Die genetische Bestimmung des Körperbauplans

Werbung
Die genetische Bestimmung des Körperbauplans
Die genetische Bestimmung
des Körperbauplans
Alle Parameter der menschlichen Embryonalentwicklung wie der genaue zeitliche Ablauf, die exakte Koordination der Entwicklung verschiedener Organe und Gewebe, ihre Form, Position, räumliche Ausrichtung
und Größe sind – wie bei jeder Spezies – im
Genom verankert, sonst wären keine Arterhaltung und identische Reproduktion möglich. Eine der großen Herausforderungen
der modernen Entwicklungsbiologie ist die
Frage, wie die lineare Information der DNA
in die Entwicklung dreidimensionaler Gebilde wie Auge, Wirbelkörper oder Zentrales
Nervensystem in ihrer gesamten molekularen und zellulären Komplexität und in die
Kontrolle zeitlicher Abläufe umgesetzt wird.
Aus Untersuchungen über die Embryonalentwicklung von Fadenwürmern (Nematoden), der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) sowie von Fröschen und Molchen sind in
den vergangenen zwei Jahrzehnten bahnbrechende Entdeckungen über Entwicklungskontrollgene hervorgegangen, die in ähnlicher, teilweise fast identischer Form auch die
Entwicklung des menschlichen Embryos
steuern. Eine der wichtigsten Erkenntnisse
war, dass die verschiedenen Stufen der Embryonalentwicklung durch eine Genhierarchie gesteuert werden, in der die sehr früh
aktiven Entwicklungskontrollgene, die meist
für Transkriptionsfaktoren codieren, Gruppen weiterer Gene (sog. Mastergene) kontrollieren. Diese Kategorie von Genen codiert entweder für weitere Transkriptionsfaktoren oder für parakrine Faktoren, die
die weitere Entwicklung steuern (s. S. 10).
Am Ende der Hierarchie steht die Regulation von organ- und gewebspezifischen Genen, die für Enzyme, Strukturproteine, Motorproteine oder ribosomale RNA codieren
(Abb. 1B).
Ein zweiter wichtiger Durchbruch war
die Aufklärung von Informationen oder Signalen, die Zellen und Gewebe untereinander austauschen, um so eine exakte zeitliche
und räumliche Koordination der Embryonalentwicklung zu gewährleisten. Zu diesen
Signalen gehören frei diffundierende Botenstoffe bzw. Signalmoleküle wie Hormone,
Wachstumsfaktoren und Zytokine. Sie lösen
an ihren zellulären Rezeptoren regulatorische Signalkaskaden in der Zelle aus. Diese
Signale sind vor allem für die Kontrolle verschiedener zellulärer Differenzierungsprozesse notwendig, die in koordinierter Form
während der Embryonalentwicklung ablau-
Entwicklungskontrollgen
Transkriptionsfaktor (Mastergen)
Promotorregion
Myosin MHC
Transkriptionsfaktor B (z. B. MyoD)
Tropomyosin
3
Aktin
Abb. 1B. Hierarchie der Gene in der Regulation der Embryonalentwicklung.
Desmin
4
Einleitung
fen müssen. Das Gleiche gilt für stationäre
Signale, die von Zelloberflächenmolekülen
und extrazellulären Matrixmolekülen ausgehen und ebenfalls über spezifische Rezeptoren von benachbarten Zellen erkannt und
verarbeitet werden.
Obwohl wir noch weit davon entfernt
sind, die gesamte Regulationskette während
der Entwicklung auch nur eines Organs auf
molekularer und zellulärer Ebene lückenlos
zu verstehen, gibt es für bestimmte Schlüsselprozesse der Embryonalentwicklung
doch schon sehr genaue Modelle, von denen
hier exemplarisch einige vorgestellt werden
sollen. Ziel ist es, die Wirkungsweise von
Entwicklungskontrollgenen, die von ihnen
codierten Transkriptionsfaktoren und die
spezifischen Funktionen von Wachstumsfaktoren sowie andere extrazelluläre Signale zu
entschlüsseln. Dieses Wissen wird unser Verständnis der komplexen morphologischen
Veränderungen und Differenzierungsprozesse während der Embryonalentwicklung
erleichtern und es uns schließlich ermöglichen, genetisch bedingte Fehlbildungen und
andere Erbkrankheiten besser zu verstehen.
