die bisher erfolgreichste Dome-C-Saison geht dem Ende entgegen. Die Bohrequipe hat UNIPRESS116/APRIL 2003 13 mit einer erreichten Tiefe von 2864 Metern ihr Ziel weit übertroffen. Bis zum Felsbett verbleiben nur noch knappe 400 Meter, schwierig zu bohrende Meter, da die Temperatur im Bohrloch mit grösserer Tiefe schon bald unangenehm nahe an den Druckschmelzpunkt kommen wird. Auch wir Wissenschafter haben mit 1430 Metern verarbeitetem Eis und einer erreichten Tiefe von 2200 Metern einen neuen Rekord aufgestellt. Vorerst ist unsere Arbeit abgeschlossen. Doch zu Hause wird sie weitergehen. Riesige Datenmengen warten darauf ausgewertet zu werden, und eine Vielzahl von zusätzlichen Messungen sind geplant, sobald das Eis in Europa eintreffen wird. 5.-16. Februar 2002 – Der Weg zurück in die Zivilisation Der Rückweg führt uns über die französische Küstenstation Dumont d’Urville, eine Forschungsstation auf einer kleinen Insel, unweit des gewaltigen Inlandeisabbruchs. Eine Woche warten wir auf die Abfahrt des Schiffes und verbringen einzigartige Tage inmitten von Eisbergen und Tausenden von Adéliepinguinen. Nur der stürmische Südliche Ozean fordert uns auf dem kleinen, den Launen der Wellen ausgelieferten Eisbrecher anschliessend noch sechs Tage lang alles ab, bevor wir in Hobart, Tasmanien, nach drei Monaten Forschungsarbeit in der Antarktis zurück in der Zivilisation ankommen. EPICA Saison 2002/2003 Zwischen November 2002 und Februar 2003 nahmen erneut vier Wissenschafter und ein Techniker der Universität Bern an den Feldarbeiten im Rahmen von EPICA (European Project for Ice Coring in Antarctica), in der Antarktis teil. Die Bohrung in Dome C soll mit dem weiterentwickelten Bohrer so weit wie möglich vorangetrieben werden. An der zweiten Bohrstelle Kohnen Station in Dronning Maud Land ist die erste routinemässige Saison geplant. Jacqueline Flückiger und Matthias Bigler Physikalisches Institut, Abteilung Klima- und Umweltphysik 14 UNIPRESS116/APRIL 2003 Erstmals über 500 000 Jahre altes Eis gebohrt Aus Eisbohrkernen können Informationen zu Klimaschwankungen und zur früheren Atmosphäre in hoher zeitlicher Auflösung vergleichsweise direkt rekonstruiert werden. Messungen am Vostok-Eisbohrkern aus der Antarktis (siehe Kasten «Die europäischen Eiskernbohrungen...»), deren Resultate am 3. Juni 1999 in «Nature» publiziert wurden, haben unter anderem ergeben, dass die Treibhausgaskonzentration parallel zu den Temperaturänderungen zwischen Eis- und Warmzeiten geschwankt und einen oberen und unteren Grenzwert in den vergangenen 400 000 Jahren nie überschritten haben. Im Gegensatz dazu liegen die seit Beginn der Industrialisierung drastisch angestiegenen Treibhausgaskonzentrationen heute weit über der natürlichen Obergrenze (30% beim Kohlendioxid, 150% beim Methan). Aufgrund der generell besseren Qualität des Eisbohrkerns von Dome C sowie der heutzutage vielfältigeren und verfeinerten Analysemethoden werden im Vergleich zum Vostok Eisbohrkern detailliertere und umfassendere Erkenntnisse über das Klima der Vergangenheit erwartet. Aus Modellrechnungen und aus der Hochfrequenzleitfähigkeit des Eises von Dome C kann zudem geschlossen werden, dass das Eis aus der im Januar 2002 erreichten Tiefe von 2864 Metern bereits über 500 000 Jahre alt ist (Abb. unten). Damit steht fest, dass die Tiefbohrung von Dome C weiter in die Vergangenheit zurückreicht als diejenige von Vostok und somit das älteste je gebohrte polare Eis liefert. Da mit zunehmender Tiefe die Schichtdicken abnehmen, kann – vorausgesetzt die glaziologischen Eisflussmodelle stimmen – in einer Tiefe von 3050 Metern bereits ein Alter von 800 000 Jahren erwartet werden. Dies würde Einblick geben in eine erdgeschichtliche Zeitspanne mit schnelleren Abfolgen von Eis- und Warmzeiten als in der jüngeren Vergangenheit. Dabei interessiert insbesondere die Reaktion des Kohlenstoffkreislaufes auf diesen Sachverhalt. Abb. 5: Hochfrequenzleitfähigkeitsmessungen (Dieletric Profiling DEP bei 100 kHz, 1mMittelwerte) am Dome-C-Eisbohrkern zeigen im wesentlichen den Säuregehalt des Eises (Daten von Eric Wolff, British Antarctic Survey, Cambridge, England). In der unteren Kernhälfte, die einem Alter von 120 000 bis 500 000 Jahren vor heute entspricht, zeigen die Daten vier Klimazyklen mit den Warmzeiten 5.5 (Eem), 7.5, 9.3 und 11.3. Die hier nicht dargestellte obere Kernhälfte beinhaltet die gegenwärtige Warmzeit (Holozän) und die letzte Eiszeit. Die provisorische Datierung beruht auf einem glaziologischen Eisflussmodell von Dr. Jakob Schwander (Abteilung für Klima- und Umweltphysik am Physikalischen Institut der Universität Bern). Chinesische Dokumente verheissen spektakuläre Klimarekonstruktionen Ungehobene Schätze im Reich der Mitte Aussagen über die Art des laufenden Klimawandels sind von grosser Brisanz. Gesicherte Informationen darüber, wie und warum sich das Klima zur Zeit verändert, sind aber nur mit Blick in die Vergangenheit möglich. Eine lange unterschätzte Rolle bei dieser Rekonstruktion des Klimas vergangener Jahrtausende spielen historische Aufzeichnungen. Ein ungeahnter Reichtum an Klimainformationen lagert in chinesischen Archiven. An der Auswertung dieser Daten sind auch Berner Forscher beteiligt. Hin und wieder brauchen Klimahistoriker starke Nerven – in China jedenfalls. «Die Strassenränder waren mit Leichen gesäumt», heisst es in einem Bericht aus dem Jahr 1017, «das Wetter in Jingshi war bitter kalt, und viele Menschen erfroren.» Aufzeichnungen dieser, aber auch weniger dramatischer Art lagern in chinesischen Archiven in einer Fülle, von der westliche Forscher nur träumen können. Vor allem, weil die Quellen zeitlich so weit zurück reichen wie kaum anderswo auf der Welt. Allein für die Zeit zwischen dem Jahr 137 vor Christus und 1470 etwa sind 30 000 Dokumente verfügbar, die unter anderem über Extremereignisse wie Flut und Dürre Auskunft geben. Dies erklärten chinesische Forscher ihren Kollegen aus dem Westen im vergangenen Oktober an einem Workshop zum Thema «Historische Klimarekonstruktion über Ostchina». Vor allem in den vergangen Jahren haben chinesische Wissenschafter Teile dieses klimahistorischen Schatzes gehoben, und nun folgen Auswertungen der gewonnenen Daten. Am Workshop in Peking etwa präsentierten die Pekinger Klimatologen einen rekonstruierten Wintertemperaturverlauf für ausgewählte Gebiete ihres Landes für die vergangenen 2000 Jahre. Die wärmsten Jahre dieser Periode, so eine der Erkenntnisse, lagen zwischen 1230 und 1250. Ab 1310 nahmen die Temperaturen schnell ab. Ein Trend, der sich bis ins späte 19. Jahrhundert fortsetzte. Im 20. Jahrhundert allerdings setzte eine dramatische Erwärmung ein. An Resultaten dieser Art zeigt die weltweite Forschungsgemeinde zunehmend grösseres Interesse. So hat zum Beispiel das internationale, auf den Klimawandel in der Vergangenheit ausgerichtete Forschungsprogramm PAGES (Past Global Changes) China zu einem seiner Schwerpunkte bestimmt. Die aussergewöhnlich vielfältigen historischen Quellen (siehe Kasten «Jahrhundertdürre kostete Kaiser...»), so die Hoffnung, sollen besseren Einblick ins vergangene Klimageschehen ermöglichen. Insbesondere, was die dem Monsun-Regime unterworfenen Gebiete Asiens angeht. Interesse an historischen Dokumenten erwacht Die Überzeugung, auch schriftliche Quellen könnten zur Rekonstruktion der Klimageschichte beitragen, hat sich auf der ganzen Welt erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Dies unter anderem durch die Arbeit von Christian Pfister vom Historischen Institut der Universität Bern. Lange herrschte unter den Klimaforschern die Meinung vor, natürliche Archive wie Baumringe, Eisbohrkerne, Seesedimente oder Gletscher böten Daten genug. Rückschlüsse aufs regionale Klimageschehen mit einer hohen zeitlichen Auflösung aber lassen sie kaum zu. Auch chinesische Klimatologen interessierten sich lange Zeit nicht sonderlich für Wetteraufzeichnungen, Tagebücher oder Reisenotizen aus dem Reich der Mitte. Sie stützten sich für Rekonstruktionen zum Beispiel auf die Analyse von Baumringen aus Tibet. Dies hat sich nun, parallel zum gewachsenen Interesse im Westen, geändert. In den vergangenen Jahren finanzierte die chinesische Akademie der Wissenschaften eine eigentliche Kampagne zur Aufarbeitung von klimageschichtlich relevanten Dokumenten. Ganze Equipen von Geografen, Historikern und Physikern durchforsteten die Archive und übertrugen die gesichteten Informationen auf Karteikarten. (Beispiel: «Während der Nord Song Dynasty (960-1126) wuchsen Lychees in den Präfekturen von Quan, Fu, Zhang, Jia, Shu, Xinghua, Guangdong und Gaungxi.») Diese Karteikarten lagern nun zu Hunderttausenden an verschiedenen Orten (China Historical Archive Library sowie lokale Bibliotheken), zugänglich gemacht, wie Besucher anlässlich des Klimaworkshops staunend feststellten, in drehbaren Paternoster-Archiven. Der Berner Beitrag an der Pekinger Klimatagung war eine Rekonstruktion der Niederschlagsmengen für die Landgebiete Ostchinas. Die Rekonstruktion umfasst 530 Jahre und beschränkt sich jeweils auf Mai bis September, die Zeit des Sommermonsuns, in der bis zu 90 Prozent der jährlichen Regenmenge fällt. Das untersuchte Gebiet ist vom Gelbem Fluss und vom Yangtse geprägt und gilt traditionell als besonders überschwemmungsgefährdet. Welchen Einfluss die regelmässig wiederkehrenden Fluten auf Gesellschaft und Wirtschaft haben, zeigte sich 1998, als ein katastrophales Hochwasser 3600 Tote forderte und Schäden in der Höhe von 45 Milliarden Franken verursachte. Für die globale Rückversicherungsbranche war dieses Ereignis der teuerste Schaden des Jahres. Aus Index Niederschlagsmengen ermitteln Grundlage der Rekonstruktion waren weit über 2000 schriftliche Aufzeichnungen aus so genannten «Zhi», lokalen Chroniken mit Informationen über den Verlauf des Sommermonsuns ab 1470. Die Dokumente stammen aus rund 100 Ver- UNIPRESS116/APRIL 2003 15 Abb. 1: Beispiele von rekonstruierten Sommerniederschlägen Chinas. Links: Niederschlagssummen (in mm) für einen sehr trockenen Sommer (1640) ohne nennenswerte Überschwemmungen in ganz China. Mitte: Niederschlagssummen (in mm) für einen sehr feuchten Sommer (1746) mit zahlreichen Überschwemmungen, vor allem im Mündungsgebiet des Gelben und Yangtse-Flusses. In beiden Sommern nehmen die Regenmengen von Nordwesten nach Südosten zu. Die grössten Unterschiede zwischen diesen Karten liegen vor allem im Einzugsgebiet des Yangtse-Flusses, der bei rund 30 °N von Westen nach Osten fliesst. Im Sommer 1746 liegen die Niederschlagsmengen deutlich höher als im Sommer 1640 ohne Überschwemmungen. Der zweite Unterschied liegt im Mündungsgebiet des Gelben Flusses bei rund 37 Grad Nord und 120 °E mit höheren Regenmengen im Sommer 1746. Zum Vergleich: Im Schweizerischen Mittelland fallen zwischen Mai und September rund 500-600 mm Regen. Rechts: Geografische Übersicht Ostchinas. waltungsbezirken. Die darin enthaltenen Wetter- und Klimainformationen wurden in einem nationalen Forschungsprogramm von über 100 Chinesischen Wissenschaftern aus mehr als 30 Instituten, Universitäten und meteorologischen Diensten verschiedener Provinzen gesammelt und kritisch begutachtet. Sie systematisierten die qualitativen Informationen («nicht genügend Regen», «Dörfer der Umgebung überflutet») und erstellten daraus einen so genannten Dryness/Wettness-Index. Darin wird jedem Sommer auf einer fünfstufigen Skala ein Wert zugeordnet. Die Stufen reichen von sehr trocken (keine Überschwemmungen) bis extrem feucht (aussergewöhnliche Überschwemmungen in vielen Teilregionen). Der Ansatz der Berner Gruppe für Klimatologie und Meteorologie unter der Leitung von Heinz Wanner und Jürg Luterbacher war nun, anhand dieser Indizes absolute Niederschlagsmengen zu rekonstruieren. Möglich ist dies, da für die letzten hundert Jahre nicht nur qualitative, sondern auch instrumentell gemessene Niederschlagsmengen existieren. Obwohl sich diese Angaben auf relativ wenige Messstellen beschränken, liessen sich daraus mit Hilfe statistischer Methoden die Niederschläge sowie deren Unsicherheiten für rund 3500 hypothetische Standorte ermitteln. Diese Beziehungen 16 UNIPRESS116/APRIL 2003 wurden in einem nächsten Schritt auf die 100 Bezirke mit Wetness/Dryness-Informationen vor 1901 angewendet und damit schliesslich die Niederschläge über Ostchina geschätzt. Bei diesem Ansatz wird vorausgesetzt, dass der Zusammenhang, der aus der modernen Instrumentenperiode abgeleitet wurde, auch in der Vergangenheit seine Gültigkeit hatte. Weiter geht man davon aus, dass die Qualität der abgeleiteten Indizes über die Zeit gleich vertrauenswürdig bleibt. Historische Dokumente helfen Simulationen verbessern Auch wenn es sich bei diesen Werten um – wenn auch qualifizierte – Schätzungen handelt, bieten sie gegenüber einem Dryness/Wetness-Index beachtliche Vorzüge. Die Bearbeitung der historischen Daten mit so genannt multivariaten statistischen Methoden ermöglicht: • Anhaltspunkte über die Unsicherheit der Schätzungen für jeden einzelnen Gitterpunkt. Vor allem aber erlaubt die Niederschlagsrekonstruktion einen aussagekräftigeren Blick in die Vergangenheit. Sind die rekonstruierten Daten erst einmal analysiert, werden Trends ersichtlich und lassen sich möglicherweise Muster bei den immer wiederkehrenden Trockenperioden und Überschwemmungen erkennen. Und schliesslich können die historischen Aufzeichnungen in der jetzt vorliegenden Form auch in Computermodelle eingespeist werden. Klimarekonstruktion ist Vertrauenssache Die Zusammenarbeit zwischen den Klimatologen in China und an der Uni Bern, die auf verschlungenen Wegen durch persönliche Kontakte zu Stande kam, soll auch künftig weitergeführt werden. Denkbar ist in nächster Zeit etwa eine gemein• Eine hohe räumliche Auflösung. Die same Publikation der rekonstruierten 530 3500 Messstandorte entsprechen Git- Jahre Sommermonsun-Niederschläge, deterpunkten mit einem Abstand von 60 ren Variabilität und des Zusammenhangs Kilometern. mit der atmosphärischen Zirkulation. Da• Eine feine Auflösung der Nieder- bei könnte der chinesische Beitrag etwa schlagsintervalle. Niederschlagsmen- aus einer Einordnung der historischen gen können in Millimeterwerten dar- Quellen bestehen – Einschätzungen, die gestellt werden und nicht bloss auf auf Distanz und losgelöst vom jeweiligen einer fünfstufigen Skala. Kontext, kaum vorzunehmen sind. Jahrhundertdürre kostete Kaiser den Thron Zeng Guofan zählte zu den einflussreichsten chinesischen Persönlichkeiten seiner Zeit – und sein Nachlass ist für heutige Klimaforscher von unschätzbarem Wert. Grund: Der prominente General und Politiker war ein disziplinierter Tagebuchschreiber, der bis zu seinem Tod 1872 praktisch täglich Bemerkungen zu Wind und Wetter notierte. Aus klimahistorischer Sicht besonders interessant ist, dass Zeng im Laufe seiner Karriere in verschiedensten Gebieten Chinas stationiert war. Seine Aufzeichnungen decken grosse Teile des Landes ab. Die Tagebücher des Zeng Guofan sind nur eines unter Tausenden von Beispielen für historische Dokumente, die chinesische Archive zu einer wahren Fundgrube für Klimarekonstrukteure machen. Die Quellen sind von erstaunlicher Breite. Sie reichen von lokalen und regionalen Chroniken, so genannten «Zhi», die seit Jahrhunderten extreme Wetterereignisse praktisch lückenlos dokumentieren, bis zur offiziellen Geschichtsschreibung der einander folgenden Herrscherdynastien. Das Schicksal des legendären Ming-Regimes beispielsweise war aufs Engste