Funktionelle Embryologie - vub

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Rohen n Lütjen-Drecoll
Funktionelle Embryologie
Die Entwicklung
der Funktionssysteme
des menschlichen
Organismus
4. Auflage
Johannes W. Rohen
Elke Lütjen-Drecoll
Funktionelle Embryologie
4. Auflage
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Johannes W. Rohen
Elke Lütjen-Drecoll
Funktionelle Embryologie
Die Entwicklung der Funktionssysteme
des menschlichen Organismus
4., überarbeitete und erweiterte Auflage
Mit 255 Abbildungen und 9 Tabellen
Prof. em. Dr. med. Dr. med. h.c. Johannes W. Rohen
Prof. Dr. med. Elke Lütjen-Drecoll
Anatomisches Institut (Lehrstuhl II)
Universität Erlangen-Nürnberg
Universitätsstr. 19, 91054 Erlangen
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Printed in Germany
Lektorat: Mira Koerner, Stuttgart
Umschlagabbildung: Jörg Pekarsky, Anatomisches
Institut, Universität Erlangen-Nürnberg
Satz, Druck und Einband:
Mayr Miesbach, Druck · Medien · Verlag,
Am Windfeld 15, 83174 Miesbach
ISBN 978-3-7945-2823-3
V
Vorwort zur 4. Auflage
Die erfreulicherweise bereits jetzt notwendig gewordene 4. Auflage gibt uns die Möglichkeit, das Bildmaterial erneut zu ergänzen
sowie die klinischen Hinweise um die zugehörigen molekularbiologischen Aspekte
zu erweitern. Das Einleitungskapitel über
die elementaren genetischen Induktionsprozesse bei der frühen Embryonalentwicklung
wurde von Herrn Prof. Dr. Klaus von der
Mark verfasst und überarbeitet. Im Anhang
wurde eine kurze Zusammenfassung über
die heutigen Möglichkeiten des somatischen
Zellkerntransfers und des therapeutischen
Klonens von Herrn Prof. Dr. Michael Wegner
eingefügt.
Hinsichtlich der Gestaltung und Zielsetzung
unseres Buches hat sich jedoch auch bei der
Neuauflage nichts Grundsätzliches geändert. Das Buch ist als kurzgefasstes Lehrbuch der Humanembryologie konzipiert,
das vor allem durch ein sorgfältig ausgewähltes und anschauliches Bildmaterial die
komplizierten Entwicklungsvorgänge der
funktionellen Systeme des Organismus ver-
ständlich und nachvollziehbar macht. Im
Anhang haben wir kurze, zum Teil tabellarische Übersichten zu den Derivaten der
Keimblätter, den zeitlichen Abläufen bei der
Embryonalentwicklung nach dem CarnegieStadien-System sowie zu den Möglichkeiten
der Zwillingsbildungen neu zusammengestellt, um den Studierenden die Rekapitulation der relevanten Entwicklungsereignisse
zu erleichtern.
Dankenswerterweise hat uns Herr Prof.
Dr. Matthias W. Beckmann (UniversitätsFrauenklinik Erlangen) einige Abbildungen
aus dem Bereich der Ultraschalldiagnostik
zur Verfügung gestellt, die ebenfalls in den
Anhang integriert wurden.
Wir hoffen, dass unser »kleines Lehrbuch«
auch in der jetzt neugestalteten Form seine
Freunde behält und neue hinzugewinnt.
Erlangen, Herbst 2011
J. W. Rohen
E. Lütjen-Drecoll
VI
Vorwort zur 1. Auflage
Bei der Vielzahl der heute vorhandenen
Lehrbücher der Embryologie bedarf die Veröffentlichung eines weiteren, wenn auch
kurzgefassten Lehrbuches einer besonderen
Begründung. Aus langjährigen Unterrichtserfahrungen wissen wir, dass den Studierenden die Vorstellung embryologischer Entwicklungsabläufe immer besonders schwer
fällt. Man kann sich die meist flächig und
schematisch wiedergegebenen gestaltlichen
Vorgänge nicht wirklichkeitsgemäß genug
vorstellen und vor allem die räumliche
Dimension der entwicklungsgeschichtlichen
Veränderungen nicht so erfassen, dass die
Vorgänge aus sich heraus verständlich werden. Wir haben daher besondere Sorgfalt auf
die Gestaltung des Bildmaterials verwendet,
in der Hoffnung, den Studierenden die dreidimensionale Erfassung der Entwicklungsvorgänge und damit das Verständnis der
gegenseitigen Beziehungen ihrer induktiven
und molekulargenetischen Abhängigkeiten
zu erleichtern.