Hox-Gene bestimmen den
Körperbauplan von Insekten
und Wirbeltieren
Die genetische Analyse von DrosophilaMutanten mit einem extra Beinpaar am
Kopf anstelle von Fühlern (Antennapedia)
oder einer Mutante mit zwei Paar Flügeln
anstelle von einem Paar Flügel und einem
Paar Halteren (Bithorax) hat mit zu der
bahnbrechenden Entdeckung der homöotischen Gene (Hox-Gene) beigetragen. Sie sind
nicht nur für die spezifischen Merkmale der
Körpersegmente von Insekten, sondern
auch für die von Wirbeltieren verantwortlich. Das Ungewöhnliche an den homöotischen Genen ist, dass sie in der Reihenfolge
auf dem Chromosom aneinandergereiht
sind, die der Reihenfolge ihrer Expression in
den aufeinanderfolgenden Körpersegmenten entspricht, also z. B. den Wirbeln bei den
Vertebraten (Abb. 1C). Das bedeutet, dass
Hox-Gene, die in terminalen Körpersegmenten exprimiert sind, auch am Ende dieser Gengruppe auf dem Chromosom liegen.
Das Neue daran ist auch, dass sich diese Gene, die für Transkriptionsfaktoren codieren,
in einer hierarchischen Reihenfolge gegenseitig regulieren. Das hat zur Folge, dass bei
Ausfall eines Hox-Gens (z. B. durch Mutation) die benachbarten Hox-Gene auch ausfallen oder geringer aktiviert werden, so dass
die betreffenden Körpersegmente die Merkmale eines anderen Segments annehmen
können. So führt z. B. die Mutation im HoxGen Ubx bei Drosophila zum Austausch des
thorakalen Segments T3 (Merkmal: Stummelflügel oder Haltere) durch T2 (Merkmal:
Flügel). Ebenso kann man z. B. in der Maus
durch Überexpression des Hox-b3-Gens ein
14. Paar Rippen induzieren. Dieses 14. Paar
ist eine Verdoppelung von Paar 13 und
kommt durch eine Umwandlung des Lendenwirbels L1 in einen Thorakalwirbel (T14)
zustande. Solche Umwandlungen werden
homöotische Transformationen genannt.
Viele Polysyndaktylien (sechs und mehr Finger) entstehen nicht durch Bildung eines
neuen, andersartigen Fingers, sondern durch
Verdoppelung eines der fünf Finger. Sie sind
auf Mutationen in den Hox-d(9–13)-Genen
zurückzuführen, die für die unterschiedlichen Merkmale der fünf Finger bzw. Zehen
verantwortlich sind.
Im Laufe der Evolution haben sich die
zehn Hox-Gene von Drosophila, die auf einem Chromosom liegen, beim Menschen zu
vier Hox-Clustern mit je 9–11 Hox-Genen
pro Cluster vervielfacht, die jedoch untereinander homolog sind (Abb. 1C). Wie bei
Drosophila, sind die am 3’-Ende gelegenen
Gene für die anterioren (Kopf-)Segmente
verantwortlich, während die am 5’-Ende gelegenen Gene die spezifischen Merkmale
der kaudalen Körpersegmente und der Finger bzw. Zehen festlegen. Wie aus Abb. 1D
c5
b5
a5
scr
c6
b6
a6
ftz
b7
a7
Antp
d8
c8
b8
Ubx
d9
c9
b9
a9
d10
c10
a10
Abda
c12
c13
b13
a13
5’
d11 d12 d13
c11
a11
Abdb
Posterior
Mensch
Drosophila
Abb. 1C. Hox-Gene bestimmen den Körperbauplan. In der Fruchtfliege Drosophila melanogaster wurden als Erstes die
Hox-Gene entdeckt, die in einem Cluster auf einem Chromosom in der gleichen Reihenfolge (von 3‘ nach 5‘) angeordnet sind, in der sie von anterior nach posterior – von den Kopfsegmenten zu den Abdominalsegmenten – exprimiert
sind. In den Vertebraten gibt es vier homologe Hox-Cluster auf vier verschiedenen Chromosomen, die in ihrer Gesamtheit die Identität der Körpersegmente (Wirbel, Neuralrohr- und Gehirnsegmente, Glieder der Extremitäten) festlegen.
Hox-Gene regulieren sich gegenseitig in einer hierarchischen Reihenfolge von 3‘ nach 5‘ (modifiziert nach B. Alberts
et al., 2002).
Paraloge
Gruppen
d3
b4
d4
d1
b3
a4
Dfd
Hox-d
Chrom. 2
b2
a3
bcd
c4
b1
Hox-b
Chrom. 11
a2
pb
Hox-c
Chrom. 15
a1
lab
Anterior
Hox-a
Chrom. 6
3’
Wirbelsäule
Neuralrohr
Die genetische Bestimmung des Körperbauplans
5
Herunterladen