mit dem Klimageschehen verknüpft. Eine grosse Dürreperiode um 1640 liess die Ernten im Norden Chinas mehrere Jahre hintereinander praktisch ausbleiben. Die allgemeine Hungersnot, die sich in der Folge breit machte, gipfelte in der gewaltsamen Auflehnung der Bauern gegen ihre Herrschaft und war einer der Hauptgründe für den Sturz der MingDynastie im Jahre 1643. Was zum Beispiel sollen Berner Klimatologen der Information entnehmen, dass die Schneedecke im Gebiet des Taihu Sees im Jahr 1132 den ganzen Winter über liegen blieb? Denkbar ist, dass laufend neuer Schnee fiel und der Winter besonders niederschlagsreich war, oder aber, dass ein einmaliger Schneefall wegen konstanter Kälte den ganzen Winter liegen blieb. Der breite Interpretationsspielraum ist nur eine der Tücken. Schon auf die Qualität der Aufzeichnungen ist nicht immer Verlass. Denn die Wetterbeobachter versahen ihre Aufgabe mit unterschiedlich grossem Pflichtgefühl. Derartige Fehlerquellen lassen sich aber mit so genannten Plausibilitätsabschätzungen wenigstens zum Teil erkennen. So oder so braucht es viel Vertrauen, wenn Klimarekonstrukteure bei ihrer Arbeit auf historische Aufzeichnungen bauen. Ob die Dokumente aus den Berner Alpen des 15. Jahrhunderts stammen oder aus der Präfektur Gunagxi zur Zeit der Song-Dynastie spielt dabei allerdings keine Rolle. Abb. 2: Aus einem Manuskript von Zeng Guofan Dr. Jürg Luterbacher, Gruppe für Klimatologie und Meteorologie des Geographischen Instituts und Nationaler Forschungsschwerpunkt Klima (NFS) Kaspar Meuli, NFS Klima Ausgesprochen gut dokumentiert sind in China – wie auch anderswo auf der Welt – klimatische Extremereignisse. Allein für die Zeit zwischen 1471 und 1950 werteten chinesische Forscher 110 000 Dokumente mit entsprechenden Beschreibungen aus. Systematische Wetteraufzeichnungen gibt es in China seit 1720, als die lokalen Beamten den Auftrag erhielten, künftig über Sonnenschein, Niederschlag und Wind präzise Buch zu führen. Die gesammelten Werte hatten sie monatlich an den kaiserlichen Hof weiterzuleiten. Aufgezeichnet wurden aber auch Daten zur Bodenfeuchtigkeit. Und besonders detailreiche Angaben lieferte der Beamtenapparat zu Umfang und Qualität der Ernten – eine wichtige indirekte Quelle zur Veränderlichkeit des Klimas. Ergiebig für Klimarekonstruktionen sind auch Informationen zu Entwicklungs- und Wachstumsstadien von Pflanzen, die so genannte Phänologie. (Beispiel: «Im ersten Mondmonat blühten in Luoyang die Aprikosen.») Und schliesslich liefern auch ganz persönliche Aufzeichnungen wertvolle Hinweise: Reiseberichte, Tagebücher und sogar Gedichte. Herzlicher Dank gebührt folgenden Personen, die uns wertvolle Informationen zu historischen chinesischen Dokumenten sowie Grafiken zur Verfügung gestellt haben: Dr. Daoyi Gong (Normal University Peking), Prof. Piyuan Zhang, Prof. Quansheng Ge und Dr. Jingyun Zheng (Institute of Geographic Sciences, Chinese Academy of Sciences, Peking). UNIPRESS116/APRIL 2003 17 Von der Umsetzung einer viel versprechenden Idee Vernetzung natürlicher Klimaarchive Klimaforscher aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen versuchen, für die letzten 500 Jahre im Oberengadin ein kohärentes, hochaufgelöstes Bild der Klimageschichte zu schaffen. Doch die Eigenarten der einzelnen Umweltarchive machen die Vernetzung zur Herausforderung. Aufgrund des ungeeigneten Gletschereises im Bernina-Massiv muss die ursprünglich aufs Oberengadin beschränkte Testregion bis ins Wallis erweitert werden. Doch damit sind noch nicht alle Probleme vom Tisch. Erst eine verlässliche Kalibrierung der einzelnen Umweltarchive und eine sorgfältige Umwandlung der erhobenen Daten in Temperatur- und Niederschlagsschätzungen wird zeigen, ob in den verschiedenen Archiven die Klimarekonstruktionen zuverlässig gelingen. Steil windet sich der schmale Wanderweg von der Bernina-Passstrasse hinauf Richtung Diavolezza, und die umfangreiche Feldausrüstung macht den Weg nicht minder beschwerlich. An diesem Tag steht weder der Helikopter zur Verfügung, noch liegt der zu beprobende See in der Nähe einer Zufahrtstrasse. Das Ziel ist der Lej da Diavolezza, 2573 m ü.M., einer von 30 Seen, die im Engadin im Rahmen des VITA-Projekts (siehe Kasten «VITA im Überblick») beprobt werden. Nach 70 Minuten Fussmarsch erreicht das dreiköpfige Team das Ziel. Da insgesamt schon zwei Dutzend Seen beprobt sind, ist das Team eingespielt, die Handgriffe sitzen. Das Gummiboot wird aufgepumpt, das Echolot installiert, der Sedimentbohrer vorbereitet, und die Wasserchemie-Messgeräte werden geeicht. Die Beprobung dauert im Abb. 1: Lej da Diavolezza, 2573 m ü.M., einer der beprobten Seen im Engadin. Foto: Oliver Heiri 18 UNIPRESS116/APRIL 2003 Idealfall etwa zwei Stunden und beginnt mit dem Ausfindigmachen der tiefsten Stelle im See. Dort werden in verschiedenen Wassertiefen zuerst die WasserchemieMessungen vorgenommen und Parameter wie pH, Leitfähigkeit und Temperatur direkt vor Ort bestimmt. Für zusätzliche Analysen der Nährstoffe und weiterer Spurenelemente im Labor werden zwei Wasserproben mitgenommen. Anschliessend wird der einfache Sedimentbohrer, welcher aus einem offenen PVC-Rohr besteht, dessen Schliessvorrichtung sich bei Zugsentlastung selber auslöst, langsam im Seeboden versenkt, um Probematerial der Sedimentoberfläche zu gewinnen. Wozu dienen natürliche Umweltarchive im Alpenraum? Die instrumentellen Klimamessungen setzen in den Alpen ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Aber wie haben Temperatur und Niederschlag im Alpenraum vorher variiert? Und wie werden sie in den natürlichen Klimaarchiven überhaupt gespeichert? Angesichts der Klimamodelle, welche eine zunehmende Variabilität und Amplitude des künftigen Klimas projizieren, spielen Kenntnisse über langfristige, natürliche Klimaveränderungen eine zunehmend wichtige Rolle. Bei diesem Punkt hakt das Projekt VITA ein: Das Klima der letzten 500 Jahre soll in hoher Auflösung studiert und rekonstruiert werden, um die fehlenden instrumentellen Messungen zu kompensieren. Voraussetzungen für die Vernetzung der Klimaarchive Das geborgene Oberflächensediment vom Lej da Diavolezza wird auf die relative Häufigkeit der biologischen Klimaindikatoren (siehe Kasten «Klimaindikatoren in Seesedimenten») untersucht. Mit 30 Seen entlang eines Höhengradienten wird es möglich sein, die Ansprüche der einzelnen Indikatorarten genau zu bestimmen und zu kalibrieren. Die gewonnene Information lässt sich dann in Transferfunktionen umwandeln, die an Sedimentkernen angewendet werden können, die mehrere Kasten: «Wie datiert man natürliche Klimaarchive?»). Erst wenn genaue Datierungen vorliegen, können einzelne Ereignisse oder Trends in den unterschiedlichen Archiven verfolgt und verglichen werden. Mit Ausnahme der Torfkerne ist allen Archiven eine hohe zeitliche Auflösung gemeinsam, die jahrgenaue Rekonstruktionen ermöglichen werden. Abb. 2: Entnahme von Sedimentproben auf dem Lej da Diavolezza. Foto: Andy Lotter hundert Jahre zurückreichen. Somit können die historischen Bedingungen in einem beliebigen Engadiner See rekonstruiert werden. Neben Seesedimenten werden im Oberengadin auch Arven-Baumringe und Gletschereis beprobt. Doch am Piz Zupo im Bernina-Massiv spielt die Natur den Wissenschaftern einen Streich, und die ursprüngliche Idee von VITA, nämlich die Vernetzung der Umweltarchive in der «Testregion Oberengadin», muss neu definiert werden. Das Gletschereis am Piz Zupo weist ungünstige Eigenschaften für eine Klimarekonstruktion auf, d.h. es ist ab einer gewissen Tiefe temperiert, und die jährlichen Schichtungen, die eine genaue Datierung erlauben würden, sind teilweise aufgelöst. Zusätzlich reicht der 40 m lange Eiskern nur etwa 10 Jahre weit zurück, zu wenig für die Interessen von VITA. Als Konsequenz wird die ursprünglich eng gefasste Testregion räumlich wesentlich erweitert, und eine weitere Bohrung wurde am Fieschergletscher (Wallis) durchgeführt. Der Kern des Fieschergletschers ist mit einer Länge von 150 m äusserst ergiebig und wird den Bedürfnissen für VITA voraussichtlich weit besser entsprechen als der Eiskern des Piz Zupo. Doch mit den erfolgreichen Feldkampagnen sind noch längst nicht alle Probleme vom Tisch, im Gegenteil. Die gewonnenen Proben werden nun analysiert und ausgewertet. Die gemessenen Werte in Eiskernen, die Baumringbreiten und auch die relative Häufigkeit von biologischen Organismen im Seesediment müssen in vergleichbare Messgrössen, z.B. Sommertemperatur, umgerechnet werden. Um die Archive zu vernetzen, ist eine robuste Chronologie unabdingbar (siehe Vergleich von natürlichen und historischen Klimaarchiven Die Klimarekonstruktionen von VITA sollen unter anderem auch aufzeigen, wie gut die verschiedenen Umweltarchive das Klima überhaupt aufzuzeichnen vermögen. Einerseits ist ein Vergleich zwischen den einzelnen Archiven am selben Ort möglich. Das Risiko besteht, dass unterschiedliche Archive trotz ihrer räumlichen Nähe das Klima unterschiedlich aufzeichnen und somit die archivspezifischen Umwelteinflüsse grösser sind als die regionalen Klimamuster. Beispielsweise könnte das Vorkommen von Diatomeen (Kieselalgen) seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch den Eintrag von Dünger (Eutrophierung) als Folge der zunehmen- VITA im Überblick VITA ist die Abkürzung für «Varves, Ice-cores and Tree rings – Archives with Annual Resolution», ein Projekt, welches vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes (NFS) Klima initiiert wurde. Klimaforscher rekonstruieren in unterschiedlichen natürlichen Umweltarchiven (Sedimentkerne, Baumringe, Eisbohrkerne, Torfkerne) mit möglichst hoher zeitlicher Auflösung das Klima der letzen 500 Jahre. Es ist das erste Mal überhaupt, dass eine räumlich eng begrenzte Vernetzung von Archiven angestrebt wird. Varven in Seesedimentkernen (Abb. 3) Varven werden unter besonderen Umständen bei der Ablagerung von Seesedimenten gebildet. Helle und dunkle Schichten repräsentieren einen Jahreszyklus, wobei verschiedene Faktoren wie die Seetiefe, das Klima und geochemische Prozesse die Varvenbildung beeinflussen. Foto: Peter Rosén Eisbohrkerne (Abb. 4) Eisbohrkerne von alpinen Gletschern enthalten Informationen zur chemischen Zusammensetzung und Herkunft der Luftmassen. Der Schnee wird auf den Gletschern fortlaufend abgelagert und kontinuierlich von Firnschnee zu Eis verdichtet. Im Bild sind zusätzlich dunkle Schichten von Saharastaubeinträgen sichtbar. Foto: Anja Eichler Baumringe (Abb. 5) Die Dichte und Breite eines Baumrings reflektieren hauptsächlich die Temperatur während der Vegetationsperiode. Neben klimatischen Faktoren beeinflussen beispielsweise auch Krankheiten, das Alter und der Standort des Baumes die Bildung von Jahrringen. Foto: Jan Esper UNIPRESS116/APRIL 2003 19 den Siedlungstätigkeit beeinflusst worden sein, während diese Eutrophierung die Arvenbaumringe an der Waldgrenze nicht beeinflusst. Die konkreten Vergleiche könnten also durchaus unterschiedliche Resultate liefern. Andererseits steht auch die Möglichkeit offen, die VITA Daten mit Rekonstruktionen aus historischen Quellen zu vergleichen. Trotz der Fülle von historischen Klimadaten ist der Vergleich jedoch nicht unproblematisch. Oft wurden historische Ereignisse nämlich in tiefen Lagen des Mittellandes aufgezeichnet, und es muss erst noch überprüft werden, inwiefern sie für den Alpenraum repräsentativ sind. In der Luftseilbahn hoch über dem Lej da Diavolezza schweben zurzeit Skifahrer der Wintersonne entgegen, derweil Kieselalgen und Zuckmückenlarven unter dem dicken Eis auf bessere Zeiten warten. Diese kommen bestimmt, spätestens im nächsten Frühling, wenn die Eisdecke schmilzt. Dr. Christian Bigler Institut für Pflanzenwissenschaften Biologische Klimaindikatoren in Seesedimenten Im Rahmen von VITA werden Kieselalgen (Diatomeen) und Kopfkapseln von Zuckmückenlarven (Chironomiden) als Klimaindikatoren genauer unter die Lupe genommen. Diatomeen sind einzellige Algen, die äusserst vielfältige und formenreiche Kieselhüllen besitzen. Die ornamentartigen Strukturen der Hüllen sind wichtige Unterscheidungsmerkmale. Generell werden die Kieselalgen aufgrund ihrer Lebensform in zwei Hauptgruppen unterteilt, einerseits die Centrales, welche radiär aufgebaut sind (siehe Foto) und vorwiegend freischwimmend als Plankton vorkommen, und andererseits die Pennales, welche einen schiffchenförmigen Aufbau aufweisen und meist angeheftet an verschiedenen Substraten (z.B. Steine, Sand, Sedimentoberfläche) oder als Epiphyten auf Wasserpflanzen wachsen. Chironomiden sind nicht-stechende Mücken, die das Larvenstadium im Wasser durchlaufen. Die Kopfkapseln der Chironomiden-Larven werden im Sediment abgelagert und konserviert. Sie können zumindest bis zur Gattung – im Idealfall auch bis zur Art – bestimmt und zugeordnet werden. Beide Organismengruppen eignen sich hervorragend als paläolimnologische Indikatoren, da sie im Sediment oft gut erhalten bleiben und in hoher Anzahl abgelagert werden; zudem haben einzelne Arten genau definierte ökologische Ansprüche bezüglich Temperatur, Säuregrad (pH), Sauerstoff- oder Nährstoffkonzentration. Abb. 6: Planktische Kieselalge Cyclotella antiqua (links)und Kopfkapsel einer Zuckmückenlarve der Gattung Dicrotendipes (rechts): zwei Beispiele für mikroskopische Klimaindikatoren in Seesedimenten. Fotos Christian Bigler, Oliver Heiri 20 UNIPRESS116/APRIL 2003 Wie datiert man natürliche Klimaarchive? Präzise Datierungen der natürlichen Klimaarchive sind die Grundvoraussetzung, die verschiedenen Archive zu vernetzen. Eine genaue Altersbestimmung erlaubt festzustellen, welche einzelnen Ereignisse in Seesedimenten (Varven), Baumringen und Eisbohrkernen überhaupt festgehalten sind, und ob sie synchron oder mit einer gewissen Verzögerung aufgetreten sind. In verschiedenen Archiven werden unterschiedliche Datierungsmethoden angewendet. Der Kalender in geschichteten Seesedimenten wird unter anderem mittels Zählen der dunklen und hellen Schichten (Varven) in Dünnschliffpräparaten ermittelt. Bei undeutlichen oder fehlenden Varven können für den Zeitraum der letzten 150 Jahre auch radiometrische Methoden beigezogen werden, wie die Aktivitätsmessung von Blei- und Cäsium-Isotopen, welche charakteristische Aktivitätsmuster zeigen. Um ältere Sedimentsequenzen wie auch Torfkerne zu datieren, wird die Radiokarbonmethode verwendet, welche auf dem Verhältnis von unterschiedlichen Kohlenstoff-Isotopen beruht. Die Altersbestimmung von Baumringen basiert auf dem Zählen der einzelnen Jahrringe, die sich aufgrund von Witterungsbedingungen in der Breite unterscheiden. Werden Jahrringbreiten über den ganzen Stammquerschnitt analysiert, lässt sich eine charakteristische Jahrringbreitenkurve ableiten. Die Jahrringbreitenkurven von verschiedenen Bäumen derselben Art lassen sich verknüpfen, wenn der Überlappungsbereich genügend gross ist. Anhand dieser Methode können auch Hölzer, welche zu einem unbestimmten Zeitpunkt gefällt wurden, in die Chronologie eingepasst und aufs Jahr genau datiert werden. Für die Datierung von Eisbohrkernen können einerseits – ähnlich wie bei Baumringen – die jährlichen Schichtungen analysiert und gezählt werden. Die Schichtungen entstehen aufgrund von saisonalen Temperaturunterschieden, welche die Eigenschaften des Niederschlages beeinflussen. Andererseits kann auch das Verhältnis von Sauerstoffisotopen zur Datierung verwendet werden. Es unterliegt saisonalen, temperaturabhängigen Schwankungen, wobei im Winter