Nutzung von Nabelschnur-Blutstammzellen aus ethischer Sicht Vortrag im Rahmen der Niedersächsischen Gespräche zwischen Ärztinnen, Juristinnen und Theologinnen am 29.11. 2008 im Leibnizhaus zu Hannover von Prof. Dr. theol. Friedrich Weber, Braunschweig I. Heilungserwartungen und Heilserwartungen Am 14. Mai 1999 hat die Bundesärztekammer „Richtlinien zur Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut“ veröffentlicht. Es wird festgestellt, dass im Blut von Neugeborenen hämopoetische Vorläuferzellen in größerer Zahl als bei Kindern und Erwachsenen zirkulieren. Diese zeichneten sich durch eine erhöhte Teilungsfähigkeit aus und seien deshalb für eine Stammzelltransplantation besonders geeignet. Gewonnen werden sie nach einer Geburt und Durchtrennung der Nabelschnur ohne Beeinträchtigung des Neugeborenen aus der Plazenta. Die Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut sei „ausschließlich im Rahmen geplanter, von der zuständigen Ethik-Kommission geprüfter klinischer Studien durchzuführen“.1 Besonders verwiesen wird darauf, eigentlich für jeden Außenstehenden selbstverständlich, dass bei der Entnahme eines CB-Präparates (=Cord-Blood) es das vordringlichste Ziel sein müsse, dass für die Gebärende und für das Neugeborene kein zusätzliches Risiko entstehe. Auch sei das Risiko für den potenziellen Transplantatempfänger zu minimieren. Mit diesen Hinweise sind seitens der Bundesärztekammer Fragen ethischer Natur in den Blick genommen. Die Berichte über Therapieansätze mit Stammzellen aus Nabelschnurblut sind in den letzten Monaten sprunghaft angestiegen. So wird von einem gemeinsamen Workshop der Deutschen Gesellschaft für regenerative Medizin am 26. September 2008 im Universitätsklinikum Heidelberg berichtet, dass Nabelschnurblut wohl in wenigen Jahren als Primärquelle für Stammzellen das Knochenmark ablösen werde.2 In einem von der Universität Texas 2007 ins Internet gestellten Bericht ist zu lesen, dass es Forschern im Labor gelang, Stammzellen aus Nabelschnurblut Insulin produzieren zu lassen. Damit sei zum ersten Mal gezeigt worden, dass die noch unspezialisierten Zellen prinzipiell in der Lage seien, die Insulinproduktion zu übernehmen und damit auch das Potenzial besäßen, einmal defekte 1 Richtlinien zur Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut (CB=Cord Blood), in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 19, 14. Mai 1999, A1297ff 2 http://innovations-report.de/specials/printa.php?id=12041l 1 Bauchspeicheldrüsenzellen bei Diabetikern zu ersetzen. Es sei allerdings bis dorthin noch ein weiter Weg. Für die ökonomischen Nutznießer scheint der Weg allerdings weniger weit zum Erfolg. Die Texaner sehen die Gefahr und problematisieren das Verhalten privater Nabelschnurblutbanken als eventuelle Nutznießer von überschießenden Heilungs- sprich Heilserwartungen.3 Dass die kritischern Hinweise nicht unbegründet sind, zeigen sich ebenfalls im Internet findenden Informationen zu „Einlagerung von Nabelschnurblut“, die werdende Eltern dazu auffordern, ein „Gratis Info-Paket“ zur Einlagerung zu bestellen.4 Natürlich meldet die Firma auch ihr Interesse und ihr Know-how an, über Kosten wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht geredet. Dass es aber auch um die wirtschaftliche Verwertung geht ist deutlich. Die Heilsbekundungen sind groß. Es ist ganz offensichtlich, dass die Hoffnung auf Heilung bzw. die Angst vor Krankheit und Tod hohe Erwartungen auf künftige Therapiemöglichkeiten auslösen, die mit diesen adulten Stammzellen möglich sein könnten. Es ist durchaus verständlich, wenn Menschen, die von schweren Krankheiten getroffen sind oder sich von ihnen gefährdet fühlen, diese Hoffnungen hegen. Auch aus der Sicht des christlichen Glaubens ist es geradezu zwingend, neue und leistungsfähige Therapiemöglichkeiten zu entwickeln und den Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Natürlich wissen wir, dass auch die neuesten Therapiemöglichkeiten den Tod nicht aus der Welt schaffen werden, aber das ändert nichts daran, dass die Heilung oder die Linderung von