einfpropaedksa - Einführung und Propädeutikum

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Einführung und Propädeutikum Kultur- und Sozialanthropologie
Quelle: http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfpropaedksa/einfpropaedksa-titel.html
Elke Mader (EM), Wolfgang Kraus (WK), Philipp Budka (PB), Matthias Reitter (MR)
Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien
Diese Lernunterlage gibt einen einführenden Überblick zur wissenschaftlichen Disziplin der Kultur- und
Sozialanthropologie (KSA) mit besonderem Schwerpunkt auf die Situation und die Arbeit des Instituts für
Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Neben der Frage, womit sich Kultur- und
Sozialanthropologie beschäftigt und wie sie sich theoriegeschichtlich entwickelt hat, werden ausgewählte
Themenbereiche vorgestellt. Die Lernunterlage richtet sich vor allem an StudienanfängerInnen, kann aber
ebenso als Informationsquelle oder Lehr- und Lernmittel für allgemein an der Kultur- und Sozialanthropologie
Interessierte dienen.
An der Erstellung dieser Lernunterlage mitgewirkt haben als AutorInnen: Elke Mader (EM), Wolfgang Kraus
(WK), Philipp Budka (PB) und Matthias Reitter (MR). Redaktionell bearbeitet wurde die Unterlage von Anna
Ellmer, Matthias Reitter und Philipp Budka.
Kapitelübersicht
1
1.1
1.1.1
1.1.2
1.1.3
1.1.4
1.1.5
1.1.6
1.1.7
1.1.8
1.1.9
1.1.10
1.2
1.2.1
1.2.2
1.2.3
1.2.4
1.2.5
1.2.6
1.2.7
1.2.8
1.2.9
1.3
1.3.1
1.3.2
1.3.3
1.3.4
1.4
1.4.1
1.4.2
1.4.3
1.4.4
1.4.5
1.5
2
Was ist Kultur- und Sozialanthropologie?
Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?
Die Kunde von den Völkern?
Die Lehre von den Ethnien?
Was ist Gesellschaft?
"Kulturen" und Kultur
Exkurs: "Kultur" im öffentlichen Diskurs
Der verlorene Gegenstand unseres Faches
KSA als Lehre von den kulturellen und sozialen Aspekten des Menschseins
Was ist "das Kulturelle"?
Was ist "das Soziale"?
Warum Kultur- und Sozialanthropologie?
Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
Die Prämisse der Diversität
Das Ziel wertfreien Verstehens
Zum Widerspruch von Prämisse und Ziel
Ethnozentrismus
Ethnozentrismus und das "anthropologische Projekt"
Methodologischer Skeptizismus
Methodologischer Relativismus
Relativismus und Universalismus
Exkurs: Homogenisierung, kulturelle Diversität und "Anthropology at Home"
Methoden: Wie gelangt Kultur- und Sozialanthropologie zu ihrem Wissen?
Ethnographische Feldforschung
Teilnehmende Beobachtung
Charakteristika qualitativer Forschungszugänge
Ethnographie als Kommunikation
Was kann Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
Hermeneutik und die Interpretation kultureller Zusammenhänge
Interpretation und Objektivität
Hindernisse für Objektivität in der Kultur- und Sozialanthropologie
Validität
Der provisorische Charakter wissenschaftlichen Wissens
Literatur
Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie
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Der klassische Evolutionismus
Lewis Henry Morgan und Henry Maine
Edward B. Tylor
Das Ende des klassischen Evolutionismus
Diffusionismus und Kulturkreislehre
Franz Boas und der US-amerikanische Kulturrelativismus
Der britische Funktionalismus
A. R. Radcliffe-Brown
Bronislaw Malinowski
Claude Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus
Symbolische Anthropologie und konkurrierende Ansätze
Clifford Geertz und die Folgen
Literatur
Weiterführende Literatur
Themenbereiche
Religion
Religion und Ritual
Religion und Gesellschaft
Émile Durkheim
Religion, Gesellschaft und Politik
Religion und Konflikt
Religion als kulturelles Symbolsystem
Religion und Weltbild
Religion und spirituelle Erfahrung: Fallbeispiel Schamanismus
Schamanismus und "Ekstasetechnik"
Schamanismus, Weltbild und interreligiöse Beziehungen
Religionen im Internet
Afrikas Digitale Diaspora Religionen
Literatur
Ritual
Forschungskontexte und Begriffe
Genres ritueller Handlungen
Grenzen und Grenzüberschreitungen
Ritualdynamik
Ritualtransfer
Ritual und Religion
Rituale und Gesellschaft
Übergangsrituale
Soziale Dramen
Rituale und Symbole
Im Wald der Symbole
Körpersymbole
Rituale und Medien
"Rite out of Place" oder die Medialisierung von Ritualen
Literatur
Kolonialismus
Dimensionen des Kolonialismus
Colonial Frontier
Kolonialität
Kolonialität am Beispiel Lateinamerikas
Postkolonialismus
Kolonialismus und Kultur-und Sozialanthropologie
Kolonialismus als Rahmenbedingung des Faches
Chronisten und Missionare in Lateinamerika
Kolonialismus als Forschungsgegenstand
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Eric Wolf: Kolonialismus, Ökonomie und Verflechtungen
Repräsentation von Kolonialismus im Spielfilm
Konflikt, Kultur und Transformation
Literatur
Globalisierung
Gegenwärtige Phase der Globalisierung
Aspekte und Elemente der gegenwärtigen Globalisierung
Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
Globalismus, Globalität und Globalisierung
Transnationalismus und Transnationalisierung
Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
"Entwurzelung"
Beschleunigung
Standardisierung
Verflechtung
Bewegung
(Ver)Mischen
Verletzlichkeit
"Wiedereinbettung"
Anthropologie der Globalisierung
Das Globale und das Lokale
Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
Globalisierung und Kultur
"Globalkultur" oder die kulturellen Aspekte von Globalisierung
Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
Homogenisierung und Heterogenisierung
Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
Literatur
Weiterführende Literatur
Anthropologie der Natur
Natur und Subsistenz
Kulturökologie
Natur und Weltbild
Natur ist "gut zum Denken": Claude Lévi-Strauss
Jenseits von Kultur und Natur: Philippe Descola
Perspektiven des Bauens oder Bewohnens: Tim Ingold
Glokale Natur: Lokales/traditionelles Wissen und globale Prozesse
Glokale Vernetzungen
Anthropologie und Klimawandel
Schneestern ohne Schnee? Ritual und Klimawandel in den Anden
Natur, Geschichte und Politik
Hybride Naturen und politische Akteure: Arturo Escobar
Indigene Naturpolitik
Schöne Natur: Landschaft, Repräsentation und Tourismus
Anthropologie der Landschaft
Die Alpen
Natur, Landschaft, Tourismus
Literatur
Ökonomische Anthropologie
Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie (Wirtschaftsanthropologie)
Theoretische Grundlagen: Ökonomie, Gesellschaft und Weltbild
Fallbeispiel: Tausch und Gabe - frühe Beiträge zur Ökonomischen Anthropologie
Literatur
Anthropologie der Mythen
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Theoretische Perspektiven und Forschungsgeschichte
Fallbeispiel: Mythen im Kino
"American Dreamtime" - Hollywood-Mythen und die Konstruktion von Bedeutung im populären Kino
Mythische Figuren und Motive im Kino - Pirates of the Caribbean
Literatur
Medienanthropologie
Medientechnologien aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
Medienethnographie
Historische Entwicklung
Frühe medienanthropologische Studien
Frühe medienethnographische Projekte
Medienanthropologie und die Sozial- und Kulturwissenschaften
Ausgewählte theoretische Konzepte und Zugänge
Theorie der Praxis
Medientechnologien in einer Theorie der Praxis
Ritualtheorien
Technologie im soziokulturellen Kontext
Digitale Medientechnologien als Forschungsfelder der Kultur- und Sozialanthropologie
Cyberanthropologie: Kybernetik und Cyberspace
Anthropologie der Cyberkultur
Digitale Anthropologie
Kultur- und sozialanthropologische Internetforschung
Internet als materielle Kultur
Facebook aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
Literatur
Gender-Anthropologie
Anthropologie der Frauen
Sex vs. Gender
Geschlechtliche Arbeitsteilung
Geschlechtliche Arbeitsteilung und Cross-Cultural Studies
Geschlechtliche Arbeitsteilung, Mythen und Rituale
Gender und Macht
Komplementarität
Gender und Differenz
Intersektionalität
"Doing Gender" und Gender Performance
Gender in Mythen und Kino
Gender Images
Mythen, Liebe und Sexualität
Literatur
1 Was ist Kultur- und Sozialanthropologie?
Die Kultur- und Sozialanthropologie (KSA) beschäftigt sich in vergleichender Perspektive mit der Vielfalt
der Formen menschlichen Zusammenlebens an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. In der
Vergangenheit galt die Aufmerksamkeit des Faches vor allem den einfach organisierten und überschaubaren
Gesellschaften außerhalb der industrialisierten Welt. Heute stehen vielfach die mit Kolonialismus[1],
Globalisierung[2] und den weltweiten Migrationsströmen[3] der Gegenwart verbundenen Prozesse, wie etwa
die Redefinition von Identitäten und kulturellen Abgrenzungen[4], im Mittelpunkt der Forschung. Zugleich
werden die klassischen Themen lokalkultureller Interaktionen, Organisationsformen und Weltbilder[5]
weiterentwickelt, und die intensive Feldforschung[6] mit der Methode der "teilnehmenden Beobachtung"[7]
bleibt ein definierendes Merkmal des Faches. Über die wissenschaftliche Forschung hinaus ist die praktische
Anwendung kultur- und sozialanthropologischer Kompetenzen in vielen Bereichen, wie etwa
Flüchtlingsarbeit und Integration, Entwicklungszusammenarbeit, internationalen Einsätzen,
Kulturvermittlung, Ausstellungs- und Medienarbeit, Tourismus und Gesundheitswesen, sinnvoll und
gefragt.
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(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] Siehe Kapitel 3.4
[3] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-24.html
[4] Siehe Kapitel 1.1.8
[5] Siehe Kapitel 3.1.4
[6] Siehe Kapitel 1.3.1
[7] Siehe Kapitel 1.3.2
1.1 Was untersucht Kultur- und Sozialanthropologie?
Die heute fürnunser Fach an der Universität Wien[1] gebräuchliche Bezeichnung "Kultur- und
Sozialanthropologie" (KSA) wurde erst 1999 eingeführt. Sie ersetzte im Namen des Instituts[2] - zunächst in
Kombination mit dem vor allem in Deutschland gebräuchlichen Begriff Ethnologie, dann alleine - die frühere
Bezeichnung Völkerkunde. Die Studienrichtung Völkerkunde konnte erst 2004 in Kultur- und
Sozialanthropologie umbenannt werden. Diese Namenswechsel stehen in engem Zusammenhang mit
bestimmten Veränderungen von Perspektiven und Positionen in der Disziplin.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at
[2] http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/
1.1.1 Die Kunde von den Völkern?
Dass man im gesamten deutschen Sprachraum vom Begriff der Völkerkunde allmählich abrückte und ihn durch
Ethnologie ersetzte, hatte vor allem mit den spezifisch deutschsprachigen (also nicht internationalen)
Konnotationen dieses Begriffes zu tun. Sowohl Völkerkunde als auch Ethnologie implizieren einen
konkreten und sehr ähnlichen Gegenstand des Faches: Völker bzw. Ethnien[1]. Da "Ethnie" vom
griechischen ethnos kommt, was in etwa "Volk" bedeutet, handelt es sich im Prinzip um bedeutungsgleiche
Begriffe. Sie sind aber insofern unterschiedlich, als gerade in der deutschen Sprache der Begriff "Volk" mit
einem ganz spezifischen, historisch bedingten Sinngehalt behaftet ist. Im 19. Jahrhundert entstanden im
deutschen Sprachraum Konzeptionen von Volkstum, die mit Ideen wie "Volksgemeinschaft" und
"Volkscharakter" verbunden waren. Dahinter stand die spezifisch deutsche Vorstellung von schicksalhafter
Volkszugehörigkeit beruhend auf gemeinsamer biologischer Abstammung. Diese Vorstellung wurde im
Nationalsozialismus[2] weiterentwickelt zum Konzept der völkischen Blutsgemeinschaft, deren Reinerhaltung
die Diskriminierung, Abwertung, Verfolgung und Ermordung von Anderen legitimierte.
In vielen anderen Sprachen gibt es einen analogen Volksbegriff nicht. Im Englischen etwa spricht man von
"people", was im Prinzip nicht viel mehr heißt als "die Leute". Es gibt hier keinen Begriff, der auf ähnliche Weise
historisch aufgeladen ist wie "Volk" im Deutschen. Der Begriff Ethnie ist insofern neutraler, als er eher von
einem subjektiven Identitätsgefühl auf der Basis von gemeinsamer Kultur[3] und Sprache (also erlernten
Dimensionen) ausgeht statt von (biologisch) ererbter Zugehörigkeit. Er ist auch nicht so historisch belastet wie
der deutsche Volksbegriff.
Das Abrücken von der Fachbezeichnung Völkerkunde steht also in diesem großen historischen
Zusammenhang. Das erklärt aber noch nicht, warum man in Wien[4] der etwas unhandlichen Bezeichnung
Kultur- und Sozialanthropologie den Vorrang vor "Ethnologie" gab.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.2
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialismus
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/
1.1.2 Die Lehre von den Ethnien?
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Bis in die 1980er Jahre verstand sich die Völkerkunde/Ethnologie als die wissenschaftliche Erforschung eines
klar definierten Gegenstandes. Sie war die Wissenschaft von den außereuropäischen, nicht
industrialisierten oder, wie es manchmal hieß, den schriftlosen "Völkern"[1] bzw. Ethnien. Um
nachvollziehen zu können, weshalb der Begriff der Ethnologie als "Lehre von den Ethnien" heute nicht mehr als
treffend betrachtet wird, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den Begriffen "Kultur"[2] und
"Gesellschaft"[3].
Abbildung: Papua-Neuguineaner (1869), Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
1.1.3 Was ist Gesellschaft?
Der Begriff Gesellschaft wird einerseits als Abstraktion für den Bereich des Gesellschaftlichen, des
Sozialen, der sozialen Beziehungen gebraucht. Andererseits verwenden wir ihn im Plural aber auch für
konkrete Gemeinschaften[1]. Von "Gesellschaften" zu sprechen, impliziert die Vorstellung erkennbar
voneinander getrennter Kollektive von Menschen. Diese Vorstellung ist im Prinzip zulässig, solange man
Gesellschaft nicht als konkrete, "naturgegebene" Realität annimmt, sondern als eine Summe sozialer
Interaktionen[2], die wir durch unseren analytischen Blick isolieren.
Für den britischen Funktionalismus[3] war Gesellschaft ein funktional integriertes Ganzes, in dem die
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einzelnen sozialen Institutionen jeweils ihren Beitrag zum Fortbestand der Gesellschaft leisteten. (RadcliffeBrown[4] beschrieb dies mit der Analogie zwischen einer Gesellschaft und einem biologischen Organismus)
Ein solches Verständnis ist aus heutiger Sicht sehr problematisch, weil es Gesellschaften notwendigerweise als
konkrete und nach außen klar abgegrenzte empirische Einheiten auffasst. Die KSA hat sich seit langem von
einem derartigen Verständnis verabschiedet.
Ziemlich lebendig ist dagegen (wenn auch weniger in der KSA als in anderen sozialwissenschaftlichen
Ansätzen) ein oft unreflektiertes Verständnis, in dem davon ausgegangen wird, dass "Gesellschaft" als
Untersuchungseinheit deckungsgleich mit "Nationalstaat"[5] ist. Soziale Phänomene müssen demnach
geradezu naturgemäß im Rahmen nationalstaatlicher Grenzen untersucht werden. Diese Vorgangsweise wurde
- nicht zufällig auch von anthropologischer Seite (Wimmer und Glick Schiller 2002) - als "methodologischer
Nationalismus" kritisiert. Die unkritische Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat ist aus
verschiedenen Gründen fragwürdig, unter anderem weil "Gesellschaft" eine Abstraktion darstellt, aber keine
konkrete, empirisch greifbare Realität mit klar identifizierbaren und eindeutigen Grenzen benennt.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaft
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Interaktion
[3] Siehe Kapitel 2.4
[4] Siehe Kapitel 2.4.1
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalstaat
1.1.4 "Kulturen" und Kultur
Kultur ist ebenso sehr eine Abstraktion wie Gesellschaft[1]. Kultur ist daher ebenso wenig wie Gesellschaft
in konkrete, klare Grenzen zu fassen. In der Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie wurden zahlreiche
Versuche unternommen, den Begriff Kultur zu definieren. Aus diesen Versuchen entstanden seit dem 19.
Jahrhundert unterschiedliche Konzepte, Theorien und Paradigmen, die auf diverse Kriterien zurückgriffen, mit
deren Hilfe Grenzziehungen versucht wurden, wie beispielsweise Sprache, Ethnizität[2], Geographie oder
gemeinsame Abstammung.