der Anteil an 18O-Isotopen relativ hoch ist. Auswirkungen der Juragewässerkorrektion auf das Lokalklima Klimawandel vor der Haustür Die Juragewässerkorrektion im 19. Jahrhundert ist der grösste menschliche Eingriff in eine Schweizer Naturlandschaft. Etwa 400 km2 Feuchtgebiete wurden in Kulturland umgewandelt – eine für helvetische Verhältnisse gigantische Umwandlung der Landschaft. Wie hat sich diese Landnutzungsänderung auf das Klima im Seeland ausgewirkt? Eine Berner Studie liefert erste Ergebnisse. «Den Rettern aus grosser Not. Das dankbare Seeland». Mit dieser Inschrift erinnert in Nidau ein Denkmal mit Büste und Medaillon an Johann Rudolf Schneider und an Robert La Nicca. Der politisierende Arzt und der Bündner Oberingenieur waren die beiden treibenden Kräfte der ersten Juragewässerkorrektion (1868– 1891). Die positiven Auswirkungen dieser ingenieursmässigen Grosstat sind unbestritten (siehe Kasten: «Malariagebiet»). Doch hatten die beiden Juragewässerkorrektionen auch Auswirkungen, die für die Initianten des Jahrhundertwerks nicht abschätzbar waren: Die Umgestaltung des Seelands und die veränderte Nutzung der Landschaft wirkte sich auf das lokale Klima aus. Tendenziell sind im Sommer die Temperaturen gesunken und hat die Luftfeuchtigkeit zugenommen. Möglich geworden sind solche Aussagen dank Computermodellierungen, die Vergleiche zwischen den heutigen Klimabedingungen und jenen vor der ersten Juragewässerkorrektion zulassen. Um die Klimawirksamkeit der Landnutzungs- Abb. 1: Überschwemmung bei Aegerten (Oberer Kanalweg) vor der zweiten Juragewässerkorrektion. änderungen zu simulieren, haben wir in unserer Studie1 ein Computermodell mit einer hohen räumlichen Auflösung von 1×1 km 2 verwendet. Modelliert wurden die meteorologischen Prozesse in einem Bereich von 150×80 km 2 , der die südlichen Teile des Juras, das Seeland und einen Teil der Voralpen umfasst. Es galt dabei nicht zuletzt, mit Hilfe des Modells die klimatischen Bedingungen im Seeland vor rund 150 Jahren zu ermitteln, denn flächendeckende Messdaten für diese Zeit gibt es nicht. Unterste Atmosphärenschicht von besonderem Interesse Als Grundlage für die Vergleichsberechnungen wurde mittels historischer Karten die Landnutzung vor den Korrekturmassnahmen rekonstruiert. Die Daten zur heutigen Landnutzung entstammen der schweizerischen Arealstatistik der Jahre 1979–85. Danach wurden den jeweiligen Landnutzungstypen Modellgrössen zugewiesen, welche die Boden-, die Oberflächen- sowie die Pflanzeneigenschaften beschreiben und als Eingabegrössen für das Computermodell dienten. 1siehe: http://www.giub.unibe.ch/klimet/iluclims/ Die Gewässer des Seelands vor der ersten Korrektion Abb. 2: Auswirkungen der ersten Juragewässerkorrektion auf die Gew ä sser des Seelands (nach Ehrsam, 1974: Zu sammenfassende Darstellung der beiden Juragewä sserkorrektionen). Die Gewässer des Seelands nach der ersten Korrektion UNIPRESS116/APRIL 2003 21 Modelliert wurde schliesslich das meteorologische Geschehen an drei typischen Sommertagen. Um die Modellrechnungen mit der Wirklichkeit vergleichen und somit abschätzen zu können, wie gut das Modell in der Lage ist, das regionale Klimageschehen wiederzugeben, rechneten wir mit den Wetterbedingungen von drei realen Sommertagen (4.–6. Juli 1998). Dies erlaubte es, die Resultate der Simulation mit meteorologischen Messungen derselben drei Tage zu vergleichen und Korrekturen vorzunehmen. Mit den identischen Wetterbedingungen simulierten wir anschliessend drei Sommertage zur Zeit vor den Juragewässerkorrektionen. Die Modellgrössen, welche die Landnutzung betreffen, wurden den Verhältnissen vor dem Eingriff angepasst. Aus dem Unterschied dieser zwei Modellläufe konnte schliesslich der Einfluss der Landnutzungsänderungen auf das regionale Tagesklima von typischen Sommertagen ermittelt werden. Von besonderem Interesse war die Temperatur in den untersten Metern der Atmosphäre. Einerseits stellt dieser oberflächennahe Bereich der Atmosphäre den menschlichen Lebensraum dar; Veränderungen in dieser Luftschicht können somit auch von Menschen wahrgenommen werden. Andrerseits ist die Lufttemperatur nahe der Oberfläche auch für die Landwirtschaft von grosser Bedeutung. Folgen der Gewässerkorrektion überlagern Treibhauseffekt Die Resultate dieser Simulation waren von ihrer Tragweite her nicht unbedingt zu erwarten. Unsere Zahlen deuten darauf hin, dass der lokale Effekt der Juragewässerkorrektionen in der Vergangenheit eine deutlich stärkere Wirkung auf das Sommerklima des Seelands hatte als der globale Treibhauseffekt. Die veränderte Landnutzung hat die Folgen der globalen Klimaerwärmung im Seeland teilweise überdeckt. Im Einzelnen lieferte unsere Studie folgende Ergebnisse: Insgesamt haben die Eingriffe in die Landschaft – insbesondere die 1. Juragewässerkorrektion, aber auch verloren gegangener Wald – zwi- schen 1850 und heute zu einer Abkühlung geführt. Das Tagesmittel der Temperatur der modellierten Sommertage hat bis zu 0.3 °C abgenommen. Tagsüber lag dabei die Temperaturabnahme im Bereich von 0.1 °C bis 0.3 °C, während gegen Ende der Nacht eine Temperaturabnahme von bis zu 0.6 °C berechnet wurde. Ausgeprägte Temperaturunterschiede in der Nacht Grosse Unterschiede zwischen Tag und Nacht zeigten sich auch bei den räumlichen Mustern der Temperaturänderungen. Am Tag sind die Temperaturunterschiede sehr ungleichförmig verteilt. Gebieten mit deutlicher Temperaturabnahme stehen solche mit einer Zunahme der Temperatur gegenüber. So wurde in seit der ersten Juragewässerkorrektion wieder bewaldeten Gebieten tagsüber eine um bis zu 1.0 °C gestiegene Temperatur berechnet. Allerdings betrifft dies nur einen sehr kleinen Teil des Untersuchungsgebiets am nördlichen Ufer des Bielersees. Umgekehrt verhält es sich bei Flächen, die früher bewaldet waren: Für diese zeigten die Modellrechnungen während dem Tag eine Temperaturabnahme von bis zu 2.0 °C (siehe Abb. 3). In Gebieten, wo der Waldverlust seit der Mitte des 19. Jahrhunderts relativ hoch ist – in der Gegend um Aarberg und Lyss und auch teilweise am Jäissberg südlich des Bielersees – hat diese Temperaturabnahme das lokale Klima geprägt. Insgesamt ist der Waldanteil im Untersuchungsgebiet um rund 30% gesunken. Verändert hat sich auch das lokale Klima rund um den Murtensee. Als Folge des gesunkenen Wasserspiegels wurden sowohl am westlichen wie auch am östlichen Ufer neue Landflächen gewonnen, welche heute zumeist bewaldet sind. Zusätzlich wurden weite Teile um den Murtensee trockengelegt, die heute landwirtschaftlich genutzt werden. Diese Landgewinne haben zu deutlich wärmeren Tagestemperaturen in diesem Gebiet geführt. Abb. 3: Temperaturunterschiede im Vergleich zur Situation vor der ersten Juragewässerkorrektion für zwei typische Landnutzungsveränderungen. Negative Differenzen zeigen eine Abkühlung im Vergleich zur Zeit vor 1850. Der schattierte Bereich gibt jeweils die Unsicherheit von einer Standardabweichung an. 22 UNIPRESS116/APRIL 2003 Die deutlichsten Temperaturunterschiede allerdings zeigten sich während der Nacht, wobei die grösste Abkühlung kurz vor Sonnenaufgang erreicht wird. Betroffen von diesen kühleren Nacht-Temperaturen sind vor allem ehemalige Moorflä- tiven Charakter für andere Regionen im In- und Ausland – Gebiete, in denen Gewässerkorrektionen, Trockenlegungen von Feuchtgebieten oder Landgewinnung in Küstenzonen ähnliche Auswirkungen auf das lokale und regionale Klima bewirken können. Dies sind Mechanismen von allgemeiner Bedeutung, die noch lange nicht geklärt sind. Denn insgesamt ist die Forschung noch weit davon entfernt, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Landnutzung und Klima in allen Details zu verstehen. Insbesondere ist es schwierig, Aussagen über die Auswirkungen von globalen Landnutzungsänderungen auf das regionale und lokale Klima zu machen. Dies gilt sowohl für die Zukunft wie auch für die Vergangenheit. Abb. 4: Luftbild der Region um Aarberg. Die nach den Juragewässerkorrektionen drainierten Flächen werden heute intensiv genutzt. Im Vordergrund ist der Hagneck-Kanal zu sehen, in der Bildmitte der von Wald umgebene alte Aarelauf. chen, die heute landwirtschaftlich genutzt werden (siehe Abb. 4). In diesen Gebieten erreichen die kälteren Luftmassen allerdings nur eine Mächtigkeit von rund 50 Metern. ken sich nicht nur auf das Gebiet des Seelands. Unsere Modellierungen zeigen, dass Luftmassen aus dem Seeland vom Wind zum Beispiel bis zu 40 Kilometer pro Tag Richtung Voralpen transportiert werden. Erkenntnisse aus dem Seeland von allgemeiner Bedeutung Die veränderte landwirtschaftliche Nutzung des Seelands wirkte sich nicht nur auf die Temperaturen aus, sondern auch auf die Feuchtigkeit – und zwar auf unerwartete Weise. Vor den Korrekturmassnahmen waren weite Teile des Seelands durch Feuchtgebiete und eine hohe Verdunstung geprägt. Seither hat die Luftfeuchtigkeit in der untersten Luftschicht tagsüber tendenziell eher noch zugenommen, und dies, obwohl diese Moorgebiete im Rahmen der Korrektion trockengelegt wurden. Der Grund: Bei den früher vorherrschenden porösen Torf-Böden führte die starke Sonneneinstrahlung tagsüber zu einem raschen Austrocknen der obersten Bodenschicht, was die Verdunstung stark reduzierte. Die heutigen, stark mineralisierten Böden hingegen trocknen an der Oberfläche weniger schnell aus. Dazu kommt, dass die Verdunstung bei der heutigen landwirtschaftlichen Nutzvegetation deutlich höher sein dürfte als bei den früher verbreiteten Riedgräsern. Vor allem aber haben die im Seeland gewonnenen Erkenntnisse auch repräsenta- Die klimatischen Auswirkungen der beiden Juragewässerkorrektionen beschrän- Blick in Vergangenheit wichtig für Verständnis Umgekehrt ist es ebenso wichtig zu wissen, wie und wie stark kleinräumige Landnutzungsänderungen das Klima eines Gebietes beeinflussen. Denn wie sich am Beispiel des Seelands zeigen lässt, können menschliche Eingriffe in die natürliche Landschaft Folgen haben, deren Wirkung auf das lokale Klima stärker spürbar wird als globale Klimaänderungs-Signale. Von besonderer Bedeutung sind dabei Erkennt- Vom Malariagebiet zur Gemüsekammer Überschwemmungen, hohe Sterblichkeit und zu gewissen Zeiten gar Malaria prägten die unwirtliche Gegend. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die erste Juragewässerkorrektion Wirkung zeigte, war in den tieferen Lagen des Seelands wenig vom Charme der heutigen Drei-Seen-Region zu merken. Moor-, Sumpf- und Auenlandschaften beanspruchten einen grossen Teil des Seelands, und das Grosse Moos mit seinen fast 400 km2 bildete die grösste zusammenhängende Moorfläche der Schweiz. Dies änderte sich, als durch den Bau des Hagneck-Kanals, die Erweiterung des Zihl- und Broye-Kanals sowie die Erweiterung des Abflusskanals aus dem Bielersee ein zusammenhängendes Gewässersystem geschaffen wurde. Es diente fortan als Ausgleichsbecken für Hochwasser. Mit diesen Massnahmen verbunden war die Absenkung des Wasserspiegels der drei Juraseen um rund 2.5 m, wodurch neues Land gewonnen wurde. Zusätzlich wurden grosse Flächen des Seelands trockengelegt und Massnahmen zur Bodenverbesserung eingeleitet, so dass seither grosse Teile der ehemaligen Sumpflandschaft intensiv landwirtschaftlich bewirtschaftet werden können. Die Absenkung des Grundwasserspiegels und die Umwandlung der torfigen Böden in mineralische Böden hatte aber auch unliebsame Folgen: Der Boden sackte so stark ab, dass das Seeland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder vermehrt von Überschwemmungen betroffen war. Die zweite Juragewässerkorrektion (1962– 1973) wurde nötig, um die Arbeiten der ersten Korrektion zu verfeinern und zu ergänzen und so eine dauerhafte hochproduktive Landwirtschaft zu ermöglichen. UNIPRESS116/APRIL 2003 23 nisse über die Klimawirksamkeit von historischen Umgestaltungen der Landschaft. Nur so ist es möglich, verlässliche Aussagen über den Einfluss des verstärkten Treibhauseffekts einerseits und von Landnutzungsänderungen andrerseits auf den Klimawandel der letzten 150 Jahre zu machen. Denn der Klimawandel ist ein komplexes Resultat vieler Faktoren, die teilweise verstärkend und teilweise abschwächend in nicht-linearer Weise zusammenwirken. Doch wie bedeutend sind lokale Einflüsse wie die Juragewässerkorrektionen verglichen mit dem allgemeinen Klimawandel? 24 UNIPRESS116/APRIL 2003 Eine Antwort darauf liefern die Berechnungen des Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC. Der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderung rechnet, um Vergleiche anstellen zu können, die verschiedenen Prozesse, die zum globalen Klimawandel beitragen, in so genannte Strahlungsantriebe um. Der Treibhauseffekt zum Beispiel verursacht heute im Vergleich zur Zeit vor 1750 einen mittleren jährlichen Strahlungsantrieb von 2.4 W m -2 . Den globalen Landnutzungsänderungen schreibt der IPCC einen negativen Wert von –0.2Wm -2 zu. Im Vergleich dazu beträgt die mittlere Abnahme der sommerlichen Netto-Strahlung im Seeland hohe –6.3 W m -2 . Dementsprechend gross dürfte die den Treibhauseffekt überlagernde Wirkung sein. Entwarnung wäre aber auch im Seeland fehl am Platz. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis der lokale Gegeneffekt zur Klimaerwärmung durch die globale Entwicklung überprägt wird. Nicolas Schneider und Dr. Werner Eugster Geographisches Institut Gruppe für Klimatologie und Meteorologie Ein Photosynthese-Enzym als Temperatursensor in Blättern? Hitzestress bei Pflanzen Erhöhte Temperaturen als Folge der Klimaveränderung können die Photosynthese1 und damit die Produktivität von Pflanzen beeinträchtigen. Die artspezifischen Unterschiede bezüglich Hitzetoleranz sind beträchtlich. Ein wichtiges Enzym2 der Photosynthese wird bei leicht erhöhter Temperatur reversibel und bei stark erhöhter Temperatur irreversibel inaktiviert. Die Hitzeempfindlichkeit dieses Enzyms hängt von der Pflanzenart ab. Wie weit es primär für die Reduktion der Photosyntheseaktivität während und nach einer Hitzestressperiode verantwortlich ist, ist ein zentraler Punkt laufender Forschungsprojekte. Hohe Temperaturen als Problem für die Vegetation Nicht nur weltweit, sondern auch auf lokaler Ebene wachsen Pflanzen an Standorten mit sehr unterschiedlichen Boden- und Klimaverhältnissen. Unter den ökologischen Bedingungen, welche die Verbreitung der einzelnen Pflanzenarten und die Produktivität der landwirtschaftlich genutzten Kulturpflanzen bestimmen, spielen Temperatur und Wasserverfügbarkeit eine entscheidende Rolle. Temperaturunterschiede während der Vegetationsperiode können beträchtlich sein. Pflanzen können durch morphologische und physiologische Veränderungen an spezielle Klimaverhältnisse angepasst sein. Sinkt die Temperatur aber tiefer als die untere Schwelle oder steigt sie über die obere Schwelle des Temperaturbereiches, innerhalb welchem sich eine Pflanze gegen die durch ungünstige Temperaturen bewirkten Störungen schützen kann, so kommt es zu Schädigungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind und die im Extremfall zum Tod des Organismus führen. Die globale Erwärmung ist einer der wichtigsten Aspekte der in den letzten Jahrzehnten beobachteten Klimaveränderungen. Gekoppelt mit dem fortlaufenden Anstieg der Jahresdurchnittstemperaturen ist eine erhöhte Häufigkeit von Perioden mit überdurchnittlich hohen Temperatu1 Photosynthese = Lichtabhängiger Aufbau organi scher Stoffe aus anorganischen Stoffen 2 Ein Enzym ist ein Eiweiss, das Stoffwechselreaktionen ermöglicht. 