Medizinischer Fortschritt und ethische Fragen Wien-Glanzing, 23. Juni 1995 Ihre Einladung, Herr Professor Lischka, bei diesem festlichen Anlass Ihrer bekannten Kinderklinik zu sprechen, habe ich aus zwei Gründen gerne angenommen: Einmal deswegen, weil ich darin einen Hinweis sehe, dass ethische Fragen in der modernen Medizin zunehmend an Interesse und Bedeutung gewinnen; damit kommt zum Ausdruck, dass es in der Medizin von heute um den ganzen Menschen geht und dazu gehört auch die Frage der Religion, das heißt die Frage nach dem: Woher komme ich, wohin gehe ich und welchen Sinn hat mein Leben. Zum zweiten: Ich sehe darin – im gesamten Bereich der Naturwissenschaft – mehr als früher ein Aufeinander-Zugehen von Wissenschaft und Religion, im Interesse des ganzen Menschen. Damit wende ich mich dem mir gestellten Thema zu: Medizinischer Fortschritt und ethische Fragen. – Ich bitte gleich eingangs um Verständnis, wenn ich damit die speziellen Anliegen der Neonatologie nicht in einem von Ihnen vielleicht erwarteten Umfang mit einbeziehen kann. Der Grund liegt darin, dass ich dazu mit der medizinischen Forschung und mit den Ergebnissen gerade Ihres Faches zu wenig vertraut bin. Die moderne Medizin – lassen Sie mich das als Nichtmediziner feststellen – ist heute eine Großmacht geworden, die mit ihren neuen, neuesten Möglichkeiten des Wissens und Heilens in alle Bereiche des menschlichen Lebens eingedrungen ist. Es ist gelungen, die Lebenszeit des Menschen zu verlängern, Seuchen zu bekämpfen, Krankheiten zum Verschwinden zu bringen und vorbeugende Maßnahmen im Dienste der Gesundheit zu propagieren. Gleichzeitig aber melden sich kritische Stimmen, die hinweisen auf eine steigende und einseitige Abhängigkeit von Heilstechniken; dies gilt sowohl für den Patienten wie für den Arzt und sein Pflegeteam. Die moderne Medizin hat viele neue Möglichkeiten erschlossen aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes. Auf der anderen Seite gerät die Medizin, gerät der Arzt oft in einen Zwiespalt zwischen dem, was technisch machbar und menschlich zumutbar ist. Oder: im Bereich der Medizin gibt es heute immer wieder Fragen, die dem Arzt und seinem Team schwierige Entscheidungen abverlangen: Darf ich oder soll ich dies noch machen, soll ich eine 1 Behandlungsmethode fortsetzen oder abbrechen? Welche Methode ist unter diesen vielen Möglichkeiten die bessere in dem Fall? – Nicht alles, was technisch machbar ist, kann ethisch auch vertreten werden, das heißt, die Medizin steht heute viel mehr als früher vor grundsätzlichen Fragen der Ethik. Und Fragen nach der Ethik, das heißt, Fragen nach dem richtigen und verantwortlichen Handeln in Bezug auf andere Menschen, gehört zu den großen Themen der abendländischen Geistesgeschichte seit Sokrates. Die großen und raschen Fortschritte der Medizin mit ihren technischen Möglichkeiten, die heute bereits in den gesamten psychosomatischen Bereich des Menschen hineinreichen, können das Menschsein, da persönliche Sein, an der Wurzel berühren. Damit steht die Medizin, steht der Mediziner vor der Frage: Welche Richtschnur soll man als Grundlage für die vielen Entscheidungen verwenden, die heute im Bereiche der Medizin unserer Zeit notwendig sind? Wo finde ich Entscheidungshilfen, um in Konfliktsituationen eine Orientierung zu finden? Solche schwierige Fragen finden sich am Beginn des menschlichen Lebens ebenso wie am Ende des Lebens. Lassen Sie mich an einige Beispiele erinnern, die zeigen sollen, was mit medizinischem Fortschritt und ethischen Fragen gemeint ist: Ich erinnere Sie an Embryonenforschung, In-vitro-Fertilisation, an Gendiagnostik, Abortus, Euthanasie, Organtransplantationen usw. – Dazu kann man gelegentlich hören, dass die frühere Medizin eine auf den Patienten zentrierte Heilkunst war, während die neue Medizin eine auf Apparate zentrierte Heilstechnik geworden sei, das heißt, nicht den Menschen, sondern mehr das technische Können in den Mittelpunkt rückt. Dazu