Berlin, 11.08.2011 Neufestsetzung der Festbeträge für Hörhilfen: Zentrale Bedürfnisse der Patienten bleiben unberücksichtigt Stellungnahme des Verbraucherzentrale Bundesverbandes im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB V gegenüber dem Spitzenverband der Krankenkassen Schreiben vom 06. Juli 2011 Verbraucherzentrale Bundesverband – vzbv Fachbereich Gesundheit/Ernährung Markgrafenstr. 66 10969 Berlin [email protected] www.vzbv.de Zentrale Bedürfnisse der Patienten bleiben unberücksichtigt 11.08.2011 Hintergrund: Kassenleistung zum Ausgleich von Schwerhörigkeit bisher unzureichend Schwerhörigkeit bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Teilhabe am öffentlichen Leben und muss deshalb aus Sicht des Verbraucherzentrale Bundesverbands zuverlässig auf der Grundlage von Kassenleistungen so gut ausgeglichen werden, dass diese Teilhabe weitestgehend ermöglicht wird. Diese Auffassung liegt auch dem Sozialgesetzbuch V zugrunde. Die bisherigen Regelungen zur Versorgung mit Hörhilfen haben diese Anforderungen nicht erfüllt. Verbraucherinnen und Verbraucher sehen sich deshalb nahezu regelmäßig mit der Situation konfrontiert, dass sie beim Hörgeräteakkustiker hohe Zuzahlungen (pro Ohr im fünfstelligen Bereich) leisten müssen, um ein gut angepasstes und den eigenen Bedürfnissen entsprechendes Gerät zu erhalten. Es ist unklar, in welchem Umfang dies auf unzureichende Festbeträge einerseits und gewinnorientiertes Handeln der Akkustiker andererseits zurückzuführen ist. Als Folge dieser Mißstände hatte eine Klage eines Schwerhörigen vor dem Bundessozialgericht (BSG) am 17. Dezember 2009 (AZ: B 3 KR 20/08 R) Erfolg. Mit diesem Urteil wurde der Anspruch der Betroffenen begründet, dass die Krankenkassen für solche Hörhilfen aufzukommen haben, die nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlauben und gegenüber anderen Hörhilfen erhebliche Gebrauchsvorteile im Alltagsleben bieten. Als Reaktion auf das Urteil des Bundessozialgerichts hat der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) seine Bestimmungen zur Festbetragsregelung für Hörhilfen überarbeitet. Hierin wird niedergelegt, welche Finanzmittel die Krankenkassen regelhaft als ausreichend zur Versorgung der Patientinnen und Patienten mit geeigeneten Hörhilfen erachten. Zusammenfassend nimmt der Verbraucherzentrale Bundesverband zu dieser Neuregelung wie folgt Stellung: Die Vorgehensweise bei der Neufestsetzung der Festbeträge für Hörhilfen ist aus unserer Sicht nicht geeignet, um eine angemessene Versorgung der Betroffenen mit Hörhilfen zu gewährleisten. Insbesondere wird kritisiert: • Die Festlegung der technischen Anforderungen an die zu beschaffenden Hörhilfen lässt jeden erkennbaren Bezug zu den Bedürfnissen und Anwendungssituationen von Patientinnen und Patienten vermissen. • Eine Begrenzung der Verbesserungen bei der Hörgeräteversorgung auf die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit ist diskriminierend und sachlich nicht nachzuvollziehen. • Es gibt keine Maßnahmen, die sicherstellen, dass das Ziel der Versorgung mit Hörhilfen auch erreicht wird, sprich: Es ist nicht sicher, dass die Patienten mit ihrem Gerät auch tatsächlich wieder hören können. 