3 Transpiration bedeutet hier: die Abgabe von Wasserdampf durch die Spaltöffnungen der Pflanzen. ren. Modelle, die von Klimatologen entwickelt wurden, deuten darauf hin, dass das Ausmass und die Frequenz von Ereignissen mit extrem hohen Temperaturen in der Zukunft noch zunehmen werden. Die Vegetation dürfte also häufiger von Hitzestressperioden betroffen sein. Hitzeperioden sind oft auch trockene Perioden. Die Kombination von Hitze und Trockenheit versetzt die Pflanzen in eine besonders schwierige Situation, weil sie einerseits mit dem Wasser haushälterisch umgehen müssen, andererseits aber auch die Temperatur mittels Wärmeabgabe durch die Transpiration3 regulieren sollten. Bei Sonneneinstrahlung kann die Blatttemperatur deutlich höher als die Lufttemperatur sein Pflanzenart (s. Tabelle). Dies gilt insbesondere, wenn die Pflanzen ihre Spaltöffnungen schliessen, um den Wasserverlust zu vermindern. In den wärmsten Regionen der Schweiz, wie zum Beispiel im Zentralwallis, ist es schon heute nicht mehr selten, dass Lufttemperaturen über 35 °C gemessen werden. Blatttemperaturen können also auch in unseren Breitengraden vorübergehend auf über 40 °C ansteigen. Viele Pflanzenarten, vor allem aber diejenigen, die an ein gemässigtes Klima angepasst sind, könnten dadurch vermehrt unter akutem Hitzestress leiden. Auswirkungen auf die Produktivität hitzeempfindlicher Kulturpflanzen und Veränderungen in der Flora sind zu erwarten. Beeinträchtigung der Photosynthese durch Hitze Hohe Temperaturen beeinflussen die Pflanzen auf vielfältige Art und Weise. Viele Studien haben aber gezeigt, dass der Photosyntheseapparat in den Chloroplasten (chlorophyllhaltige Zellbestandteile) auf Hitzestress besonders empfindlich reagiert. Eine Abnahme der Photosyntheserate findet oft schon statt, bevor andere Zellfunktionen durch erhöhte Temperaturen betroffen sind. Bei leichtem bis mittelstarkem Hitzestress, typisch zwischen 30 °C und 40 °C, wird die Photosynthese Blatt-Temperatur [°C] Volles Sonnenlicht Beschattet 27. Juli 2002, 13–15 Uhr (Luft-Temperatur: 25.5±1.0 °C) Kartoffel 28.0±1.5 24.8±1.2 Sonnenblume 23.0±0.9 21.2±1.5 Haselstrauch 37.5±2.0 26.6±0.7 Buche 29.0±1.2 24.7±1.4 Eiche (leichter Wind) 25.5±2.0 21.6±1.3 Eiche (windstill) 37.8±4.8 26.4±1.7 28. Juli 2002, 14–17 Uhr (Luft-Temperatur: 29.5±1.0 °C) Kartoffel 31.2±2.3 25.1±1.1 Sonnenblume 22.8±1.6 20.0±1.1 Haselstrauch 40.0±2.0 28.7±0.5 Buche 32.1±1.0 25.0±0.7 Eiche (leichter Wind) 32.3±1.9 25.0±0.7 Eiche (windstill) 41.0±1.2 31.9±1.9 Tabelle: Blatt-Temperaturen verschiedener Pflanzenarten (Mittelwerte und Standardabweichungen von 10 Messungen). Neben der Luft-Temperatur sind auch die Licht- und Windverhältnisse von entscheidender Bedeutung. UNIPRESS116/APRIL 2003 25 Abb. 1: Photosyntheseaktivität in Erbsenblättern vor, während und nach einem Hitzestress bei verschiedenen Temperaturen. zwar gehemmt, aber dieser Prozess bleibt reversibel, ist also noch rückgängig zu machen (Abb. 1). Oberhalb von 40 °C kann der Photosyntheseapparat indessen bereits irreversibel geschädigt werden. Der Zustand des Photosyntheseapparates während und nach einem Hitzestress wird nicht nur durch die Intensität und die Dauer der Stresseinwirkung bestimmt, sondern auch durch eine ganze Reihe anderer Faktoren (z.B. Pflanzenart, Entwicklungsstadium, Wechselwirkungen mit anderen Stressfaktoren). Die Hitzetoleranz des Photosyntheseapparates ist ein wichtiger Faktor für die Empfindlichkeit von Pflanzen gegenüber erhöhten Temperaturen. Es geht daher darum, diejenigen Komponenten des Photosyntheseapparates zu identifizieren, die primär für die Hitzeempfindlickeit der Photosynthese verantwortlich sind. Schon früh wurde erkannt, dass Komponenten der Thylakoidmembranen in den Chloroplasten (ein Membransystem innerhalb der Chloroplasten (vgl. Abb. 2), wo die Lichtreaktionen der Photosynthese stattfinden, hitzelabil sind. Extrem hohe Temperaturen bewirken irreversible Schädigungen in der Struktur der Thylakoidmembranen. Bei etwas tieferen Stresstemperaturen wird vor allem eine Komponente in den Thylakoidmembranen beeinträchtigt, nämlich das Photosystem II (PSII), welches für die Produktion von Sauerstoff verantwortlich ist. Die durch Hitzestress bedingte Reduktion der PSII-Aktivität, welche zu einer gesamthaften Abnahme des photosynthetischen Elektronentransportes führt, beruht primär auf einer Schädigung einer PSII-Komponente, die bei der Wasserspaltung eine wichtige Rolle spielt. Dieser Schaden am Photosyntheseapparat könnte die Hauptursache dafür sein, dass sich die Photosynthese nach einem mittelstarkem Hitzestress meistens nicht mehr gänzlich erholen kann. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass die Integrität der Thylakoidmembranen beeinträchtigt werden könnte, bevor es zu einer Hemmung der PSII-Aktivität kommt. Eine erhöhte Durchlässigkeit der Membranen ist mit Störungen verbunden, die zu einer Reduktion der CO 2 -Assimilationsrate4 führen. Die Photosyntheseaktivität wird aber oft schon durch Temperaturen gehemmt, welche die Thylakoidmembranen und deren Komponenten nicht beeinträchtigen. 4Assimilation Abb. 2: Querschnitt durch einen Chloroplast 26 UNIPRESS116/APRIL 2003 bedeutet hier: die Bildung von Kohlenhydraten aus Kohlendioxid (CO 2) und aus Wasser unter dem Einfluss von Licht, wobei Zucker entsteht und Sauerstoff (O 2) abgegeben wird. Das Enzym Ribulose-1,5-bis-PhosphatCarboxylase/Oxygenase (kurz «Rubisco» genannt) ist das CO 2 -Fixierungsenzym in den Chloroplasten. Das Enzym Rubisco kann sowohl CO 2 wie auch O 2 binden. Die beiden Aktivitäten konkurrenzieren sich gegenseitig. Steigt die Temperatur, so erhöht sich sowohl das Verhältniss O 2 / CO 2 am Ort des Enzyms als auch die Verwendung der beiden Substrate durch die Rubisco. So erhöht sich die OxygenaseAktivität (d.h. die Photorespiration, die Reaktion mit Sauerstoff) auf Kosten der Carboxylase-Aktivität (der CO 2 -Assimilation), wodurch sich die Abnahme der Photosyntheserate bei erhöhter Temperatur erklären liesse. Zudem wurde beobachtet, dass bei erhöhter Temperatur der Export der Photoassimilate – d.h. jener Produkte, die durch Umwandlung körperfremder in körpereigene Produkte, wie etwa Stärke, entstehen – aus den Blättern gehemmt ist. Dieses Phänomen könnte zu einer Hemmung der Photosynthese durch Rückstau führen. Eine erhöhte Photorespirationsrate und eine Hemmung der Photosynthese durch Rückstau genügen aber nicht, um die Reduktion der Photosyntheserate bei erhöhter Temperatur zu erklären. Eine Abnahme der Photosyntheserate findet nämlich sowohl unter photorespiratorischen wie auch unter nicht-photorespiratorischen Bedingungen statt und kann auch dann gemessen werden, wenn der Export der Photoassimilate nicht beeinträchtigt ist. Rubisco-Aktivase: das hitzeanfälligste Enzym? In verschiedenen Studien wurde beobachtet, dass die lichtabhängige Aktivierung der Rubisco bei mildem Hitzestress abnimmt und dass diese Hemmung eng mit einer reversiblen Inaktivierung der Photosynthese gekoppelt ist. Zuerst nahm man an, dass die Rubisco selbst hitzelabil sein könnte. Spätere Laborexperimente haben aber bewiesen, dass das Enzym selbst bei 50 °C noch voll funktionsfähig ist. (Auch die anderen Hauptenzyme der Photosynthese erwiesen sich alle als relativ hitzetolerant.) Die Rubisco ist ein Enzym, das langsam arbeitet und das zudem immer wieder in einen inaktiven Zustand zurückfällt. Sie hat also ineffiziente katalytische Eigenschaften; d.h. sie kann chemische Prozesse nicht (inaktive Form) oder nur langsam (aktive Form) herbeiführen. Damit das Enzym optimal arbeitet, muss es zuerst aktiviert werden. Durch höhere Temperaturen kann der Aktivierungsmechanismus der Rubisco gehemmt werden. Die Magnesiumkonzentration, die CO 2 Konzentration und der Säurewert (pHWert) spielen in der Regulation der Rubisco-Aktivität eine wichtige Rolle. Die Rubisco-Aktivität wird aber auch durch Aktivatoren (Stoffe, welche die Wirksamkeit eines Enzyms erhöhen) und Inhibitoren (Hemmstoffe eines Enzyms) reguliert. Dabei spielt nun das Chloroplastenenzym Rubisco-Aktivase eine zentrale Rolle. Diese Rubisco-Aktivase wandelt die inaktive Form der Rubisco in die aktive Form um. Der Mechanismus der lichtabhängigen Aktivierung der Rubisco durch die Rubisco-Aktivase ist noch nicht vollständig geklärt. Verschiedene Studien deuten aber darauf hin, dass die Rubisco-Aktivase direkt mit der Rubisco interagiert und durch einen bislang unbekannten Mechanismus die Befreiung des Enzyms von gebundenen Inhibitoren fördert. Sobald die Rubisco von den Inhibitoren befreit ist, kann dieses Enzym durch die Bindung von CO 2 und Magnesium spontan aktiviert werden. Die Rubisco wird, wie bereits oben erwähnt, laufend inaktiviert und muss daher immer wieder aktiviert werden. Experimente haben gezeigt, dass die Rubisco-Aktivase durch eine Erhöhung der Temperatur rasch beeinträchtigt wird. Offenbar nimmt bei erhöhter Temperatur der Aktivierungsgrad der Rubisco ab, weil erstens die Aktivität der Rubisco-Aktivase gehemmt ist und zweitens die Deaktivierungsrate der Rubisco erhöht ist (Abb. 3). Die ungenügende Kapazität der Aktivase scheint somit eine der primären Ursachen für die Reduktion der Photosyntheseaktivität bei erhöhter Temperatur zu sein. Die Hitzeempfindlichkeit der Rubisco-Aktivase hängt von der Pflanzenart ab und Abb. 3 : Einfluss von Hitze auf die Rubisco -Aktivase und auf den Ake tz tivierungszustand Hi der Rubisco: Die Rubisco, das CO2 fixierende Enzym in den Chloroplasten, erträgt hohe Temperaturen vergleichsweise gut. (In der Zeichnung links die Aktivierung dieses Enzyms im Normalzustand, bei etwa 25 °C). Es kann aber bei Hitze nicht mehr von der inaktiven in die aktive Form übergeführt werden, da die Rubisco-Aktivase durch Hitze inaktiviert wird (dargestellt in der Zeichnung rechts, bei einer Temperatur von 35 °C und mehr — die Pflanze gerät in eine Stresssituation). könnte für die unterschiedliche Hitzetoleranz mitverantwortlich sein. So ist die Rubisco-Aktivase und als Folge davon auch die Photosyntheserate in hitzetoleranten Baumwollpflanzen im Vergleich zu hitzeempfindlicheren Weizenpflanzen durch eine Temperaturerhöhung weniger beeinträchtigt. Die meisten Pflanzenarten zeigen zwei Formen von Rubisco-Aktivase mit unterschiedlicher Hitzeempfindlichkeit. Eine bevorzugte Bildung der hitzetoleranteren Form könnte somit ein Mechanismus sein, mit dem Pflanzen die Thermotoleranz ihres Photosyntheseapparates erhöhen könnten. Unter Hitzestress bilden verschiedene Pflanzenarten zusätzlich noch alternative Formen der Rubisco-Aktivase, die beim Stressende wieder abgebaut werden. Die temporäre Vermehrung hitzetoleranter Formen der Aktivase könnte somit ein anderer Mechanismus sein, durch den gewisse Pflanzen ihre Thermotoleranz verbessern könnten. Auch die reversible Inaktivierung der Rubisco könnte allerdings einen Schutzmechanismus darstellen, der Abb. 4: Mit diesem Gerät wird die CO2 -Assimilation und zudem – mit dem kabelartigen Teil links oben – die Fluoreszenz von Erbsen gemessen. es den Pflanzen erlaubt, gravierendere Schäden an der Rubisco und an anderen Komponenten des Photosyntheseapparates zu verhindern. In einem Projekt im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Klima» werden biochemische und biophysikalische Methoden eingesetzt, um die Effekte erhöhter Temperaturen auf die Photosyntheseaktivität verschiedener Pflanzenarten genauer zu untersuchen. Messungen werden sowohl im Labor als auch im Freiland durchgeführt. Gaswechselmessungen erlauben es uns, die durch eine Erhöhung der Temperatur ausgelöste Abnahme der Photosyntheserate zu analysieren und zu quantifizieren (Abb. 4). Messungen der Fluoreszenz (Eigenschaft bestimmter Stoffe, bei Bestrahlung selbst zu leuchten) von Chlorophyll a, die gleichzeitig an der selben Probe durchgeführt werden, liefern uns Informationen über Veränderungen in den Thylakoidmembranen, wo Lichtabsorption, Elektronentransport und Bereitstellung der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat (ATP) lokalisiert sind. Ergänzende biochemische Methoden sollen beitragen zur Beantwortung der Frage, wie weit temperaturabhängige Veränderungen in der Aktivität des Enzyms Rubisco-Aktivase für die Reduktion der Photosyntheserate während und nach einem Hitzestress verantwortlich sind. Dr. Pierre Haldimann und Prof. Dr. Urs Feller Institut für Pflanzenwissenschaften, Uni Bern UNIPRESS116/APRIL 2003 27 Klimaveränderungen und ihre Auswirkungen auf landwirtschaftliche Erträge Bauernregeln oder Klimaszenarien für die Landwirtschaft? «Sind März und April trocken und licht, so gerät das Futter nicht.» Bauernregeln zeugen von der engen Beziehung der Landwirtschaft zur Witterung, aber auch vom Bedürfnis der Landwirte, Ertragsprognosen für ihre Kulturen aufgrund der Erfahrung zu erstellen. Nur, die Klimaveränderung bringt Bedingungen, welche künftig ausserhalb des Erfahrungsbereichs liegen. Es braucht deshalb Klimaszenarien und ein verbessertes System- und Prozessverständnis, um die neuen Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft in einem sich rasch ändernden Klima abschätzen können. Prognosen als Grundlagen für eine Anpassung Der Erfolg im Landbau war stets eng an die Witterung gebunden, oder anders ausgedrückt, das Wetter bildete immer einen integralen Bestandteil der Landwirtschaft. Der technische Fortschritt hat die Beziehung etwas gelockert. Beispielsweise verkürzt der Einsatz moderner, maschineller Methoden in der Graswirtschaft die Zeit der Heutrocknung auf dem Feld und vermindert so die Gefahr einer verregneten Heuernte und schlechter Rauhfutterqualität. Auch der Einsatz moderner Pflanzenzüchtungen im Acker- und Futterbau sorgt für eine verbesserte Ertragsstabilität. Trotzdem, die Abhängigkeit von der Witterung bleibt; die Auswirkungen von heftigen Frühlingsniederschlägen auf den Gemüseanbau im Seeland oder von langen Trockenperioden auf den Futterbau Abb. 1: Ver ä nde rung von Temperatur (in Grad Kelvin) und Niederschlag (%) als mittlerer monatlicher Jahresgang für 2080– 2100 im Vergleich zu heute. Testgebiete : Einzugsgebiete der Thur und des Ticino. 28 UNIPRESS116/APRIL 2003 im Tessin und andere Extremsituationen sind bestens bekannt – auch ohne Klimaforschung. Die Bauern, ihre Organisationen und Ämter interessieren sich aber nicht nur für das ‹Heute›, sondern auch für das ‹Morgen› und sind an kurz-, mittel- und langfristigen Prognosen der Witterungs- und Klimaentwicklung interessiert. Diese Art der Früherkennung kann mithelfen, Anbaupläne frühzeitig anzupassen oder längerfristige Investitionen und Betriebsveränderungen besser zu planen. Gleichzeitig steigt die Forderung unserer Gesellschaft für eine umweltschonende Landbewirtschaftung, was ebenfalls Anpassungen verschiedenster Art erfordert. Die Forschungsgruppe Lufthygiene/Klima der Eidg. Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau (FAL) in Zürich-Reckenholz nahm diese Bedürfnisse auf und versucht seit einem Jahrzehnt, die Klimaforschung mit der landwirtschaftlichen Forschung zu verbinden und Entscheidungsgrundlagen anzubieten. Vom globalen Klima zum lokalen Wetter Die Klimaveränderung ist ein globales Phänomen, dessen Auswirkungen regional und lokal unterschiedlich ausgeprägt in Erscheinung treten. Die lokale Ebene ist für die Praxis besonders wichtig, denn jeder Bauer interessiert sich verständlicherweise in erster Linie für das, was in seinem direkten Umfeld und auf seinen Feldern passiert. Er stellt deshalb den Anspruch an die Forschung in der Schweiz, seine Anliegen besonders ernst zu nehmen – ein berechtigter Anspruch, der aber Konsequenzen für die Wahl der Methodik hat. Es darf aber nicht vergessen gehen, dass sich Klimafolgen ausserhalb der Schweiz auch auf die einheimische Landwirtschaft auswirken und dass die Bedeutung dieser indirekten Beeinflussung im Zuge der internationalen Marktöffnung im Agrarsektor sogar steigen dürfte. Globale Klimamodelle (GCMs) mit unterschiedlichen Annahmen u.a. bezüglich der Entwicklung der Emission von Treibhausgasen geben die Spannweite der langfristigen Klimaentwicklung für unsere Erde vor. Diese Vorgaben müssen auf die regionale oder sogar lokale Ebene abgebildet werden. Dieses ‹Downscaling› ist im Fall der Alpen und des Alpenvorlandes besonders wichtig, da die kleinräumige Topographie grössere Abweichungen vom grossräumigen Trend bewirkt. Die Regionalisierung von globalen Klimaszenarien kann z.B. mit Hilfe einer statistischen Methode (vgl. Kasten ‹Regionale Klima- und Wetterszenarien›) erfolgen, welche von Klimatologen der Universität Bern ausgearbeitet worden ist. Als Ergebnis stehen der FAL hoch aufgelöste Wetterdaten für ausgewählte Regionen der Schweiz zur Verfügung. Zur Illustration zeigt Abb. 1 die Spannweite der Veränderungen in den Jahresverläufen von Temperatur und Niederschlag für die Einzugsgebiete der Thur und des Ticino, wie sie aufgrund der neusten GCMVorgaben für die Zeitperiode 2080–2100 berechnet wurden. Abb.2: Verlauf der Bodenfeuchte im Thur- und Ticinogebiet unter heutigen (schwarz) und veränderten (rot) Klimabedingungen. Die Berechnungen stel len Mittelwerte über 20 Jahre dar (15 t ä giges Gleitmit tel) und beschreiben die Bodenfeuchte in der durchwurzelten Bodenzone. NFK = nutzbare Feldkapazit ä t ( pflanzen verfügbares Bodenwasser). Die Rahmenbedingungen für den Bauern ändern sich Mit der Produktion von Rauhfutter deckt die schweizerische Landwirtschaft den Bedarf der einheimischen Bevölkerung an Energie, welche über Fleisch- und Milchprodukte in der Schweiz konsumiert wird. Grossräumige Schwankungen in der Produktivität der Wiesen wirken sich somit auf das Angebot direkt aus. Produktivitätseinbrüche wirken sich besonders stark auf die Betriebe aus: ein Milchbauer in einer betroffenen Region muss Rauhfutter zukaufen, um seine Tiere zu ernähren, und wenn der Preis dafür den Erlös aus dem Verkauf der Produkte übersteigt, so ist er unter Umständen gezwungen, notfallmässig Tiere zu verkaufen. Aber auch weniger dramatische Ereignisse wirken sich auf die Produktivität aus, und die Witterungsemp- findlichkeit der Wiesen, die in der Schweiz etwa 2/3 der landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmachen, ist in vielen Gebieten ein besonders wichtiges Thema. Zurzeit sind Aussagen in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit besonders kritischer Situationen (Extremereignisse) aber noch beschränkt, und Wetterprognosen für den Zeitraum von einigen Monaten stecken noch in den Kinderschuhen. Besser ist die Grundlage bezüglich der langfristigen Voraussage von Veränderungen der allgemeinen Klimasituation. Zurzeit steht der Forschung eine ganze Anzahl von globalen Klimaszenarien für die nächsten 100 Jahre zur Verfügung. Werden diese globalen Klimaszenarien regionalisiert (siehe oben), so können sie auf der Wirkungsseite mit Ökosystem- und Bewirtschaf- NFS Klima: GRASS – Climate Change and Food Production Im Projekt GRASS des NFS Klima befasst sich die Gruppe Lufthygiene/Klima der FAL mit der Frage, wie sich die künftige Klimaentwicklung und insbesondere extreme Klimaereignisse auf die Agrarökosysteme und deren Bewirtschaftung in der Schweiz auswirken. Besondere Beachtung finden die Folgen von Veränderungen in den Niederschlägen und damit der Wasserbilanz. Zur ‹Werkzeugkiste› gehören Simulationsmodelle, u.a. ein regionales Wasserhaushalts-Modell WASIM-ETH sowie das Ökosystem-Modell PASIM der FAL. In Kombination mit regionalen und lokalen Wetterdaten wird damit die Klimasensitivität von Agrarökosystemen untersucht und quantifiziert. Davon ausgehend können die Folgen der Klimaveränderung für Produktivität, Produktequalität, Umweltbelastung und Bewirtschaftung von Acker- und Graslandsystemen für ausgewählte Regionen der Schweiz abgeschätzt werden. GRASS wird ergänzt durch Arbeiten des Instituts für terrestrische Ökologie (Systemökologie, Dr. A. Fischlin) zur Abschätzung von langfristigen Auswirkung der gleichen Klimaszenarien auf die Entwicklung von Waldökosystemen. tungsmodellen verknüpft werden, um so die Auswirkung von langfristigen Klimabzw. Witterungsveränderungen zu untersuchen. Dies geschieht im Projekt GRASS – Climate Change and Food Production der FAL (s. Kasten) im Rahmen des NFS Klima. Damit ist es möglich u.a. folgende Fragen zu bearbeiten: • Wie verändern sich der Wasserhaushalt und insbesondere der Jahresverlauf der Bodenfeuchte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in einer bestimmten Region? •Wie verändert sich die Gefahr von kritischen Bedingungen für die Pflanzenproduktion, für die Bodenbearbeitung im Ackerbau oder für die Beweidung im Tal- und Berggebiet? Welche Anpassungen auf Betriebsstufe werden nötig? •Welches sind die Folgen der früheren Ausaperung in Berggebieten, verbunden mit der Verlängerung der Vegetationsperiode? Nasser Frühling – trockener Sommer Die vorliegenden Trends für den jahreszeitlichen Witterungsverlauf weisen für die Schweiz in Richtung vermehrter Niederschläge von Herbst bis Frühling und wärmerer und trockener Sommermonate mit entsprechenden Veränderungen in der Wasserbilanz und in der Bodenfeuchte (Abb. 2). Ein niederschlagsreicher Frühling ist schlecht für die Boden- UNIPRESS116/APRIL 2003 29 Abb. 3: In Oensingen (SO) wird die Bildung von Treibhausgasen im Boden und der Austausch von CO2, N 2 O und CH4 über einer Wiese gemessen, um die physikalischen und biologischen Prozesse, welche die Treibhausgasbilanz landwirtschaftlicher Ökosysteme bestimmen, besser zu verstehen und modellieren zu können. bearbeitung und die Aussaat von Gemüse und Sommerkulturen, ein trockener Sommer für die Ertragsbildung vieler Ackerkulturen und den Futterbau. Andererseits ermöglicht ein milderes Klima mit weniger Frosttagen den Anbau von Früchten und Gemüse aus wärmeren Klimaregionen. Palmen im Mittelland ist ein oft verwendetes Klischee mit möglicherweise realem Hintergrund. In Tallagen spielt die Veränderung der Niederschläge für die landwirtschaftliche Praxis eine besonders wichtige Rolle, während in Bergregionen die Zunahme der Temperatur ebenso wichtig ist. Dies deshalb, weil die veränderte Schneedecke einerseits direkte Folgen für die Vegetation hat und die Dauer der Beweidung entscheidend verändert wird, andererseits weil viele Landwirte auf ein zusätzliches Einkommen z.B. aus dem Tourismus angewiesen sind. Sinkt die Schneesicherheit, so wirkt sich dies negativ auf eine wichtige Einkommensquelle aus. Der Bergbauer, der ohnehin mit erschwerten Bedingungen konfrontiert ist, steht also vor einer zusätzlichen Herausforderung. Indirekte Umweltfolgen Veränderte Rahmenbedingungen für die landwirtschaftliche Tätigkeit sind aber nur ein Aspekt der Klimaproblematik. Daneben ist die Belastung der Umwelt durch Tierhaltung und Landbau zu beachten. Beispielsweise entstehen bei der Haltung von Milchkühen pro Liter Milch durchschnittlich etwa 30 Gramm Methan (CH4) oder beim Einsatz von mineralischen Düngern pro Kilogramm Stickstoff (N) etwa 10 Gramm Lachgas (N2 O). 30 UNIPRESS116/APRIL 2003 Beides sind Treibhausgase mit einer viel stärkeren Klimawirksamkeit als Kohlendioxid (CO 2). Weiter lagern in der schweizerischen Landwirtschaftsböden zwischen 150 und 200 Mio Tonnen Kohlenstoff. Oxidation und Freisetzung dieser Kohlenstoffreserven in Form von CO 2 infolge der Bewirtschaftung oder von Klimaveränderungen fördern den weiteren Anstieg des atmosphärischen CO 2 (C-Quelle), während eine stärkere Bindung von CO 2 aus der Atmosphäre im Boden (C-Senke) diesen Anstieg bremsen könnte. Die Klimaerwärmung könnte die Verbesserung der Treibhausgasbilanz der Landwirtschaft erschweren, indem die Geschwindigkeit der Bildungsprozesse für Treibhausgase, z.B. der Abbau der organischen Substanz im Boden, stärker auf die Erwärmung reagieren als jene Prozesse, die zur Bindung von Kohlenstoff und Stickstoff im Boden und in den Ernteprodukten führen. Mit ihren Emissionen von Treibhausgasen übernimmt die Landwirtschaft also auch eine Verantwortung in der Klimafrage, und ein Ziel der Forschung muss es sein, Mittel und Wege zu finden, die Emissionen pro Einheit Fläche oder Produkt zu minimieren. Dazu ist ein gutes Systemund Prozessverständnis nötig, welches u.a. durch die Untersuchung des Stoffhaushalts und der Bildung von Treibhausgasen im Boden sowie deren Austauschflüsse über dem Pflanzenbestand gewonnen wird (Abb. 3). Ausblick Die Landwirtschaft in der Schweiz ist im Umbruch und hat eine unsichere Zu- kunft. Einerseits muss sie marktfähig werden, und andererseits müssen höhere Umweltstandards eingehalten werden. Dazu kommt nun die Unsicherheit bezüglich der künftigen Klimaentwicklung, welche die Kosten der Produktion steigern und die Umweltverträglichkeit erschweren könnte. Die Forschung kann diese Probleme nicht lösen, sie kann aber dazu beitragen, dass die Veränderungen in den natürlichen Rahmenbedingungen und ihre Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Systeme besser verstanden und Anpassungen rechtzeitig ergriffen werden. Ausserdem kann sie zeigen, wie die Rückkopplung der Auswirkungen verschiedener Produktionsmethoden und -systeme auf das Klimasystem künftig besser quantifiziert und auch vermindert werden kann. Prof. Dr. Jürg Fuhrer, Dr. Pierluigi Calanca und Karsten Jasper Eidg. Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau (FAL), Lufthygiene/Klima, Zürich-Reckenholz Regionale Klimaund Wetterszenarien Regionale Klima- und Wetterszenarien werden mit Hilfe von Regionalisierungsmethoden (Downscaling) aus den Ergebnissen der globalen Klimamodelle (GCM) abgeleitet. Man unterscheidet zwischen dynamischen (regionalen Klimamodellen) und statistischen Methoden. Die statistische Methode der Universität Bern geht davon aus, dass zwischen der grossräumigen Druck- und Temperaturverteilung über dem Nordatlantik und Europa und den Witterungsgrössen an ausgewählten Standorten statistische Beziehungen bestehen, welche für das gegenwärtige Klima aufgrund von Messdaten bestimmt werden können. Davon ausgehend können GCMVorgaben (globale Klimaszenarien für verschiedene Annahmen bezüglich der künftigen Emission von Treibhausgasen) in Form von Temperatur- und Niederschlagsverläufen auf einzelne Gebiete der Schweiz abgebildet werden. Schliesslich werden aus den monatlichen Wetterverläufen mit Hilfe eines stochastischen Wettergenerators stündliche Wetterdaten erzeugt. Mikrowellenphysik hilft Klimawandel entschlüsseln Wenn Wetterballone streiken Berner Atmosphärenphysiker haben sich durch ihre Ozonmessungen international einen Namen gemacht. Nun spüren sie der Verteilung von Wasserdampf nach, und dies auf eine Höhe von bis zu 70 Kilometern. Eine entscheidende Rolle spielen dabei neuartige, an der Universität Bern entwickelte Messgeräte. Hintergrund dieser Forschungsanstrengungen ist die zentrale Bedeutung von Wasserdampf für das Verständnis des Klimawandels. Die Lage ist paradox. Wasserdampf ist das wichtigste unter den Treibhausgasen, doch die Zusammenhänge zwischen Wasserdampf und Klimawandel sind kaum erforscht. So ist zwar theoretisch unbestritten, dass ein genereller Temperaturanstieg auch zu einer Zunahme des Wasserdampfanteils in der Atmosphäre führen muss – nachgewiesen jedoch hat diesen Effekt bis heute niemand. Ebenso wenig ist klar, wie sich die zusätzliche, durch mehr Wasserdampf hervorgerufene Bewölkung auswirkt: Wird der Treibhauseffekt dadurch verstärkt oder im Gegenteil gar ausgeglichen? Gründe für diese Wissenslücken gibt es durchaus: Wasserdampf ist örtlich stark variabel konzentriert und in der Luft alles andere als gleichmässig verteilt. Dieselben komplexen physikalischen Interaktionen mit der Atmosphäre, die für den Klimawandel von entscheidender Bedeutung sind, verhindern seine gleichmässige Verteilung. Deshalb ist die flächendeckende Ermittlung von Wasserdampfwerten auch ungleich schwieriger als etwa bei CO 2 . Dieses bekannteste unter den Treibhausgasen breitet sich derart homogen aus, dass eine Hand voll Messstationen ausreichen, um weltweit gültige Daten über seine Konzentration zu erheben. Ein nicht unerhebliches Problem stellt beim Messen des Wasserdampfs bereits die Messtechnik dar. Zwar lassen Meteorologen seit Jahrzehnten Wetterballone steigen, die beim Aufstieg Daten zur Luftfeuchtigkeit liefern, doch tun sie dies mit zunehmender Höhe immer ungenauer – und nach wenigen Kilometern Höhe ist ganz Schluss. Die empfindlichen Sensoren frieren ein. Das lückenhafte Wissen um die Verteilung der Luftfeuchtigkeit in der Atmosphäre dürfte in nächster Zeit um wesentliche Bausteine ergänzt werden. Dies jedenfalls hat sich das Institut für angewandte Physik der Universität Bern vorgenommen. «Wasserdampf», sagt Niklaus Kämpfer, der Direktor des Instituts, «ist das Hauptthema in unserer Abteilung für Mikrowellenphysik.» Zusammen mit Christian Mätzler ist Kämpfer für das Projekt STARTWAVE (Studies in Atmospheric Radiative Transfer and Water Vapour Effects) verantwortlich, einen Bereich des Nationalen Forschungsschwerpunkts Klima (NFS Klima). Geschehen in der Stratosphäre beeinflusst Klima In diesem Projekt erheben die beiden Atmosphärenphysiker und ihr Team Daten zur Wasserdampfverteilung über der Schweiz. Sie liefern aber auch Messergebnisse von globaler Bedeutung – aus der Stratosphäre. Zwar sind in einer Höhe von zwischen 20 und 70 Kilometern nur noch kleinste Spuren von Wasserdampf anzutreffen – auf eine Million Luftmolekühle entfallen ganze sechs Wasserteilchen –, doch können sich diese Messungen als viel aussagekräftiger erweisen als jene in erdnahen Schichten. Grund: Im Gegensatz zur tiefer gelegenen Troposphäre, in der Wasserdampf nach wenigen Tagen wieder ausgeschieden wird, beträgt die Verweildauer in der Stratosphäre mehrere Jahre. In diesen stabilen Verhältnissen, so die Überlegung, müssten sich durch den Klimawandel verursachte Veränderungen wesentlich besser nachweisen lassen als im turbulenten Wasserhaushalt nahe der Erdoberfläche. Tatsächlich deuten erste Trends auf eine Zunahme des Wasserdampfs auch in grossen Höhen hin. «Je länger je mehr wird erkannt, dass stratosphärische Prozesse auch grossen Einfluss aufs Klima haben», erklärt Niklaus Kämpfer. Je nach- Abb. 1: Der Physiker Beat Deuber mit dem Miawara-Messgerät auf dem Dach des Instituts für angewandte Physik. UNIPRESS116/APRIL 2003 31 Satellitennavigation für Wetterfrösche «GPS und Wetterbericht – was hat denn das miteinander zu tun?» Wenn Guergana Guerova mit Aussenstehenden über ihre Arbeit spricht, erntet sie erst einmal ungläubige Blicke. Aber mit ein paar Sätzen hat die Physikerin am Berner Institut für angewandte Physik das Wichtigste geklärt. Der Wasserdampf in der Atmosphäre, so die Kürzestfassung ihrer Erläuterung, lenkt die Signale der Satellitennavigation ab, und dieser Effekt lässt sich für präzisere Wetterprognosen nutzen. Und zwar nicht nur theoretisch: «Es ist ziemlich sicher», sagt Guerova, «dass die Meteorologen in ihre Vorhersagemodelle künftig GPS-Daten einbauen werden.» Der Versuchsbetrieb jedenfalls, den MeteoSwiss im vergangenen