Was ist mit »funktioneller Embryologie«
gemeint? Alfred Benninghoff hat einmal gesagt, die embryologischen Prozesse sind die
gleichen wie die funktionellen des erwachsenen Organismus. So hat er u.a. darauf hingewiesen, dass sich die Spongiosaarchitektur
des Knochens embryonal bereits so entwickelt, dass sie später den funktionellen
Gegebenheiten entspricht. Hier liegt ein weites Feld zukünftiger Untersuchungen und
vieles ist heute noch ungeklärt. Wir haben unter diesen Gesichtspunkten einmal versucht,
die funktionellen Zusammenhänge, die auch
bei der Embryogenese eine Rolle spielen,
herauszustellen und zu zeigen, wie auch bei
der Entwicklung der verschiedenen Organsysteme funktionelle Gliederungen erkennbar
sind, die das Verständnis der Embryologie
nicht nur erleichtern, sondern auch bereichern. So können beispielsweise die Keim-
blätter bestimmten Elementarfunktionen des
Körpers zugeordnet oder die Entwicklung
der Organsysteme unter dem Gesichtspunkt
immer enger werdender funktioneller Gliederungen (sozusagen vom Ganzen in die Teile gehend) beschrieben werden.
Man kommt dadurch über die heute meist
vorherrschende deskriptive oder additive Beschreibung hinaus und findet Systemzusammenhänge, Polaritäten oder Synergismen bei
den Gestaltungsprozessen, die ihrerseits wiederum auch das Wesensverständnis der Organe und damit letztlich natürlich auch des Gesamtorganismus erleichtern. Natürlich ist das
nur ein bescheidener Anfang, aber vielleicht
ein Weg, der über die molekulargenetischen
Zusammenhänge hinausgehend das Ganze
wieder etwas mehr verständlich machen
kann.
Da der Student für das ja mehr am Rande
liegende Gebiet der Embryologie meist nur
wenig Zeit hat, haben wir versucht, nur die
wesentlichsten Tatsachen darzustellen, und
dies auch in größtmöglicher Kürze. Die bei
der Embryonalentwicklung auftretenden induzierenden und steuernden Faktoren und
Gene sind heute noch in vielen Bereichen
unbekannt oder nur unvollständig aufgeklärt,
so dass wir in dieser Auflage nur an den
Stellen diejenigen Faktoren mit dargestellt
haben, die zum Verständnis der funktionellen
Zusammenhänge beitragen können. Die
prinzipiellen molekularbiologischen Mechanismen wurden hier nur in einem Anhangskapitel zusammenhängend kurz beschrieben. In
folgenden Auflagen soll dieser Teil jedoch
noch weiter ergänzt werden.
Wir hoffen, dass es gelungen ist, möglichst
viele Studierende für dieses so faszinierende
Wissenschafts- und Lehrgebiet zu begeistern.
Erlangen, Sommer 2002
J. W. Rohen
E. Lütjen-Drecoll
VII
Danksagung
Für die Ausarbeitung der nach unseren
Entwürfen mit großem Können und Einfühlungsvermögen erstellten Abbildungen
möchten wir auch an dieser Stelle Herrn Jörg
Pekarsky sowie für die Layout-Arbeiten
Herrn Peter Renner herzlich danken. Ganz
besonderen Dank schulden wir Frau Lisa
Köhler für die sorgfältigen, zuverlässigen
und unermüdlichen Arbeiten an dem so oft
umgeschriebenen Manuskript.
Herrn Prof. Dr. Klaus von der Mark (Nikolaus-Fiebiger-Zentrum für Molekulare Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg)
möchten wir für das einleitende Kapitel über
die genetische Bestimmung des Körperbau-
plans und Herrn Prof. Dr. Michael Wegner
(Institut für Biochemie der Universität Erlangen-Nürnberg) für das Kapitel über den
somatischen Zellkerntransfer und das therapeutische Klonen im Anhang sehr herzlich
danken.