Die skandinavischen Anthropologinnen Kirsten Hastrup und Karen Fog Olwig beschäftigten sich in den
1990er Jahren intensiv mit verschiedenen Kultur- Begriffen und unterscheiden zwei Gruppen von Zugängen
(Hastrup und Fog Olwig 1997: 1-3). Die eine Gruppe umfasst "monolokale Kultur-Konzepte": Kulturen
werden hier primär als einmalige und voneinander getrennte Einheiten verstanden, die an bestimmten Orten
oder in spezifischen Regionen lokalisiert sind. Eine solche Verortung von Kultur etabliert auch den Rahmen für
ein bestimmtes Verständnis von kultureller Differenz. Ein klassisches Beispiel für diesen Zugang bildet das
funktionalistische Kulturkonzept Malinowskis (vgl. Kapitel 2.4).
Die zweite Gruppe umfasst "translokale Kultur-Konzepte": Diese betrachten Kultur nicht als geschlossene
Einheit, sondern unterstreichen ihre Einbettung in größere Zusammenhänge. Ein Beispiel für einen solchen
Zugang stellen die Arbeiten von Eric Wolf[3] dar: "Unsere Menschenwelt stellt eine vielfältige Totalität
miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder
zusammenzusetzen, verfälschen die Realität" (Wolf 1986: 17). Translokale Kultur-Konzepte bilden auch einen
wesentlichen Aspekt der Analyse von Kultur unter Konditionen der Globalisierung[4], so z.B. bei Appadurai[5]
(1996) oder Eriksen[6] (2007).
Werden "Kulturen" als abgegrenzte und in sich geschlossene Einheiten gedacht, so könnte man in Analogie
zum "methodologischen Nationalismus" von einem "methodologischen Kulturalismus[7] " sprechen, der
ebenso kritikwürdig ist. Der Begriff des "methodologischen Kulturalismus" ist im Gegensatz zum
"methodologischen Nationalismus" kein etablierter; er hat z.B. in philosophischen Fachdiskursen eine ganz
andere Bedeutung als hier. Die Vorstellung von der Kultur als einem nach außen abgeschlossenen Rahmen für
menschliche Interaktion und Sinngebung, die mit der Idee der eindeutigen Unterscheidbarkeit von "Kulturen"
zusammenhängt, ist eine Sichtweise, die zumindest bis in die 1970er Jahre eine große Rolle in unserem Fach
gespielt hat. Vereinfacht gesagt, nimmt diese Sichtweise an, dass "Kulturen" jeweils mit abgegrenzten Gruppen
von Personen identifiziert werden können, dass es daher klare kulturelle Grenzen zwischen verschiedenen
Gruppen gibt, dass die verschiedenen Gruppen jeweils in sich homogen sind, und dass Personen einer Kultur
eindeutig zugeordnet werden können. Diese alte Vorstellung von Kultur, die gelegentlich als das ContainerModell von Kultur bezeichnet wird, war lange einflussreich. Sie steht in der Tradition von Franz Boas[8] und
wird oft mit dem Werk von Clifford Geertz[9] assoziiert (vgl. Geertz 1973). Sie ist heute jedoch überholt (vgl.
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Eriksen 2010: 3 f.). Von "Kulturen" im Plural zu sprechen, wie dies im Alltagsdiskurs[10] (und teilweise auch
immer noch im Fachdiskurs) getan wird, ist daher im heutigen Verständnis unseres Faches nicht mehr zulässig.
"Kulturen" sind nicht als eindeutig gegeneinander abgegrenzt zu verstehen, weil unterschiedliche Aspekte
von Kultur (etwa Sprache, Traditionen, Religion, Herkunft und Abstammung, gemeinsame Geschichte) nicht
notwendigerweise deckungsgleich sind. Wenn sie es überhaupt erlauben, Diversität[11] durch
Grenzziehungen zu gliedern, so sind diese Grenzen vielfach nicht dieselben: religiöse und sprachliche Identität
z.B. decken sich nicht. Sicherlich gibt es im Hinblick auf bestimmte kulturelle Aspekte manchmal mehr oder
weniger klare Grenzen, so z.B. im Falle von Sprachgruppen. Aber selbst hier ist die Abgrenzung in der
empirischen Realität oft nicht so eindeutig, wie wir sie zu denken gewohnt sind, weil unser Verständnis von
Sprache von der vereinheitlichen Institution Schule geprägt ist, die durch nationalstaatliche Grenzen bestimmt
ist und diese festigt. Phänomene wie Mehrsprachigkeit und sprachliche Inhomogenität stellen die Eindeutigkeit
solcher Grenzen vielfach in Frage. Entscheidend ist also, dass an unterschiedlichen Aspekten von Kultur
ansetzende Grenzziehungen nicht notwendigerweise übereinstimmen (auch wenn der moderne Nationalstaat
mit seinen Institutionen die Tendenz hat, diese unterschiedlichen Aspekte von Kultur innerhalb seiner Grenzen
zu homogenisieren).
Foto: Mehrsprachiges Straßenschild in Issime bzw. Eischeme (2010), Quelle: wikimedia.org
Entscheidend ist auch, dass Kultur nicht so in sich homogen ist, wie man früher annahm. Sie ist
"vielschichtig", d.h. sie setzt sich an jedem gegebenen Ort aus unterschiedlichen Elementen und Ebenen
zusammen, die sich aus lokalen und globalen kulturellen Interaktionen ergeben und historisch gewachsen
sind. Sie ist daher nicht notwendigerweise in sich harmonisch, sondern enthält widersprüchliche Elemente. In
der heutigen Auffassung unseres Faches ist Kultur also weder homogen noch eindeutig abgrenzbar,
wenngleich öffentliche Diskurse dies nach wie vor gerne annehmen. Kultur mag Unterschiede schaffen, sie
zieht aber keine eindeutigen Grenzen.
Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass kulturelle Phänomene nicht als Grenzen wahrgenommen werden oder
empirisch beobachtbare Grenzen hervorbringen können. Es gibt zweifellos kulturelle Grenzen; sie sind aber
nicht so beschaffen, dass sie Gruppen von Menschen eindeutig identifizieren und dass wir von diesen
Gruppen als "Kulturen" sprechen können.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Ethnizit%C3%A4t
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Eric_Wolf
[4] Siehe Kapitel 3.4
[5] Siehe Kapitel 3.4.6.7
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http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfpropaedksa/einfpro...
[6] Siehe Kapitel 3.4.5
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturalismus
[8] Siehe Kapitel 2.3
[9] Siehe Kapitel 2.7
[10] Siehe Kapitel 1.1.5
[11] Siehe Kapitel 1.2.1
1.1.5 Exkurs: "Kultur" im öffentlichen Diskurs
Wenn im öffentlichen Diskurs heute von Kultur gesprochen wird, ist oft von kultureller Differenz die Rede. Aus
anthropologischer Sicht könnte das zwar erfreulich sein, weil damit scheinbar die zentrale Perspektive unseres
Faches aufgegriffen wird (gegenüber anderen Begriffsverwendungen, in denen Kultur z.B. für bestimmte
gesellschaftlich hoch bewertete künstlerische Äußerungen steht). Tatsächlich gibt dieser Umstand aber kaum
Grund zur Befriedigung, da die Art und Weise, wie der Begriff "Kultur"[1] gewöhnlich gebraucht wird, aus
zwei Gründen problematisch ist.
Erstens wird im öffentlichen Diskurs meist eine Vorstellung von Kultur reproduziert, die in unserem Fach
früher vertreten wurde, die aber heute weitgehend überwunden ist. Es handelt sich dabei um das früher
einflussreiche Container-Modell von Kultur[2], dem wir heute kritisch gegenüberstehen.
Zweitens wird "Kultur" häufig als erklärende Variable von Zusammenhängenherangezogen. Demnach
verhalten sich Menschen auf bestimmte Weise, weil sie einer konkreten Kultur angehören. Wenn
Menschen mit unterschiedlichem "kulturellen Hintergrund" Probleme miteinander haben, wird von Medien
und in öffentlichen Debatten regelmäßig ihre kulturelle Differenz als Ursache der Konflikte identifiziert.
Aus Sicht der heutigen Kultur- und Sozialanthropologie kann aber Kultur für sich genommen
nichts erklären. Kultur ist nicht mehr und nicht weniger als der variable Kontext, der Zusammenhang, in
dem wir konkrete Phänomene untersuchen. Mit dem öffentlichen Diskurs über Kultur als kollektive
Identität werden zudem nicht selten andere, bessere Erklärungsansätze verdeckt. Wenn z.B. Probleme in
kulturell heterogenen Stadtteilen der kulturellen Differenz in die Schuhe geschoben werden, wird damit
verschleiert, dass solche Probleme sehr häufig vor allem mit ausgeprägten sozialen Unterschieden zu tun
haben. Diese Tatsache wird aber verdeckt, indem Kultur (oder ethnische Zugehörigkeit, die auf Kultur
verweist) als alleiniges erklärendes Prinzip herangezogen wird.
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Foto: Wahlplakat der FPÖ zur Nationalratswahl 2006, Quelle: flickr.com
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 2.7
1.1.6 Der verlorene Gegenstand unseres Faches
"Kultur"[1] und "Gesellschaft"[2] sind in erster Linie Abstraktionen und entstammen in ihrer
Gegenüberstellung einem Akt analytischer Unterscheidung. Sie stellen keine konkreten "Dinge" dar, die in der
empirischen Realität klar voneinander getrennt sind. Vielmehr geht es um unterschiedliche analytische
Blickwinkel auf dieselben empirischen Zusammenhänge.
Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass der Kultur- und Sozialanthropologie der einst klar definierte
Untersuchungsgegenstand - die Ethnien[3], Gesellschaften oder Kulturen, vorzugsweise die fernen außerhalb
der modernen euro- amerikanischen Welt - zunehmend abhanden gekommen sind. Zum einen wegen der
veränderten Perspektiven des Faches, zum anderen und mehr noch wegen der Veränderungen der Welt um
uns, mit der wir uns befassen.
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Die ältere ethnologische Perspektive auf Kultur und Gesellschaft, die in gewissem Ausmaß auf der schon
immer illusionären Annahme eindeutig abgegrenzter Untersuchungseinheiten aufgebaut hat, ist vor dem
Hintergrund der globalen Vernetzungen der Gegenwart[4] noch offenkundiger unzureichend, um aktuelle
Phänomene wie die weltweiten Flüsse von Waren und Finanzen, Migrationsströme und dergleichen zu
erfassen.
Die Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie für unser Fach trägt diesen perspektivischen und
empirischen Veränderungen Rechnung. Wenn aber KSA nicht mehr die Erforschung der fernen Kulturen
und Gesellschaften - der Ethnien - ist, was ist dann aus heutiger Sicht der Gegenstand des Faches?
Foto: Perspektivenwechsel der KSA infolge globaler Vernetzungsprozesse, Quelle:
flickr.com
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
[4] Siehe Kapitel 3.4.1
1.1.7 KSA als Lehre von den kulturellen und sozialen Aspekten des Menschseins
Die Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie besteht aus drei Begriffen mit spezifischen Bedeutungen.
Was ist unter diesen namensgebenden Komponenten der Disziplin zu verstehen?
Anthropologie setzt sich aus den griechischen Worten anthropos und logos zusammen und bedeutet somit
"die Lehre vom Menschen". Die Anthropologie[1] ist also grundlegend definiert als eine Wissenschaft, die
sich mit dem Menschen auseinandersetzt.
Es gibt eine Reihe von Fächern, in denen der Mensch jeweils im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte und aus
unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Die Medizin z.B. beschäftigt sich ebenfalls mit dem Menschen,
allerdings mit ganz anderen Zielsetzungen und Anliegen als die Kultur- und Sozialanthropologie. (Das bedeutet
jedoch nicht, dass es nicht auch Berührungspunkte zwischen diesen beiden Fächern gibt. So gibt es in der
KSA etwa die Subdisziplin der Medizinanthropologie[2], eine Forschungsrichtung mit starkem Praxisbezug, in
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der medizinische Themenfelder aus anthropologischer Perspektive betrachtet werden.) Ein anderes Beispiel ist
die Physische Anthropologie[3], der es in erster Linie um die biologischen Aspekte des Menschen geht. Die
KSA unterscheidet sich, wie der Name schon sagt, von anderen am Menschen interessierten Disziplinen
dadurch, dass sie die kulturellen und sozialen Aspekte des Menschseins in den Vordergrund stellt. Sie
interessiert sich heute nicht für Kulturen und Gesellschaften, sondern versteht Kultur und Gesellschaft als
Abstraktionen. Es geht ihr also um "das Kulturelle"[4] und "das Soziale"[5] - Bereiche menschlicher
kollektiver Existenz, die der abstrahierende Blick abgrenzt und voneinander isoliert.
Abbildung: Die physische Anthropologie beschäftigt sich im Gegensatz zur KSA mit den
biologischen Aspekten des Menschseins, Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Anthropologie
[2] http://www.univie.ac.at/ethnomedicine/
[3] http://www.anthropology.at/
[4] Siehe Kapitel 1.1.8
[5] Siehe Kapitel 1.1.9
1.1.8 Was ist "das Kulturelle"?
Der Begriff Kultur[1] leitet sich vom lateinischen cultura her, das eigentlich "Anbau" (wie in kultivieren,
Agrikultur) bedeutet. Das Wort hat aber in den europäischen Sprachen einen sehr viel weiteren Sinn
bekommen und wird in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die nur zum Teil für uns relevant sind. Nach
Thomas Hylland Eriksen[2] bezieht sich Kultur im anthropologischen Sinn auf die "acquired, cognitive
and symbolic aspects of [human] existence" (Eriksen 2010: 4). Was ist damit gemeint?
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"Acquired" bedeutet soviel wie "erworben" im Gegensatz zu "ererbt". Sehr vereinfacht: Das Verhalten von Tieren
ist im Großen und Ganzen instinktgeleitet, d.h. ererbt und daher biologischer und nicht kultureller Art. Der
Mensch ist zweifellos auch ein Naturgeschöpf mit biologischer Seinsgrundlage. Diese biologische Grundlage ist
etwas Universales; in den rein biologischen Aspekten des menschlichen Lebens sind dementsprechend überall
die gleichen Muster zu beobachten. Es gibt aber offenkundig auch große Unterschiede menschlicher
Lebensformen in Raum und Zeit.
Solche Unterschiede sind nicht aus einer universalen biologischen Grundlage heraus zu erklären. Sie sind
kultureller Art und daher erworben. Im Gegensatz zu den universalen Verhaltensmustern, die uns angeboren
sind, haben wir es bei den kulturellen Aspekten menschlichen Handelns mit Erlerntem zu tun. Kultur ist
insofern erlernt, als sie von einer Person an die nächste weitergegeben wird. Sie ist kollektiv, weil diese
Lernprozesse nicht nur individuell erfolgen, sondern in größere soziale und historische Zusammenhänge
eingebunden sind. Kultur ist schließlich partikular, weil die Formen kulturellen Handelns sich in Raum und
Zeit unterschiedlich entwickeln. Der Begriff des Handelns ist hier angemessener als jener des Verhaltens, weil
er auf den sinngeleiteten Charakter menschlichen Tuns verweist.
Kultur hat aber nicht nur mit Handeln, sondern auch mit Denken, also mit gedachten Zusammenhängen,
Sinngebungen und Bewertungen zu tun. Diese Bereiche von Kultur sind nicht allein aus dem beobachtbaren
Handeln zu erschließen; sie können nur aus der Art und Weise verstanden werden, wie Menschen über sie
sprechen oder sie erklären. Die Beobachtung menschlichen Handelns und das Kommunizieren, vor allem das
Sprechen, mit Menschen sind daher die zentralen Instrumente methodischer Datengewinnung in der
KSA[3].
Ein in der Geschichte des Faches zunächst eher untergeordneter Aspekt, der erst in den letzten Jahrzehnten
stärker in den Vordergrund getreten ist, sind die impliziten Sinnzusammenhänge menschlichen Denkens, über
die nicht explizit gesprochen wird, aber auch unterschiedliche Formen von sinnlicher Erfahrung, die nicht
unmittelbar mit Sprache und Denken zu tun haben. In den Bereich des Kulturellen gehören auch die Produkte
kulturellen Handelns, auf die wir uns mit Begriffen wie materielle Kultur[4] und visuelle Kultur[5] beziehen.
Zusammenfassend lassen sich die wichtigsten Aspekte des Kulturellen jedoch mit den Begriffen des
Handelns und Denkens benennen.
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Abbildung: Was ist "das Kulturelle"?, M. Reitter nach wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] http://folk.uio.no/geirthe/
[3] Siehe Kapitel 1.3
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Materielle_Kultur
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Visual_culture
1.1.9 Was ist "das Soziale"?
Der Begriff sozial kommt vom lateinischen societas, das man mit "Gesellschaft"[1] übersetzen kann. Das
Soziale ist nicht etwas grundlegend anderes als das Kulturelle[2]. Beide Bereiche haben mit Aspekten
menschlichen Lebens in Kollektiven zu tun, die sich zu einem guten Teil überlappen. Kultur und Gesellschaft
werden analytisch - im Blick auf verschiedene Aspekte kollektiven menschlichen Handelns, Denkens und
Interagierens - unterschieden, beziehen sich aber zum Großteil auf dieselben empirischen Zusammenhänge.