Jahr auf Initiative der Berner Physikerin durchführte, zeigte viel versprechende Resultate: Unter Einbezug der GPS-Daten entsprachen die vorhergesagten Niederschläge der Realität wesentlich besser als ohne. Doch blenden wir zurück: Als das Global Positioning System (GPS) in den 1970er Jahren entwickelt wurde, dachte niemand an seinen Einsatz in der Meteorologie. Die Satellitennavigation war exklusive Domäne des Militärs. Und die Daten, welche die 24 GPS-Satelliten aus einer Höhe von ca. 20 000 Kilometern lieferten, waren geheim. Dies sollte sich in den kommenden zwei Jahrzehnten ändern. Immer mehr zivile Anwendungen des revolutionären Navigationssystems tauchten auf – darunter auch wissenschaftliche. Grosses Interesse zeigte zum Beispiel die Geodäsie. Heute ist die traditionelle Methode der Landvermessung mit den vertrauten Triangulationspunkten auf Berggipfeln vielerorts durch GPS-Messungen ersetzt. In der Schweiz betreibt die zu Swisstopo umbenannte Landestopographie dazu ein Netz von GPS-Satelliten-Basisstationen. aufhorchen, die an neuen Methoden zur quantitativen Bestimmung von Wasserdampf interessiert waren. Und so fand schliesslich – despektierlich gesagt – ein Abfallprodukt der Satellitennavigation seinen Weg in die Meteorologie. GPS beeindruckt Meteorologen «Das grösste Plus des GPS aus Sicht der Meteorologen ist seine Verfügbarkeit», sagt Guergana Guerova, «24 Stunden am Tag bei jedem Wetter.» Und noch einen Vorteil bietet das System: die Infrastruktur ist günstig – ein stationärer, qualitativ hochstehender Empfänger kostet um die 5000 Franken – und relativ gut ausgebaut. Im für europäische Verhältnisse dichten Schweizer AGNES-Netz sind 30 Basisstationen im Betrieb. In Japan sind es gar Tausend, denn das hochpräzise Messsystem soll dort als Frühwarnung bei Erdbeben dienen. Abb. 4:Wie die Grafik zeigt, verbessert der Einsatz von GPS die Niederschlagsprognose. Die prognostizierten Niederschlagswerte (aLMo-Wettermodell von MeteoSchweiz) nähern sich in Kombination mit GPS-Daten (rote gestrichelte Linie) den gemessenen Niederschlagsmengen deutlich an. Im gross angelegten Versuch, den Guerova zusammen mit Kollegen von MeteoSwiss durchführte, konnte sie auf GPS-Daten aus mehreren europäischen Ländern zurückgreifen, die ihr in «near real time» zur Verfügung gestellt wurden. Will heissen: Zwei Stunden nach Erhebung konnten die Meteorologen die Wasserdampfwerte von 250 Messpunkten in ihr Prognosemodell einbauen. Geliefert erhielten sie die Summe des atmosphärischen Wasserdampfs, der sich aus der Verzögerung des GPS-Signals unter Einbezug von Luftdruck und -temperatur errechnen lässt. Dann wurde das so genannte aLMo-Wettermodell jeweils mit und ohne GPS-Wasserdampfwerte gespeist und die beiden Modellläufe schliesslich mit der tatsächlich eingetroffenen Wetterentwicklung verglichen. Abb. 3: Bodenstationen aus mehreren europäischen Ländern lieferten GPS-Daten, aus denen Wasserdampfwerte von 250 Messpunkten ermittelt wurden. Die Wissenschafter stellen höchste Ansprüche an die Präzision der GPS-Messung – so werden heute zum Beispiel die Bewegungen von tektonischen Platten via Satellit auf den Millimeter genau verfolgt. Eine Abweichung von rund zwei Metern, wie sie die Geodäten feststellten, als sie anfingen, sich für die Möglichkeiten des GPS zu interessieren, war deshalb schlicht untolerierbar. Der Fehler, so stellte sich heraus, war auf die Ablenkung der Satellitensignale in der Atmosphäre zurückzuführen. Verantwortlich dafür war unter anderem der Wasserdampf. Diese Erkenntnis liess jene Atmosphärenphysiker 32 UNIPRESS116/APRIL 2003 Mit offenbar erstaunlichen Ergebnissen: «Bei MeteoSwiss war man verblüfft», erzählt Guergana Guerova, «die Meteorologen haben nicht damit gerechnet, dass GPS-Daten einen solchen Einfluss haben könnten.» Besonders ergiebig, so stellte sich heraus, war der Einbezug der GPS-Werte für die Vorhersage von Niederschlägen – und zwar bei Zeitpunkt und Menge. Noch ist der Beitrag der neuen Technologie zur Prognosegenauigkeit nicht bei allen Wetterbedingungen gleich gross, wie die detaillierte Analyse von drei verschiedenen Wetterregimes zeigte. Doch Atmosphärenphysikerin Guerova ist überzeugt von Potential und Praxistauglichkeit dieser Methode. Speziell für den Alpenraum. «Wettervorhersagen in der Schweiz», sagt die aus Bulgarien stammende Forscherin, «sind etwas vom Schwierigsten, eine dauernde Herausforderung.» Abb. 2: Mit dem Instrument MIAWARA im August 2002 gemessenes Wasser dampfprofil über Bern (rot). Zum Vergleich ist das Mo natsmittel für August 1998/1999 des HALOE Satelliteninstruments zwischen 40°N und 50 °N dargestellt (schwarz). dem in welcher Höhe der Wasserdampf zunehme, könne dies allerdings einen Kühloder einen zusätzlichen Wärmeeffekt zur Folge haben. Um dem flüchtigen Wasserdampf auf die Spur zu kommen, bedient sich das Institut für angewandte Physik gleich mehrerer Messmethoden, die zum Teil in Bern entwickelt und perfektioniert wurden. Sie alle erlauben, die Gesamtsumme des atmosphärischen Wasserdampfs zu messen – eine imaginäre Säule von kondensiertem Wasser, deren Höhe im Jahresmittel rund einen Zentimeter beträgt. Traditionellerweise wird Wasserdampf in der Atmosphäre mit einem so genannten Sonnenphotometer gemessen, einem optischen Gerät, das direkt auf die Sonne ausgerichtet wird. Nachteil: In der Nacht und bei bewölktem Himmel können keine Messungen durchgeführt werden. Erst seit kurzem nutzen die Atmosphärenphysiker die Möglichkeiten eines Messsystems, das ursprünglich für ganz andere Zwecke entwickelt wurde: AGNES, das Netz fix installierter GPS-Stationen der Landestopographie SwissTopo (siehe Kasten «Satellitennavigation»). Berner setzen internationalen Messstandard Eigentlicher Schwerpunkt der Berner Wasserdampfforschung ist die Arbeit mit Mikrowellentechnologie, die in einer neuen Generation von Radiometern zum Einsatz kommt. Es sind Geräte mit klingenden Namen wie MIAWARA oder ASMU- hätten sich die Klimamodellierer nämlich bei der Luftfeuchtigkeit auf Daten aus der Wettervorhersage gestützt. Mit anderen Worten: «Ein Modell speiste das andere.» Ihre Messdaten, so hoffen die Atmosphärenphysiker, könnten insbesondere zur Verbesserung der Klimamodelle für den Alpenraum beitragen. Und noch etwas soll die STARTWAVE-Datenbank möglich machen: Durch den Vergleich von gemessenen mit den simulierten Feuchtigkeitswerten soll sich die Qualität der Computermodelle überprüfen lassen und eine Eichung möglich werden. WARA, die in den Gruppen von Niklaus Kämpfer und Christian Mätzler entwickelt wurden. Sie ermöglichen Messungen rund um die Uhr und auch bei schlechten Wetterbedingungen – und sie gehören zu den weltweit wenigen Messvorrichtungen, die nicht nur die Summe des Wasserdampfs ermitteln, sondern auch seine vertikale Verteilung. MIAWARA etwa, das der Physiker Beat Deuber konzipiert hat, liefert ein komplettes Höhenprofil, und dies über 70 Kilometer bis hinauf in die so genannte Mesopause. Der Stellenwert dieser Arbeiten zeigt sich nicht zu letzt darin, dass die Berner Radiometriemessungen zum internationalen Vergleichsstandard werden sollen. Dies auf Anregung des International Network for the Detection of Stratospheric Change (NDSC), einem weltweiten Forschungsnetzwerk, das mit der Überwachung der Atmosphäre betraut ist. Zurück zu spezifisch helvetischen Daten: Ziel des Berner STARTWAVE-Projekts ist eine Art Dienstleistungsangebot für andere Wissenschafter im NFS Klima. In den kommenden Jahren soll eine umfassende Datenbank zur Verteilung von Wasserdampf über der Schweiz aufgebaut werden, und zwar für die Klima und Wetter bestimmenden tieferen Schichten der Atmosphäre. Diese Messwerte wollen die Berner ihren Forscherkollegen anbieten, die sich mit der Simulation von Klimaszenarien beschäftigen. Sie sollen ihre Computermodelle künftig mit «Daten aus der Realität» füttern können, wie sich Christian Mätzler ausdrückt. Bis anhin Unterschiedliche Forschungskulturen Noch ist diese Datenbank aber nicht ganz Wirklichkeit. Die Messresultate liegen noch nicht in benutzerfreundlicher Form vor, und es werden nicht alle Messungen kontinuierlich durchgeführt, denn für den Dauerbetrieb wurden die bestehenden Geräte nicht gebaut. All dies soll sich jedoch in den kommenden zwei Jahren ändern. Bis dann werden Atmosphärenphysiker und Klimamodellierer hoffentlich auch Dienstleistungsangebot und effektive Bedürfnisse aufeinander abgestimmt haben. Denn eigentlich wissen die potentiellen Partner noch herzlich wenig von der gegenseitigen Arbeit. Es gebe da, räumen Niklaus Kämpfer und Christian Mätzler unumwunden ein, «ein Problem unterschiedlicher Kulturen». Das gemeinsame Interesse aller Klimaforscher am Thema Wasserdampf liegt allerdings auf der Hand. Jede Veränderung des Wasserdampfanteils in der Atmosphäre wirkt sich auf den Treibhauseffekt aus – und umgekehrt. Kaspar Meuli, NFS Klima UNIPRESS116/APRIL 2003 33 Die Rolle der Umwelt in der Evolution des Menschen Klima und prähistorische Bevölkerungsbewegungen Seit dem Erscheinen des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) vor etwa 120–150 000 Jahren ist das Klima auf unserem Planeten mit zwei grossen eiszeitlichen Perioden und einer Zwischeneiszeit, welche durch schnelle Wechsel zwischen kälteren und wärmeren Zeiten geprägt wurden, starken Schwankungen ausgesetzt, die mit Sicherheit ihre Auswirkungen auch auf die menschliche Spezies hatten. lichten, zu Fuss nach Japan, auf die Britischen Inseln, Indonesien oder Amerika zu gelangen. Diese Klimawechsel wurden begleitet von Meeresspiegelschwankungen und drastischen Veränderungen der Vegetationsdecke (vgl. Abb. 1). So war das Letzte Glaziale Maximum (LGM) gekennzeichnet durch einen Aufbau von grossen Gletschermassen in den nördlichen Breitengraden und den Gebirgen, eine markante Ausdehnung der Wüsten und einen fast gänzlichen Rückgang der äquatorialen Wälder. und Pflanzen innerhalb eines bestimmten Lebensraums vorgegeben und beschränkt waren. Jedwede Veränderung der äusseren Bedingungen brachte als Konsequenz vermutlich auch eine Veränderung der Anzahl Individuen, die einen bestimmten Lebensraum besiedeln konnten, mit sich. Ein Zusammenhang der Demographie des modernen Menschen mit den klimatischen Schwankungen ist deshalb sicher wahrscheinlich. Dieser zweite Haupteffekt von Klimaschwankungen bestand also in der markanten Einwirkung auf den Umfang der Migration innerhalb und zwischen den Kontinenten. Daraus kann sicher abgeleitet werden, dass Kaltzeiten im späten Pleistozän einher gingen mit einer weltweiten Dezimierung der Menschheit und deren Aufsplitterung in kleine, durch Trockengebiete oder Gletscher voneinander abgetrennte Gruppen. Als Gegenpol dazu waren Warmzeiten offenbar gleich bedeutend mit einem globalen Bevölkerungswachstum, das auf die Ausbreitung der modernen Menschen in zuvor lebensfeindliche Gebiete zurückzuführen war. Der Anstieg der Meeresspiegel allerdings hat vermutlich die Isolation gewisser Völker mit verursacht. Es ist schwierig, genaue Schlüsse über das Schicksal, welches unsere Vorfahren während dieser Zeiträume ereilte, zu ziehen. Klar scheint aber, dass Umweltveränderungen das Leben der damaligen Menschen in mindestens zwei Bereichen stark beeinflussten. Einmal, weil unsere Vorfahren Jäger und Sammler und die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen durch die Anzahl vorhandener Tiere Die zweite Auswirkung der Umweltveränderungen auf das Leben unserer Vorfahren manifestierte sich im Ausbreitungsvermögen (Abb. 2) der Menschen. Grössere Wüsten und gletscherbedecktes Gebirge verwandelten sich in unüberwindbare Hindernisse, was zur Isolierung gewisser Populationen beitrug, während infolge des Meeresspiegelrückgangs zeitweise freiliegende Landbrücken den Menschen ermög- Genetische Diversität und demographische Geschichte Einer der jüngsten Fortschritte der Populationsgenetik bestand darin, den engen Zusammenhang zwischen der genetischen Vielfalt einer Population und deren demographischen Geschichte aufzuzeigen. Wenn man genau eruieren könnte, wie viele Individuen während eines bestimmten Zeitraums an einem bestimm- Abb. 1: Vegetationstypen der Alten Welt, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Nicolas Ray. A: Vegetation, wie sie sich heute präsentieren könnte, ohne menschliche Intervention. B: Vegetation während des Letzten Glazialen Maximums, vor ca. 22 000 Jahren. 34 UNIPRESS116/APRIL 2003 ten Ort lebten und wie viele Migranten zwischen den Populationen ausgetauscht wurden, könnte man Umfang und Struktur der innerhalb der menschlichen Populationen herrschenden genetischen Diversität exakt ermitteln. Äusserst wertvolle Informationen also, denn sie würden uns beispielsweise helfen, Bereiche auf unseren Chromosomen zu finden, welche nicht mit jenen Erkenntnissen übereinstimmen. Solche Bereiche kämen potentiell für eine Selektion in Frage, weil sie mit der Anfälligkeit für Krankheiten in Zusammenhang stehen, oder weil sie anpassungsfähige Gene enthalten, welche in einer bestimmten Umgebung vorteilhafte Eigenschaften aufweisen. Leider stehen uns keine detaillierten Daten zur demographischen Geschichte aus paläontologischen oder archäologischen Aufzeichnungen zur Verfügung, aber es konnte nachgewiesen werden, dass unsere genetische Vielfalt Spuren früherer demographischer Expansionen oder Neubesiedelungen trägt, die vor 200 000 bis 100 000 Jahren oder in noch jüngerer Vergangenheit in europäischen Bevölkerungen stattgefunden haben. Diese Spuren decken sich mit der Hypothese einer raschen, von einem einzigen gemeinsa- -145 men geographischen Ursprungsort ausgehenden Expansion der Menschheit. Wo auf dem Atlas dieser Ursprungsort genau liegt, ist noch immer unklar, aber Indizien deuten auf den afrikanischen Kontinent hin. Interessanterweise fällt diese Expansion zeitlich zusammen mit dem Auftreten des modernen Menschen vor ungefähr 120 000–150 000 Jahren. Dies würde darauf hindeuten, dass diese Expansion mit einem Speziationsereignis eingeleitet worden war. Daten als Grundlagen von Migrationsszenarien Die Hypothese einer raschen räumlichen Ausbreitung der menschlichen Spezies drängt sich auf, und dennoch werden Ursache und Merkmale dieser Expansion oder der Vorgang, wie sich die genetischen Unterschiede zwischen den kontinentalen Gruppen über die Zeit hinweg akkumuliert haben, völlig ausser Acht gelassen. Auch wird man in der nahen Zukunft voraussichtlich keine neuen Erkenntnisse über die Demographie- und Migrationsgeschichte des Menschen gewinnen. Während die Rekonstruktion historischer Demographieszenarien nur schwer vorankommt, wird die Aufarbeitung von Klima- und Umweltdaten der Abb. 2: Buschbewohner im südlichen Afrika unterwegs in der Kalahari-Wüste. Menschen vermögen unter härtesten Umweltbedingungen zu leben und mobil zu sein. © Copyright 2003 Corbis Vergangenheit hingegen mit beeindruckendem Tempo vorangetrieben. Die vorgenannten Gründe verdeutlichen, dass der Mensch den Gesetzen seiner Umwelt unterliegt. Sie ist es, die vorgibt, wie viele Individuen in einem bestimmten Zeitraum in einem bestimmten Lebensraum unter bestimmten technologischen Voraussetzungen leben können. So kann eine Savanne einer grösseren Anzahl Menschen als Lebensraum dienen als eine Wüste. Ebenso liegt auf der Hand, dass gewisse Umgebungen einfacher durchwandert werden können als andere. Es ist natürlich we- -130 -120 -70 -22 -5 Abb. 3: Sechs Ansichten einer simulierten Kolonisierung der Alten Welt, mit zufällig ausgewähltem Zeitpunkt