Auch unseren Mitarbeitern und Studenten
möchten wir gerne für die rege Anteilnahme
an der Fertigstellung des Buches sowie für
die vielen kleinen und größeren, immer sehr
hilfreichen Diskussionen unseren Dank aussprechen.
J. W. Rohen
E. Lütjen-Drecoll
VIII
Inhalt
Einleitung
______________________________
1
Grundbegriffe ___________________________
1
Die genetische Bestimmung
des Körperbauplans ______________________
3
Hox-Gene bestimmen den Körperbauplan von Insekten und Wirbeltieren ___
4
Wie Körperachsen festgelegt werden __
7
Induktion und Steuerung embryonaler
Entwicklungsvorgänge ______________
8
Molekulare Mechanismen
von Induktionsvorgängen ____________
9
1
1.1
1.2
1.3
2
2.3
Entwicklung von Rückenmark und
autonomem Nervensystem _________ 57
2.4
Entwicklung der Extremitäten _______ 61
2.5
Entwicklung des Hautorgans _______ 67
3
Körperhöhlen und
Organsysteme _________________
71
3.1
Perikardhöhle und
Herzentwicklung ___________________ 71
Induktion durch lösliche Faktoren __ 10
Induktion durch stationäre
Faktoren _______________________ 13
3.1.1
Gefäß- und Blutbildung _____________ 71
3.1.2
Perikardhöhle und
primitiver Herzschlauch _____________ 74
Apoptose __________________________ 14
3.1.3
Prozess der Zentralisation ___________ 77
3.1.4
Prozess der Konzentration ___________ 88
Konzeption und
Blastemzeit _____________________
17
3.1.5 Blut- und Lymphgefäßsystem ________ 90
3.1.5.1 Blutgefäßsystem ____________________ 90
3.1.5.2 Lymphgefäßsystem __________________ 93
3.1.6
Fetalkreislauf _______________________ 93
Vorbereitungsprozesse für die
Befruchtung – Gametogenese
und Menstruationszyklus ___________ 17
3.2
Pleurahöhle und
Lungenentwicklung _________________ 97
Befruchtungsvorgang, Morulation
und Blastulation ____________________ 25
3.3
Bauchhöhle und Darmentwicklung __ 102
3.3.1
Oberbauchorgane ___________________ 103
Trophoblastentwicklung und
Plazentation _______________________ 32
3.3.2
Unterbauchorgane __________________ 108
3.4
Beckenhöhle und
Retroperitonealraum – Entwicklung
des Urogenitalsystems ______________ 109
3.4.1
Nierenentwicklung und Harnwege ____ 110
Keimblätter und Entwicklung
des Embryonalkörpers _______
43
2.1
Keimblätter ________________________ 43
2.2
Entwicklung des Embryonalkörpers __ 52
3.4.2 Entwicklung der Geschlechtsorgane ___ 114
3.4.2.1 Entwicklung der Keimdrüsen ________ 116
3.4.2.2 Entwicklung der inneren und
äußeren Geschlechtsorgane __________ 118
Inhalt
IX
Anhang ________________________________
165
4
Kopfbildung
4.1
Gehirnschädel
(Desmo- und Neurocranium) _______ 125
Die Embryonalentwicklung im Detail –
eine kurze Zusammenfassung _____________ 165
4.2
Gesichtsteil des Kopfes –
Branchialskelett und Schlunddarm __ 128
Derivate der Keimblätter __________________ 171
4.2.1
Pharyngealbögen und
Schlundtaschenderivate _____________ 128
___________________ 125
4.2.2
Funktionelle Zusammenhänge _______ 134
4.2.3
Entwicklung von Mund- und
Nasenhöhle – Gesichtsentwicklung ____ 135
4.2.4
Zahnentwicklung und Dentitionen ____ 139
4.3
Entwicklung des Nervensystems
im Kopfbereich ____________________ 142
4.3.1
Prosencephalon und
zugehörige Sinnessysteme
(olfaktorisches und visuelles System) __
4.3.1.1 Vorderhirnentwicklung _____________