2 Zentrale Bedürfnisse der Patienten bleiben unberücksichtigt 11.08.2011 Definition der Hörleistung, nicht der Technik notwendig Der GKV-SV führt aus, dass „gemäß den Versorgungszielen des BSG“ die in der Festbetragskalkulation berücksichtigten Hörgeräte bestimmte technische Anforderungen erfüllen müssen. Aus Sicht des Verbraucherzentrale Bundesverbands müssen sich Versorgungsziele aber an den konkret zu erreichenden Hörleistungen der Betroffenen orientieren. Mit anderen Worten: Es muss sichergestellt sein, dass durch die abgegebenen Hörhilfen die Betroffenen in die Lage versetzt werden, die Situationen eines normalen Alltagslebens – beispielsweise Gespräche mit und ohne Hintergrundgeräusche, akustische Orientierung auch in Umgebungen mit zahlreichen Geräuschquellen, Teilnahme an sozialen und kulturellen Veranstaltungen – zu bewältigen. Aus den vom GKV-SV vorgelegten Materialien geht weder hervor, dass eine Festlegung solcher Kriterien erfolgt ist, noch dass die genannten technischen Merkmale in der Lage sind, die Bewältigung dieser Alltagssituationen zu gewährleisten. Insofern bleiben an dieser Stelle erhebliche Zweifel bestehen, ob die genannten Festbeträge geeignet sind, eine Hörgeräteversorgung zu ermöglichen, die für die Betroffenen ein zufriedenstellendes Ergebnis zur Folge hat. Nicht nur an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit muss adäquat ausgeglichen werden Der GKV-SV nutzt in seiner Vorgehensweise die Tatsache aus, dass die eingangs zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts von einem an Taubheit grenzenden Schwerhörigen erstritten wurde und begrenzt die Anpassung der Festbeträge auf diesen Personenkreis. Angesichts der erheblichen Einschränkungen, die auch von weniger massiv ausgeprägter Schwerhörigkeit betroffene Personen hinnehmen müssen, ist diese Vorgehensweise aus Sicht des Verbraucherzentrale Bundesverbands diskriminierend und nicht sachgerecht. Hier handelt es sich aus unserer Sicht um ein Spiel auf Zeit, bei dem große und ebenfalls schwer betroffene Patientengruppen eine zeitnahe zuverlässige Versorgung mit adäquaten Leistungen ohne erhebliche finanzielle Eigenleistung verweigert wird. Letztlich muss für alle Schwerhörigen eine Versorgung erfolgen, die ihnen die Teilhabe am Alltagsleben ermöglicht. Hierfür müssen wiederum die definierten Alltagssituationen als Maßstab der Beurteilung angemessener Festbeträge für Hörhilfen bei den verschiedenen Schweregraden der Hörbeeinträchtigung herangezogen werden. Ergebnisqualität der Hörgeräteversorgung muss sichergestellt werden Eine adäquate Versorgung von Schwerhörigen ist nicht dann erfolgt, wenn die Krankenkasse den Festbetrag geleistet hat, sondern wenn der oder die Betroffene wieder hört. Im derzeitigen System der Hörgeräteversorgung fehlt jede nachdrückliche Qualitätssicherung, die gewährleistet, dass dieses Ziel auch (mit der Kassenleistung) erreicht wird. Dazu gehört aus Sicht des Verbraucherzentrale Bundesverbands, dass die Anpassungsleistung der Hörgeräteakkustiker durch unabhängige Messung der erreichten Hörleistung und Befragung der Patienten nach erfolgter Leistungserbringung zuverlässig erfasst wird. Bei Nichterreichung müssen gegebenenfalls Konsequenzen gezogen werden. So muss sichergestellt werden, dass die Akkustiker die nach der Erläuterung zum Festbetragsgruppensystem geschuldeten Leistungen ohne Zuzahlung der Patienten in der gebotenen fachlichen Qualität und mit den gewünschten Ergebnissen erbringen. 3 Zentrale Bedürfnisse der Patienten bleiben unberücksichtigt 11.08.2011 Gleichzeitig müssen aber auch Mechanismen geschaffen werden, die für Fälle, in denen die Festbetragsgeräte zur Erreichung der ergebnisorientierten Versorgungsziele nachweislich nicht ausreichen, eine Leistungspflicht der Kassen über den Festbetrag hinaus regeln. Diese Leistungspflicht der Krankenkassen muss auch greifen, ohne dass die Betroffenen auf die gerichtliche Durchsetzung ihrer Rechte oder auf erhebliche Zuzahlungen angewiesen sind. 4