Steht beim Blick auf das Kulturelle das erlernte Handeln und Denken und dessen Einbettung in
Sinnzusammenhänge im Vordergrund, so geht es beim Sozialen vor allem um die Interaktion von
Menschen, um die Art, wie das Handeln von Menschen sich auf Andere auswirkt. Wenn soziale
Interaktionen[3] mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfinden und Formen erkennen lassen, die über den
beobachteten Augenblick hinaus bestehen, so kann man diese mit einem weiteren abstrahierenden Begriff als
Struktur bezeichnen. Das Soziale hat also immer auch mit Strukturen zu tun, mit bestimmten
Zusammenhängen, in die Menschen eingebettet sind und die ihnen Handlungsmöglichkeiten vorgeben
oder verschließen. Im Bereich des sozialen Handelns herrscht daher nicht in jedem Moment Freiheit. Vielmehr
gibt es strukturell vorgegebene Möglichkeiten und Zwänge. Zudem beeinflussen sich Personen in ihrem
Handeln wechselseitig, das Tun des Einen hat Auswirkungen auf Andere und umgekehrt. Wie das Kulturelle
sind auch soziale Strukturen in historische Zusammenhänge eingebettet. Kulturelles und Soziales bedingen
sich gegenseitig:Kulturelle Konzeptionen und Werte wirken auf soziales Handeln ein und lenken es; soziale
Interaktionen ihrerseits wirken auf Kultur ein und prägen und verändern sie.
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Abbildung: Was ist "das Soziale"?, Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Interaktion
1.1.10 Warum Kultur- und Sozialanthropologie?
In den verschiedenen national geprägten Fachtraditionen gab und gibt es unterschiedliche Schwerpunkte und
damit einhergehend auch unterschiedliche Bezeichnungen der Disziplin. So standen in der britischen
Fachtradition[1] über lange Zeit in erster Linie die sozialen Zusammenhänge im Zentrum des Interesses.
Dementsprechend lautete die Selbstbezeichnung dieser speziellen Ausprägung unseres Faches "Social
Anthropology"[2]. In der US- amerikanischen Tradition[3] hingegen standen eher kulturelle Aspekte im
Vordergrund, weshalb dort von "Cultural Anthropology"[4] die Rede war.
Diese unterschiedlichen Interessen sind ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend zusammengewachsen,
was sich in neuen Etiketten wie etwa "Socio- cultural Anthropology" spiegelt. Die in Wien etablierte, etwas
sperrige Bezeichnung Kultur- und Sozialanthropologie[5] trägt diesen Entwicklungen Rechnung und steht
für ein breites Fachverständnis, das beim Verstehen und Erklären menschlicher Lebenszusammenhänge
weder dem Sozialen noch dem Kulturellen den Vorrang gibt, sondern beiden Aspekten gleiche Bedeutung
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zugesteht. Soziale und kulturelle Aspekte sind untrennbar miteinander verknüpft, beide sind
notwendigerweise aneinander gebunden. Man kann das Soziale nicht ohne das Kulturelle denken und
umgekehrt.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.4
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Social_anthropology
[3] Siehe Kapitel 2.3
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_anthropology
[5] http://ksa.univie.ac.at/
1.2 Was will Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
Die Kultur- und Sozialanthropologie untersucht die kulturellen[1] und sozialen[2] Aspekte menschlichen
Handelns, Denkens und Interagierens. Sie tut dies jedoch nicht allein: Viele kultur- und
sozialwissenschaftliche Disziplinen haben (mit unterschiedlichen Schwerpunkten) denselben Anspruch. Sie
beschäftigen sich oft mit sehr ähnlichen oder den gleichen Themen und Fragestellungen. Zentrale aktuelle
Themen der KSA wie etwa Migration[3] werden auch von Soziologie und Kulturgeographie und von anderen
sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern untersucht. Wenn das so ist, was ist dann das spezifisch
Kultur- und Sozialanthropologische an unserer Auseinandersetzung mit solchen Themen? Warum
beanspruchen wir einen Status als eigenständiges Fach, statt uns mit anderen Fächern zusammenzutun, die ja
die gleichen empirischen Phänomene und Zusammenhänge beforschen?
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.8
[2] Siehe Kapitel 1.1.9
[3] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-24.html
1.2.1 Die Prämisse der Diversität
Kultur- und Sozialanthropologie[1] definiert sich heute nicht mehr wie früher über einen bestimmten
Ausschnitt der empirischen Welt, der ihren Gegenstand bildet. Was sie von thematisch verwandten
Disziplinen unterscheidet, die sich teilweise mit den gleichen empirischen Zusammenhängen befassen, das
ist zum einen die spezifische Perspektive des Faches[2], die auf einer zentralen zugrundeliegenden
Prämisse oder Annahme basiert. Zum anderen ist es ein spezifischer methodischer Zugang zur
Datenerhebung[3] .
Thomas Hylland Eriksen zitiert den Anthropologen Michael Carrithers mit den Worten: "... the central problem of
anthropology is the diversity of human social life" (Eriksen 2010: 5). Er selbst beschreibt das wissenschaftliche
Programm unseres Faches folgendermaßen: "Anthropology tries to account for the social and cultural variation
in the world, but a crucial part of the anthropological project also consists in conceptualizing and understanding
similarities between social systems and human relationships" (Eriksen 2010: 1). In anderen Worten: KSA
versucht, soziale und kulturelle Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären und zwar unter der
Annahme ihrer Vielgestaltigkeit, Diversität und Variabilität, aber auch in Anerkennung der
grundlegenden Gemeinsamkeiten, die hinter den unterschiedlichen Erscheinungsformen stehen (vgl.
Hannerz 2010).
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Foto: Markt in Ghardaia, Algerien (1970), Quelle: wikimedia.org
Diese Annahme der Diversität ist die unserem Fach ureigene Perspektive, die sie von anderen Fächern
unterscheidet (auch wenn sie von diesen zunehmend aufgegriffen wird). In anderen Disziplinen wird oft
unkritisch und unhinterfragt angenommen, dass die sozialen und kulturellen Verhältnisse, in denen wir selbst
leben, die Norm oder das Ziel für menschliches Zusammenleben insgesamt darstellen. Manchmal wird die
Verschiedenartigkeit soziokultureller Zusammenhänge einfach übersehen; manchmal wird sie (oft
unausgesprochen) als irrelevant abgetan. In wieder anderen Fällen wird davon ausgegangen, dass die
anderswo zu beobachtenden Verhältnisse eigentlich so sein sollten oder so werden sollen wie bei uns. In
Bezug auf unterschiedliche politische Systeme findet man nicht selten die implizite Annahme oder die explizite
Aussage, die politische Ordnung einer parlamentarischen Demokratie sei für alle Gesellschaften die
angemessene und richtige. Als politischem Werturteil mag man dem möglicherweise zustimmen; ausgehend
von der Prämisse der Diversität sind wir als Kultur- und SozialanthropologInnen aber überzeugt, dass eine
solche ethnozentrische Annahme[4] einem Verständnis der andersgearteten politischen Strukturen nur im
Weg steht. Die letztlich provinzielle Orientierung an den eigenen vertrauten Verhältnissen wird als
erkenntnisbehindernd zurückgewiesen.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1
[2] Siehe Kapitel 1.1
[3] Siehe Kapitel 1.3
[4] Siehe Kapitel 1.2.4
1.2.2 Das Ziel wertfreien Verstehens
Ausgehend von der Prämisse der Diversität[1] und der wissenschaftshistorischen Erfahrung der forschenden
Auseinandersetzung mit kultureller Diversität rechnet die Kultur- und Sozialanthropologie damit, an
verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten, aber auch im Inneren einer konkreten
Gesellschaft, kulturelle Unterschiede anzutreffen. Sie versucht, der Begegnung mit dem aus der Sicht der
eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Prägung Fremden gegenüber offen zu sein. Sie versucht vor allem,
die Wahrnehmung des Fremden nicht normativ aufzuladen, d.h. "Anderes" nicht voreilig nach eigenen
Maßstäben zu bewerten.
Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alles, was wir sehen, gutheißen und verteidigen müssen. Wir haben
gute Gründe, gewisse Praktiken abzulehnen und zu bekämpfen - z.B. Genitalverstümmelungen[2], die an
Kindern durchgeführt werden, an Menschen also, die nicht imstande sind, ihre Zustimmung dazu zu geben
oder zu verweigern. Eine wertende Stellungnahme zu solchen Praktiken ist nicht prinzipiell unzulässig. Wir
wissen auch, dass wir jenen Gesellschaften, in denen sie vorkommen, mit dieser Ablehnung keine externe
Sichtweise aufzwingen, gibt es doch auch in diesen Gesellschaften Menschen, die sich dafür engagieren, diese
Praktiken zum Verschwinden zu bringen. Aber als AnthropologInnen gehen wir davon aus, dass wir solche
Phänomene und ihre Bedeutung für die handelnden Menschen besser verstehen können, wenn wir sie in ihrer
eigenen Logik betrachten und unsere eigene Bewertung vorläufig zurückstellen.
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Es ist also eine Grundannahme der KSA, dass vorschnelles Bewerten, das in der Regel von den eigenen
kulturellen Annahmen und Werten bestimmt ist, einem tieferen Verständnis im Weg steht. Diese
Annahme verbietet uns aber nicht, die empirischen Phänomene, die wir erforschen, in einem zweiten Schritt
aufgrund unserer humanitären und moralischen Werte und unserer politischen Überzeugungen zu bewerten
und gegebenenfalls auch auf sie Einfluss zu nehmen. Im Gegenteil: Wenn wir Praktiken wie
Genitalverstümmelungen bekämpfen wollen, dann können wir das nur sinnvoll tun, wenn wir sie zuvor
verstanden haben.
Das wissenschaftliche Ziel des möglichst wertfreien Verstehens und Erklärens kultureller und sozialer
Zusammenhänge ist grundsätzlich von ihrer persönlichen subjektiven Beurteilung und Bewertung zu
unterscheiden. Die eine Haltung ist aber nicht besser oder legitimer als die andere. Wir haben nicht nur das
Recht, sondern geradezu die Pflicht, zu den Verhältnissen, die wir beforschen, auch humanitär und politisch
verantwortungsvoll Stellung zu nehmen. Solche ethischen Stellungnahmen können nur kulturell geprägt sein.
Im Erkenntnisprozess müssen wir uns aber bemühen, unsere eigenen kulturell[3] geprägten Haltungen so gut
wie möglich aufzudecken und zu hinterfragen, um auf diese Weise zu vermeiden, dass sie das Ziel
wissenschaftlichen Verstehens behindern.
Abbildung: Kulturell geprägte Wertungen im Alltag, M. Reitter
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung
[3] Siehe Kapitel 1.1.8
1.2.3 Zum Widerspruch von Prämisse und Ziel
Die Kultur- und Sozialanthropologie geht grundsätzlich davon aus, dass Menschen in ihrer
Wahrnehmung, in ihren Werten und in ihrem Handeln entscheidend durch kulturelle - also erlernte und
nicht angeborene - Faktoren geprägt sind. Diese kulturellen Zusammenhänge sind partikular und variabel:
Sie sind unterschiedlich für Menschen an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen
Positionen in einer Gesellschaft[1]. Was bedeutet das für das anthropologische Forschungsvorhaben?
Andere anthropologisch zu verstehen bedeutet, sie über kulturelle[2] Unterschiede und kulturelle
Grenzen hinweg zu verstehen. Wenn uns das gelingen soll, dann müssen wir versuchen, das, was uns selbst
kulturell prägt, in einem selbstreflexiven Prozess zu erkennen und zu hinterfragen. Die eigenen kulturellen
Annahmen stellen in der Regel keine geeigneten Werkzeuge dar, um eine andere kulturelle Realität zu
erfassen. Wir können aber aus der eigenen kulturellen Prägung nicht gänzlich heraustreten und uns völlig
"kulturfrei" machen. Es besteht also ein grundsätzlich nicht auflösbarer Widerspruch zwischen der Annahme
der Diversität[3] auf der einen und dem Ziel des wertfreien Verstehens auf der anderen Seite. Es bleibt aber
dennoch unser primäres Ziel, so weit wie möglich von den eigenen kulturellen Prägungen zu abstrahieren, im
Bewusstsein, dass wir dieses Ziel nicht zur Gänze erreichen können. Im konkreten Forschungsprozess müssen
wir uns kontinuierlich bemühen, uns diesem Ziel anzunähern, so gut es geht. Die absolute Kulturfreiheit aber
ist bestenfalls eine Illusion.
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Abbildung: Kulturfreiheit ist nie gänzlich möglich, M. Reitter
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] Siehe Kapitel 1.2.1
1.2.4 Ethnozentrismus
"Ethnozentrismus" ist für die Kultur- und Sozialanthropologie ein zentraler Begriff. Er wurde bereits 1907
von dem amerikanischen Anthropologen und Soziologen William Graham Sumner[1] geprägt: "Ethnocentrism
is the technical name for [the] view of things in which one’s own group is the center of everything, and all others
are scaled and rated with reference to it" (Sumner 1906: 13).
Für Thomas Hylland Eriksen[2] bedeutet Ethnozentrismus in erster Linie, die Handlungen und
Meinungen Anderer durch die eigene kulturell geprägte Brille zu betrachten und zu bewerten (vgl.
Eriksen 2010: 7 f.), wobei es ihm vor allem um den bewertenden Aspekt geht. Dies ist ein wichtiger Punkt, da
auch wissenschaftliche Erklärungen von Zusammenhängen oft implizite Bewertungen enthalten. Trotzdem
bleibt dieses Argument gegen den Ethnozentrismus letzten Endes ein moralisierendes: Es ist falsch, Andere
abzuwerten, wenn sie nicht den eigenen kulturellen Maßstäben entsprechen.
Wenn man von Ethnozentrismus als empirischem[3] Phänomen spricht, dann steht dieser wertende Aspekt
sicherlich im Vordergrund: Die Wahrnehmung von Andersartigkeit, von kultureller Differenz, wird oft in negativ
wertender Weise artikuliert und mit der Forderung nach Anpassung der Anderen an die eigenen Werte,
Gewohnheiten und Maßstäbe verbunden.
In der KSA ist aber der epistemologische Aspekt von Ethnozentrismus entscheidender. Es mag nicht allzu
schwer sein, die Haltung eines explizit wertenden Ethnozentrismus zu vermeiden; damit ist aber noch lange
nicht sichergestellt, dass unsere kulturellen Vorannahmen ohne störenden Einfluss auf unsere
Erkenntnisfähigkeit bleiben. In der ethnographischen Auseinandersetzung[4] mit kultureller Diversität[5]
manifestiert sich das zentrale erkenntnistheoretische Problem des Ethnozentrismus in der Frage, ob und
wie die eigene kulturell geprägte Weltsicht mit ihren Denk- und Erklärungsansätzen geeignet ist, die
Realität der Anderen zu erfassen. Sind wir uns unserer eigenen kulturellen Annahmen ausreichend bewusst,
um zu vermeiden, dass sie unsere Wahrnehmung anderer kultureller Sichtweisen und Praktiken verzerren?
Sind unsere Erkenntnisinstrumente so beschaffen, dass sie nicht letztlich nur unsere eigenen Annahmen auf
Andere projizieren und somit unsere Erkenntnis behindern?
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Abbildung: Ethnozentrismus, M. Reitter
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/William_Graham_Sumner
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-29.html
[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] Siehe Kapitel 1.2.1
1.2.5 Ethnozentrismus und das "anthropologische Projekt"
In dem anthropologischen Projekt, von dem Thomas Hylland Eriksen (2010: 1; vgl. Kapitel 1.2.1) spricht, ist es
von zentraler Bedeutung, die eigenen Instrumente der Wahrnehmung und Interpretation der empirischen
Welt ständig kritisch zu hinterfragen. Diese Art der Reflexion etablierter Erkenntnismittel im Hinblick auf die
Frage, ob sie tatsächlich leisten, was von ihnen erwartet wird, hat in der Geschichte unseres Faches immer
schon eine große Rolle gespielt. Diese Frage spricht zwar ein Grundproblem jeder Erkenntnistheorie[1] an; im
anthropologischen Zusammenhang ist sie aber von besonderer Dringlichkeit, weil der Gegenstand, den wir
beforschen - kulturell geprägte Haltungen und Praktiken sowie kulturelle Weltsicht ganz allgemein - eine
grundlegende Ähnlichkeit mit den Erkenntnisinstrumenten hat, mit denen wir ihn zu erfassen versuchen.
Unsere wissenschaftlichen Instrumente, mit denen wir Verstehen über kulturelle Grenzen hinweg erreichen
wollen, sind eben nicht per se kulturell neutral. Wenn wir sie naiv und unreflektiert dafür halten, dann gehen wir
in die Falle des Ethnozentrismus. Hinterfragen und überprüfen wir unsere theoretischen Perspektiven,
Modelle und Begriffe dagegen kritisch, dann können wir implizit ethnozentrische Annahmen aufdecken
und korrigieren.
Dieser Prozess ist so etwas wie ein roter Faden, der sich durch die gesamte Theoriengeschichte des Faches
zieht. Ein gutes Beispiel bietet das Forschungsfeld der Verwandtschaftsanthropologie, das bereits in der
Frühzeit der KSA durch die Arbeiten von Lewis Henry Morgan[2] und seinen Zeitgenossen etabliert wurde.
Seit damals und bis in die 1970er Jahre hinein wurde - auch wenn die theoretischen Konzepte in dieser langen
Zeit heftig debattiert und vielfach modifiziert wurden - mehrheitlich davon ausgegangen, dass trotz der
auffälligen beobachtbaren Variabilität verwandtschaftlicher Beziehungen die Grundlage von Verwandtschaft
letzten Endes überall die selbe sei: nämlich die genealogischen Beziehungen von Abstammung und Heirat.