4.3.1.2 Olfaktorisches System ______________
4.3.1.3 Visuelles System ___________________
Rhombencephalon und
Labyrinthorgan ____________________
4.3.2.1 Entwicklung von Rautenhirn und
Medulla oblongata _________________
4.3.2.2 Kleinhirnentwicklung _______________
4.3.2.3 Labyrinthorgan ____________________
146
146
152
152
4.3.2
4.3.3
155
156
158
160
Mesencephalon (Mittelhirn) _________ 163
Die wichtigsten Schritte
der Embryonalentwicklung ________________ 172
Zwillingsbildungen ________________________ 173
Ultraschalldiagnostik
in der Embryologie _______________________ 174
Somatischer Zellkerntransfer und
therapeutisches Klonen ____________________ 175
Literaturhinweise ______________________
177
Sachverzeichnis _______________________
178
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1
Einleitung
Grundbegriffe
Die menschliche Keimesentwicklung findet
in der Tuba uterina und der Gebärmutter
(intrauterin) statt und dauert von der
Befruchtung bis zur Geburt in der Regel
264–268 Tage (38 Wochen = 91/2 Lunarmonate)
(Ovulationsalter). In der Klinik berechnet
man die Schwangerschaftsdauer in der Regel vom ersten Tag der letzten Menstruation
bis zur Geburt, was dann 280 Tage ergibt
(40 Wochen = 10 Lunarmonate) (Gestationsoder Menstruationsalter). Man unterscheidet im Allgemeinen eine Blastemzeit, von
der Befruchtung bis zur »Gastrulation«, d.h.
der Ausbildung der Keimblätter und der ersten axialen Strukturen (16.–19. Tag), eine
Embryonalzeit bis zum Ende der 8. Woche,
in der im Wesentlichen die Anlagen der
großen Organsysteme entstehen, und
schließlich eine Fetalzeit, von der 9. Woche
bis zur Geburt, in der die Hauptdifferenzierungs- und Reifungsprozesse der Organe,
insbesondere des Nervensystems, ablaufen.
Wichtige Zäsuren sind die Implantation in
die Uterusschleimhaut, die am 6. Tag nach
der Befruchtung beginnt, sowie die Ausdifferenzierung der Lunge in der 24.–26. Woche,
wonach der Fetus im Falle einer Frühgeburt
eine gewisse Überlebenschance hat.
Die Fetalperiode geht fließend in die
Perinatalperiode über, die vom Ende der
28. Woche bis zum 7. Lebenstag gerechnet
wird. In der Perinatalperiode, die noch vor
der Geburt beginnt, werden die verschiedenen Organe des Fetus (z.B. Lungen, Herz,
Leber, Nieren) nicht nur auf die Geburt
selbst vorbereitet, sondern vor allem auch
auf die funktionellen Erfordernisse des
extrauterinen Lebens eingestellt.
In der anschließenden Postnatalperiode
ist das 1.–2. Lebensjahr von besonderer
Bedeutung, da sich hier nicht nur die Auf-
richtung, sondern auch die Ausbildung der
Sprachfähigkeit, d.h. elementarer, in dieser
ausgeprägten, hochdifferenzierten Form nur
dem Menschen eigener Fähigkeiten, vollzieht.
Biologisch gesehen ist der Mensch eigentlich ein Nestflüchter, da die vitalen Gehirnfunktionen bei der Geburt schon weitgehend entwickelt und die Sinnesorgane geöffnet sind. Im Gegensatz zu den Nestflüchtern
(Huftiere, Wale, Makaken u.a.) ist das
menschliche Neugeborene aber noch nicht
selbstständig lebens- und bewegungsfähig.
Es ist hilflos wie die Neugeborenen von
Nesthockern (Nager, Raubtiere usw.), die
mit geschlossenen Sinnesorganen und nicht
voll funktionsfähigem Bewegungs- und Nervensystem geboren werden. Beim Menschen
sind zwar die Augenlider bis etwa zum 7.
