MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 Italien: Die populistische Fünf-Sterne-Bewegung lauert auf ihre Chance Experte Dr. Alberto Mingardi Region: Europa Palermo, 25. Sept. 2016: Tausende besuchten eine Demonstration am Rande des Nationalkonvents der Fünf-Sterne-Bewegung (Foto: dpa) Der Triumph von Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen in den USA könnte nicht nur ein Wendepunkt für die europäischen Anti-EstablishmentBewegungen gewesen sein – es dürfte ab jetzt noch schwieriger werden, sie als bloße Ansammlungen von Nein-Sagern abzufertigen. Nachdem man den Sieg von Trump nicht vorausgesagt hatte, argumentieren viele, dass jetzt auch bei uns die Zeit der „Zurückgelassenen“ gekommen sein dürfte. Die nächste große Erschütterung könnte von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung ausgehen – sie ist in ihrer Heimat auch als „Die Bewegung“ oder „M5S“ bekannt. Am 4. Dezember geht Italien an die Wahlurnen, um über die Verfassungsreform abzustimmen, die von Ministerpräsident Matteo Renzi eingebracht und vom Parlament verabschiedet wurde. Doch in Wahrheit geht es hier um das Überleben der Regierung Renzi – er hat sein gesamtes politisches Kapital bei der Abstimmung in die Waagschale geworfen. Der Ministerpräsident und Parteichef der „Partito Democratico“ (PD), der von weniger als 35 Prozent der Wähler unterstützt wird, muss eine große Koalition aus Gegnern überwinden, die die Italiener drängt, die Reform abzulehnen. www.gisreportsonline.com SEITE 1 MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 Und der Gewinner ist… Eine weitere Wendung in der gewöhnlich byzantinisch anmutenden Politik Italiens ist die Tatsache, dass sich die alte Garde von Renzis Partei ebenfalls mehr oder minder lautstark der Reform widersetzt, die sie noch im Parlament unterstützt hatte. Allerdings scheinen solche Männer wie der ehemalige Ministerpräsident Massimo D'Alema und der halbpensionierte Silvio Berlusconi nicht genügend Stimmen mobilisieren zu können, um tatsächlich das Ergebnis des Referendums zu beeinflussen. Sollte Renzi das Referendum verlieren, dürfte hier höchstwahrscheinlich die FünfSterne-Bewegung als Sieger hervorgehen. Bei den Kommunalwahlen im Juni 2016 gelang es den M5S-Kandidatinnen in Turin (traditionell eine Hochburg der Linken) und in Rom zu gewinnen. Aber selbst wenn die Prognosen falsch liegen und Renzi als Sieger hervorgehen sollte, könnte die „Bewegung“ noch in ein paar Monaten den Jackpot knacken. Nachdem er die Abstimmung des Referendums durchgeführt hat, könnten Renzis Instinkte ihn nämlich dazu verleiten, spontan Neuwahlen anzusetzen. Das neue Wahlgesetz, das der Ministerpräsident unterstützt hat, sieht zwei Wahlrunden vor. Wenn eine Partei in der ersten Runde mehr als 40 Prozent gewinnt, erhält sie eine solide Mehrheit von 54 Prozent bei den parlamentarischen Sitzen. Wenn jedoch keine Partei in der Lage ist, die 40-Prozent-Hürde zu überwinden, gibt es eine Stichwahl zwischen den beiden Parteien, die die meisten Stimmen erhalten haben. Diese Regelung könnte ein Segen für die M5S sein, die eine zweite Runde erzwingen würde, die sie durchaus gewinnen könnte. Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2016 stimmten konservativ gesinnte Wähler konsequent für diese Partei – zu Ungunsten des linken Partei-Establishments. Böser Kapitalismus Falls die M5S an die Macht kommt – was dürfen wir dann erwarten? In ganz Europa würde man den Erfolg der italienischen Bewegung als Beweis dafür ansehen, dass „eine andere Welt möglich ist“ – genau wie in den Lobpreisungen für die „Syriza“-Partei in Griechenland. All jene Parteien, die sich konsequent gegen Sparmaßnahmen aussprechen, hätten viel zu feiern. Doch genau wie in Griechenland könnte der Triumph eher kurzlebig sein. Die M5S dürfte die ohnehin bereits prekären Staatsfinanzen Italiens noch weiter gefährden und die Hindernisse, die die Wirtschaft der Nation hemmen, weiter erhöhen. Die Bewegung ist außerhalb Italiens kaum bekannt und selbst für viele Italiener bleibt sie ein Rätsel. Da sie von einem professionellen Komiker angeführt wird, ist es verlockend, die M5S nicht ernst zu nehmen. www.gisreportsonline.com! SEITE 2 MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 Sie spricht die Sprache der Euro-Skeptiker und verurteilt die Politiken der Haushaltskonsolidierung und der (angeblichen) Kürzungen der öffentlichen Ausgaben. Gleichzeitig schwingt sie die Flagge der „Ehrlichkeit in der Politik“ und fordert eine transparente, wenn auch nicht begrenzte Regierung. Trotz der sichtbaren Faszination einiger ihrer Parteiführer für Donald Trump, tendieren ihre Apparatschiks dazu, der Geschäftswelt zu misstrauen. Sie widersetzen sich der kapitalistischen Moderne – im Gegensatz zum Internet – und der antikapitalistische Slogan des „glücklichen Nicht-Wachstums“ taucht oft in ihrer Rhetorik auf. Vor diesem Hintergrund verlangt die Anziehungskraft der Bewegung an den Wahlurnen Respekt ab. Die klare Nummer zwei Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2013 erhielt sie beeindruckende 25,5 Prozent der Stimmen für die Abgeordnetenkammer und 23,7 Prozent der Stimmen für den Senat. Auf sie entfielen 21,5 Prozent bei den Europawahlen im Jahr 2014 und gemäß den Meinungsumfragen genießt sie eine 33-prozentige Unterstützung. Die PD des Ministerpräsidenten Renzi erhält hier einige Prozentpunkte mehr, während die gesammelten rechten Parteien mit rund 25 Prozent hinterherhinken. Die FünfSterne-Bewegung verfügt damit über die zweitgrößte Basis an Unterstützern in Italien – und sie ist der PD dicht auf den Fersen. Ein Profiling der M5S-Wähler ist eine ziemliche Herausforderung. Die Partei scheint die Unterstützung von Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Neigungen zu genießen, das Spektrum reicht von links bis rechts. Die Bewegung erhielt ihren ersten Schub durch die Skandale, die die dritte Amtszeit von Berlusconi (20082011) erschüttert haben. Damals organisierte Beppe Grillo, ein Komiker und Blogger, eine Reihe von „Meet-ups“ (eine Methode, die der demokratische Kongressabgeordnete Howard Dean in den Vereinigten Staaten zuerst eingeführt hatte), um gegen die Korruption zu protestieren. Das öffentliche Gesicht der Bewegung, Grillo, ist einer von Italiens bekanntesten Komödianten. In den 1980er Jahren absolvierte er häufig Auftritte im italienischen öffentlichen Fernsehen, bis ein Witz, den er in einer Sendung über die italienische sozialistische Partei machte, ihn für den Sender zur Persona non-grata werden ließ. Grillo wandte sich daraufhin politisierten Theateraufführungen zu, in denen er sich mit Themen wie Umweltschutz und Shareholder-Demokratie beschäftigte. Anfang 2000 war er der erste berühmte Italiener, der einen Blog führte. Auch hier ging er ein politisches Wagnis ein, denn er attackierte immer wieder die großen Unternehmen des Landes und die politische Klasse. www.gisreportsonline.com SEITE 3 MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 Beppe Grillo, der Führer der Fünf-Sterne-Bewegung, erklärte, dass seine Partei bereit sei, auch für die Bundesregierung zu kandidieren, nachdem