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Foto: Abstammung und Heirat als universelle Grundlage von Verwandtschaft?,
Quelle: wikimedia.org
Ab den 1970ern tauchte die These auf, dass diese scheinbar kulturell neutrale genealogische Perspektive auf
einem durch und durch eurozentrischen Vorurteil beruhe. David Schneider[3] (1984) zeigte an einem
konkreten Fallbeispiel, dass es völlig andersgeartete kulturelle Auffassungen von Beziehungen
"verwandtschaftlicher" Art gab, die keinerlei genealogische Grundlage hatten. Davon ausgehend behauptete er,
Verwandtschaft im genealogischen Sinn gebe es überhaupt nur in Europa und im modernen Amerika. Wenn
wir glaubten, anderswo solche Verwandtschaftsbeziehungen wahrzunehmen, so sei dies nichts als eine
Illusion, in der wir unsere eigenen kulturellen Annahmen reproduzierten. Diese Kritik, grundsätzlich berechtigt,
aber in ihrer Radikalität sicher übertrieben, führte zu einem tiefgreifenden Umdenken in der
Verwandtschaftsanthropologie und zu neuen theoretischen Konzepten, die mit der Übertragung scheinbar
selbstverständlicher Annahmen auf andere kulturelle Zusammenhänge kritischer und reflektierter umgehen.
Dieses kontinuierliche Hinterfragen der Instrumente, mit denen wir die Lebenswelten Anderer zu
erfassen versuchen, macht letztlich das anthropologische Projekt aus. In der KSA führt dies, ausgehend
von der Annahme kultureller Diversität[4], zu zwei eng miteinander verbundenen Grundhaltungen, die wir
"methodologischen Skeptizismus"[5] und "methodologischen Relativismus"[6] nennen können.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Erkenntnistheorie
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/David_M._Schneider
[4] Siehe Kapitel 1.2.1
[5] Siehe Kapitel 1.2.6
[6] Siehe Kapitel 1.2.7
1.2.6 Methodologischer Skeptizismus
Methodologischer Skeptizismus bedeutet einfach, dass wir den eigenen Erkenntnisinstrumenten
skeptisch gegenüber stehen, weil sie möglicherweise ethnozentrische Annahmen[1] enthalten. Wir dürfen
ihnen nicht blind vertrauen, sondern müssen sie ständig darauf hin überprüfen, ob sie der spezifischen
kulturellen Realität, die wir mit ihnen erfassen wollen, angemessen sind. Mit Erkenntnisinstrumenten sind
begriffliche Kategorien, Klassifikationsschemata, Methoden und Theorien gemeint, mit denen wir operieren und
die unsere Wahrnehmung lenken. Sie sind insofern Instrumente, als sie festlegen, welche Elemente der
empirischen Welt wir sehen, was wir für wichtig halten und was wir als unwichtig beiseite lassen. Sie weisen
den Phänomenen, die wir wahrnehmen, Relevanz zu und bringen sie in ordnende und erklärende
Zusammenhänge.
Die Frage, ob diese Instrumente wirklich geeignet sind, um eine möglicherweise ganz anders geartete Sicht auf
die Welt als die unsere zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, ist so etwas wie die zentrale Grundfrage
in der kultur- und sozialanthropologischen Forschung. Wenn wir unkritisch davon ausgehen, dass Andere ihre
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Welt so sehen wie wir, dann können wir die Diversität, die uns interessiert, nicht verstehen, weil wir sie von
vornherein nicht zulassen. Der methodologische Skeptizismus ist also eine reflexiv-kritische Haltung mit
dem Ziel, unsere methodisch-theoretische toolbox so weit wie möglich vom epistemologischen
Ethnozentrismus zu befreien. Entscheidend ist, dass diese Haltung kontinuierlich in den Forschungsprozess
eingreift: Die Einsichten, die ich mir im Feld[2] erarbeitet habe, tragen laufend dazu bei, meinen Zugang zu
diesem Feld zu modifizieren und zu adaptieren.
Abbildung: Methodologischer Skeptizismus, M. Reitter
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.2.4
[2] Siehe Kapitel 1.3.1
1.2.7 Methodologischer Relativismus
Relativismus bezeichnet im Prinzip eine philosophisch- erkenntnistheoretische Position, nach der das,
was man wissen kann, nie absolut ist. Die Realität sieht nicht für jedeN BetrachterIn in jeder Situation gleich
aus, sondern ist von der betrachtenden Person, vom jeweiligen Blickwinkel abhängig. Für den Relativismus
kann es dementsprechend keine absolute, sondern nur relative Wahrheit geben.
In der Kultur- und Sozialanthropologie wird eine solche Position im sogenannten "harten"
Kulturrelativismus[1] eingenommen, der im Prinzip nichts wesentlich anderes sagt, wenn er die Relativität von
Positionen auf Kultur zurückführt. Menschen sind in unterschiedliche kulturelle Zusammenhänge eingebunden
und betrachten die Realität daher aus unterschiedlichen Perspektiven. Jede Kultur[2] hat ihre eigene innere
Logik; es gibt keine gemeinsame Perspektive, die für alle Menschen in allen kulturellen Zusammenhängen
gleichermaßen gültig ist. Menschen leben in unterschiedlichen kulturellen Welten, von denen sich jede ihre
eigene Wirklichkeit konstruiert. Für den "harten" Kulturrelativismus gibt es keine "transkulturellen" Wahrheiten,
im Extremfall nicht einmal die Möglichkeit, aus der Perspektive einer Kultur in jene einer anderen zu
"übersetzen".
Die Haltung des methodologischen Relativismus geht nicht so weit. Sie nimmt nicht notwendigerweise die
Existenz inkompatibler kultureller Welten an. Sie sagt vielmehr, wir können nicht voraussetzen, dass die
Anderen, deren Welt wir verstehen wollen, diese auf ähnliche Weise sehen wie wir. Gehen wir also
zunächst davon aus, dass ihre Welt anders ist, und versuchen wir, sie in ihrer eigenen Logik zu verstehen.
Dieser Relativismus ist deswegen methodologisch, weil er von Diversität als methodischer Annahme ausgeht.
Die Möglichkeit, sich transkulturell auf eine Wirklichkeit zu einigen, schließt das nicht aus.
Wir riskieren es, unsere Sicht der Welt, in der Andere leben, zu verzerren, wenn wir naiv davon ausgehen, dass
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diese der unseren gleichgeartet ist und dass unsere Perspektiven und Werte den besten Zugang zu ihr bieten.
Der notwendige Relativismus dieser Haltung ist also ein methodologischer Zwischenschritt, der am Ende des
Erkenntnisprozesses, anders als der eigentliche "harte" Kulturrelativismus, durchaus zu Aussagen führen kann,
die Anspruch auf überkulturelle oder sogar universale Gültigkeit erheben (vgl. Eriksen 2010: 8 f.).
Abbildung: Methodologischer Relativismus, M. Reitter
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturrelativismus
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
1.2.8 Relativismus und Universalismus
Eine erkenntnistheoretische Gegenposition zum Relativismus ist der Universalismus, der eine
gemeinsame übersubjektive Wirklichkeit annimmt.Während die meisten Kultur- und SozialanthropologInnen
auf der methodologischen Ebene eine relativistische Haltung einnehmen dürften, ist auf der Ebene
erkenntnistheoretischer Positionen das ganze Spektrum zwischen den beiden Extremen von Kulturrelativismus
und Universalismus zu finden.
Während der "harte" Kulturrelativismus von der als unüberbrückbar gedachten kulturellen Differenz ausgeht,
steht für den Universalismus die grundlegende Einheit menschlicher sozialer und kultureller
Erscheinungsformen im Vordergrund (Eriksen 2010: 5 f.). Universalistische Positionen in der Kultur- und
Sozialanthropologie gehen davon aus, dass alle menschlichen Gesellschaften[1] wesentliche Aspekte von
Gesellschaft und Kultur[2] miteinander teilen. Diese Annahme ist letztlich auch die Voraussetzung dafür, dass
man sie überhaupt gemeinsam und vergleichend betrachten kann. Wenn wir von Kultur sprechen, wird
meistens zuerst an kulturelle Differenz gedacht. Dahinter steht aber durchaus auch ein universalistisches
Verständnis des Menschen als eines Wesens, das auch in den unterschiedlichsten Kontexten eine
entscheidende Ähnlichkeit aufweist: nämlich die grundsätzliche Kulturfähigkeit. Mit dem Begriff der Kultur geht
also der Blick auf die kulturelle Diversität ebenso einher wie jener auf die Ähnlichkeit, welche die partikularen
kulturellen Erscheinungsformen letztlich miteinander verbindet. Eine KSA, die nicht ins Extrem des "harten"
Kulturrelativismus verfällt, ist also grundsätzlich immer an Unterschieden und Gemeinsamkeiten
interessiert. Sie hütet sich aber gleichzeitig vor der naiven ethnozentrischen[3] Projektion, die den eigenen
Vorstellungen universale Gültigkeit zuschreibt, weil sie ihre Kulturgebundenheit nicht sieht.
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Foto: Japanische Toilette, Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] Siehe Kapitel 1.2.4
1.2.9 Exkurs: Homogenisierung, kulturelle Diversität und "Anthropology at Home"
Dass Menschen in anderen kulturellen und sozialen Zusammenhängen
leben als wir, erscheint uns im Fall der überschaubaren nicht
industrialisierten Gesellschaften, mit denen sich die KSA früher in
erster Linie beschäftigte, ziemlich evident. Heute kann man aber
durchaus in die Ferne reisen, ohne auf so offensichtliche Weise mit
Diversität[1] konfrontiert zu sein.
Die Annahme weltweit zunehmender Ähnlichkeit kultureller
Lebensweisen und sozialer Organisationsformen ist verbreitet und
scheint naheliegend. Kann man aber aus Beobachtungen wie jener,
dass die Einkaufsstraßen in den globalen und konsumorientierten
Städten vielerorts gleich aussehen und man in diesen Straßen die
gleichen Geschäfte der gleichen Handelsketten, möglicherweise sogar
mit den gleichen Produkten findet, wirklich auf eine solche Angleichung
schließen?
Foto: McDonalds in Thailand, Quelle:
fbcdn.com
Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Thesen, die davon ausgehen,
dass im Zuge solcher Entwicklungen die Bedeutung kultureller
Unterschiede schwindet und dass unter dem Einfluss von
Industrialisierung und Globalisierung[2] Gesellschaften und
Lebensverhältnisse einander immer ähnlicher werden. In den
Sozialwissenschaften werden diese unter dem Begriff der
"Homogenisierungsthese"[3] zusammengefasst. Viele
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AnthropologInnen, aber auch VertreterInnen anderer Sozialwissenschaften haben diese Annahmen jedoch als
zu oberflächlich zurückgewiesen: Globale Einflüsse, Vorbilder, Waren und Informationen werden nicht einfach
übernommen, sondern lokal interpretiert[4], transformiert und angeeignet. In diesen Prozessen, die mit
Begriffen wie Glocalization[5] (Robertson 1995) und Creolization[6] (Hannerz 1992) beschrieben werden,
bilden sich neue Formen von Diversität.
Aus anthropologischer Perspektive verbergen sich hinter der scheinbar zunehmenden kulturellen
Ähnlichkeit also weiterhin Unterschiede, die man erst bei genauerem Hinsehen erkennen kann. Die
Einsichten in die Existenz radikaler kultureller Diversität, die wir aus Begegnungen mit Menschen am Amazonas
oder in der Kalahari gewonnen haben, haben auch den Blick für die vielleicht subtilere Diversität jener Realität
geschärft, die oberflächlich betrachtet ähnlich aussieht wie die eigene.
Dieses subtilere Verständnis von Diversität hat auch dazu geführt, dass Kultur- und SozialanthropologInnen
heute ihre eigenen Herkunftsgesellschaften als ebenso legitimes Forschungsfeld betrachten wie die fernen
"exotischen" Lebenswelten, mit denen sich das Fach traditionell beschäftigt hat. Die sogenannte
"Anthropology at Home"[7] findet unter der Prämisse der Diversität und unter Anwendung
ethnographischer Methoden[8] auch in der scheinbar vertrauten Nähe ein reiches Forschungsfeld.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.4.2
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.1
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Glocalization
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Creolization
[7] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-68.html
[8] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-51.html
1.3 Methoden: Wie gelangt Kultur- und Sozialanthropologie zu ihrem Wissen?
Das Wiener Institut für Kultur- und Sozialanthropologie[1] definiert sich in methodischer Hinsicht über
drei zentrale "Standbeine", die einander ergänzen. Diese methodischen Standbeine sind
die historische Anthropologie,
der systematische Vergleich und
die ethnographische Feldforschung.
Die historische Perspektive in der KSA beschäftigt sich mit kultureller und sozialer Diversität[2] in
zeitlicher Dimension. Sie setzt sich mit historischem Quellenmaterial auseinander, teils um die historischen
Entwicklungen in bestimmten Regionen oder Gruppen zu rekonstruieren, teils weil sie davon ausgeht, dass die
heutigen Verhältnisse in konkreten empirischen Feldern in ihrer historischen Gewordenheit interpretiert werden
müssen. Vielfach wird sie ergänzend zu ethnographischen Methoden eingesetzt (vgl. Wernhart und Zips 2008).
Der komparative (vergleichende[3]) Ansatz fragt nach Unterschieden und Ähnlichkeiten partikularer
kultureller und sozialer Phänomene in Zeit und Raum und leitet daraus verallgemeinernde Aussagen
unterschiedlicher Reichweite ab (vgl. Gingrich und Fox 2002). Radcliffe-Brown[4], einer der Begründer der
britischen funktionalistischen Schule, der ein stark universalistisches Forschungsprogramm vertrat, formulierte
um die Mitte des 20. Jahrhunderts, das Ziel der "komparativen Methode" sei: "… to explore the varieties of
forms of social life as a basis for the theoretical study of human social phenomena" (1951: 15). Die zu
vergleichenden Falleinheiten können sehr unterschiedlich definiert werden: "soziale Systeme" oder
Gesellschaften, als analog verstandene Institutionen und Prozesse in verschiedenen Gesellschaften, kulturelle
Phänomene, materielle Objekte und dergleichen mehr. Ebenso kann die Variabilität der Vergleichsfälle auf sehr
unterschiedlichen Ebenen angenommen werden: räumlich oder zeitlich, aber auch als soziale oder kulturelle
Variation innerhalb eines gemeinsamen soziokulturellen Kontexts.
Die ethnographische Feldforschung - also die systematische Datenerhebung in intensivem Kontakt mit
Menschen in konkreten empirischen Forschungsfeldern - schließlich ist nicht per se wichtiger als die beiden
anderen Standbeine. Sie ist aber insofern von zentraler Bedeutung für unser Fach, als sie als typische
Erhebungsmethode der KSA ein definierendes Kriterium der Disziplin bildet und diese am deutlichsten von
anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet.
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(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://ksa.univie.ac.at/
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-54.html
[4] Siehe Kapitel 2.4.1
1.3.1 Ethnographische Feldforschung
Was das Fach der Kultur- und Sozialanthropologie ausmacht und von anderen unterscheidet, ist nicht
nur eine bestimmte Perspektive auf konkrete menschliche Lebenswelten, die soziale und kulturelle
Zusammenhänge unter der Prämisse der Diversität in den Blick nimmt. Es ist auch ein spezifischer
methodischer Zugang: die ethnographische Feldforschung (vgl. Eriksen 2010: 27-43).
Ethnographische Feldforschung[1] setzt gewöhnlich die längerfristige physische Anwesenheit der
ForscherInnen in einem mehr oder weniger überschaubaren Forschungsfeld voraus. EthnographInnen
beobachten und begleiten konkrete Menschen über längere Zeiträume in ihrem Alltagsleben. In intensiver
Kommunikation mit ihnen erheben sie Datenmaterial[2], das zu beschreibenden, analytischen,
interpretierenden und/oder erklärenden Aussagen über konkrete Forschungsfragen führen soll. In der
Geschichte des Faches bildeten lokale Gemeinschaften in fernen nicht industrialisierten Gesellschaften das
typische Feld für ethnographische Untersuchungen. Die Dauer solcher Feldaufenthalte betrug nicht selten ein
bis zwei Jahre. In den letzten Jahrzehnten haben sich die beforschten Felder und mit ihnen auch die
Rahmenbedingungen ethnographischer Erhebungen zunehmend verändert.
Nach wie vor ist unser Zugang zur Ethnographie aber durch diese historischen Erfahrungen geprägt.
Wesentliche Ansprüche an ethnographische Feldforschung sind auch heute Merkmale wie:
die relative Dauer und Intensität der Datenerhebungen;
die Fähigkeit, mit Menschen in ihrer eigenen Sprache kommunizieren zu können;
ein grundsätzliches Interesse an alltäglichen Lebenszusammenhängen, die nach Möglichkeit in ihrem
sozialen und kulturellen Kontext betrachtet werden;
ein flexibler Methodenpluralismus und eine grundlegende Offenheit, die methodischen Zugänge und
Annahmen, mit denen wir in unser Feld eintreten, als Reaktion auf die dort vorgefundenen Verhältnisse
anzupassen.
Am auffälligsten verändert hat sich wohl die lokale Verortung ethnographischer Forschungen. Mit einem
veränderten Kulturverständnis, das nicht mehr von lokalisierten und mehr oder weniger geschlossenen
kulturellen Einheiten ausgeht, sondern auch translokale Aspekte von Kultur und Gesellschaft in den Blick
nimmt, haben sich neue Formen wie etwa multi-sited ethnography[3] entwickelt. Dabei folgen
EthnographInnen ihren mobilen Forschungssubjekten durch unterschiedliche field sites oder vollziehen andere
Arten von räumlicher Bewegung - etwa jene materieller Objekte - nach (vgl. Marcus 1995; Hannerz 2003).