möchte ich Sie noch kurz daran erinnern, dass Medizin und Ethik auch die Frage nach dem Gewissen des Menschen einschließen. Ich meine das Gewissen des Menschen als ein Wissen um das, was sein soll oder geschehen soll; denn gerade das gehört auch in den Bereich der Ethik. Das Gewissen – und dazu möchte ich einen Satz aus dem II. Vatikanischen Konzil (GS 16) zitieren: „Das Gewissen ist die verborgene Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott“ – dies setzt allerdings das richtig gebildete und geformte Gewissen voraus; das heißt, auch das Gewissen hängt mit Ethik im Allgemeinen, in unserem Fall mit medizinischer Ethik im Besonderen zusammen. 2 Die heute europaweite Diskussion um ethische Orientierung im medizinischen Fortschritt wurde seinerzeit stark beeinflusst durch Amerika. In den siebziger Jahren erschien dort ein Buch von Potter, Bioethics, a bridge to the future, 1971; dies war der Anstoß, nicht so sehr von medizinischer Ethik, sondern vielmehr von Bioethik zu sprechen. Seit dieser Zeit wurde die medizinische Ethik als Bioethik an den medizinischen Schulen und Fakultäten in Amerika stark ausgebaut. Daher stehen wir vor der Frage: Welche Orientierungshilfe kann Medizin, kann der Arzt von der Ethik erwarten? Hier geht es vor allem und zuerst um den Grundsatz: Der Mensch, die Würde der menschlichen Person, hat immer und überall Vorrang oder Priorität. Ein solcher Grundsatz, eine Art Kategorischer Imperativ im Sinne Kants in der Medizin, wird von mir als Christ ergänzt durch einen Satz aus der Genesis: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis, als Mann und Frau erschuf er sie“. Das heißt, der Respekt vor menschlichem Leben und menschlicher Würde wird verstärkt durch den Hinweis auf die einzigartige Würde des Menschen als Ebenbild Gottes. Und das bedeutet weiter, dass alle Menschen gleich sind, die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben. Dazu kommt übrigens noch der Satz aus der Bergpredigt Jesu: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen“. – Diese Goldene Regel weist gleichzeitig auf die Universalität ethischen Handelns hin. Ethische Grundsätze, Orientierungen anhand der medizinischen Ethik können niemandem aufgezwungen werden. Es ist dies eine Sache persönlicher Einsicht und persönlicher Entscheidung. Daher ist es heute besonders notwendig geworden, bereits die jungen Medizinstudenten mit den Grundfragen einer medzinischen Ethik vertraut zu machen. Dadurch kann das Bewusstsein der persönlichen Verantwortung für einen so schönen Beruf nur vertieft werden. Heute ist es ja gewissermaßen die Medizin selber, die auf die Notwendigkeit solcher grundsätzlicher ethischer Orientierung hinweist, um den Einbruch eines utilitaristischen und naturwissenschaftlichen Denkens in den gesamten Lebensbereich nicht zu einem Dammbruch werden zu lassen. Ja, Vertreter der Naturwissenschaften, wie der Biowissenschaft, haben noch einen besonderen Grund, um auf die absolute Gültigkeit hinzuweisen, dass menschliches Leben mit seiner Würde unverfügbar, unantastbar sei: immer wieder lauert am Horizont 3 die Gefahr, dass politische Ideologien die öffentliche Meinung beeinflussen, um solche Grundsätze zu relativieren oder zu verwischen. Ich erinnere etwa an das Beispiel des extremen Nationalismus oder Rassismus, wie die Entwertung des individuellen Lebens und seiner Würde durch den marxistischen Sozialismus. Damit versuche ich, beispielhaft auf einige Grundsätze medizinischer Ethik hinzuweisen: Erstens: Wie weit ist der Spitalserhalter oder wie weit sind Versicherungen verpflichtet, für die medizinische Forschung und für die steigenden Kosten in der Therapie auch die Mittel zu besorgen? In diesem Sinne hat die Kostenexplosion in den Krankenhäusern mancherorts – so lauten Meldungen aus England – bereits Diskussionen in Gang gesetzt, ob man nicht die steigenden Kosten für den einzelnen Patienten in Beziehung stellen sollte zu den finanziellen Möglichkeiten. Es