die Ergebnisse der einen Tag zuvor abgehaltenen Kommunalwahlen in Rom auf einen Sieg der M5S-Bewegung hindeuteten (Foto: dpa) Netz-Demokratie Früher arbeitete Grillo mit Gianroberto Casaleggio, einem Mailänder Berater, der die Internetpräsenz des Comedians entwarf. Die Fünf-Sterne-Bewegung gilt als die Idee von Casaleggio, der im April 2016 verstarb. Der ehemalige Software-Ingenieur war zunächst Unternehmer und dann Web-Stratege geworden, er behauptete, sein Beitrag zum Erfolg sei „die Methode“ gewesen – das System der Bewegung, das auf einer online-basierten, direkten Demokratie beruht. „Die Methode“ stellt die M5S als einen „Nicht-Verein ohne Statut“ dar und sie behauptet, dass die Website die einzige anerkannte Zentrale der Bewegung sei. Die Bewegung wählt ihre Kandidaten für öffentliche Ämter durch Online-Vorwahlen aus, Berufs-Politiker sind davon ausgeschlossen. Der Prozess wird durch ein „Operating System“ mit dem Namen „Rousseau“ ergänzt, auf dieser Plattform werden die legislativen Vorschläge der Graswurzel-Bewegung zur Abstimmung gestellt. Sobald die Ideen von M5S-Mitgliedern genug interne Unterstützung erhalten – natürlich über ein Online-Verfahren –, müssen sich die Fünf-Sterne-Parlamentarier dazu verpflichten, sie zum Gesetz werden zu lassen. www.gisreportsonline.com SEITE 4 MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 Der Fokus der „Methode“ auf die unmittelbare, direkte Demokratie passt gut zu der linken Orientierung der Bewegung. Die Tatsache, dass das „Operating System“ eine ständige Interaktion von den Mitgliedern erfordert, spricht linke Aktivisten an, die nur allzu gerne ihre Zeit und Energie für die Angelegenheiten der „res publica“ einbringen, eher jedenfalls, als die Anhänger der rechten Parteien – vor allem in Italien. Die Gesetze, die von der Fünf-Sterne-Legislative ausgehen, bestätigen deren breite Anerkennung innerhalb der politischen Linken. Eine grobe Untersuchung und Kategorisierung all ihrer Gesetze, die sie bis zum Juli 2016 eingebracht hatte, zeigte, dass die meisten von ihnen mit wirtschaftlichen Fragen zu tun hatten und etwa die Hälfte von ihnen führte zu einer erhöhten regulatorischen Belastung. Einige von ihnen waren ziemlich harmlos, wie die Lizenz-Pflicht für ShiatsuMassage-Profis, aber in anderen Fällen könnten die neuen Vorschriften einen starken Einfluss haben, zum Beispiel auf Versicherungen oder auf die Landnutzung. Der Kerngedanke hinter der parlamentarischen Tätigkeit der Bewegung scheint zu sein, dass die Gesetzgebung verwendet werden soll, um unliebsame oder missbilligte Praktiken, wie Glückspiele, zu verhindern. Überall Verschwörungen Noch deutlicher wurde die Intention der Bewegung durch die Schaffung zahlreicher „Untersuchungsausschüsse“ im Unterhaus des Parlaments, wo man sich mit Themen wie z.B. der „De-Industrialisierung“ befasst – als hätte der Niedergang des italienischen Gewerbes aus einer Handlung resultieren können, hinter der gierige Industrielle steckten. Die M5S scheint sich dem zuzuordnen, was der Philosoph Karl Popper eine „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ nannte, dies bezeichnet eine Auffassung, nach der „eine Erklärung eines gesellschaftlichen Phänomens allein aus der Entdeckung der Menschen oder Gruppen resultiert, die am Auftreten dieses Phänomens interessiert sind (manchmal ist es ein verborgenes Interesse, das zuerst enthüllt werden muss), und die geplant und sich dazu verschworen haben, es herbeizuführen“. Einer von Grillos ersten Ausflügen aus dem Showbusiness in die öffentliche Debatte kam zustande, als