Die Frommen in der Sozialen Arbeit Vermutlich ist noch niemand

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Die Frommen in der Sozialen Arbeit
Vermutlich ist noch niemand dem Chirurgen begegnet, der einem freiwillig gesteht, er
operiere professionell. Täte er’s, überfiele einen sogleich ein mulmiges Gefühl.
Professionalität hingegen gilt den in Sozialer Arbeit Tätigen (sagt man so?) ungebrochen als
Gütesiegel erster Klasse. Wer wagte daran zu zweifeln, wenn Soziale Arbeit sich zur
Wissenschaft gemausert hat (warum nicht, wenn’s sogar eine Theaterwissenschaft gibt)?
Die massive Aufrüstung ihres Begriffarsenals fördert zwar nicht immer sachliche Klärung, setzt aber
doch ein ansehnliches Imponierpotential frei – man lese einschlägige Definitionen Sozialer Arbeit.
Mit ihrer Verwissenschaftlichung ist es so weit gekommen, dass sie nun fragt, ob sie denn eine
Ethik oder eine Moral oder beides brauche und, falls ja, welche denn. Ein erstaunlicher Sachverhalt!
Nicht nur, weil viele ihrer Fachbegriffe vollgepfropft sind mit ethischen Implikationen, ohne die sie
keinen Meter weit käme. „Exklusion“, „Armut“, „Benachteiligung“, „Diskriminierung“ – sie alle
enthalten einen normativen Kern, der den Appell zu ihrer Beseitigung unausgesprochen mit sich
führt. Aus ihnen resultiert der stille moralische Konsens der im Berufsfeld Tätigen (ethische
Reflexion heisst darum zunächst, dies zu benennen).
Erstaunlich ist die Frage nach der Notwendigkeit von Ethik aber auch, weil Soziale Arbeit ihren
Anfang mit eben einem ethisch−moralischen, ja religiösen Impuls genommen hat: bei der „caritas“,
der Liebestätigkeit, dem Samariterdienst, der bürgerlichen Philanthropie.
Es waren insbesondere die frommen Pietisten und ihre Nachfolger im 19. und 20. Jahrhundert, die
sich unermüdlich Hilfsbedürftigen zugewandten. Sie distanzierten sich vom Intellektualismus der
orthodoxen Glaubenslehre und verwandelten ihn in lebendige Innerlichkeit und tätige Praxis: „Wir
wollen uns gerne wagen,/in unseren Tagen/der Ruhe abzusagen/die's Tun vergisst./Wir wollen
nach Arbeit fragen,/wo welche ist,/nicht an dem Amt verzagen,/uns fröhlich plagen/und uns're
Steine tragen auf's Baugerüst“, so der Graf von Zinzendorf in jenem Lied, das Max Weber seiner
„Protestantischen Ethik“ vorangestellt hat. Fast Jahr um Jahr haben diese Pietisten und ihre
Nachfolger „mit den Augen gedeutet auf mancherlei“, Hand angelegt und soziales Werk um
soziales Werk geschaffen, bis der Staat sie übernahm, der heute all die sozialen Projekte bewilligen
und v.a. finanzieren soll.
Berufung zum Dienst
Eine fern gewordene Zeit! So fern wie die Sprache jener Frommen. Sie wussten noch nichts von
Empathie und Motivation, sondern sprachen höchst unwissenschaftlich von Mitleid, Erbarmen,
Anteilnahme, Trost, Zuspruch, Ermahnung, Fürbitte, Segen und Liebestätigkeit. Sie waren halt
bloss Laien auf dem Helfertrip, die in überschäumender Motivation gegen das erste Gebot der
Professionalität verstiessen: Sie konnten sich nicht abgrenzen. Wie auch? Sie empfanden eine
Berufung zum Dienst und machten aus dem Helfen keinen Beruf und schon gar nicht einen Job mit
Pflichtenheft und Arbeitszeitkontrolle.
Vornehm gewordene Familien verbergen ihre niedrige Herkunft. So scheint auch die Soziale Arbeit
zu verfahren, die, dem Marxschen Geschichtsschema nicht unähnlich, ihre Geschichte unterteilt in
eine caritative Vorgeschichte naiven Helfens und eine eigentliche höhere Geschichte, die mit den
Schulen für Sozialarbeit beginnt und immer weiter schreitet bis zu den Weihen des
Promotionsrechts. Sichtbare Vertreter dieser höheren Geschichte waren etwa jene kirchlichen
Sozialarbeiter, die sich auf die reine Fachlichkeit beriefen und mit der Kirche weiter nichts am Hut
haben mochten. Dies geschah freilich in jenen dem aktuellen Zeitgeist bereits wieder fern
gewordenen Jahren, in denen man noch nichts von Corporate Identity wusste, sondern im
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Gegenteil auf Distanz ging zum Arbeitgeber.