vor 5000 Generationen (rund 150 000 Jahre) und Ursprungsort südliches Afrika. Dunklere Grauschattierungen bezeichnen grössere Migrationsraten. Rote Balken symbolisieren Intensität und Richtung der Nettoflux-Migrationen. Zahlen sind als Zeitangaben vor dem heutigen Datum in Jahrtausenden (vor 22 000 Jahren entspricht ungefähr dem Letzten Glazialen Maximum) zu verstehen. Man beachte die Veränderungen der Meereskonturen und den Umstand, dass in unseren Simulationen keinerlei technologische Entwicklungen berücksichtigt wurden. UNIPRESS116/APRIL 2003 35 ������������������ ������������������ �������������� ��������� �������� ������������� ������������������� ������������������������� ��������������������� �������������� �������������� ��������������������������� ������������������������ Abb. 4: Einsatz umweltabhängiger Simulationen zur Erforschung von Menschheitsentwicklungs- und Demographieszenarien. niger schwierig, Grasland zu durchqueren als äquatoriale Wälder. Die Nutzung von Informationen über Paläolandschaften zur retrospektiven Untersuchung von Populationsdichten und Verbreitungsstrukturen erscheint ebenso verheissungsvoll wie das Einfliessenlassen historischer Klimadaten zur Modellierung von Phasen der Bevölkerungsexpansion und -kontraktion während der wichtigsten Phasen der menschlichen Evolution. Migrationen in einer virtuellen Welt An unserem Institut haben wir ein Computermodell entwickelt, das die Alte Welt darstellt. Diese virtuelle Welt ist in ca. 10 000 quadratische Zellen eingeteilt, welche ungefähr 100 auf 100 Kilometer entsprechen. Jede Zelle kann eine Bevölkerung aufnehmen, deren Grösse von der zu einer bestimmten Zeit vorhandenen Vegetation abhängt und die mit ihren Nachbarbevölkerungen Migranten austauscht. Die Häufigkeit dieses Migrantenaustauschs wiederum hängt vom Schwierigkeitsgrad der Durchquerung einer bestimmten Umgebung ab. Nachdem wir einen zufällig gewählten Ursprung für die modernen Menschen definiert haben, lassen wir die Populationen lokal wachsen, schicken Migranten zu Nachbarzellen und kolonisieren schliesslich nach und nach unsere virtuelle Welt (Abb. 3). Zu jeder Generation halten wir in einer Datenbank sowohl die Anzahl Bewohner jeder Zelle als auch die Anzahl der zwischen den Zellen ausgetauschten Migranten fest (Abb. 4). Diese Demogra- 36 UNIPRESS116/APRIL 2003 netische Diversität können wir anschliessend mit unseren realen Beobachtungen vergleichen und so herausfinden, ob unser Demographie- und Migrationsmodell Sinn macht. Es scheint uns angebracht, hier genetische Daten zur Wertung und zum Test eines bestimmten Demographie- und Migrationsszenario zu verwenden (s. Abb. 4). Schwierigkeiten und Anwendungen Obwohl das Prinzip dieser Simulationen recht einfach ist, steckt hoher Informatikaufwand dahinter. Ausserdem hängt ihre Verlässlichkeit zentral von mehreren nur schwer kalkulierbaren Parametern ab: der genauen Anzahl Bewohner, die in einem bestimmten Lebensraum leben können, der durchschnittlichen Distanz, die ein Individuum innerhalb einer Generation zurücklegen kann, der Häufigkeit von Migration über weite Distanzen, der Wachstumsrate einer bestimmten Population oder der Grösse des Bevölkerungsanteils, der in Nachbarpopulationen auswandert. Wir sind also noch weit davon entfernt, alle Schwierigkeiten einer Simulation der vergangenen Bevölkerungsbewegungen überwunden zu haben. Trotzdem sind wir überzeugt, dass die Migrationen in einem wesentlichen Masse von den während der letzten 120 000 Jahre auf unserem Planeten herrschenden Klima- und Umweltbedingungen beeinflusst wurden. phie- und Migrationsdatenbank wird dann zur Simulation der genetischen Diversität einiger Populationen eingesetzt, über welche wir bereits genetische Daten besitzen. Dieser genetische Simulationsprozess soll die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Genen der Individuen, die wir gesammelt haben, rekonstruieren. Wir versuchen so, die geographische Herkunft der Vorfahren dieser Gene sowie Alter und Herkunft der gemeinsamen Ahnen der Gene zu entschlüsseln und so fort, bis wir den jüngsten gemeinsamen Ur-Ahnen aller bis heute gesammelten Gene gefunden haben. Wenn man sich das vor Augen führt, wird klar, dass Ur-Gene sich tatsächlich räumlich fortbewegen können. Nachforschungen im eigenen Familienstammbaum erge- Wenn es uns gelingt, die Migrationen der ben nämlich meistens, dass die Vorfahren Menschheitsgeschichte korrekt zu rekon(und damit deren Gene) woanders lebten struieren, könnte dasselbe Modell – in als wir und dass sie in den Ort, an dem wir sämtlichen geographischen Dimensionen jetzt ansässig sind, einst einwanderten. Es – auch auf jedes andere Lebewesen überkann aber auch sein, dass wir selbst (und tragen werden, über welches wir Informit uns unsere Gene) kürzlich migriert mationen hinsichtlich Populationsdichten sind. Wenn wir also in die Vergangenheit und Verbreitungsvermögen in verschiedezurückblicken, können die Vorfahren un- nen Lebensräumen erhalten können. Eine serer Gene an ziemlich weit entfernten und andere Herausforderung als die Rekonunerwarteten Orten zu finden sein. struierung früherer Migrationen wäre sicher auch die Modellierung der AuswirSobald wir die Genealogie der Gene ein- kungen zukünftiger Klimaveränderungen mal bis zum jüngsten gemeinsamen Vor- auf die genetische Vielfalt einer bestimmfahren zurückverfolgt haben, lässt sich die ten Spezies, was nicht zuletzt für die aktuelle genetische Diversität durch das Schaffung wirksamer Massnahmen zur Wissen bestimmen, dass die Gene seit die- Erhaltung der Umwelt von wichtiger Besem gemeinsamen Vorfahren Veränderun- deutung sein könnte. gen erfahren haben, weil Mutationen sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger re- Prof. Dr. Laurent Excoffier gelmässig anhäufen. Diese simulierte ge- Zoologisches Institut Natürliche Klimaarchive in den Anden Die Wüste zum Sprechen bringen Nichts deutet in dieser Einöde auf Leben hin: Salzseen, wolkenloser Horizont und kahles Geröll prägen die Szenerie am Fuss der Anden. Vor 10 000 Jahren allerdings, so haben Berner Klimatologen nachgewiesen, bot die Atacama-Wüste Lebensraum für Mensch und Tier. Diese Erkenntnis ist Teil einer langjährigen Untersuchung zum Klimawandel auf der Südhemisphäre. Das Leben in der Atacama-Wüste ist nicht nach jedes Forschers Geschmack. Die Hochebene im Norden Chiles ist extrem trocken, und die Nächte im Zelt sind bitterkalt. Weshalb also zieht es Berner Geographen seit 15 Jahren immer von neuem zu monatelangen Feldforschungskampagnen in die Anden? Antwort: Weil noch fast keine anderen Klimawissenschafter vor ihnen da waren. Etwas nuancierter ausgedrückt: Das Grenzgebiet zwischen Chile, Peru und Bolivien bietet Paläoklimatologen, die sich für den Klimawandel seit der letzten Eiszeit interessieren, einzigartige Möglichkeiten. Zum einen umfasst die Atacama-Region das ganze geographische Höhenspektrum – von Meereshöhe bis zu Gipfeln auf über 7000 Metern. Zum anderen liegt sie in der Südhemisphäre, deren Klimageschichte im Vergleich zu nördlichen Breiten bis vor kurzem kaum erforscht war. Daten über das Klima der Vergangenheit auf der Südhalbkugel jedoch sind von grosser allgemeiner Bedeutung: Je detaillierter diese Informationen, desto besser können die Ergebnisse von globalen Klimamodellen überprüft und optimiert werden. Es war nicht zuletzt das viele Neuland, das in den späten 1980er Jahren die Neugier der Berner Forscher an Chile weckte. Und, so räumt Martin Grosjean ein, der heute als Programmleiter des NFS Klima arbeitet, die Klimaforschung in der Atacama-Wüste zeichnete sich bald einmal als viel versprechende Strategie im hart umkämpften Wissenschaftsbetrieb ab. «Hier gab es eine Nische zu besetzen. Ein Forschungsgebiet, das uns die Möglichkeit bot, trotz beschränkter Mittel einen international beachteten Beitrag zur Paläoklimatologie zu liefern. In Gebieten, wo grosse Forschungsnationen seit Jahrzehnten Projekte am Laufen haben, wäre dies nie möglich gewesen.» Abb. 1: Die extrem trockene AtacamaWüste liegt eingebettet zwischen einer Zone tropischer Niederschläge im Norden und einer vom Westwindregime geprägten Zone im Süden. Tatsächlich trafen die Berner Geographen in Südamerika einen grossen weissen Fleck auf der Landkarte der Klimaforschung an. Über das klimatische Auf und Ab in der Atacama-Wüste war vor 15 Jahren so gut wie nichts bekannt. «Von der Sahara», sagt Heinz Veit, der mehrere Jahre in Chile lebte und heute Direktor des Geographischen Instituts in Bern ist, «weiss man seit langem, dass sie im Neolithikum sehr feucht war. Dort gab es eine von vielen Tieren bevölkerte Savanne. Wir wollten wissen, ob es in der Atacama eine vergleichbare Entwicklung gab.» Von Interesse war aber nicht nur, ob die heute extrem trockene Region im Laufe ihrer Geschichte mehr Niederschläge kannte, sondern auch, woher eventueller Regen kam. Hintergrund: Die Atacama-Wüste befindet sich in einem für die Wetter- und Klimadynamik besonders aufschlussreichen Gebiet zwischen einer Zone tropischer Niederschläge im Norden und einer vom Westwindregime geprägten Zone im Süden. Könnten diese Niederschlagsgürtel, so eine Vermutung der Klimaforscher zu Beginn ihrer Arbeit, im Lauf der Jahrtausende nicht gewandert sein? Breite Palette von Datenquellen genutzt Antworten auf diese und andere Fragen versprachen sich die verschiedenen Forscherteams von natürlichen Klimaarchiven. Auf der Suche nach Feuchtperioden in der Vergangenheit der Atacama-Wüste boten sich eine ganze Palette von Datenquellen an: Böden, Vulkanseen, Gletscherablagerungen sowie Grundwasservorkommen. • In gebohrten Sedimentkernen oder an so genannten Aufschlüssen in der Landschaft lassen sich Feuchtphasen an fossilen Böden erkennen. Die fossilen Bodenschichten sind einst durch eine geschlossene Vegetationsdecke entstanden und zeugen von feuchtem Klima in der Vergangenheit. Diese Hinweise lassen sich zwar nicht sehr genau datieren, sind aber weiträumig vorhanden. • Genau umgekehrt steht es mit den abgeschlossenen Vulkanseen. Sie lassen sich in der Atacama-Region an einer UNIPRESS116/APRIL 2003 37 Abb. 2: Feldlabor im Amazonas-Regenwald. Foto: Heinz Veit Hand abzählen, liefern aber auf zehn Jahre genaue Ergebnisse. Untersucht werden Bohrkerne, die Aufschluss darüber geben, wie der Seespiegel je nach Niederschlag und Verdunstung schwankte. • Der grossen Trockenheit wegen sind Gletscher aus dem Hochgebirge der Atacama längst verschwunden. Deshalb lassen sich hier nicht Eisbohrkerne als Informationsquelle nutzen wie etwa in den Alpen, sondern lediglich Moränen. Sie belegen die Existenz von Gletschern und sind ein untrügliches Zeichen für vergangene Feuchtphasen. Das Datieren der Moränen allerdings ist eine knifflige Aufgabe: In der Atacama fehlen Baumstämme im Gletschergeschiebe, mit denen man sich anderswo zur Altersbestimmung behilft. Was bleibt, ist die Bestimmung von Findlingen oder Gletscherschliffen mittels kosmogenen Nukliden, die so genannte Expositionsalter-Methode. • Auch mehrere Tausend Jahre altes Grundwasser liefert in der Atacama klimarelevante Informationen. Die Bildung dieser Vorkommen lässt sich datieren und mit Hinweisen auf Feuchtperioden in den anderen Archiven vergleichen. Und: Aus der chemischen Zusammensetzung des Grundwassers kann ermittelt werden, woher der historische Regen über der Atacama stammte – ob aus dem Amazonasgebiet oder vom Pazifik. 38 UNIPRESS116/APRIL 2003 Abb. 3: In der Laguna Miscanti in der chilensichen Atacama-Wüste werden Seesedimente entnommen. Mehrere Feuchtphasen nachgewiesen Was nun haben 15 Jahre Klimaforschung in der Atacama gebracht? Zu welchem Erkenntnisgewinn trugen Hunderte von durchgefrorenen Nächten und ein Dutzend Diplom- und Doktorarbeiten bei? Klar geworden ist, dass der Norden Chiles tatsächlich nicht immer die lebensfeindliche Wüste war, die er heute ist. «Wir konnten anhand der natürlichen Archive mehrere Feuchtphasen seit der letzten Eiszeit nachweisen», sagt Heinz Veit. Dies gilt allerdings nicht für das ganze untersuchte Gebiet, das rund sechs Mal so gross ist wie die Schweiz. Im Gegensatz zu den Anden war die Küstenkordilliere in den vergangenen 15 Millionen Jahren permanent trocken – genauer: Sie ist trocken, seit im Miozän die Anden emporgehoben wurden und sich als Barriere den feuchten Luftmassen aus dem Amazonas in den Weg stellten. Denn auch dies steht mittlerweile fest: Der Norden der heutigen Atacama lag einst im Einflussbereich des tropischen Niederschlaggürtels. Foto: Martin Grosjean So stellen denn die Berner Atacama-Daten einen Baustein in einem weit ambitionierteren Vorhaben dar: PAGES (Past Global Changes), das internationale, auf den Klimawandel in der Vergangenheit ausgerichtete Forschungsprogramm, ist bestrebt, natürliche Klimaarchive weltweit miteinander zu verknüpfen, und zwar entlang von drei Transsekten (Messstreifen) von Pol zu Pol. Noch ist die Forschung der Berner Geographen in Südamerika längst nicht abgeschlossen. Die Feldarbeit allerdings hat sich mittlerweile aus Chile nach Osten ins argentinische und bolivianische Vorland der Anden verlagert. Wenn die Niederschläge auf dem Altiplano, so die Hypothese, einst aus dem Amazonas-Gebiet Für sich alleine genommen, mag dieser Wissenszuwachs bescheiden erscheinen, aber, so betont Heinz Veit: «Unsere Art von Forschung liefert nicht innert weniger Jahre komplette Ergebnisse. Um die grossen Fragen der Klimageschichte zu klä- Abb. 4: Auf eine Höhe von über 5000 Meren, braucht es viele Forschungsgruppen, ter über Meer wird in den chilenischen Andie sich zum Teil über mehrere Genera- den eine Wetterstation einbetoniert tionen mit demselben Thema befassen.» . Foto: Martin Grosjean stammten, müssten sich dort ebenfalls paläoklimatische Beweise für Klimaänderungen finden lassen. Und vielleicht liegt im Amazonas-Becken gar der Grund für die sich abwechselnden Feucht- und Trockenphasen der zentralen Anden. Ein stark zurückgedrängter Regenwald, so lässt sich vermuten, verdunstete weniger Feuchtigkeit, womit auch weniger ergiebige Niederschläge westwärts, Richtung Anden transportiert wurden. Abb. 5: An einem Lössauf schluss in den bolivianischen Yungas lassen sich Feucht phasen an fossilen Böden erkennen. Foto: Heinz Veit Pionierarbeit im Regenwald Über diese Zusammenhänge gibt es bis heute wenig Gewissheit. Die einzigen, aus natürlichen Klimaarchiven des Regenwalds erhobenen Daten sind so genannte Pollenprofile. Sie geben Auskunft über die Verbreitung unterschiedlicher Pflanzenarten in der Vergangenheit und erlauben Rückschlüsse auf das Klima. Die wenigen vorhandenen Amazonas-Profile werden von der Fachwelt aber höchst kontrovers diskutiert: Manchen Biologen gelten sie als Beweis dafür, dass sich an der Ausdehnung des Regenwalds in den ver- gangen 20 000 Jahren kam etwas geän- kampagnen in Bolivien geplant. Im Hochdert hat. Andere Interpretationen sehen land sollen – ähnlich wie in der Atacama den Regenwald während Trockenphasen – Spuren von Gletschern gesucht und dabis auf wenige Inseln von einer Savanne tiert werden. Im bolivianischen Tiefland, zurückgedrängt. den Yungas, jedoch wollen die Forscher ein weiteres Klimaarchiv nutzen: Dünen Erstmals wollen Forscher des Berner Geo- und Flugstaubablagerungen in den Berggraphischen Instituts nun den biologi- regenwäldern. In diesen Sand- und Lössschen Befunden zu Klimaschwankungen sedimenten haben sich in feucht-warmen im Amazonasgebiet geowissenschaftliche Perioden jeweils Böden ausgebildet, wähErkenntnisse