er sich für das umstrittene Präparat „Metodo Di Bella“ engagierte, das eine angebliche Heilung für Krebs versprach. Wissenschaftler entlarvten das Mittel als Schlangenöl, aber Grillo beharrte natürlich darauf, dass es sich um eine echte Innovation handelte, die von den raffgierigen, gewinnorientierten pharmazeutischen multinationalen Konzernen verunglimpft werde. Im Juni 2016 gewann die Bewegung die Wahlen in Turin und Rom mit zwei Bürgermeisterkandidatinnen. Während der Sieg in Rom weithin erwartet wurde, weil es die etablierten Parteien geschafft hatten, weite Teile der dortigen Wählerschaft von www.gisreportsonline.com SEITE 5 MITTWOCH, 30. NOVEMBER 2016 sich zu entfremden, trieb die Fünf-Sterne-Kandidatin Chiara Appendino in Turin eine Verwaltung aus dem Amt, die gemeinhin als effizient und sparsam angesehen wurde. Bisher haben die beiden Städte für ihre neuen Führungskräfte verschiedene große Herausforderung parat. In Turin konzentriert sich Appendino auf das Alltagsgeschäft und sie vermied bisher schrille ideologische Töne. In Rom hat Virginia Raggi erhebliche Probleme mit der tief verwurzelten Bürokratie. Ihre Verwaltung scheint in den vergangenen Monaten nichts erreicht zu haben. Anhand dieser beiden Beispiele fiele es schwer, Schlussfolgerungen über die Regierungsfähigkeit der M5S zu ziehen. Szenario: Die Neuen und die Jungen Die größte Gemeinde, die die Bewegung vor Rom und Turin geführt hatte, war Parma, eine Stadt, die für ihre kulinarische Exzellenz bekannt ist. Bürgermeister Federico Pizzarotti ging recht schnell mit Grillo auf Konfrontationskurs und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Viele haben darauf hingewiesen, dass ein direktes Demokratiesystem, das auf aktive Parteimitglieder beschränkt ist, leicht untergraben werden kann – um schließlich zu einem Werkzeug zu werden, mit dem man interne Rivalen leicht loswerden und so die Führung stärken kann. In der Tat scheint Grillo eine Art der uneingeschränkten persönlichen Führung zu genießen, die dem damaligen Führungsstil Berlusconis kaum nachsteht. Dieser hatte stets die Flagge des Wettbewerbs in der italienischen Wirtschaft hochgehalten, doch in der eigenen Partei hatte er sorgfältig darauf geachtet, dass es gar nicht erst zum Wettbewerb kam. Sollte Renzis Stern schnell verblassen, dürfte die Fünf-Sterne-Bewegung noch mehr Zuspruch und Unterstützung erhalten. Aber Grillo wird dennoch nicht Premierminister werden. Da er im Jahr 1985 nach einem tödlichen Autounfall wegen fahrlässigen Totschlags verurteilt wurde, ist der Führer der M5S nicht berechtigt, für einen Sitz im italienischen Parlament zu kandidieren. Einige jüngere Parteimitglieder haben jedoch bereits landesweit Bekanntheit erlangt. Dazu gehören Luigi Di Maio und Alessandro Di Battista, zwei politische Neulinge, die jung aussehen und daher das Image des „Neuen“ verkörpern – ein wichtiges Mantra in der heutigen italienischen Politik. „Neu“ zu sein steht dafür, „ehrlich“ zu sein, da „neue“ Menschen per definitionem nicht durch die schlechten Gewohnheiten der Vergangenheit verdorben sein können. Sollte es der Fünf-Sterne-Bewegung jemals gelingen, die nationale Regierung zu gewinnen, muss man sich fragen, wie sie an ihrem einzigartigen internen Gesetzgebungssystem festhalten will – angesichts der Anforderungen der internationalen Diplomatie und der Entscheidungsfindung der Europäischen Union. Die M5SMethode, die auf die Präferenzen einer aktivistischen Regierung abgestimmt ist, wird ein Rezept für zunehmende Unsicherheit sein. www.gisreportsonline.com SEITE 6