gäbe, so heißt es, bereits Beispiele die berechnen wollen, wie viel ein menschliches Leben, auf die Gesellschaft bezogen, eigentlich wert ist. Das heißt aber: Nicht der Mensch steht als Patient im Mittelpunkt, sondern eine Kosten-Nutzen-Rechnung des Patienten, bzw. des menschlichen Lebens ist oberste Norm. Ein zweites: Ein anderer Versuch, der, genau besehen, ebenfalls auf eine Relativierung des menschlichen Lebens hinausläuft, ist der unstillbare Drang menschlichen Forschens; der Forscher versucht immer mehr in unbekannte Regionen der Natur und des Lebens einzudringen. So wertvoll dieses Ringen um neue Erkenntnisse ist, so muss heute mehr denn je aber auch die Forschung, bzw. der Forscher, auf den ethischen Grundsatz aufmerksam gemacht werden, der den Forscher verpflichtet: Die Forschung kann nur im Dienste des Menschen stehen und nicht umgekehrt. Es ist eine Verletzung, die bis in den Gewissensbereich hineinreicht, wenn man mit verschiedenen Ausflüchten immer wieder versucht, den Menschen selber in den Dienst, das heißt, zum Objekt der Forschung zu machen. So sehr der Forscherdrang anzuerkennen ist, – denn auch die moderne Medizin verdankt den Forscherteams unendlich viel, – so sehr muss allen Forschern und Forscherteams darauf hingewiesen werden: Die Achtung und die Würde des menschlichen Lebens und der menschlichen Existenz darf auch vom Forscher, bzw. von der Forschung nicht angetastet werden. 4 Ein drittes: Die Medizin, bzw. der Arzt steht oft vor der Frage: Wer entscheidet über die Länge des Lebens, wer hat ein Recht, wer darf über das Lebensrecht des Menschen entscheiden? Die Antwort der Ethik lautet: Niemand, auch der Arzt nicht. Damit steht er, der Arzt, oft vor sehr schwierigen und einsamen Entscheidungen. In der sogenannten Grauzone ärztlichen Entscheidens darf allerdings die Stimme des Gewissens nicht überhört werden. Daher besteht auch kein Unterschied, ob solche Entscheidungen am Anfange des menschlichen Lebens oder in der letzten Lebensphase zu treffen sind. Der Grundsatz der Ethik – mit dem Blick auf Anfang und Ende des Lebens – lautet: Der Respekt, der Schutz des menschlichen Lebens, hat immer und überall Vorrang. Dieser Grundsatz der Ethik wird de facto von der Medizin akzeptiert – aber Routine und Egoismus, Entscheidungen aus Gefälligkeit, ein gewisser allgemeiner leichtfertiger Umgang mit Werten und Grundsätzen, auch im privaten Leben, können dazu führen, dass man leise Anfragen dieser Art einfach wegschiebt, mit der Feststellung: Ich habe das eben allein zu entscheiden und damit auch zu verantworten. Dies kann aber nie richtig sein – ethische Grundsätze erlauben keine Ausnahmen oder persönliche Rücksichtnahmen. Auf der anderen Seite können Ängstlichkeit, allgemeine Unsicherheit, für den Arzt zusätzliche Probleme schaffen. Daher der Rat: So weit es möglich ist, sollte man heikle Entscheidungen nicht allein, sondern im Team treffen. In unserer europäisch- abendländischen Geschichte ist die Würde des einzelnen Menschen immer als Säule gesellschaftlicher Ordnung und staatlichen Denkens anerkannt worden. Das heißt, eine feste Säule, die immer wieder in Gefahr geraten ist, durch moderne Heilslehre abgeschwächt zu werden, zum Beispiel durch einseitiges Klassen- oder Elitedenken; dass solche Versuche nicht immer wieder auftauchen, dazu kann auch die medizinische Ethik ihren Teil beitragen. Kaum ein Gebiet der Medizin, so sagt man mir, hat in den letzten Jahren so große Fortschritte gemacht, wie die Geburtsmedizin, bzw. die Neonatologie, und das nicht zuletzt auch in Verbindung mit pränataler Diagnostik. Wenn daher eine vorgeburtliche Diagnostik als eigener medizinischer Problemkreis im Sinne der medizinischen Ethik die Integrität des Embryos, des Fötus im Auge hat, auf seinen individuellen Schutz oder Heilung ausgerichtet ist, so kann niemand einen 5 Einwand erheben. In diesem Sinne hat auch die Glaubenskongregation des Vatikans (cf. Donum vitae, 1987) auf eine