Krankheiten ein hohes Gut sind. Die Problematik allerdings liegt darin, dass Therapiehoffnungen als zu weit reichend beschrieben werden. Heilungserwartung, das wäre eine erste Anmerkung aus theologischer Sicht im Blick auf die ethische Bewertung von neuen Therapiemöglichkeiten, darf nicht zur Heilserwartung werden. Ich zitiere aus einem EKD-Text vom Juni 2002: „Für den christlichen Glauben ist die Unterscheidung zwischen dem irdischen Wohl und dem ewigen Heil wesentlich. Ohne eine solche Unterscheidung kann die Annahme und Verarbeitung der Endlichkeit des Daseins nicht gelingen, weil Krankheit, Behinderung, Sterben und Tod dann den Charakter der radikalen Bedrohung und des totalen Sinnverlustes annehmen. Indem die christliche Kirche so unterscheidet, schätzt sie das irdische Wohlergehen nicht gering. Vielmehr wertet 3 http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/drucken/278575.html 4 http://nabelschnurblut.de/nabelschurblut/landing/06/index.shtml 2 sie es als ein begrenztes, vorläufiges zum Vergehen bestimmtes Gut. Und gerade das Wissen um die Begrenztheit und Endlichkeit macht dieses irdische Leben mit seinen Gütern wertvoll.“5 Anders als beim Streit um die ethische Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik, der verbrauchenden Embryonenforschung oder auch des so genannten therapeutischen Klonens, wo grundsätzlich die Frage nach dem ontologischen, moralischen und rechtlichen Status von Embryonen, das heißt aber nach dem Zusammenhang von Embryonenschutz, Recht auf Leben und Menschenwürde zu fragen ist, bewegen wir uns bei der ethischen Bewertung von Forschungen und Arbeiten mit Blutstammzellen in einem ethisch unbedenklichen Raum. II. Zur Diskussion über neonatale Stammzellen Ich beschreibe im Folgenden kurz den Diskussionsstand über neonatale Stammzellen, so wie er sich uns in den Kirchen darstellt. 1. Als Nabelschnurblut (= Plazentarestblut), das reich an so genannten neonatalen Stammzellen ist, wird das nach der Abnabelung des Kindes noch in der Nabelschnur und Plazenta befindliche kindliche Blut bezeichnet. a. Vorteile von Nabelschnurblut-Stammzellen gegenüber anderen adulten (= somatischen) Stamm-, bzw. Progenitorzellen (die besonders im Knochenmark, in der Haut, aber auch im Fettgewebe, im Gehirn, der Leber oder der Bauchspeicheldrüse zu finden sind): • Neonatale Stammzellen sind risikoarm zu gewinnen, da bei der Entnahme niemand geschädigt wird und dabei kein menschliches Leben vernichtet wird. Auf einer ethischen Ebene ist also die Gewinnung neonataler Stammzellen unbedenklich, im Vergleich zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen [vgl. dazu: Der Mensch: Sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin, hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2001]. • Neonatale Stammzellen weisen keine Kontamination durch biographisch spät erworbene Krankheiten auf. • Sofortige Verfügbarkeit durch Langzeitlagerung (Kryokonservierung). • In autologer (d. h. Spender und Empfänger sind identisch) Verwendung gute Verträglichkeit wegen fehlenden Immunogenität, d. h. die transplantierten 5 Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. EKD Texte 71, Hannover 2002, 10 3 Zellen werden vom Immunsystem nicht als fremd erkannt und ggf. abgestoßen. • Neonatale Stammzellen weisen ein hohes Differenzierungspotenzial auf. Bereits nachgewiesen wurde die Fähigkeit von Nabelschnurblut-Stammzellen, sich nicht nur in Blutzellen, sondern auch zu Nerven-, Leber-, Blutgefäß-, Muskel-, Knochen-, Knorpel- und Inselzellen zu entwickeln. Diese Eigenschaft wird in der Biotechnologie zur Regeneration von Körpergewebe genutzt. • Neonatale Stammzellen sind im Vergleich zu somatischen Stammzellen noch jung und unverbraucht. b. Nachteile von Nabelschnurblut-Stammzellen gegenüber KnochenmarkStammzellen: • Nabelschnurblut ist nur in begrenzter Menge und nur einmalig, zur Geburt des Kindes, zu gewinnen. Für die Behandlung erwachsener Patienten ist jedoch eine relativ große Menge erforderlich. • Genetisch manifeste Defekte/Krankheiten sind auch im Nabelschnurblut vorhanden und können aus diesem Grund zu einer eingeschränkten Verwendungsfähigkeit führen. • Ein zu frühzeitiges Abklemmen der Nabelschnur zur Nabelschnurblutspende widerspricht aktuellen Standards und kann zu einem Abfall der kindlichen Blutmenge führen. 