Negativfolie des professionellen Sozialarbeiters war der Diakon, ein frommer, gutmütiger Mann.
Seine fachliche Kompetenz stand im umgekehrten Verhältnis zu seinem Missionseifer und dem
Willen, Menschen Gutes zu tun. Er hatte noch keinen blassen Dunst von Klientsystemen und auch
nicht von der Mikro−, Meso− und Makroebene, sondern er sah sich als Glied der Gemeinde, er
sprach vom Bruder und vom Nächsten, von Blinden, Lahmen, Krüppeln, Kranken und Tagelöhnern,
von der Reich−Gottes−Arbeit, vom Aufbau der Gemeinde, der sich seither zur Gemeinwesenarbeit
oder Organisationsentwicklung gemausert hat. Am barmherzigen Samariter hatte er sein Vorbild;
vor einem unter die Räuber gefallenen Klientsystem hätte es ihn gegraut.
Kirchlicher Einfluss
Mit der Entwicklung zu staatlichen Fachhochschulen sind die Fäden, die die Ausbildung in Sozialer
Arbeit mit ihrer kirchlichen und christlichen Herkunft verbinden, dünner geworden (anders als in
Deutschland, wo es weiterhin evangelisch oder katholisch geprägte Hochschulen gibt). Eine ihrer
zentralen Traditionen verliert sich in der Sprachlosigkeit. Das mag der Lauf der Geschichte sein.
Nur kontrastiert diese Entwicklung mit einem anderen Phänomen.
Wer mit Studierenden Sozialer Arbeit über ihre Herkunft und ihre Motivationen spricht, verspürt oft,
wie sehr hinter ihrer Berufsmotivation die treibende Kraft religiöser Herkunft, die Bindung an
Gemeinschaften, der Einfluss von Verwandten, Freunden, Vorbildern wie Pfarrer wirkt. Sie sind
auch dort präsent, wo Studierende sich davon zu lösen, der Enge und dem Druck konfessionell
geprägter Milieus zu entfliehen suchen. Doch noch in der (gelungenen) Distanzierung bleiben Züge
der Herkunft präsent – eine Normativität in der Lebensführung, eine Ernsthaftigkeit, ja ein
Rigorismus in der Verfolgung gesetzter Ziele, die vielleicht nicht mehr religiöser, sondern etwa
ökologischer oder politischer Art sind.
Selbst heute in den Zeiten der weltanschaulichen Neutralität und des religiösen Pluralismus sieht
sich eine stattliche Zahl Studierender als gläubige Christen, verankert in den Traditionen des
Pietismus, verbunden mit landes− oder freikirchlichen Gemeinschaften, die man faute de mieux als
evangelikal bezeichnet. Doch sie behalten dies für sich. Fast könnte es scheinen, sie hätten keinen
Platz mehr in der Welt der Hochschule. Während es geradezu einfach, fast chic ist zu sagen, man
interessiere sich für Buddhismus und Spiritualität (worunter man bequemerweise nichts Genaueres
versteht), ist es viel schwieriger, sich als dezidierter Christ zu outen. Leicht scheint man verbohrt.
Es kann allerdings sein, dass Frommen wie Wissenschaftern dieser Zustand gleichermassen recht
ist. Er erlaubt nämlich eine fein säuberliche Trennung von Wissenschaft und Glaube. Zwei
Wissenssysteme koexistieren friedlich und lassen einander in Ruhe. Das eine frönt dem
Szientismus und das andere Glaubensüberzeugungen, die von bedrohlicher Kritik (wie etwa seitens
der Theologie) verschont werden. Das eine fragt sich, welche Ethik es denn brauche (und wird
vermutlich, welche Überraschung, bei Verantwortung, Solidarität und Gerechtigkeit landen), und
das andere geht seinen von einer langen Geschichte geprägten Weg, übt sich in professioneller
Fachlichkeit und denkt sich seine Sache dabei.
So leben beide glücklich nebeneinander.
Hektor Leibundgut, geb. 1943, Theologe, seit 1984 Dozent am jetzigen Studiengang Soziale Arbeit
der BFH, unterrichtet Philosophie, Theologie und Sozialethik, sowie Berufsethik an der TSA der
Schule für Soziale Arbeit, Zürich; Chefredaktor der „Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik,
Religion“ (www.reformatio.ch).
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www.avenirsocial.ch
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