diesbezügliche Anfrage geantwortet, dass gegen frühgeburtliche Untersuchungen und Erkenntnisse dann kein Einwand bestehe, wenn sie den Zweck verfolgen, verschiedene therapeutische, bzw. chirurgisch-medizinische Eingriffe vorzubereiten, die nicht dem Zwecke dienen, das bereits vorhandene Leben zu beseitigen. In diesem Zusammenhang ist aber noch auf einen anderen Aspekt hinzuweisen: Eine pränatale Diagnostik ist aus Gründen medizinischer Ethik dann abzulehnen, wenn sie nur deswegen vorgenommen wird, um ein bereits vorhandenes Menschenleben wegen zu erwartender körperlicher oder geistiger Defekte, oder auch um des Geschlechtes willen, zu beseitigen, zu töten. – Etwas anderes ist es aber, wenn solche Diagnosen aufgrund der Erkenntnisse der Genforschung mithelfen sollen, um Eltern zu beraten, die in einem solchen Fall die Absicht haben, auf die Zeugung eigener oder weiterer Kinder zu verzichten, sofern dies aus eigener Verantwortung und Überzeugung der Eltern geschieht. Ein anderer Problemkreis: Durch Intensivbehandlungen kann heute in vielen Fällen das Leben von Neugeborenen gerettet werden, die früher trotz bester Pflege einfach nicht überleben konnten. – Und auch hier steht der Arzt vor der schwierigen Frage: Wo und wann aber sind diesbezügliche Grenzen zur Kenntnis zu nehmen? Heute steht die Neonatologie vor großen Schwierigkeiten, wenn es sich um problematisch-reife Frühgeburten handelt; ja, man könnte sagen, dass die moderne Medizin paradoxerweise aufgrund ihres großen Fortschrittes dazu beiträgt, um das Problem der kaum reifen Frühgeborenen noch zu verschärfen. Vor einiger Zeit wurde mit großer Medienwirksamkeit eine Diskussion geführt um das sogenannte „Erlanger-Baby“; dies dürfte allen bewusst gemacht haben, wie schwierig es ist, ohne Kenntnis aller Umstände zu entscheiden zwischen einem medizinisch noch vertretbaren Rettungsversuch für das ungeborene Leben und einem bloß medizinischen Experiment. Was die sogenannte prädiktive genetische Diagnosemöglichkeit angeht, die Frage nach einem vorhandenen oder wahrscheinlich vorhandenem Krankheitsgen, und die Notwendigkeit einer Information der Betroffenen, so gibt es hier noch keine einhellige Meinung. Im All6 gemeinen ist man sich wohl einig und dem möchte ich beipflichten, dass ein Recht auf Nichtwissen aber auch respektiert werden muss. Etwas anderes ist es aber wiederum, wenn es sich um Menschen handelt, die wissen wollen, ob sie ein solches Krankheitsgen in sich tragen, denn die daraus sich ergebenden Folgen für die eigene Lebensplanung, aber auch für die betroffenen Familien, bis hin zur Selbstmordgefahr, können enorm sein. Wie sind daher solche Diagnosen zu beurteilen und wie weit besteht hier eine ärztliche Pflicht, dies zu sagen? – Heute gibt es bereits Selbsthilfegruppen, die sich mit diesen Fragen eingehender beschäftigen wollen. Solche knappe Hinweise machen deutlich, wie sehr in Ihrem medizinischen Bereiche die Forschung, sichere Erkenntnisse und ethische Fragen noch im Flusse sind. Ihre Klinik, Ihre Ärzte und Ihr Pflegeteam stehen mit solchen Fragen der Neonatologie, der Geburtsmedizin, am Beginn des menschlichen Lebens überhaupt und sind damit dem Wunder des Lebens besonders nahe. Die Diskussionen, die durch Medizin und Ethik in Ihre Fächer hineingetragen werden, sollen mithelfen, diesem Wunder des Lebens mit noch größerer Verantwortung und Dankbarkeit zu begegnen. In diesem Sinne möchte ich Ihnen meine Anerkennung aussprechen für alles, was hier medizinisch und menschlich geleistet wird. Ich wünsche Ihnen, dass Sie durch eine solche bewusste Verbindung von ethischen Grundsätzen und medizinischen Leistungen dem Leben immer mehr und besser dienen können. In diesem Sinne wünsche ich auch Ihrem internationalen Symposium einen großen Erfolg und viele neue Anregungen! Vortrag von Kardinal König, gehalten beim Internationalen Symposium Medizinischer Fortschritt und ethische Fragen Kinderklinik Glanzing, Wien 19, 23. Juni 1995 7