2. Anwendung von Nabelschnurblut a. Allogene Transplantation (Fremdtransplantation) Die allogene Transplantation von Nabelschnurblut ist derzeit der Regelfall. Dabei werden dem Patienten Nabelschnurblutstammzellen übertragen, die nicht von ihm selbst, sondern einem geeigneten Spender stammen. Wenn es sich nicht um eine gerichtete Spende handelt, werden dabei Nabelschnurblutstammzellen aus Stammzellregistern verwendet. Allogene Nabelschnurblutstammzellen werden derzeit vor allem bei Leukämien, Blutbildungsstörungen und genetisch bedingten Erkrankungen angewendet. Der Nachteil bei der Transplantation von Nabelschnurblut verglichen mit Knochenmarkstammzellen, bzw. anderen adulten Stammzellen oder iPSZellen (induzierte pluripotente Stammzellen) liegt in der geringeren Menge an 4 Stammzellen, die verfügbar ist. Eine Behandlung erwachsener Patienten ist jedoch nur bei einer ausreichenden Zellzahl möglich. b. Autologe Transplantation (Eigentransplantation) Bislang sind erst wenige Fälle von körpereigenen (autologen) Nabelschnurbluttransplantationen bekannt. 3. Konservierung von Nabelschnurblut a. Als Spende an ein Stammzellregister und für die Forschung Die (kostenfreie) Spende an ein Stammzellregister dient dazu, einen Pool an Stammzellpräparaten aufzustellen, um im Bedarfsfall darauf zugreifen können. Durch die Kryokonservierung ist es zudem möglich, Stammzellen für Patienten mit relativ selten vorkommender genetischer Ausstattung zu bevorraten und so die Spendersuche im Anwendungsfall zu verkürzen. Nabelschnurblut kann in Deutschland an die Stammzellregister in Düsseldorf, Mannheim, München, Freiburg, Erlangen, Dresden sowie Hannover gespendet werden. Diese Register arbeiten einer Anzahl von Krankenhäusern in ihrem Einzugsbereich zusammen. Nur dort ist derzeit die Entnahme möglich. Bei der Nabelschnurblutspende für die Forschung werden die Stammzellen genutzt, um deren Wirkungsweise zu untersuchen, Gewebezüchtung weiter zu entwickeln und neue stammzellbasierte Therapien zur Behandlung von Krankheiten zu gewinnen. Insgesamt sind jedoch Forschungen zu möglichen Therapieformen noch in einem frühen experimentellen Stadium mit ungewissem Ausgang. Die Spende für die Stammzellforschung wird von den Stammzellregistern, universitären Einrichtungen sowie privaten Nabelschnurblutbanken angeboten. Sie ist für die Eltern kostenfrei, aber nicht flächendeckend möglich. b. Als (gerichtete) Spende zur Behandlung eines erkrankten Familienmitglieds Stammzellen eines nahen Verwandten, vorzugsweise Geschwisters, sind bei vorliegender Übereinstimmung der Gewebeverträglichkeit gut zur Transplantation geeignet. Dazu wird das Nabelschnurblut bei schon vorliegender Erkrankung zielgerichtet zur späteren Behandlung des Patienten gewonnen und aufbereitet. Die (gerichtete) Nabelschnurblutspende ist für die Eltern kostenfrei und wird sowohl von den Stammzellregistern als auch privaten Nabelschnurblutbanken angeboten. 5 c. Als Eigenkonservierung zur privaten Vorsorge (autologe Einlagerung) Die Eigenkonservierung von Nabelschnurblut zur privaten Vorsorge wird kontrovers diskutiert. Hauptkritikpunkt ist, dass die Wahrscheinlichkeit, eigene Stammzellen im Kindesalter zu benötigen, sehr gering ist. Hinzu kommt, dass bei hämatologischen Erkrankungen des Kindes zu prüfen ist, ob die Stammzellen bereits die Disposition zur Entwicklung der Krankheit enthalten. Außerdem liegen bislang keine gesicherten Erfahrungswerte über die tatsächliche Haltbarkeit von Nabelschnurblutpräparaten vor. In Studien wurde nachgewiesen, dass Nabelschnurblut-Stammzellen mindestens 15 Jahre halten, ohne ihre Vitalität und Proliferationsfähigkeit zu verlieren. Es gibt jedoch auch Forschungen, die einen wesentlich längeren Haltbarkeitszeitraum angeben. Deutlich kritisiert wird auch der kommerzielle Aspekt bei der autologen Einlagerung, da die Unwahrscheinlichkeit der autologen Nutzung von Nabelschnurblut wenig oder gar nicht offen gelegt wird, dieses aber als Allheilmittel für spätmanifeste Krankheiten propagiert wird. Die Eigenkonservierung von Nabelschnurblut ist für die Eltern kostenpflichtig und mit zum Teil sehr hohen Kosten, v.a. für die Einlagerung, verbunden. Die Eigenkonservierung ist in Deutschland flächendeckend möglich. 