Große Bedeutung hat heute auch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Formen online-basierter
Kommunikation im Internet[4]. Die totale Erfahrung des Eintauchens in ein exotisches Forschungsfeld ist mit
diesen neueren Formen der Ethnographie vielleicht nicht mehr so intensiv verbunden wie früher. Immer noch
aber sind ethnographische Feldforschungen meist Unternehmungen, die die Forschenden in ihrer gesamten
Persönlichkeit betreffen. Ethnographie ist in der Regel keine Arbeit, die man hinter sich lassen kann,
wenn man abends die Bürotür schließt.
Gertraud Seiser[5] fasst (in Anlehnung an Hirsch und Gellner 2001) die Merkmale und Qualitäten guter
Ethnographie so zusammen:
Sie vermittelt ein Gefühl von "being there";
sie liefert Details und unerwartete Ergebnisse;
sie spiegelt die Polyphonie der wirklichen Welt wider;
sie bietet Modelle oder Theorien an;
sie kontextualisiert ihre Ergebnisse in Zeit und Raum;
sie ist aufmerksam gegenüber Fragen von Macht und Ungleichheit;
sie achtet auf Differenz zwischen Sprechen und Handeln;
sie verbleibt nicht auf der Ebene von "front-stage perfomance";
sie achtet auf die verwendete Sprache;
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sie reflektiert die eigene Position des/der EthnographIn mit;
sie sucht nicht die Bestätigung des bereits Gewussten, sondern das überraschende Neue.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-25.html
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-51.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-84.html
[4] Siehe Kapitel 3.8.6
[5] http://www.univie.ac.at/ksa/html/inh/pers/wiss/seis.htm
1.3.2 Teilnehmende Beobachtung
Ethnographische Feldforschung[1] wird oft mit dem Begriff der "teilnehmenden Beobachtung"[2]
gleichgesetzt, der eigentlich nur einen Teilbereich der Ethnographie beschreibt. Teilnehmende
Beobachtung bedeutet, dass wir nicht in der Rolle außenstehender unbeteiligter BeobachterInnen
verbleiben, sondern das Leben unserer Forschungssubjekte bis zu einem gewissen Grad teilen und
somit in gewisser Weise Aussagen "von innen" machen können. Das Spannungsverhältnis zwischen
Innen- und Außensicht kann und soll damit allerdings nicht aufgelöst werden (wäre dies das Ziel, dann könnten
unsere Forschungssubjekte ja selbst die gültigsten Aussagen über ihre Lebenswelt machen).
Das Konzept der teilnehmenden Beobachtung
(participant observation[3]), das historisch
vor allem auf Bronislaw Malinowski[4]
zurückgeht beruht ganz zentral auf der
Kommunikation (d.h. auch dem Reden) mit
den Forschungssubjekten. Es geht darum,
am Leben und an den Erfahrungen anderer
Menschen teilzunehmen (was natürlich immer
nur begrenzt möglich ist). Dies ist in erster
Linie ein Prozess der Interaktion und
Kommunikation[5]. Wird - wie es die
ethnographische Arbeit beabsichtigt - aus
diesem Kommunikationsprozess heraus
Wissen generiert, dann ist klar, dass in diesem
Wissen beide beteiligten Seiten enthalten sind: Foto: Bronislaw Malinowski mit Trobriandern (1918), Quelle:
wikimedia.org
die/der EthnographIn ebenso wie die
beforschten Menschen. Ethnographische
Daten werden aus einer Art von Dialog heraus generiert, der diese beiden Seiten braucht. Sie können also
nicht objektiv in dem Sinn sein, dass eine Trennung zwischen beobachtendem Subjekt und beobachtetem
Objekt möglich ist (deshalb sprechen wir auch von Forschungssubjekten). Diese Einsicht soll nicht eine
hemmungslose Subjektivität legitimieren, die behauptet, jede Aussage sei gleich gültig, da ohnehin alles
subjektiv sei. Sie hat aber wesentliche Konsequenzen für unseren Anspruch auf Validität[6].
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-25.html
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Participant_observation
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-58.html
[5] Siehe Kapitel 1.3.4
[6] Siehe Kapitel 1.4.4
1.3.3 Charakteristika qualitativer Forschungszugänge
Ethnographische Feldforschung bedient sich auf pragmatische Weise eines offenen Bündels von
Erhebungstechniken[1], mit denen sie ihr Ziel des Verstehens und Erklärens menschlicher Lebenswelten
verfolgt. Dazu zählen auch zählende und messende - also quantitative[2] - Verfahren. Insgesamt liegt der
methodische Schwerpunkt aber sicherlich auf den qualitativen[3] Verfahren.
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Das empirische Interesse der Ethnographie richtet sich, bei aller Unterschiedlichkeit der Fragestellungen, meist
auf konkrete Menschen, mit denen wir interagieren können - und müssen -, um über ihre Lebenswelten etwas
zu erfahren. Davon ausgehend versuchen wir Aussagen über kulturelle Bedeutungszusammenhänge und
soziale Strukturen zu machen, in denen die untersuchten Menschen leben.
Eine Konsequenz dieses empirischen Interesses ist der Umstand, dass die Breite unserer Interaktionen mit
konkreten Menschen - so intensiv diese Interaktionen auch sein mögen - notwendigerweise beschränkt ist.
Wenn wir Wissen aus Gesprächen und anderen Formen der Kommunikation und Interaktion mit konkreten
Menschen generieren, können wir dies nicht in gleicher Weise mit z.B. 1000 Personen tun, um so etwas wie
eine statistisch repräsentative Stichprobe zu erhalten. Wir kommunizieren mit relativ wenigen Menschen, dafür
aber auf ungleich intensivere Weise. Während es in systematisch quantitativ orientierten Zugängen mit
nachfolgender statistischer Auswertung eher um die Breite der resultierenden Aussagen geht, geht es uns um
die Tiefe der Einblicke, die wir mit der ethnographischen Methode generieren können. Diese mögliche
Tiefe macht eine spezifische Qualität der KSA aus.
Zwischen einer überwiegend qualitativen, intensiven, in die Tiefe gehenden methodischen Perspektive und
einer quantitativen, in die Breite gehenden Perspektive bestehen entscheidende Unterschiede. In einer
quantitativen statistischen Erhebung, in denen ich eine Stichprobe (sagen wir von 300 Personen) nach
strengen Kriterien der Repräsentativität vorab definiert habe, kann ich es mir nicht leisten, nach dem 80.
Fragebogen zu realisieren, dass eine bestimmte Frage von falschen Vorannahmen ausgeht oder
missverständlich ist und geändert werden muss. Wenn ich solche Fehler erkenne, dann muss ich von vorne
beginnen. Ein solcher Zugang setzt voraus, dass ich über mein Forschungsfeld viel gesicherte Vorinformation
habe, von der ausgehend ich realistische Hypothesen formulieren kann, die dann statistisch überprüft werden.
In der ethnographischen Feldforschung dagegen gehe ich nicht nur davon aus, dass meine Vorannahmen
keineswegs gesichert sind, sondern dass sie mich - da sie potentiell ethnozentrisch sind - in die Irre führen
können, wenn ich sie im Forschungsprozess nicht kritisch hinterfrage. Die Anpassung der methodischen
Zugänge an die gewonnenen Einsichten und die Neuorientierung während des Forschungsprozesses
sind in der Ethnographie daher nicht methodische Fehler; sie sind vielmehr selbstverständlich und
markieren einen Erkenntnisgewinn.
Die Anwendung qualitativer Untersuchungsmethoden schließt den Anspruch auf Repräsentativität für eine klar
definierte Gruppe oder Kategorie von Einzelfällen (die Grundgesamtheit oder Grundpopulation) von vornherein
aus. Alle diese Begrifflichkeiten können nur in einem quantitativen Forschungszugang sinnvoll verwendet
werden. Was wir für ethnographische Feldforschung beanspruchen können, ist Validität[4]: dass
bestimmte soziale und kulturelle Zusammenhänge auf gültige Weise dargestellt werden. Für welche Menschen
diese Darstellung Gültigkeit hat - über diejenigen hinaus, mit denen wir in der Forschung kommuniziert haben
-, ist eine kritische Frage, für die es keine simple, technisch korrekte Antwort gibt. Diese Frage steht auch mit
dem Problem der sich verändernden Definition unserer Untersuchungseinheiten im Zusammenhang (früher
"Gesellschaften" oder "Kulturen" und deren Strukturen, heute eher soziale Teilgruppen, Netzwerke oder
Prozesse). Sie wird in Abhängigkeit von der jeweiligen Themenstellung unterschiedlich zu beantworten sein.
Außer Zweifel steht jedenfalls, dass "dichte"[5], in die Tiefe gehende ethnographische Arbeiten sehr viel
über Zusammenhänge oder Kollektive aussagen können, an denen die untersuchten Personen teilhaben,
die aber über diesen relativ kleinen Kreis unmittelbar Beteiligter weit hinausgehen.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-71.html
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/quantitative/quantitative-titel.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-titel.html
[4] Siehe Kapitel 1.4.4
[5] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-18.html
1.3.4 Ethnographie als Kommunikation
Die Daten, die wir in der ethnographischen Feldforschung[1] erheben, werden in der intensiven Interaktion
mit einer meist überschaubaren Anzahl konkreter Menschen gewonnen. Kommunizieren ist in diesem
Zusammenhang ein Schlüsselbegriff, der den ethnographischen Zugang am besten zusammenfasst. Er
umfasst weit mehr als nur das Führen von Interviews. Angesprochen sind hier diverse verbale und nonverbale
Formen von Kommunikation, aber auch komplexe Aktivitäten (wie etwa das gemeinsame Verrichten von
Arbeiten). Sprachkenntnisse sind für solche Kommunikationsprozesse von zentraler Bedeutung. Die Intensität
der Interaktion, die wir im Feld erreichen wollen, ist im Grunde nur dann möglich, wenn wir mit den
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Forschungssubjekten in ihrer eigenen Sprache kommunizieren können. Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen
etwa lassen sich oft nur in den eigenen sprachlichen Konzepten und Begrifflichkeiten wirklich vermitteln;
anhand von Übersetzungen können wesentliche Zusammenhänge nur unzureichend erfasst werden.
Ein großer Teil dieser Kommunikationsprozesse findet in Form von Dialogen statt. Der Begriff des Dialogs
lässt sich - unabhängig vom Reden - in einem übertragenen Sinn auf die "kommunikative" Datenerhebung[2]
der Ethnographie insgesamt anwenden. Ethnographische Daten haben vielfach nicht den Charakter von
Fakten, die einfach gesammelt werden können. Sie werden vielmehr im Dialog mit den Forschungssubjekten
generiert. Sie enthalten somit in einem hohen Ausmaß uns selbst als forschende Subjekte, nicht zuletzt
deshalb, weil die so generierten Daten auch ein Ergebnis der spezifischen Interessen, Fragestellungen und
theoretischen Orientierungen sind, mit denen wir an ein Forschungsvorhaben herangehen.
Vor diesem Hintergrund gilt unser Bemühen umso mehr einer intersubjektiv gültigen Repräsentation
anderer Realitäten. Ein in diesem Sinne geglückter Dialog hat nicht nur zur Folge, dass wir etwas über die
Menschen erfahren, die wir untersuchen. Im Idealfall lernen auch unsere Forschungssubjekte etwas über sich
selber, weil sie im Spiegelbild unserer Fragen und Interessen ihr eigenes Leben aus einer anderen Perspektive
betrachten können. Auf ähnliche Weise lernen aber auch wir als Forschende, die eigene vertraute Lebenswelt
mit neuen Augen zu sehen.
Abbildung: Das Gespräch am Stammtisch, Benjamin Vautier (1898), Quelle: wikimedia.org
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(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-20.html
1.4 Was kann Kultur- und Sozialanthropologie wissen?
Die Kultur- und Sozialanthropologie zählt zu den empirischen Sozialwissenschaften[1]. Unter Empirie
versteht man Wissen, das aus Erfahrung - also aus der systematischen Beobachtung der Welt - gewonnen
wird. Viele andere Wissenschaften, wie etwa die Naturwissenschaften, arbeiten ebenfalls empirisch. Beispiele
für nicht-empirische Wissenschaften wären Philosophie, Theologie, Mathematik oder Rechtswissenschaften.
Aber auch nicht-empirische Disziplinen können empirische Teilbereiche haben, wie etwa die überwiegend
normativ orientierten Rechtswissenschaften, die sich teilweise auch mit der Umsetzung von Recht in der
sozialen Realität beschäftigen.
Diese Grenze ist also nicht immer eindeutig zu ziehen: Empirische und nicht- empirische Aspekte
vermischen sich in verschiedenen Wissenschaften oft miteinander. Ähnliches gilt auch für die KSA.
Anthropologisches Wissen wird nicht allein aus der Erfahrung gewonnen. Es bezieht sich zwar immer auf die
reale, empirisch erfahrbare Welt. Es geht aber nicht nur vom beobachtbaren Erfahrungswissen aus.
Ethnographische Daten setzen ganz entscheidend auch eine Interpretation des Erfahrenen voraus.
Dieser Prozess des Wissenserwerbs durch Interpretation wird mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff der
Hermeneutik beschrieben.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-4.html
1.4.1 Hermeneutik und die Interpretation kultureller Zusammenhänge
Hermeneutik kommt vom griechischen Verb hermeneuo, d.h. etwa "erklären", "übersetzen", "auslegen" (im
Sinne von interpretieren). In der Wissenschaftstheorie[1] bezieht sich Hermeneutik auf die Deutung und
Interpretation von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen. Die KSA hat wesentliche hermeneutische
Aspekte, die nicht strikt empirisch sind, weil sie nicht allein vom Beobachtbaren ausgehen, sondern
versuchen, den Sinn, der hinter dem beobachtbaren Handeln von Menschen steht, zu deuten.
Der Begriff der Hermeneutik[2] stammt vor allem aus sprach- und literaturwissenschaftlichen Kontexten, in
denen es um das Auslegen und Interpretieren von Texten geht. In der KSA hat ein analoges Verständnis von
Kultur als "Text"[3] eine große Rolle gespielt. Am deutlichsten ausgeprägt war diese Analogie in der
sogenannten "postmodernen" Kulturanthropologie der 1980er Jahre, als behauptet wurde, Kultur
funktioniere wie Text und müsse demnach wie Text gelesen und interpretiert werden. Wenn auch die
Gleichsetzung von Kultur mit Text heute nicht mehr so radikal vertreten wird, so lassen sich gewisse Analogien
zwischen der Interpretation kultureller Zusammenhänge und der Textdeutung nicht bestreiten. Der Hauptgrund
dafür liegt in der grundlegenden Ähnlichkeit der Realitäten[4], mit denen sich das Fach beschäftigt, mit den
Instrumenten, die es zu ihrer Darstellung und Erklärung verwendet: Da wie dort geht es um Denkmodelle, die
letztlich kulturell geprägt sind.
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Foto: Hermes, Götterbote der griechischen Mythologie, überbringt und übersetzt die Botschaft
der Götter den Sterblichen, Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-35.html
[3] Siehe Kapitel 2.7
[4] Siehe Kapitel 1.1.7
1.4.2 Interpretation und Objektivität
Die Kultur- und Sozialanthropologie arbeitet nicht nur empirisch, sondern auch hermeneutischinterpretierend. Kann Interpretation jemals objektiv sein oder ist sie notwendigerweise subjektiv? Und wenn sie
subjektiv ist, kann sie dann eigentlich Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben? Ist dieser Anspruch
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notwendigerweise mit dem Anspruch auf Objektivität verbunden?
Die Antwort auf die Frage, ob objektive Beschreibung und Erklärung in der KSA möglich ist, hat viel zu tun mit
Art und Beschaffenheit der konkreten Realitäten, für die man sich gerade interessiert. Die mathematischen
Prinzipien der Erbteilung etwa, die in einer bestimmten Gruppe zur Anwendung kommen, lassen sich recht gut
objektivierend betrachten. Sie können unabhängig von der persönlichen Sichtweise beschrieben werden. Aber
schon dort, wo erklärt werden soll, warum bei einer konkreten Teilung z.B. von Ackerland auf eine bestimmte
Weise entschieden wird, die mit den abstrakten Regeln im Einklang steht, aber nicht zur Gänze durch diese
determiniert wird, ist das nicht mehr möglich: Hier muss (im Dialog mit unseren Forschungssubjekten)
interpretiert werden.
Objektivität[1] ist in Teilbereichen des Wissens, das die KSA anstrebt, also durchaus möglich. Aber
gewöhnlich ist sie gerade dort, wo es für unser Fach interessant wird, nicht mehr möglich. Überall dort, wo es
um sinngeleitetes Handeln geht, kann ich als BeobachterIn nicht von der Tatsache abstrahieren, dass ich
selbst in Sinnzusammenhänge eingebettet bin und mir solche Zusammenhänge interpretierend erklären kann.
Objektiv ist eine Aussage dann, wenn sie sich - unabhängig von der jeweiligen Person, die dies
versucht - direkt an der Realität überprüfen lässt. In der KSA ist dies in den meisten Zusammenhängen
nicht möglich, weil zwischen der Realität und unseren Aussagen noch eine Zwischenebene liegt: jene des
sinngeleiteten Verstehens, die sich nur der Interpretation erschließt, nicht aber der objektiven Beschreibung.