gegenüberstellen. Dazu sind rend die Sedimente selbst trockene Verim laufenden Jahr zunächst zwei Feld- hältnisse mit spärlicher Vegetationsbedeckung anzeigen. Zusammensetzung und Klimaforschung unterstützt Archäologie Mächtigkeit dieser Schichten liefern DaDas Interesse an seiner Arbeit kam auch für Martin Grosjean überraschend. Als der ten über den Klimawandel. Im Nordwesten Berner Geograph im vergangenen Oktober die Resultate seiner zehnjährigen For- von Argentinien war anhand von 50 Meschung im Norden Chiles in einem Artikel in der renommierten Zeitschrift «Science» ter starken Lössaufschlüssen eine Rekonpräsentierte, wurde er für amerikanische Journalisten zum gefragten Mann. Unter anstruktion der Feuchtperioden über die verderem war Grosjeans Arbeit über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und gangenen 1,3 Millionen Jahre möglich. Besiedlung der Atacama-Wüste der «Washington Post» einen gross aufgemachten Artikel wert. Unter dem Titel «Klima liefert Hinweis auf chilenisches Urvolk» hob das Feldarbeit nur für hart gesottene AbenteuWeltblatt hervor, die Studie werfe neues Licht auf die Migrationen der frühesten Berer? Nein, nein, wehrt Heinz Veit ab, der wohner des amerikanischen Kontinents. die neuen Projekte leitet. Um eigentliche Grosjean und der chilenische Archäologe Lautaro Nuñez weisen in ihrer Publikation nach, dass menschliche Aktivitäten eng mit dem Klimawandel verknüpft sind. Die Besiedlung der Atacama-Region habe erst eingesetzt, als sich rund 11 000 Jahre vor Christus günstige klimatische Bedingungen einstellten. Als sich die Verhältnisse 3500 Jahre später einschneidend wandelten, seien die Menschen aus dem Gebiet verschwunden und erst 5000 Jahre später wieder zurückgekehrt. Diese Erkenntnisse verdanken Grosjean und seine Kollegen einem innovativen Forschungsansatz: Zuerst ermittelten sie mit Hilfe klimageschichtlicher Rekonstruktionen Standorte, beispielsweise Seeufer, die in der Vergangenheit für die Besiedlung besonders geeignet sein mussten. Danach führten sie an diesen Stellen Ausgrabungen durch und stiessen dabei auf höchst zahlreiche, bisher unbekannte Spuren früher menschlicher Aktivität. Unter anderem konnte das chilenisch-schweizerische Team anhand von Knochenfunden und frühen Werkzeugen nachweisen, dass in der Atacama Menschen und Eiszeitiere am selben Ort zusammenlebten – eine Premiere im tropischen Südamerika! Das Projekt, lobt die «Washington Post», sei ein «Modell» dafür, wie die Klimaforschung Archäologen bei der Suche nach Zeugen menschlicher Besiedlung unterstützen könnten. Und auch «National Geographic» unterstreicht in einem mehrseitigen Beitrag die Bedeutung des «interdisziplinären Ansatzes» für den wissenschaftlichen Erfolg in der Atacama-Wüste. Expeditionen handle es sich bei den aktuellen Vorhaben in Bolivien nicht. «Da reicht ein Allradjeep und die Bereitschaft, viel zu Fuss zu gehen.» In den tropischen Yungas-Hügeln allerdings sind die Klimaforscher bei der Suche nach Dünen auf die Hilfe von Macheten schwingenden Führern angewiesen. Nur sie können ihnen den Weg abseits der Strassen frei schlagen. Und möglicherweise kommen unter den Berner Nachwuchsforschern, die demnächst nach Südamerika reisen, auch besonders abenteuerlustige Charaktere auf ihre Rechnung: «Im Tiefland Boliviens», erläutert ihr Betreuer Heinz Veit, «befinden wir uns im Hauptanbaugebiet der Welt für Coca – das ist ein echtes Gefahrenpotential. Schon möglich, dass man da zwischen die Fronten gerät, wenn man irgendwo drauflos bohrt.» UNIPRESS116/APRIL 2003 39 Die ökonomische Dimension des Klimawandels Klimaökonomie «Gott würfelt nicht, doch der Mensch spielt mit dem Klima», könnte man in Anspielung auf Einstein unseren Umgang mit dem Klima beschreiben. Denn obwohl die Atmosphäre nur beschränkt Treibhausgase verarbeiten kann, steigen die anthropogenen, d.h. von Menschen verursachten, Emissionen dieser Gase Jahr für Jahr. Ohne Gegensteuer sind massive ökonomische und ökologische Schäden zu erwarten. Ökonomische Entscheidungen beeinflussen unsere Zukunft und die künftiger Generationen in vielfältiger Weise. Beispielsweise werden knappe Ressourcen eingesetzt, um physisches Kapital und Infrastrukturen aufzubauen, Forschung zu betreiben und Wissen zu vermitteln. Auch Klimaschutz ist eine Investition in die Zukunft. Massnahmen zur Vermeidung von Treibhausgasemissionen beugen einem potentiellen Klimawandel vor. Diese Investitionen unterbleiben jedoch, wenn ökonomische Anreize fehlen. Klimaschutz kann aber nicht um jeden Preis betrieben werden. Eine wirksame Reduktion von Emissionen bindet Ressourcen, die anderen Verwendungen entzogen werden müssen. Das Potential so ge- nannter no-regret-Massnahmen ist viel zu klein, um diese Verwendungskonkurrenz zu umgehen. Für einen rationalen Umgang mit dem Klimaproblem ist es deshalb unverzichtbar, Vor- und Nachteile von Vermeidungspolitiken abzuwägen und effiziente Strategien zu entwickeln. Der methodische Ansatz Die Notwendigkeit, Kosten und Nutzen des Klimaschutzes abzuwägen, hat zur Entwicklung von Integrated Assessment Models (IAM) geführt. Ein IAM besteht mindestens aus zwei Modulen: einem ökonomischen und einem Klima-Submodell (siehe Abb. 1). IAMs ermöglichen nicht nur allgemeine Einsichten in die komplexen Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Ökologie; sie gestatten es auch, op- Temperaturänderungen timale globale Vermeidungsstrategien zu ermitteln (siehe Abb. 2) sowie ihre Umsetzung in einer Marktwirtschaft zu diskutieren. Datenmangel und beschränkte Rechenkapazitäten haben den frühen IAMs enge Grenzen gesetzt. So musste unterstellt werden, die Welt sei eine Region, und die individuellen Entscheidungskompetenzen seien an eine supranationale Institution delegiert. Um eine effiziente Klimapolitik zu ermitteln, vergleicht diese Institution die Kosten von Vermeidungsmassnahmen mit den vermiedenen, monetär bewerteten Klimaschäden. Beide Einschränkungen sind in der Zwischenzeit überwunden. Einerseits wurden räumlich differenzierte IAMs entwickelt. Somit können heute die Auswirkungen des Klimawandels regional differenziert und global optimale Klimastrategien in regionale Politik übersetzt werden. Andererseits basieren moderne IAMs auf dem Konzept einer überlappenden Generationenökonomie mit dezentralen Entscheidungsstrukturen. Dadurch können Aspekte wie Gerechtigkeit über Generationen hinweg, langfristige Durchsetzbarkeit von Klimapolitiken oder die Rolle von Kapital und Versicherungsmärkten bei der Überwindung des Treibhausproblems untersucht werden. Treibhausgasemission Intergenerative Gerechtigkeit Zu behaupten, der anthropogene Treibhauseffekt sei in erster Linie eine Frage der effizienten Ressourcenverwendung, ist nur die halbe Wahrheit. Zwar neigen viele Ökonomen dazu, die Klimaproblematik aus einer Kosten-Nutzen-Perspektive zu betrachten. Es gibt aber auch Wirtschaftswissenschafter, die das Treibhausproblem weniger als ein Effizienz- denn als ein Verteilungsproblem sehen. Sie geben normativen Gerechtigkeitspostulaten Vorrang vor effizienztheoretischen Überlegungen. Abb. 1: Integrated Assessment Modelling (IAM): Ein IAM erfasst die Interaktion zwischen Ökonomie und Klima. Anthropogene Treibhausgasemissionen sind primär eine Folge der energetischen Nutzung fossiler Brennstoffe. Sie reichern sich in der Atmosphäre an, was Klimaänderungen mit sich bringt. Die Klimaänderung wiederum verändert die Produktions- und Konsummöglichkeiten. Eine Schlüsselgrösse hierbei ist die Diskontrate. Die Kosten des Klimaschutzes fallen in naher, der Nutzen in ferner Zukunft an. Um Nutzen und Kosten dennoch vergleichen zu können, muss diskontiert Ökonomisches Modell fossile Energieträger 40 Produktion Konsum UNIPRESS116/APRIL 2003 KlimaModell Temperaturänderung Kohlenstoffakkumulation werden. Diskontierung ist also eine technische Notwendigkeit, wenn Grössen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten, aufeinander bezogen werden sollen. Allerdings wird mit der Wahl der Diskontrate das Gewicht bestimmt, mit dem zukünftige Kosten und Nutzen in das ökonomische Kalkül eingehen (siehe Abb. 3). Gegenwartswert von 100 GE Abb. 2: Optimale Klimapolitik: Ökonomische Klimapolitik stellt den Kosten der Vermeidung von Emissionen die vermiedenen Klimaschäden gegenüber. Der optimale Vermeidungsgrad ist erreicht, wenn die Grenzvermeidungskosten gerade den Grenzklimaschäden entsprechen. (Grenzvermeidungskosten sind die zusätzlichen Kosten einer zusätzlich vermiedenen Emissionseinheit. Grenzklimaschäden sind die zusätzlichen monetären Schäden einer weiteren Emissionseinheit.) Zeit (Jahre) Abb. 3: Diskontierung: Die Abbildung zeigt den Gegenwartswert von 100 Geldeinheiten in Abhängigkeit vom Zeitpunkt und der Diskontrate. Ein monetär bewerteter Klimaschaden von 100 Einheiten in 50 Jahren wird bei einer Diskontrate von 3 % heute mit 22 Einheiten beziffert. Einfach ausgedrückt verlangt intergenerative Gerechtigkeit, alle Generationen gleich zu behandeln. Eine Diskontierung von Kosten und Nutzen mit einer positiven Rate widerspricht scheinbar diesem moralischen Postulat, denn sie impliziert ein Verteilungskriterium zu Ungunsten künftiger Generationen: je höher die Diskontrate ist, desto kleiner wird das Gewicht, mit dem Wünsche und Wohlergehen zukünftiger Generationen in die Bewertung eingehen. Umgekehrt führt eine Diskontrate von Null zu massiven Effizienzverlusten und zu einer Umverteilung von Wohlfahrt zulasten der gegenwärtigen Generation. Internationale Gerechtigkeit Das Klimaproblem definiert nicht nur ein intergeneratives, sondern auch ein internationales Verteilungsproblem. Einem einzelnen Staat kann es nicht gelingen, das Klimaproblem nachhaltig zu lösen. Vielmehr ist eine internationale Kooperation erforderlich. Dies bedeutet, die Fragen zu beantworten: 1. Wo finden Vermeidungsaktivitäten vorrangig statt? 2. Wie werden die Kosten von Klimaschutzmassnahmen zwischen den Nationen geteilt? Die traditionelle Antwort der ökonomischen Theorie lautet, Klimaschutz solle dort praktiziert werden, wo die Grenzvermeidungskosten am niedrigsten sind (zu Grenzkosten siehe Abb. 2). Andernfalls sei der Klimaschutz ineffizient und führe zu Wohlfahrtsverlusten. Daraus wiederum folgt, Vermeidung sei vor allem in Entwicklungsländern und den Staaten der ehemaligen UdSSR durchzuführen. Dort nämlich finden sich die tiefsten Grenzvermeidungskosten. Ohne Kompensationszahlungen sind diese Länder allerdings nicht bereit, Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen. Dies hat sich auf dem Klimagipfel zu Kyoto gezeigt, wo die Entwicklungsländer den Standpunkt einnahmen, moralische Verantwortung sei wichtiger UNIPRESS116/APRIL 2003 41 als ökonomische Rationalität. Sie forderten daher, die Industrienationen sollten für ihre Klimasünden der Vergangenheit einstehen und die Last des Klimaschutzes selbst tragen. Ohne die Entwicklungsländer werden die Bemühungen, das Weltklima zu schützen, jedoch langfristig erfolglos sein. Wie aber können die heute armen Länder in die Klimaverantwortung eingebunden werden? Von welchem Zeitpunkt an sollten sie wie die Industrienationen zum Klimaschutz beitragen? Lässt sich ein System von Kompensationsmechanismen einrichten, das hinreichende Anreize zur Kooperation setzt, und das gleichzeitig Flexibilität zur Umsetzung effizienter Vermeidungsstrategien schafft? Die aktuelle Klimaökonomik sucht Antworten auf diese Fragen. Wegen der starken Interdependenz zwischen dem Anliegen des globalen Klimaschutzes, den Vermeidungskosten sowie der Wahl der klimapolitischen Instrumente ist eine solche Analyse sehr vielschichtig. Denn einerseits beeinflusst Klimaschutz die Standortkosten, die internationalen Kapitalflüsse und den internationalen Handel. Andererseits sind regional unterschiedliche Ausprägungen des Klimaeffektes zu erwarten. Am stärksten betroffen werden wohl die wirtschaftlich schwachen Regi- onen sein. So entsteht der Eindruck, Klimapolitik der Industrieländer sei primär Entwicklungshilfe, da der Nutzen hauptsächlich den Entwicklungsländern zugute kommt. Doch darf nicht vergessen werden, dass den direkten Kosten einer Klimaänderung indirekte Kosten beispielsweise in Form von Migrationswellen folgen, welche in Europa und Nordamerika die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen erheblich belasten können. Globale Klimapolitik Ökonomen sind mehrheitlich der Auffassung, dass die konkrete Umsetzung einer globalen Klimapolitik über handelbare Emissionszertifikate stattfinden sollte. Emissionszertifikate berechtigen deren Inhaber, innerhalb eines gegebenen Zeitraums eine bestimmte Menge an Treibhausgasen zu emittieren. Diese Rechte sind teilbar und können international gehandelt werden. Damit ist der höchstmögliche Grad an Flexibilität und Effizienz garantiert. Auf dem Klimagipfel zu Kyoto hat sich dieses Instrument durchgesetzt. Trotz Vorbehalten der Entwicklungsländer ist Handel von Emissionsrechten zumindest zwischen den ANNEX-I-Staaten (einem Teil der OECD-Staaten) möglich. Allerdings sind die Details und die Ausgestaltung eines solchen Systems noch offen. Ein globales System international handelbarer Zertifikate lässt sich nur auf freiwilliger Basis errichten. Daraus entsteht ein so genanntes Anreizproblem. Weil keine Eigentumsrechte spezifiziert sind, kann jeder in beliebigem Umfang Treibhausgase in die Atmosphäre einleiten. Umgekehrt profitieren alle von den Anstrengungen einzelner, das globale Klima zu schützen. Klimaschutz ist somit ein öffentliches Gut, was eine typische Ausgangslage für ein soziales Dilemma darstellt (siehe Abb. 4). Obwohl es optimal wäre, wenn alle Staaten zum Schutz des Weltklimas beitrügen, ist es für den einzelnen Staat rational, nicht zu kooperieren und von den Anstrengungen der anderen als Trittbrettfahrer zu profitieren. Verschärft wird dieses Problem durch die Phänomene Unsicherheit und Irreversibilität. Noch längst sind nicht alle Fakten erforscht. Unter Umständen ist völlige Gewissheit erst erlangt, wenn die Klimakatastrophe eingetreten ist. Sollen wir das Risiko irreversibler Klimaschäden eingehen und warten, bis eine bessere Wissenslage gezieltes und effizientes Handeln ermöglicht? Oder sollen wir trotz unvollständiger Informationen bereits heute handeln, auch auf die Gefahr hin, dass sich unsere Entscheidungen im nachhinein teilweise als unrichtig erweisen? Obwohl die ökonomische Theorie auch eine Theorie des Entscheides unter Unsicherheit ist, gibt es keine einfachen Antworten. Abwarten verringert zwar die Gefahr möglicher Fehlinvestitionen, kann aber eine irreversible Änderung des Klimas auslösen. Unter dieser Perspektive ist es ökonomisch rational, auch im Sinne künftiger Generationen, Klimaschutzmassnahmen bereits heute zu beschliessen, selbst wenn das Risiko einer globalen Katastrophe als gering eingeschätzt wird. Klimaschutz hätte somit die Funktion einer Versicherungsprämie gegen Klimaeventualitäten. Abb. 4: Soziales Dilemma: Zwei Nationen entscheiden über Klimaschutz, wobei vereinfachend zwei Alternativen bestehen: Ja oder Nein. Die monetär bewerteten Resultate der Entscheidungskombinationen sind in den Matrixfeldern angegeben. Die exemplarischen Zahlen auf den weissen Flächen gelten für Land A, die auf den grauen Flächen für Land B. Entscheiden beide rational für sich, so resultiert mit einer Ablehnung von Klimaschutz das für beide schlechteste Ergebnis. 42 UNIPRESS116/APRIL 2003 Prof. Dr. Gunter Stephan Dr. Georg Müller-Fürstenberger Abteilung angewandte Mikroökonomie