Monat der Schwangerschaft, wie bei Nesthockern auch, noch geschlossen, öffnen sich
aber dann vor der Geburt. In den letzten
Schwangerschaftsmonaten erfolgt zwar ein
rapides Wachstum des Gehirns, aber die
Gliedmaßen und die inneren Organe bleiben im Wachstum zurück. Vergleicht man
diese Entwicklung mit der von höheren Säugern und Anthropoiden, müsste die Schwangerschaft beim Menschen nach A. Portmann
eigentlich 21–22 Monate dauern. Der
Mensch ist also – biologisch gesehen – eine
Frühgeburt, die die zweite Hälfte der notwendigen zerebralen Wachstums- und Reifungsperiode erst nach der Geburt absolviert, also gewissermaßen ein »sekundäres
Nesthockerstadium« (A. Portmann) durchmacht, für das es im Tierreich sonst nichts
Vergleichbares gibt. Die funktionelle Bedeutung dieser Tatsache für die Entwicklung des
Menschen liegt darin, dass zusammen mit
dem schon embryonal einsetzenden, exzessiven Wachstum des Gehirns, das sich postnatal bis zum Ende des ersten Lebensjahres
fortsetzt, die weitere Ausreifung der Organe,
2
Einleitung
auch der Sinnesorgane und Gliedmaßen,
außerhalb des Uterus in der Umgebung der
Familie, d.h. in der sozialen Umwelt, abspielt.
Dadurch kann diese Entwicklungsphase, die
– biologisch gesehen – eigentlich noch innerhalb des Mutterleibes hätte stattfinden müssen, entscheidend vom sozialen Umfeld mit
geprägt werden (Muttersprache, kulturell
geprägte Denk- und Verhaltensweisen usw.).
Die menschliche Embryonalentwicklung
endet also nicht, wie bei den meisten Säugetieren, mit der Fertigstellung eines voll ausgereiften, biologisch überlebensfähigen und
vom Verhalten her nicht mehr entwicklungsfähigen Organismus, sondern mit der Geburt
eines Wesens, das sich erst im Zusammenwirken mit der sozialen und kulturellen
Umwelt zum eigentlich Menschlichen ausgestalten muss. Diese Sonderstellung des Menschen wird auch dadurch unterstrichen, dass
der Mensch nicht nur in der Postnatalperiode,
sondern auch noch viele Jahre später entwicklungsfähig bleibt und Wachstums- bzw.
Reifungsrhythmen zeigt (z.B. der Wachstumsschub in der Pubertät), die bei anderen
Spezies in dieser Form nicht vorkommen.
Die Sonderstellung des Menschen wird
aber nicht nur an den geistigen und körperlichen Entwicklungsfähigkeiten nach der
Geburt, sondern auch an den embryonalen
Entwicklungsvorgängen selbst ablesbar. Das
soll in den folgenden Kapiteln zur Darstellung kommen.
Die menschliche Embryonalentwicklung
beginnt mit der Befruchtung (Konzeption),
d.h. der Vereinigung von Ei- und Samenzelle. Verglichen mit anderen biologischen Prozessen ist dies nicht nur ein äußerst komplexer und umständlich vorbereiteter Vorgang,
sondern auch ein staunenswertes, ehrfurchtgebietendes Ereignis. Ei- und Samenzellen
sind keine »gewöhnlichen« Körperzellen,
die sich auf die Fortpflanzung spezialisiert
haben; sie werden auch nicht von den Keim»Drüsen« gebildet, sondern sind als Urgeschlechtszellen in diese Drüsen eingewandert und finden dort ihre für die
Befruchtung notwendige Ausgestaltung. Die
Urgeschlechtszellen werden von den frühesten embryologischen Entwicklungsstadien
(Morula) gewissermaßen beiseite genommen, nehmen an der gesamten Embryonalentwicklung nicht teil und siedeln sich erst
relativ spät in den Keimdrüsenanlagen an.
Da der Organismus selbst stirbt, das Keimmaterial aber nicht zugrunde geht, sondern
von Generation zu Generation weitergegeben wird, spricht man von der Keimbahn
(Abb. 1A). Hier liegt also eine funktionelle
und – in gewisser Hinsicht – auch materielle
Kontinuität vor, die bis in Urzeiten der
menschlichen Stammesgeschichte zurückreicht. Würde das genetische Material von
Generation zu Generation unverändert weitergegeben, würden keine evolutiven Entwicklungsschritte möglich sein. Bei jeder Befruchtung findet aber eine Neuordnung des
genetischen Materials statt, so dass neue Einschläge im Strom des Entwicklungsgeschehens möglich werden, obwohl die Kontinuität
erhalten bleibt.