Die Gegenposition zu dieser Sicht, die davon ausgeht, dass ein direkter Zugang zu sozialen und kulturellen
Realitäten möglich und unproblematisch ist, wird wissenschaftstheoretisch als Positivismus bezeichnet. In der
Geschichte der KSA sind immer wieder auch positivistische Theorieansätze vertreten worden, so etwa durch
Radcliffe-Brown[2]. In der Gegenwart werden solche Perspektiven aber nur von wenigen VetreterInnen des
Faches eingenommen; die Mehrheit der AnthropologInnen steht positivistischen Ansätzen[3] kritisch
gegenüber.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-45.html
[2] Siehe Kapitel 2.4.1
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-31.html
1.4.3 Hindernisse für Objektivität in der Kultur- und Sozialanthropologie
Wenn wesentliche Zusammenhänge, für die sich die KSA interessiert, nur interpretierend erschlossen
werden können, so ergibt sich daraus notwendigerweise, dass Objektivität kein realistisches Ziel für ihre
Beschreibung und Erklärung sein kann, weil sie nicht erreicht werden kann. Für einen sinnvollen Anspruch
auf Objektivität gibt es vor allem zwei große Hindernisse.
Das erste Hindernis ergibt sich aus der außerordentlichen Komplexität sozialer und kultureller
Zusammenhänge. Menschliches Handeln und Denken ist einer unüberschaubaren Fülle an Einflüssen,
äußeren Rahmenbedingungen und kausalen Wechselwirkungen unterworfen. Soziales Handeln ist zwar
durchaus in kausale Zusammenhänge[1] eingebunden, an denen ein positivistisches
Wissenschaftsverständnis ansetzt. Das Problem besteht aber darin, dass wir diese Zusammenhänge
nicht in Isolation betrachten können. Wenn wir einen Zusammenhang zwischen zwei Beobachtungen zu
erkennen glauben - und ihn vielleicht sogar statistisch bestätigen können - so heißt das noch lange nicht,
dass dieser Zusammenhang kausaler Art sein muss. Vielleicht braucht es ja spezifische
Rahmenbedingungen, die uns wegen ihrer Komplexität nicht klar sind, oder von uns nicht beachtete
zusätzliche Faktoren, damit der beobachtete Zusammenhang zum Tragen kommt. Aufgrund dieser
Komplexität unseres empirischen Feldes hat sich auch die Suche nach objektiven sozialen
Gesetzmäßigkeiten als wenig ergiebig erwiesen. Es hat in der Geschichte des Faches immer wieder
Versuche gegeben, solche Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Im Großen und Ganzen sind diese jedoch
gescheitert, weil die behaupteten Gesetzmäßigkeiten entweder banal und somit uninteressant waren,
oder weil sie im Fall weniger banaler Aussagen durch zusätzliche empirische Fallbeispiele meist relativ
schnell widerlegt wurden.
Das zweite Hindernis ist die Notwendigkeit der Interpretation[2]. Menschliches Handeln ist nicht nur
sinngeleitet, es steht auch mit objektiven Bedürfnissen und Interessen sowie kausalen Wechselwirkungen
in Zusammenhang. Es ist aber immer auch sinngeleitet. Zumindest diese Sinnzusammenhänge lassen
sich grundsätzlich nicht objektiv beschreiben. Sie müssen vielmehr interpretierend gedeutet werden, d.h.
in das eigene Sinnsystem übersetzt werden. Natürlich lässt sich das eigene Verständnis im
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ethnographischen Kommunikationsprozess erweitern und über die eigenen kulturellen Prägungen hinaus
entwickeln. Wäre das nicht möglich, so dürften wir den Anspruch, andere kulturelle Zusammenhänge
verstehen zu können, gar nicht erheben. Ein solches Verständnis lässt sich jedoch nie objektivieren. Die
Interpretation von Sinn bleibt notwendigerweise subjektiv.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-33.html
[2] Siehe Kapitel 1.4.2
1.4.4 Validität
Kultur- und Sozialanthropologie als interpretierende Wissenschaft kann nicht objektiv sein. Das
bedeutet, die Richtigkeit der allermeisten wissenschaftlichen Aussagen kann nicht an ihrer objektiven
Übereinstimmung mit der Realität gemessen werden. Wenn dem so ist, welches Kriterium bleibt uns, um
Aussagen zu bewerten? Ist alles gleich richtig, dürfen wir hemmungslos subjektiv sein? Ist ein
anthropologischer Text - wie dies im Zuge der sogenannten "literarischen Wende" in den 1980er Jahren
behauptet wurde - nichts grundlegend Anderes als ein literarisches Werk (vgl. Clifford & Marcus 1986)?
Gegenwärtig nehmen die meisten VertreterInnen des Faches keine so radikale Position ein. Für die Mehrheit
der AnthropologInnen können wissenschaftliche Aussagen nicht direkt anhand der Realität als wahr
oder falsch bewertet werden. Was zählt, das ist, ob sie die Realität auf eine Weise wiedergeben, die als gültig
akzeptiert werden kann. Es geht nicht um Objektivität als Bewertungskriterium, sondern um Validität, also
Gültigkeit.
Wie aber bemessen wir die Validität von Aussagen, die nicht einfach als wahr oder falsch beurteilt werden
können? Sie wird in einem diskursiven sozialen Prozess festgelegt, und zwar durch die Zustimmung der
Scientific Community[1], jenes diskursiven Raumes, in dem Wissenschaft stattfindet. Die Scientific
Community besteht aus den VertreterInnen der eigenen Disziplin, aber auch aus interessierten Angehörigen
anderer Disziplinen. Sie rezipieren die Ergebnisse unserer Forschung und bilden sich eine Meinung dazu. Sie
greifen unsere Aussagen auf, bestätigen, modifizieren, kritisieren oder bestreiten sie - all dies in der Regel unter
Beachtung ihres Bezugs zur dargestellten Realität. In diesem sozialen Prozess bildet sich Zustimmung oder
Ablehnung heraus. Dies ist letztlich der einzige Maßstab für die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen, den wir
in einem Fach wie dem unseren besitzen (das Gesagte trifft aber nach Meinung vieler
WissenschaftstheoretikerInnen auf Wissenschaft insgesamt zu). Die wissenschaftlichen Aussagen, die wir als
AnthropologInnen machen können, sind also nicht objektiv wahr in dem Sinn, dass ihre Richtigkeit direkt an der
Realität gemessen werden kann. Sie können aber sehr wohl intersubjektiv wahr sein: dann nämlich, wenn die
Scientific Community zu dem Schluss kommt, dass sie die Realität auf gültige Weise wiedergeben.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Scientific_community
1.4.5 Der provisorische Charakter wissenschaftlichen Wissens
Wissenschaftliches Wissen wird in einem diskursiven sozialen Prozess gefestigt. Es ist daher nicht
absolut, sondern relativ, nicht endgültig, sondern revidierbar. In den Wissenschaften ist es quasi alltägliche
Realität, dass Forschungsergebnisse, die einmal als gültig angenommen wurden, verworfen oder modifiziert
werden, und dass theoretische Positionen kritisiert oder verworfen werden. Der soziale Prozess der
"Validierung" von Wissen ist also in historische Zusammenhänge eingebunden.
Der notwendige Wandel von gültigem Wissen bedeutet aber nicht, dass frühere Einsichten und Perspektiven
für uns irrelevant sind oder dass sich in 30 Jahren niemand mehr für das interessieren wird, was heute
geschrieben wird. Auch wenn dies hinter dem Innovationsdiskurs, mit dem WissenschaftlerInnen ihre Aktualität,
die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschung und ihren Anspruch auf finanzielle Mittel legitimieren, manchmal
in den Hintergrund tritt, beschäftigen wir uns auch heute noch intensiv mit dem, was vor Jahrzehnten oder gar
Jahrhunderten geschrieben wurde. Diese Auseinandersetzung ist manchmal vor allem historisch motiviert.
Wenn wir heute z.B. Lewis Henry Morgan[1] lesen, so kann es sein, dass wir in theoriengeschichtlicher
Perspektive verstehen wollen, aus welchem Blickwinkel er zu welchen Ergebnissen kam, ohne nach deren
heutiger Gültigkeit zu fragen. Ebenso können wir aber bei ihm - wie bei anderen AutorInnen der Vergangenheit
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- Datenmaterial finden, das uns, sofern es kritisch rezipiert wird, durchaus nützlich sein kann. Auch die
theoretischen Konzepte, mit denen frühere VertreterInnen des Faches an ihr Material herangingen, können
weiterhin von Interesse sein, selbst wenn wir aus heutiger Sicht und mit veränderten Interessen ihre
Schwachstellen deutlicher erkennen können, als das den damaligen ZeitgenossInnen möglich war.
Abbildung: Flammarions Holzstich; Wissenschaftliches Wissen ist zu keinem
Zeitpunkt endgültig, Quelle: wikimedia.org
Umgekehrt gilt: Alles anthropologische Wissen, das zum jetzigen Zeitpunkt anerkannt ist, ist mit größter
Wahrscheinlichkeit nur vorläufig gültig. Somit ist es nicht nur unser Recht, sondern sogar unsere Pflicht,
wissenschaftliche Aussagen und Perspektiven kritisch zu rezipieren und uns zu fragen, ob wir ihnen folgen
können oder nicht. Dabei geht es um zweierlei: zum einen um die Plausibilität der empirischen Daten[2], zum
anderen um die Begrifflichkeiten, Ideen und angenommenen Zusammenhänge, mittels welcher diese Daten
organisiert und in einen erklärenden Zusammenhang gebracht werden - also um die Theorien.
Das große Feld anthropologischer Debatten betrifft immer wieder auch empirische Aussagen, vor allem aber die
konkurrierenden und in Entwicklung begriffenen theoretischen Ansätze. Eine Theorie "ist eine Menge logisch
miteinander verknüpfter Aussagen, die einen bestimmten Ausschnitt der Welt erklären" ( Halbmayer[3]). Der
Begriff "Theorie" wird aber auch in einem weiteren Sinn verwendet für die Summe unserer logisch möglichst
konsistenten Annahmen über die Welt und über bestimmte Zusammenhänge in ihr, die es uns erlauben,
unsere Beobachtungen zu strukturieren und zu systematisieren und aus ihnen erklärende Theorien im engeren
Sinn abzuleiten. Theoretische Perspektiven sind in der KSA generell in höherem Ausmaß umstritten als
empirische Beobachtungen. Eine kritische Rezeption wissenschaftlicher Aussagen bedeutet auch den Versuch,
jene Ideen, Modelle und Ansätze zu erkennen und zu hinterfragen, mit denen in einem konkreten
wissenschaftlichen Text operiert wird. Da diese theoretischen Werkzeuge vielfach zumindest teilweise implizit
bleiben, ist auch dieser Versuch nicht selten ein interpretierender Vorgang.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-23.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-40.html
1.5 Literatur
Appadurai, Arjun 1996: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of
Minnesota Press.
Eriksen, Thomas Hylland 2007: Globalization: The Key Concepts. Oxford: Berg.
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Eriksen, Thomas Hylland 2010: Small Places, Large Issues: An Introduction to Social and Cultural
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Wissenschaftstheorie. München: Deutscher Taschenbuchverlag. 292-296.
Geertz, Clifford 1973: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York: Basic Books.
Gingrich, Andre und Richard G. Fox (Hg.) 2002: Anthropology, by Comparison. London: Routledge.
Halbmayer, Ernst: Einige wissenschaftstheoretische Grundlagen der empirischen Sozialforschung. In:
Lernunterlage Einführung in die empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie.
http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-40.html[1] [Zugriff: 27.05.2013].
Halbmayer, Ernst und Jana Salat: Bronislaw Malinowski. In: Lernunterlage Qualitative Methoden der Kulturund Sozialanthropologie. http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-58.html[2] [Zugriff:
18.05.2013].
Hannerz, Ulf 1992: Cultural Complexity: Studies in the Social Organization of Meaning. New York: Columbia
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Hannerz, Ulf 2003. Being there ... and there ... and there!: Reflections on Multi-site ethnography. In:
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Frankfurt/M.: Suhrkamp).
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Wernhart, Karl R. und Werner Zips (Hg.) 2008: Ethnohistorie: Rekonstruktion und Kulturkritik. Eine Einführung.
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Wimmer, Andreas und Nina Glick Schiller 2002: Methodological nationalism and beyond: Nation state formation,
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Wolf, Eric 1986: Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt/M.: Campus.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-40.html
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-58.html
2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie
Die Kultur- und Sozialanthropologie ist (so wie die anderen Sozialwissenschaften[1]) eine
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vergleichsweise junge Disziplin[2]. Fragen, die wir heute als typisch anthropologisch ansehen, haben zwar
Philosophen und Historiker schon seit der Antike beschäftigt. Thomas Hylland Eriksen[3] (2010: 10ff.) rechnet
diese Vorläufer der "Proto-Anthropology" zu. Theoretische Modelle sozialer und kultureller Zusammenhänge,
die als solche rezipiert und diskutiert wurden - kurz: eine explizite anthropologische Theorienbildung - gab es
aber erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus diesen Theoriediskursen bildete sich unser Fach, das
etwa ab der Jahrhundertwende akademisch institutionalisiert wurde und sich in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts seine charakteristische Methodologie erarbeitete. Eriksen[4] (2010: 10-26) gibt einen sehr
nützlichen Überblick über die Entwicklung des Faches, der hier lediglich ergänzt und nuanciert werden soll.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-47.html
[2] http://ksa.univie.ac.at/institut/geschichte/
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen
[4] http://www.amazon.co.uk/Small-Places-Large-Issues-Introduction/dp/0745317723
2.1 Der klassische Evolutionismus
Thomas Hylland Eriksen (2010: 12) spricht von der Entstehungszeit des Faches in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts als "Victorian Anthropology". Der Begriff bezieht sich auf die Regierungszeit der britischen
Königin Victoria[1] von 1837 bis 1901. Da die einflussreichen Theorien dieser Zeit nicht nur in Großbritannien,
sondern auch anderswo in Europa und ganz entscheidend auch in den USA formuliert wurden, ist es aber
vielleicht besser, mit Bezug auf das dominierende theoretische Paradigma von der Periode des klassischen
Evolutionismus zu sprechen. Der vorherrschende soziale Evolutionismus[2] in der sich herausbildenden
KSA entstand aus dem Denken der Aufklärung parallel zu Darwins[3] biologischem Evolutionismus.
Das wesentliche Charakteristikum des klassischen Evolutionismus ist die Annahme einer gleichförmigen
sozialen Evolution, die die menschliche Gesellschaft insgesamt durchläuft. Diese Evolution wurde als
aufsteigende Entwicklung von einfachen zu komplexen Formen gedacht, die stufenförmig verlief. Alle
Gesellschaften machten aus evolutionistischer Sicht grundsätzlich die gleiche Entwicklung durch, die mit den
Frühformen der Menschheit begonnen hatte. Verschiedene Gesellschaften wurden jedoch als in dieser
Entwicklung mehr oder weniger weit fortgeschritten betrachtet. Im Einklang mit dem Fortschrittsdenken der Zeit
wurde die europäisch-amerikanische Industriegesellschaft als die am weitesten vorangeschrittene
Entwicklungsstufe gedeutet.
Unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Organisation, der materiellen Kultur, der
Familienorganisation etc. repräsentierten für den klassischen
Evolutionismus daher unterschiedliche Entwicklungsstufen. Die
Annahme unterschiedlicher Entwicklungshöhe war ein simpler
und schlüssiger Erklärungsansatz für kulturelle Diversität. Die
sorgfältigste und wohl einflussreichste Formulierung eines
solchen stufenförmigen Entwicklungsmodells findet sich bei
Lewis Henry Morgan (1877), einem der zentralen Vertreter des
klassischen Evolutionismus. Wie zuvor Edward B. Tylor (1871)
nahm Morgan drei Hauptstufen an: "Wildheit" (savagery),
"Barbarei" (barbarism) und "Zivilisation" (civilization). Wildheit
und Barbarei untergliederte er weiter in jeweils drei Unterstufen.
Das evolutionistische Denken ermöglichte nicht nur Antworten
auf die Frage nach den Ursprüngen gesellschaftlicher Formen
und Institutionen (Antworten, die später zu Recht als
überwiegend spekulativ kritisiert wurden); es erlaubte auch, die
beobachtbaren Unterschiede zwischen Gesellschaften aus ihrem
unterschiedlichen Entwicklungsgrad zu erklären. Rezente
Gesellschaften, die ethnographisch dokumentiert wurden,
konnten so den gleichen Entwicklungsstufen zugeordnet werden
wie historische Gesellschaften zu bestimmten Zeitpunkten in der
Vergangenheit. Die "primitiven", d.h. ursprünglichen
Gesellschaften - der Begriff war damals gängig und hatte nicht
den rein abwertenden Charakter, den wir ihm heute zuschreiben
Foto: Lewis Henry Morgan, Quelle:
wikimedia.org
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- boten aus dieser Perspektive wertvolle Einblicke in die Menschheitsentwicklung und damit auch in die eigene
Vergangenheit der "fortschrittlichen" Gesellschaften Europas und der USA.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Victoria_%28Vereinigtes_K%C3%B6nigreich%29
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Darwin
2.1.1 Lewis Henry Morgan und Henry Maine
Zentrale Figuren des klassischen Evolutionismus waren der
Amerikaner Lewis Henry Morgan[1] (1818-81) und der Brite
Henry Sumner Maine[2] (1822-88). Sie repräsentieren beide das
typische evolutionistische Interesse an der Frage nach den
Ursprüngen der gesellschaftlichen Institutionen und der
Gesellschaft an sich (Maine 1907 [1861]; Morgan 1877).