4. Fazit: Wenngleich die Gewinnung neonataler Stammzellen ethisch unbedenklich ist, dürfen dennoch ethische Fragen, die im Zusammenhang mit der weiteren Verwendung stehen, nicht außer acht gelassen werden, beispielweise: • Wie geht ein Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft mit der Werbung privater Unternehmen um, die Lagermöglichkeiten für Nabelschnurblut anbieten? • Inwieweit übernimmt das Krankenhaus eine Verantwortung dafür, dass die Eltern sachgerecht über die Möglichkeiten, die mit einer solchen Einlagerung verbunden sind, aufgeklärt werden? Stichwort: unberechtigte Hoffnungen.6 6 Richtlinien der Bundesärztekammer zur Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut-Gewinnung, Lagerung und Anwendung von CB als Stammzellquelle. In: Dt. Ärzteblatt 1999; 96: 1297-1304. Regenerative Medizin und Biologie. Die Heilungsprozesse unseres Körpers verstehen und nutzen. Hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005;. Der Mensch: Sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin, hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2001. 6 III. Zur Ethik des Helfens und Heilens Eine Ethik des Helfens und Heilens diskreditiert sich dann selbst, wenn sie für Mittel des Helfens und Heilens plädiert, die ethisch nicht vertretbar sind. Das heißt also, Helfen und Heilen kann nicht um jeden Preis geschehen. An diesem Grundsatz orientiert sich beispielsweise das Verbot des Organhandels. Eine Ethik, in deren Zentrum Helfen und Heilen steht, kann zwar mit guten Gründen dafür eintreten, die Zahl der verfügbaren Spendeorgane zu erhöhen, aber das Mittel des Organhandels ist nicht nur in Deutschland bewusst und dies sogar mit einer gesetzlichen Regelung ausgeschlossen worden. Der Hintergrund der ethischen Bewertung ist der, dass der Mensch nicht einen Körper hat, den er gewissermaßen als Ware behandeln könnte, so auch das Blut aus der Nabelschnur, sondern er ist Körper. Hat im Juni 2003 der Direktor der Klinik für Allgemeine und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum in Essen in einer Veranstaltung des Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz und des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz mit seiner behutsamen Anfrage, ob man nicht wegen des Mangels an Spendeorganen über „finanzielle Anreize“ vor allem für die Lebendspende reden müsse, die schmale Grenze verletzt? Deutet sich hier an, dass der Rubikon überschritten ist? 7 Sie wissen, dass diese Redensart durch die Deutschen Forschungsgemeinschaft im Mai 2001 eingeführt wurde. Dort heißt es, dass sich die Forschungsgemeinschaft „der Problematik bewusst (sei), einerseits frühes menschliches Leben zu Forschungszwecken zwar nicht explitizitär zu stellen, andererseits aber doch zu verwenden. Sie ist der Meinung, dass der Rubikon in dieser Frage mit der Einführung der künstlichen Befruchtung überschritten wurde und das es unrealistisch wäre zu glauben, unsere Gesellschaft könne in einem Umfeld bereits bestehender Entscheidungen zum Lebensrecht des Embryos (dauerhafte Aufbewahrung künstlich befruchteter Eizellen, Einführung von Nidationshemmern, Schwangerschaftsabbruch) zum Status quo zurückkehren“.8 7 Hermann Barth, Rechtfertigung durch Heilungshoffnungen? - Einige gute Gründe gegen das sogenannte therapeutische Klonen. Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung des Evangelischen Klosterforums: "Therapeutisches Klonen ... Ethisch verantwortbar?" in Braunschweig, in: http://www.ekd.de/vortraege/barth/050202_barth_klonen.html 8 Empfehlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen“ vom 03. Mai 2001 7 Johannes Rau hat am 18. Mai 2001, also wenige Tage nach der Veröffentlichung dieser Redensart vom Rubikon ausgeführt, dass es „immer leicht (sei), die Trauben zu verschmähen, die unerreichbar hoch hängen. Schwierig ist es, Grenzen da zu setzen und zu akzeptieren, wo man sie überschreiten könnte und sie sogar zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile verzichten muss. Ich glaube aber, dass wir genau das zu tun müssen. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteils Willen tun dürfen. Tabus sind keine Relikte einer modernen Gesellschaft, keine Zeichen von Irrationalität. Ja, Tabus anzuerkennen, dass kann ein Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns sein.“ Und er führte wörtlich noch weiter an: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne das Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon.“9 Die Forschung an Stammzellen, die aus Nabelschnurblut gewonnen werden, zeigt, dass Johannes Rau mit seiner Positionierung im Jahre 2001 durchaus die Spannung zwischen Einengung und Herausforderung von Forschung sieht. Es ist ja in der Tat so, dass die Stammzellforschung nicht endet, wenn die an menschlichen embryonalen Stammzellen eingeschränkt wird. Gerade die Forschung an adulten Stammzellen hat offenbar ein großes Potenzial. Dieses Potenzial darf aber nur – zumindest sieht das die christliche Ethik so – in dem Rahmen genutzt werden, den der Schutz der unveräußerlichen Menschenwürde erlaubt. IV. Die unveräußerliche Würde des Menschen Der Heidelberger Theologe Wilfried Härle hat 2005 treffend in 6 Punkten beschrieben, worin sich diese Würde des Menschen Ausdruck verschafft. Er meint, die Menschenwürde konkretisiere sich darin, dass ein Mensch 1. Als Zweck und nicht als bloßes Mittel bebraucht wird 2. Zweitens als Person geachtet und nicht zum Objekt herabgewürdigt wird 3. Selbstbestimmung üben kann und nicht völlig fremd bestimmt wird 4. Entscheidungsfreiheit behält und nicht durch Zwangsmaßnahmen gefügig gemacht wird 9 Johannes Rau, Wird alles gut? Berliner Rede von Johannes Rau: Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß http://www.berlinews.de/archiv/1958.shtml 8 5. In der Sphäre seiner Intimität bleiben kann und nicht bloß gestellt wird und 6. Als Gleichberechtigt behandelt und nicht diskriminiert wird.10 Die christliche Theologie verweist in diesem Zusammenhang auf den ersten Schöpfungsbericht. Dort heißt es: „Und Gott sprach, lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei. Die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“ (1. Mose 1,26f) Menschenwürde und Gottes Ebenbildlichkeit hängen also zusammen. Die Menschenwürde gebietet es, den Menschen stets als Zweck an sich und niemals als Mittel zu gebrauchen. Darauf hat auch Kant in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ abgehoben, wenn er schreibt: "Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist [...] das hat eine Würde"11, der "Achtung" gebührt.12 Der Mensch, jeder Mensch, ist über allen Preis erhaben, weil er als freies Vernunftwesen, als das wir ihn ansehen müssen, selbst "ein gesetzgebend Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke"13 ist. Wolf Krötke hält fest: „Als solcher schuldet er sich Selbstachtung als autonomes Individuum, aber in dieser Selbstachtung vollzieht er zugleich die Achtung der Anderen. Die Vorstellung der Menschwürde spricht dem Individuum zwar einen unersetzbaren Status zu, aber sie ist kein individualistisches Prinzip. Denn der kategorische Imperativ gebietet dem Menschen immer, zugleich an der Stelle eines anderen zu denken. Unsere Würde als menschliche Individuen kann nur zusammen mit der Würde aller anderen bestehen. Sie ist Würde in Beziehung. Sie kommt allen zu, indem alle verpflichtet sind, sie sowohl in Anspruch zu nehmen wie sie sich gegenseitig zuzusprechen. Daraus folgt aber, dass der Gedanke der Menschwürde es ausschließt, 10 Wilfried Härle, Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg 2008 und http://www.eakbadenwürttemberg.de/dev/web/presseOnlineContent.php?press_id=17 11 IMMANUEL KANT, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: WILHELM WEISCHEDEL (Hg.), Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden (Abk. Werke), Darmstadt 1983, Band 6, 68 12 a.a.O., 69 9 irgendeinen Menschen aus irgendwelchen Gründen zu irgendwelchen Zwecken zu verwenden, zu funktionalisieren, zu gebrauchen oder zuzurichten. Als Mensch da sein, heißt von anderen um seiner selbst willen geachtet werden und andere um ihrer selbst willen achten. Das bringt der Begriff der "Person" zum Ausdruck. Achtung der Menschenwürde ist Achtung der Person. Das schließt aber notwendig die Achtung vor der leib-seelischen Integrität jedes Menschen ein. Diese Achtung folgt nicht aus den Eigenschaften der menschlichen Natur als solcher.“14 Aus diesen Aspekten entwickeln sich für mich folgende Leitlinien für die ethische Burteilung: - - Menschenwürde - Respekt vor dem Leben der Anderen und - das Tötungsverbot. Autonomie, das heißt forschende Verantwortung für die Schöpfung übernehmen (vorausschauendes Handeln ist unerlässlicher Bestandteil eigenverantwortlicher Existenz). - Recht auf Integrität und Identität (jeder gentechnische Eingriff der an Menschen vorgenommen wird, muss das Recht des Menschen auf leibliche Integrität und auf personale Identität achten; der Mensch ist von Anfang an Person und kann deshalb niemals nur Objekt des Handelns sein) - Recht auf Nichtwissen - Einbeziehung von Alternativen - Eigenwert und eigene Rechte der Schöpfung (Pflanzen und Tiere dürfen nicht unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für den Menschen bewertet werden) - Abschätzung der Folgen und Bewertung der Risiken (es ergibt sich die moralische Forderung, die Folgen die das eigene Handeln haben könnte, bei der Handlungsentscheidung selbst zu berücksichtigen). Wende ich diese Gesichtpunkte auf die anstehende Problematik an, ergeben sich folgende ethische Fragestellungen: 13 a.a.O., 72 14 Wolf Krötke, Die ethischen Herausforderungen durch die Genetik. Überlegungen im Anschluss an Immanuel Kant, in: http://www2.hu-berlin.de/theologie/sys3/lst/kroe/genomkant.htm 10 1. Darf der Mensch Handlungen vornehmen, deren Folgen er nicht überblicken bzw. korrigieren kann? 2. Darf er Forschung betreiben, über deren moralische Vertretbarkeit er keine Klarheit besitzt? 3. Kann es oberstes Ziel sein, das Leiden zu beseitigen? 4. Jede Entscheidung ist ein Verstoß gegen das ethische Gebot: Du sollst nicht töten“ 5. Dürfen Menschen Risiken zugemutet werden, wenn damit anderen erhebliche Hilfe erwiesen werden kann? (Tendenz zum Präferenz-Utilitarismus) Werner Bergengruen stellt 1942 fest, dass die Verfechter der biologischen Welterfassung erstaunlicherweise nichts von der Heiligkeit, sondern nur von der Brauchbarkeit des Lebens wissen. Als ob zum Urteil über Wert und Unwert des Lebens nicht ein Standpunkt oberhalb unserer Welt nötig wäre. Von diesem aber leitet sich die Setzung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ab. Darum ist es Anliegen der Kirche, das Bewusstsein für die Heiligkeit, die Unantastbarkeit aber auch die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens zu wecken, zu entwickeln und entsprechendes Verhalten einzufordern. Für mich folgt daraus, dass wir unbedingt den Vorrang auf die Forschung mit adulten Stammzellen legen sollten, deren Gewinnung keine Tötung menschlichen Lebens zur Voraussetzung hat oder zur Folge hat. Zugleich müssen wir allen Versuchen wehren, Menschen zu verzwecken und sie mit ungerechtfertigt geweckten Hoffnungen auf Heilung zur ökonomischen Selbstverwertung ihres Körpers zu verführen.15 Oft ist alles schon von anderen gesagt, man muß es nur wiederholen. Ich tue dies und schließe mit Johannes Rau: „Die Zukunft ist offen. Sie ist kein unentrinnbares Schicksal. Sie kommt nicht einfach über uns. Wir können sie gestalten - mit dem, was wir tun und mit dem, was wir nicht tun. Wir haben viele, wir haben große Möglichkeiten. Nutzen wir sie für einen Fortschritt und für ein Leben nach menschlichem Maß.“16 15 Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin, Wien 2001, 37f 16 Johannes Rau, Wird alles gut? …hier: http://www.berlinews.de/archiv/1959.shtml 11