Um dies möglich zu machen und das Aussterben der Art zu verhindern, »opfert« der
Organismus gewissermaßen einen Teil seiner Organe, nämlich die Geschlechtsorgane,
und nutzt sie nicht unmittelbar für eigene
Funktionen. Für den Organismus selbst
spielen diese Organe keine lebenswichtige
Rolle, für die Erhaltung der genetischen
Kontinuität und damit für die Erhaltung der
Art sind sie aber entscheidend.
Individuen
Soma
Keimplasma
Abb. 1A. Schema der Keimbahn. Die Keimbahnzellen
(rot) machen die somatische Entwicklung nicht mit und
werden von Generation zu Generation weitergegeben,
während die Individuen (grau) absterben. Rote Pfeile = jeweils neuer genetischer Einschlag (nach D. Starck).
Die genetische Bestimmung des Körperbauplans
Die genetische Bestimmung
des Körperbauplans
Alle Parameter der menschlichen Embryonalentwicklung wie der genaue zeitliche Ablauf, die exakte Koordination der Entwicklung verschiedener Organe und Gewebe, ihre Form, Position, räumliche Ausrichtung
und Größe sind – wie bei jeder Spezies – im
Genom verankert, sonst wären keine Arterhaltung und identische Reproduktion möglich. Eine der großen Herausforderungen
der modernen Entwicklungsbiologie ist die
Frage, wie die lineare Information der DNA
in die Entwicklung dreidimensionaler Gebilde wie Auge, Wirbelkörper oder Zentrales
Nervensystem in ihrer gesamten molekularen und zellulären Komplexität und in die
Kontrolle zeitlicher Abläufe umgesetzt wird.
Aus Untersuchungen über die Embryonalentwicklung von Fadenwürmern (Nematoden), der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) sowie von Fröschen und Molchen sind in
den vergangenen zwei Jahrzehnten bahnbrechende Entdeckungen über Entwicklungskontrollgene hervorgegangen, die in ähnlicher, teilweise fast identischer Form auch die
Entwicklung des menschlichen Embryos
steuern. Eine der wichtigsten Erkenntnisse
war, dass die verschiedenen Stufen der Embryonalentwicklung durch eine Genhierarchie gesteuert werden, in der die sehr früh
aktiven Entwicklungskontrollgene, die meist
für Transkriptionsfaktoren codieren, Gruppen weiterer Gene (sog. Mastergene) kontrollieren. Diese Kategorie von Genen codiert entweder für weitere Transkriptionsfaktoren oder für parakrine Faktoren, die
die weitere Entwicklung steuern (s. S. 10).
Am Ende der Hierarchie steht die Regulation von organ- und gewebspezifischen Genen, die für Enzyme, Strukturproteine, Motorproteine oder ribosomale RNA codieren
(Abb. 1B).
Ein zweiter wichtiger Durchbruch war
die Aufklärung von Informationen oder Signalen, die Zellen und Gewebe untereinander austauschen, um so eine exakte zeitliche
und räumliche Koordination der Embryonalentwicklung zu gewährleisten. Zu diesen
Signalen gehören frei diffundierende Botenstoffe bzw. Signalmoleküle wie Hormone,
Wachstumsfaktoren und Zytokine. Sie lösen
an ihren zellulären Rezeptoren regulatorische Signalkaskaden in der Zelle aus. Diese
Signale sind vor allem für die Kontrolle verschiedener zellulärer Differenzierungsprozesse notwendig, die in koordinierter Form
während der Embryonalentwicklung ablau-
Entwicklungskontrollgen
Transkriptionsfaktor (Mastergen)
Promotorregion
Myosin MHC
Transkriptionsfaktor B (z. B. MyoD)
Tropomyosin
3
Aktin
Abb. 1B. Hierarchie der Gene in der Regulation der Embryonalentwicklung.
Desmin
4
Einleitung
fen müssen. Das Gleiche gilt für stationäre
Signale, die von Zelloberflächenmolekülen
und extrazellulären Matrixmolekülen ausgehen und ebenfalls über spezifische Rezeptoren von benachbarten Zellen erkannt und
verarbeitet werden.
Obwohl wir noch weit davon entfernt
sind, die gesamte Regulationskette während
der Entwicklung auch nur eines Organs auf
molekularer und zellulärer Ebene lückenlos
zu verstehen, gibt es für bestimmte Schlüsselprozesse der Embryonalentwicklung
doch schon sehr genaue Modelle, von denen
hier exemplarisch einige vorgestellt werden
sollen. Ziel ist es, die Wirkungsweise von
Entwicklungskontrollgenen, die von ihnen
codierten Transkriptionsfaktoren und die
spezifischen Funktionen von Wachstumsfaktoren sowie andere extrazelluläre Signale zu
entschlüsseln. Dieses Wissen wird unser Verständnis der komplexen morphologischen
Veränderungen und Differenzierungsprozesse während der Embryonalentwicklung
erleichtern und es uns schließlich ermöglichen, genetisch bedingte Fehlbildungen und
andere Erbkrankheiten besser zu verstehen.
Hox-Gene bestimmen den
Körperbauplan von Insekten
und Wirbeltieren
Die genetische Analyse von DrosophilaMutanten mit einem extra Beinpaar am
Kopf anstelle von Fühlern (Antennapedia)
oder einer Mutante mit zwei Paar Flügeln
anstelle von einem Paar Flügel und einem
Paar Halteren (Bithorax) hat mit zu der
bahnbrechenden Entdeckung der homöotischen Gene (Hox-Gene) beigetragen. Sie sind
nicht nur für die spezifischen Merkmale der
Körpersegmente von Insekten, sondern
auch für die von Wirbeltieren verantwortlich. Das Ungewöhnliche an den homöotischen Genen ist, dass sie in der Reihenfolge
auf dem Chromosom aneinandergereiht
sind, die der Reihenfolge ihrer Expression in
den aufeinanderfolgenden Körpersegmenten entspricht, also z. B. den Wirbeln bei den
Vertebraten (Abb. 1C). Das bedeutet, dass
Hox-Gene, die in terminalen Körpersegmenten exprimiert sind, auch am Ende dieser Gengruppe auf dem Chromosom liegen.
Das Neue daran ist auch, dass sich diese Gene, die für Transkriptionsfaktoren codieren,
in einer hierarchischen Reihenfolge gegenseitig regulieren. Das hat zur Folge, dass bei
Ausfall eines Hox-Gens (z. B. durch Mutation) die benachbarten Hox-Gene auch ausfallen oder geringer aktiviert werden, so dass
die betreffenden Körpersegmente die Merkmale eines anderen Segments annehmen
können. So führt z. B. die Mutation im HoxGen Ubx bei Drosophila zum Austausch des
thorakalen Segments T3 (Merkmal: Stummelflügel oder Haltere) durch T2 (Merkmal:
Flügel). Ebenso kann man z. B. in der Maus
durch Überexpression des Hox-b3-Gens ein
14. Paar Rippen induzieren. Dieses 14. Paar
ist eine Verdoppelung von Paar 13 und
kommt durch eine Umwandlung des Lendenwirbels L1 in einen Thorakalwirbel (T14)
zustande. Solche Umwandlungen werden
homöotische Transformationen genannt.
Viele Polysyndaktylien (sechs und mehr Finger) entstehen nicht durch Bildung eines
neuen, andersartigen Fingers, sondern durch
Verdoppelung eines der fünf Finger. Sie sind
auf Mutationen in den Hox-d(9–13)-Genen
zurückzuführen, die für die unterschiedlichen Merkmale der fünf Finger bzw. Zehen
verantwortlich sind.
Im Laufe der Evolution haben sich die
zehn Hox-Gene von Drosophila, die auf einem Chromosom liegen, beim Menschen zu
vier Hox-Clustern mit je 9–11 Hox-Genen
pro Cluster vervielfacht, die jedoch untereinander homolog sind (Abb. 1C). Wie bei
Drosophila, sind die am 3’-Ende gelegenen
Gene für die anterioren (Kopf-)Segmente
verantwortlich, während die am 5’-Ende gelegenen Gene die spezifischen Merkmale
der kaudalen Körpersegmente und der Finger bzw. Zehen festlegen. Wie aus Abb. 1D
Herunterladen