Morgan und Maine stimmten in ihrer Grundannahme überein,
dass die menschliche gesellschaftliche[3] Organisation in
ihren Anfängen aus verwandtschaftlichen Beziehungen
heraus erwachsen sei. Entgegengesetzte Standpunkte nahmen
sie bezüglich der Frage ein, welche die erste Form der
Familienorganisation gewesen sei. Während Morgan sie für
matrilinear hielt (da den Menschen die physiologische Rolle der
Vaterschaft zunächst unklar gewesen sei), nahm Maine an, die
früheste strukturierte Form der Familie sei patrilinear gewesen. Er
behauptete dies jedoch nur im Hinblick auf die indogermanischen
Gesellschaften, deren Evolution er zu rekonstruieren suchte.
Morgan vertrat den weiterreichenden Anspruch, ein einheitliches
Modell der gesamten Menschheitsentwicklung vorzulegen.
Abgesehen von diesem Widerspruch waren sich Morgan und
Maine aber einig, dass es im Verlauf der sozialen Evolution einen
allmählichen Übergang von verwandtschaftsbasierten
Organisationsformen zu anderen Formen gegeben habe, durch
Foto: Henry Sumner Maine, Quelle:
den der Staat[4] entstanden sei. Verwandtschaft und
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angeborener Status seien im Verlauf dieser Entwicklung als
strukturierendes Prinzip durch Territorialität, Besitz und
Vertragsbeziehungen abgelöst worden. Maine nannte diese große Entwicklung in einer berühmten
Formulierung "a movement from Status to Contract" (Maine 1907 [1861]: 174).
Morgans (1877) evolutionistische Theorie übte mit ihrer materialistischen Grundhaltung großen Einfluss auf das
Geschichtsverständnis von Karl Marx[5] und Friedrich Engels[6] aus und wurde in der marxistischen Theorie
nahezu unverändert aufgegriffen. Diese Assoziation mit marxistischen Ideen wirkte sich umgekehrt auf die
Rezeption von Morgan in der KSA aus.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Lewis_Henry_Morgan
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Sumner_Maine
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-40.html
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels
2.1.2 Edward B. Tylor
Der einflussreichste Vertreter der viktorianischen Anthropologie in
Großbritannien war Edward Burnett Tylor[1] (1832-1917). Tylor
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entwickelte zwar kein so umfassendes Entwicklungsmodell wie
Foto: Edward Burnett Tylor, Quelle:
Morgan und Maine[2]. Er ist aber vor allem aufgrund seiner
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frühen Definition des Begriffs Kultur[3], die das moderne
anthropologische Verständnis von Kultur vorweg nimmt, bis heute von Bedeutung. Diese Definition lautet:
"Culture or civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge,
belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society"
(Tylor 1871, Bd. I: 1). Das besondere Augenmerk auf Kultur unterschied Tylor von seinen Zeitgenossen
wie Morgan oder Maine. Indem er aber auch die Gesellschaft in seine Definition einbezog, etablierte er
zugleich die Auffassung, dass Kulturelles und Soziales untrennbar miteinander verbunden sind.
Wichtig für Tylors Spielart von Evolutionismus ist das von ihm entwickelte Konzept der "survivals" (Tylor 1871,
Bd. I: 14-16), das er folgendermaßen erklärt: "These are processes, customs, opinions, and so forth, which
have been carried on by force of habit into a new state of society different from that in which they had their
original home, and they thus remain as proofs and examples of an older condition of culture out of which a
newer has been evolved" (Tylor 1871, Bd. I: 15). Survivals (in der deutschen Übersetzung: "Überlebsel") bieten
laut Tyler also Einblicke in einen früheren Zustand der Gesellschaft. Diese Idee eignet sich gut dazu, den
Wandel der Perspektiven zu illustrieren, der sich vom Evolutionismus zum Funktionalismus[4] vollzog.
Während der Evolutionismus diachron orientiert war, sich also für Veränderungen in der Zeit
interessierte, verstand sich der Funktionalismus, der ab etwa 1920 das Fach dominierte, als strikt
synchron: Ihm ging es um die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Institutionen
zu einem gegebenen Zeitpunkt. Bronislaw Malinowski[5] verwarf daher das Konzept der Survivals, für das er
nur Spott übrig hatte (Malinowski 1975: 68ff.).
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Tylor
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 2.4
[5] Siehe Kapitel 2.4.2
2.1.3 Das Ende des klassischen Evolutionismus
Die evolutionistischen Modelle wurde vor allem von "armchair anthropologists" formuliert, die in der
Studierstube mit Datenmaterial aus zweiter Hand arbeiteten. Später gingen AnthropologInnen zunehmend dazu
über, ihre Daten selbst im Feld zu sammeln, indem sie sich intensiv mit lokalen Einzelfällen
auseinandersetzten, anstatt aus dem Vergleich bruchstückhafter Informationen von da und dort ihre
weltumspannenden Theoriegebäude zu errichten.
Auch in der Blütezeit des klassischen
Evolutionismus gab es aber bereits andere
Zugänge: Lewis Henry Morgan[1] etwa, der viel mit
den reinen "armchair anthropologists" gemeinsam
hatte, betrieb gründliche Feldforschungen bei der
Stammeskonföderation der Iroquois[2] (Irokesen) in
den nordöstlichen USA und veröffentlichte ein
ethnographisches Werk über sie ( Morgan 1851[3]).
Seine genaue Kenntnis der Iroquois war auch dafür
verantwortlich, dass sie in seinen späteren Werken
(so auch Morgan 1877) eine zentrale Rolle spielten.
Die Institution der Feldforschung[4] und der
teilnehmenden Beobachtung[5] war also im
klassischen Evolutionismus nicht unbekannt; sie
hatte aber noch nicht den zentralen und
verbindlichen Charakter, den sie dann vor allem
ab dem Funktionalismus[6] einnahm.
Überwiegend kamen die ethnographischen Daten
damals noch von wenig spezialisierten Beobachtern
wie Reisenden, Händlern oder Missionaren.
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Das Interesse an einer genaueren Kenntnis der
"primitiven" Gesellschaften, für das der klassische
Evolutionismus ganz entscheidend mitverantwortlich
war, trug paradoxerweise dann dazu bei, dass er
seine Position als dominierendes Paradigma des
entstehenden Faches verlor. Mit zunehmender Kenntnis ethnographischer Details und lokaler historischer
Entwicklungen stellte sich bald heraus, dass die evolutionistischen Theoriekonstrukte mit dem
zunehmenden empirischen Wissen im Widerspruch standen. Dementsprechend wurden um die Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert die Entwicklungsmodelle jener ersten Phase anthropologischer Theorienbildung
einer scharfen Kritik unterzogen. Als "conjectural history", die auf Spekulation statt auf fundiertem empirischem
Wissen beruhte, wurden diese Modelle zur Gänze verworfen.
Abbildung: "Costumes de Différents Pays, Sauvage
Iroquois", Jacques Grasset de Saint-Sauveur (ca. 1797),
Quelle: wikimedia.org
Abgelöst wurde der klassische Evolutionismus von zwei großen Paradigmen, die auf andere Weise
historisch orientiert waren:
dem Diffusionismus[7], der im deutschen Sprachraum dominierte,
und dem Historischen Partikularismus[8], der vor allem in den USA das Fach beherrschte.
"Unterschwellig" wurden evolutionistische Denkansätze jedoch weitergeführt. In den 1960er Jahren traten sie in
den USA in Form des Neoevolutionismus[9] als eine von mehreren damals aktuellen theoretischen Positionen
für einige Zeit wieder in den Vordergrund.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Iroquois
[3] http://openlibrary.org/books/OL7147765M/League_of_the_Ho-de%CC%81-no-sau-nee_or_Iroquois
[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] Siehe Kapitel 1.3.2
[6] Siehe Kapitel 2.4
[7] Siehe Kapitel 2.2
[8] Siehe Kapitel 2.3
[9] Siehe Kapitel 2.6
2.2 Diffusionismus und Kulturkreislehre
Für den Evolutionismus[1] erklärten sich kulturelle Ähnlichkeiten daraus, dass verschiedene Gesellschaften
eine gleichartige Entwicklung durchliefen: Ähnlich waren sie dann, wenn sie sich auf der gleichen
Entwicklungsstufe befanden. Der Diffusionismus[2] vertrat einen anderen Erklärungsansatz: Kulturelle
Übereinstimmungen waren auf historische Beziehungen zurückzuführen. Entweder es gab einen
gemeinsamen historischen Ursprung, oder Gemeinsamkeiten waren das Ergebnis von Kulturkontakten. Der
Diffusionismus interessierte sich im Wesentlichen für die räumliche Verteilung und Mobilität von
Kulturelementen. Im Vordergrund standen hierbei oft materielle Objekte in Museen, aber auch soziale Formen
oder Glaubensvorstellungen, deren räumliche Verteilung als Ergebnis historischer Prozesse gedeutet wurde.
Dabei ging der Diffusionismus allerdings nicht weniger spekulativ vor als der Evolutionismus.
Ausgangspunkt war die Annahme der historischen Existenz
kultureller Zentren, von denen aus Kulturelemente sich
verbreiteten und vermischten. Solche Elemente (wie z.B.
Dekorformen von Artefakten) konnten sich den diffusionistischen
Theorien zufolge bis zu einem gewissen Grad unabhängig von
ihren "Kulturträgern" (also den Menschen, die sie praktizierten)
entwickeln und durch Kulturkontakte von einer Gruppe in die
nächste diffundieren. Aus den Übereinstimmungen oder
Ähnlichkeiten von Kulturelementen wollte der Diffusionismus die
historische Ausbreitung dieser Elemente rekonstruieren. Zur
Rekonstruktion dieser Prozesse diente das Konzept der
"Kulturkreise"[3]: großer Areale, die durch bestimmte
Kulturelemente mit gemeinsamem Ursprung gekennzeichnet
waren.
Trotz einzelner Vertreter etwa in Großbritannien war das
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Interesse für diese Zusammenhänge im Wesentlichen eine
Foto: Pater Wilhelm Schmidt (1931), Quelle:
Eigenheit des deutschen Sprachraums, wo der Diffusionismus in
wikimedia.org
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das dominierende
Paradigma war. Die sogenannte "Wiener Schule" der kulturhistorischen Völkerkunde (manchmal auch
"Kulturkreislehre" genannt) mit den Patres Wilhelm Schmidt[4] und Wilhelm Koppers[5] an der Spitze war
eine extreme diffusionistische Richtung, die in der Zwischenkriegszeit sehr einflussreich war. Erst einige Zeit
nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie als unhaltbar zu Grabe getragen.
In der wissenschaftlichen Sprache ist der Begriff des Kulturkreises nur dann angemessen, wenn es um das
genannte, heute längst überholte theoretisch- methodische Konzept des Diffusionismus geht. In der
Alltagssprache dagegen hat der Begriff in den letzten Jahren wieder verstärkt Anwendung gefunden, am
häufigsten in rechten politischen Diskursen über kulturelle Differenz und die unerwünschte Anwesenheit von
MigrantInnen. Diese Zusammenhänge sollte man sich bewusst machen, bevor man das Wort "Kulturkreis"
unkritisch verwendet.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.1
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Diffusionismus
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturkreis
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Schmidt_%28Ethnologe%29
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Koppers
2.3 Franz Boas und der US-amerikanische Kulturrelativismus
Der historische Partikularismus war die erste
wesentliche Spielart des Kulturrelativismus und
half diesen als eine in den USA anhaltend
einflussreiche Haltung zu etablieren. Wichtigster
Begründer des historischen Partikularismus war
Franz Boas[1], der ihn als Gegenposition zum
klassischen Evolutionismus[2] aufbaute.
Boas[3] (1858-1942) wanderte 1887 aus
Deutschland in die USA ein. Vom deutschen
Idealismus in der Tradition Johann Gottfried
Herders geprägt, gab er der amerikanischen
Anthropologie nachhaltige Impulse. Angesichts
des Scheiterns der großen evolutionistischen
Modelle trat Boas dafür ein, sich der
empirischen und historischen Komplexität des
Einzelfalls zu widmen. Eine klare gemeinsame
Entwicklungslinie der gesamten Menschheit gab
es für Boas ebenso wenig wie einen
gemeinsamen Maßstab, nach dem einzelne
Gesellschaften als mehr oder weniger weit
fortgeschritten eingeordnet werden konnten. Jede
Gesellschaft besaß laut Boas ihre eigene Kultur,
ihre eigenen Wertmaßstäbe und ihre einzigartige
historische Entwicklung.
Die Aufgabe der KSA definierte er bescheidener
als die Evolutionisten: Es ging darum, auf solider
ethnographischer Grundlage kulturelle Formen in
ihrer historischen Bedingtheit zu beschreiben und
zu verstehen - eine klare Absage an die großen
spekulativen Theoriegebäude der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.
Foto: Franz Boas (ca. 1915), Quelle: wikimedia.org
Die Richtung, die Boas dem Fach gab empiristisch, historisch und kulturrelativistisch - wurde von seinen SchülerInnen weitergeführt. Unter ihnen
waren Ruth Benedict[4] und Margaret Mead[5], die ersten prominenten weiblichen Vertreterinnen des
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Faches, sowie Melville Herskovits[6], Alfred L. Kroeber[7], Robert Lowie[8], Edward Sapir[9], Clark
Wissler[10] und andere. Sie bestimmten die US-amerikanische Anthropologie bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts. Dem Einfluss von Boas ist es, wie Eriksen (2010: 16) unterstreicht, auch zuzuschreiben, dass die
materialistische Haltung, die Morgan vertreten hatte, in den USA in den Hintergrund gedrängt wurde.
Kulturrelativistische und idealistische Positionen sowie eine Sicht, die das Kulturelle gegenüber dem Sozialen
hervorhob, blieben auch nach dem 2. Weltkrieg in der amerikanischen "Cultural Anthropology"[11]
einflussreich, es gab aber verstärkt auch andere konkurrierende Ansätze.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Boas
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-54.html
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Ruth_Benedict
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Margaret_Mead
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Melville_J._Herskovits
[7] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_L._Kroeber
[8] http://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Lowie
[9] http://en.wikipedia.org/wiki/Edward_Sapir
[10] http://en.wikipedia.org/wiki/Clark_Wissler
[11] Siehe Kapitel 1.1.10
2.4 Der britische Funktionalismus
Während Franz Boas[1] als Alternative zum Evolutionismus[2] eine historisch- idealistische Haltung vertrat
und die KSA so in eine Richtung lenkte, die stark durch das deutsche Konzept der Geisteswissenschaften
geprägt war, formulierten die beiden großen Vertreter der ersten Generation des britischen Funktionalismus,
Bronislaw Malinowski[3] und A. R. Radcliffe-Brown[4], eine andersgeartete Gegenposition zum klassischen
Evolutionismus, den sie ebenso explizit ablehnten.
Sie nahmen eine dezidiert ahistorische Haltung ein, die sich - vor allem bei Radcliffe-Brown - stark an das
Vorbild der Naturwissenschaften anlehnte. Wenn Thomas Hylland Eriksen (2010: 16) den Abschnitt zum
Funktionalismus unter die Überschrift "The Two British Schools" stellt, so bezieht er sich damit auf die
Gegensätze zwischen diesen beiden Gründervätern, die sich vom jeweils anderen und dessen Positionen
ausdrücklich distanzierten. Wichtiger als die unterschiedlichen Akzente sind aber die Übereinstimmungen, die
den Funktionalismus britischer Prägung charakterisieren. Er ging in beiden Spielarten davon aus, dass das
Soziale ein integriertes System darstellte, in dem alle Elemente zusammenspielten und untrennbar
miteinander verbunden waren. Es konnte daher auch nur im holistischen Blick auf das Ganze untersucht
werden. Soziale Kohäsion und Gleichgewicht im System stellten in dieser Sicht den Normalzustand dar;
Ungleichgewicht und Wandel waren dementsprechend schwer erklärbar (etwa aufgrund von Einwirkung von
außerhalb).
Mit dieser Grundannahme verbunden war eine ebenso grundlegende synchrone Perspektive, die nach den
Wechselbeziehungen zwischen gleichzeitig beobachtbaren Institutionen und Praktiken fragte und nicht (wie die
diachrone Perspektive) nach ihren Veränderungen in der Zeit. Für den Funktionalismus konnte eine Institution
nur aus der Rolle erklärt werden, die sie im sozialen Ganzen der Gegenwart spielte, also aus ihrer Funktion.
Aus ihrem historischen Werden - für das es ohnehin in den "primitiven" Gesellschaften meist keine
verlässlichen Quellen gab - konnte sie nicht erklärt werden. Für den Evolutionismus hingegen erklärten sich
alle sozialen Institutionen aus ihren Ursprüngen und ihrer allmählichen Entwicklung in der Zeit. Der
Funktionalismus dagegen betrachtete die Vergangenheit als irrelevant, sie konnte nichts erklären.
Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Varianten des britischen Funktionalismus war die strikt induktive,
empiristische Haltung, mit der Malinowski und Radcliffe- Brown an die Ethnographie herangingen. In ihr wurzelt
auch das von Malinowski[5] entwickelte Konzept der Feldforschung als participant observation[6].
Der Gegensatz zwischen synchroner und diachroner Perspektive wird besonders deutlich in der Kritik
Malinowskis (1975: 68-71) am evolutionistischen Konzept der "survivals" - laut Tylor Kulturelemente, die
irgendwie nicht in den Zustand ihrer Gesellschaft passten, weil sie Überreste eines älteren Zustandes
darstellten (vgl. Kapitel 2.1.2). Für Malinowski war diese Idee absurd: Eine Pferdekutsche sei in einer modernen
Großstadt neben dem Auto irgendwie ein Fremdkörper. War sie deshalb ein survival? Nein, denn sie sei nicht
einfach als das erstarrt, was sie früher einmal gewesen war. Sie hatte vielmehr ihre Funktion verändert und sei
nun sehr wohl harmonisch und funktionell integriert: "Solch eine überlebte Art der Fortbewegung dient heute
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einer rückwärtsgerichteten Gefühlsregung ... ; häufig, so bin ich geneigt zu argwöhnen, tritt sie in Funktion,
wenn der Insasse leicht angetrunken oder sonst romantisch gestimmt ist" (Malinowski 1975: 69).
Funktionalistische Ansätze gab es nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen nationalen
Traditionen sowie in anderen Fächern (etwa in der Soziologie). Am konsequentesten wurden sie aber in der
britischen Tradition vertreten; hier hatten sie auch den größten Einfluss. Gemeinsam prägten Malinowski und
Radcliffe-Brown ab 1920 die britische "Social Anthropology". Ihr Einfluss hielt, ähnlich wie jener von Boas in
den USA, über ihre unmittelbaren Schüler hinaus an, auch wenn man in den 1950er Jahren allmählich begann
vom Funktionalismus abzurücken.
Foto: "Resting Fiaker coachmen in Vienna, Austria" (2003), Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.4.2
[4] Siehe Kapitel 2.4.1
[5] Siehe Kapitel 2.4.2
[6] Siehe Kapitel 1.3.2
2.4.1 A. R. Radcliffe-Brown
Alfred Reginald Radcliffe-Brown[1] (1881-1955) war eindeutig
der strengere und konsistentere Theoretiker unter den
Begründern des britischen Funktionalismus[2]. Die logische
Klarheit seiner Formulierungen machte allerdings die Grenzen
seiner theoretischen Leitideen auch deutlicher sichtbar. Die
holistische Auffassung von der Gesellschaft als ein funktionales
Ganzes drückte er in seiner berühmten Organismus-Analogie
aus. Gesellschaft setzte sich für ihn so wie ein lebender
Organismus aus bestimmten Elementen zusammen, die in einer
Struktur angeordnet seien: Das Leben eines Organismus werde
durch das Funktionieren seiner Elemente aufrechterhalten.
Analog dazu beruhe die Kontinuität einer sozialen Struktur auf
der Funktion ihrer Elemente. So wie die Organe durch ihre
Funktion das Leben des Gesamtorganismus sicherstellten,
leisteten soziale Institutionen durch ihre Funktion einen
notwendigen Beitrag zur sozialen Kontinuität (Radcliffe-Brown
1951 [1935]: 178ff.).
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Ein solches Verständnis von Struktur und Funktion beruht
auf einer strikt synchronen und ahistorischen Betrachtung.
Die Tatsache, dass alles Soziale und Kulturelle in historische
Prozesse eingebunden ist und sich in diesen Prozessen verändert, hat darin keinen Platz. Darin besteht die
vielleicht größte Schwäche des funktionalistischen Ansatzes Radcliffe-Browns.
Foto: Alfred Radcliffe-Brown, Quelle:
wikimedia.org
Die Organismus-Analogie verweist darauf, dass Radcliffe-Browns wissenschaftliches Leitbild jenes der
Naturwissenschaften war. Die KSA war für ihn eine Naturwissenschaft des Sozialen, die nach der Formulierung
allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten strebte - ein hoher Anspruch, mit dem Radcliffe-Brown klar gescheitert
ist.
Zu seinen wichtigsten Schülern zählten Edward E. Evans-Pritchard[3] und Meyer Fortes[4], beide zentrale
Vertreter der zweiten Generation des britischen Funktionalismus. Sie wandten sich vom Leitbild der
Naturwissenschaften ab. Evans-Pritchard (1950) sagte sich ab 1950 auch sehr deutlich von der ahistorischen
Haltung des Funktionalismus los.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Radcliffe-Brown
[2] Siehe Kapitel 2.4
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/E._E._Evans-Pritchard
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Meyer_Fortes
2.4.2 Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski[1] (1884-1942), geboren in Krakau und ab 1910 in London, war als Theoretiker weit
weniger ergiebig. Sein Funktionsbegriff war weniger konsistent als jener Radcliffe-Browns. Er betonte zwar
auch die holistische Perspektive und das funktionale Zusammenspiel von sozialen Praktiken und Institutionen
in einem Gesamtsystem. Während aber für Radcliffe-Brown[2] die Funktion jedes Elements in seinem Beitrag
zur Aufrechterhaltung der Gesamtstruktur lag, leitete Malinowski die Funktion aus der Befriedigung der
individuellen menschlichen Bedürfnisse ab, die für ihn in der Biologie wurzelten. Daraus folgte eine erhöhte
Aufmerksamkeit für den individuellen Akteur; auch das Kulturelle spielt bei ihm eine viel wichtigere Rolle als bei
Radcliffe-Brown, bei dem es ziemlich im Hintergrund steht.
Wenn auch kein brillanter Theoretiker, so war Malinowski doch ein sehr inspirierender und charismatischer
Lehrer, der (zum Teil gemeinsam mit Radcliffe- Brown) eine ganze Generation von AnthropologInnen prägte. Er
war auch ein großer Feldforscher[3], der subtile ethnographische Beschreibungen lieferte. Seine besondere
Bedeutung liegt vor allem in der Vorbildwirkung seiner Ethnographie[4], die er ab 1914 auf den (heute zu
Papua-Neuguinea gehörenden) Trobriand-Inseln durchführte. Er gilt als Begründer der Methode der
teilnehmenden Beobachtung[5], eines zentralen Konzeptes der modernen anthropologischen Feldforschung
(vgl. Kapitel 1.3.2). Diese Zuschreibung ist nicht unberechtigt, trägt jedoch auch deutliche mythische Züge (vgl.
Kuper 1996: 9f.). Thomas Hylland Eriksen (2010: 17) zeigt, dass es auch vor Malinowski bereits Beispiele für
ähnlich intensive Ethnographie gibt. Malinowski schrieb allerdings die Anforderungen für einen solchen Zugang
fest und etablierte die participant observation damit als verbindliches Modell für die Datenerhebung in
der KSA.
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Foto: Bronislaw Malinowski mit einer Gruppe TrobrianderInnen (ca. 1918), Quelle:
wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-58.html
[2] Siehe Kapitel 2.4.1
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Argonauts_of_the_Western_Pacific
[5] Siehe Kapitel 1.3.2
2.5 Claude Lévi-Strauss und der französische Strukturalismus
Nach dem 2. Weltkrieg entstand in Frankreich der
(anthropologische) Strukturalismus, der auf strukturalistischen
Ansätzen in der Sprachwissenschaft aufbaute. Er ist mehr als
alle anderen Richtungen das Werk einer einzigen Person.
Claude Lévi-Strauss[1] (1908-2009) entwickelte diesen Ansatz
praktisch im Alleingang und prägte damit die französische
Anthropologie auf Jahrzehnte. Der Strukturalismus wurde von
seinen SchülerInnen vor allem in Frankreich weitergeführt und
wird von manchen AnthropologInnen bis heute vertreten. Er hatte
aber auch außerhalb Frankreichs eine große Wirkung.
Der Strukturalismus ist klar universalistisch ausgerichtet. Er
fragt nach universalen Grundstrukturen des menschlichen
Denkens, die eine strukturalistische Analyse hinter den
empirischen Phänomenen erkennen kann. Als Material für eine
solche Analyse dienten durchaus partikulare kulturelle
Erscheinungsformen wie z.B. die Gesichts-Tattoos der Maori, die
Lévi-Strauss (1978: 267ff.) mit Malereien von der amerikanischen
Nordwestküste und Gesichtsbemalungen aus Brasilien verglich,
um ihre gemeinsame formale Logik aufzudecken. Andere
Themen, anhand derer Lévi-Strauss die Strukturen des
ordnenden menschlichen Denkens verfolgte, waren etwa
Verwandtschaft, Totemismus und das weite Feld der
Mythologie[2].
Foto: Tätowierter Maori (1913), Quelle:
wikimedia.org
Mit seiner anti-empiristischen Grundhaltung formulierte der
Strukturalismus eine wichtige Gegenposition zum
Funktionalismus[3]. Er wurde in den 1960er Jahren von einzelnen britischen AnthropologInnen wie Edmund
Leach[4] rezipiert und gab einen wesentlichen kritischen Impuls in der Abwendung vom Funktionalismus.
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(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_L%C3%A9vi-Strauss
[2] Siehe Kapitel 3.7
[3] Siehe Kapitel 2.4
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Edmund_Leach
2.6 Symbolische Anthropologie und konkurrierende Ansätze
Ab den 1960er Jahren diversifizierte sich die anthropologische Theorienbildung zunehmend und kann nicht
mehr als klare Abfolge von Theorieansätzen beschrieben werden. Um diese Zeit kam es unter anderem in den
USA zu einer Neubelebung materialistisch-evolutionistischer Ansätze im Neoevolutionismus und in der
Kulturökologie. In Frankreich, aber auch anderswo, wurden marxistische Ansätze einflussreich (Eriksen
2010: 23f.).
Die nachhaltigste Wirkung aber hatten die etwa zeitgleich entstehenden Strömungen der symbolischen und
kognitiven Anthropologie. Diese idealistisch ausgerichteten Ansätze waren vor allem an
Denkzusammenhängen und Weltbildern[1] interessiert und führten die kulturrelativistische Tradition in den
USA[2] weiter. Ihr Ziel war es, eine Kultur in ihrer inneren Logik zu erfassen. Neben David Schneider[3]
(1918-1995) war der wohl bekannteste unter den VertreterInnen einer symbolischen Anthropologie Clifford
Geertz[4] (1926-2006), der wie Schneider Kultur als "a system of symbols and meanings" verstand. Er prägte
für seinen Ansatz den Begriff der "interpretive anthropology", der interpretativen Anthropologie.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1.4
[2] Siehe Kapitel 2.3
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/David_M._Schneider
[4] Siehe Kapitel 2.7
2.7 Clifford Geertz und die Folgen
In The Interpretation of Cultures (1973) propagierte Clifford Geertz[1], dass es Aufgabe der Anthropologie sei,
kulturelle Phänomene im Kontext eines kulturellen Systems zu beschreiben und interpretierend (also
hermeneutisch[2]) zu deuten. Wir könnten, so Geertz, immer nur subjektiv interpretieren, da wir selbst ja auch
in kulturelle Zusammenhänge eingebunden seien. Interpretieren heiße demnach aus einem kulturellen
Zusammenhang in einen anderen zu übersetzen. Dies sei ein mehrstufiger Vorgang, an dem unsere
InformantInnen beteiligt seien: Sie interpretieren ihre kulturelle Realität für uns, und wir interpretieren und
systematisieren ihre Interpretationen.
Seine Sicht von Kultur[3] formulierte Geertz so: "Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended
in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be
therefore not an experimental science in search of law but an interpretative in search of meaning" (Geertz 1973:
5). Diese vielzitierte Passage ist natürlich keine Definition, sondern eine wenig präzise, aber typisch Geertz’sche
suggestive Metapher. Die Reichweite seines Denkens ging weit über die KSA hinaus und wirkt vielfach bis
heute fort. Dieser Einfluss ist nicht immer vorteilhaft, auch wenn seine anti-positivistische Grundhaltung zu
begrüßen ist. Seine Rezeption hat entscheidend zur breiten Etablierung eines fragwürdigen
Kulturbegriffes beigetragen, den man in öffentlichen Diskursen sowie gelegentlich in anderen Disziplinen
antreffen kann.
Geertz versteht Kultur als autonomes, in sich homogenes Bedeutungssystem, in dem alle Menschen die
gleichen kulturellen Annahmen teilen. Dieses Verständnis impliziert klare und eindeutige kulturelle Grenzen,
die einzelne Kulturen voneinander trennen und über die hinweg kulturelle Übersetzung stattfindet, auch wenn
Geertz dies nicht so formuliert. Aus dem heutigen Fachverständnis ist die verbreitete Annahme eindeutiger
kultureller Grenzen - das sogenannte "Container-Modell"[4], das u.a. aus einer verflachten Übernahme
Geertz’scher Ideen von Kultur resultiert - sehr problematisch. Die heutige KSA versteht Kultur nicht als
homogen und harmonisch integriert; ebenso wenig kann man sie als eindeutig abgrenzbar betrachten.
Wichtig und produktiv ist das hermeneutische Konzept der "thick description" (ins Deutsche übersetzt als
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"dichte Beschreibung"[5]), mit dem Geertz die ethnographische Arbeit charakterisiert. Damit meint er das
sorgfältige und vielschichtige interpretierende Beschreiben empirisch beobachtbarer Handlungsabläufe, das
Sinngebungen und Bedeutungszuschreibungen offenlegt. Beschreibung und Interpretation sind darin
untrennbar verbunden (Geertz 1973; 1987).
Die darauf aufbauende Auffassung, Ethnographien seien in ihrem konstruierten Charakter grundsätzlich nicht
von literarischen Werken zu unterscheiden (Geertz 1988), wurde von anderen zur sogenannten
"postmodernen" oder "literarischen Wende" (literary turn) der 1980er Jahre weiterentwickelt (Clifford und
Marcus 1986; Marcus und Fischer 1986). Auch wenn die postmoderne Kritik bald als exzessiv beurteilt wurde,
hat sie das Selbstverständnis des Faches mit ihrer Forderung nach Reflexivität - also nach der kritischen
Einbeziehung der Rolle der/des AnthropologIn in der ethnographischen Konstruktion von Realität - doch
entscheidend verändert. Mit der Überwindung übermäßig idealistischer postmoderner Positionen erfolgte seit
den 1990er Jahren eine Hinwendung der KSA zu Perspektiven auf Globalisierung und Transnationalismus, die
gemeinsam mit der methodischen Entsprechung der multi-sited ethnography[6] das Fach bis heute
bestimmen.
Foto: "Stack of containers", Quelle: wikimedia.org
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-65.html
[2] Siehe Kapitel 1.4.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 1.1.5
[5] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-82.html
[6] Siehe Kapitel 1.3.1
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2.8 Literatur
Clifford, James und George Marcus (Hg.) 1986: Writing Culture: The Poetics und Politics of Ethnography.
Berkeley: University of California Press.
Evans-Pritchard, E. E. 1950: Social Anthropology: Past and Present. In: Man 50 (9): 118-124.
Geertz, Clifford 1973: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York: Basic Books.
Geertz, Clifford 1987: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Geertz, Clifford 1988: Works and Lives: The Anthropologist as Author. Stanford: Stanford University Press [dt:
Die künstlichen Wilden: Anthropologen als Schriftsteller. München: Hanser, 1990].
Lévi-Strauss, Claude 1978: Strukturale Anthropologie I (stw 226). Frankfurt/M.: Suhrkamp [orig. 1958].
Maine, Henry Sumner 1907 [1861]: Ancient Law. New impression, with introduction and notes by Frederick
Pollock. London: Murray.
Malinowski, Bronislaw 1975: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (stw 104). Frankfurt/M.: Suhrkamp [orig.
1944].
Marcus, George und Michael Fischer 1986: Anthropology as cultural critique. Chicago: Chicago University
Press.
Morgan, Lewis Henry 1851: League of the Ho-dé-no-sau-nee, or Iroquois. Rochester, NY: Sage.
Morgan, Lewis Henry 1877: Ancient Society: Or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery
through Barbarism to Civilization. New York: Holt.
Radcliffe-Brown, A. R. 1952 [1935]: "On the Concept of Function in Social Science", in ders., Structure and
Function in Primitive Society. London: Cohen & West, 178-187.
Tylor, Edward 1871: Primitive Culture: Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion,
Art, and Custom. 2 Bde. London: Murray.
(WK & MR)
2.8.1 Weiterführende Literatur
Es gibt eine Fülle an Werken zur Theoriengeschichte des Faches. Empfehlenswert sind die auch von
Thomas Hylland Eriksen zitierten Arbeiten von Barnard (2000) und Barth et al. (2005). Die meisten älteren
Werke (bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts) sind nach dem Erlöschen des Urheberrechts im Volltext online
verfügbar (etwa auf archive.org[1] oder books.google.com[2]). Übersichtliche theoriegeschichtliche
Kurzdarstellungen bieten auch die am Institut für Kultur- und Sozialanthroplogie erstellten Lernunterlagen
"Einführung in die empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie"[3] sowie "Qualitative
Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie"[4].
Barnard, Alan 2000: History and Theory in Anthropology. Cambridge: Cambridge University Press.
Barth, Fredrik, Andre Gingrich, Robert Parkin und Sydel Silverman 2005: One Discipline, Four Ways: British,
German, French, and American Anthropology. Chicago: University of Chicago Press.
Kuper, Adam 1996: Anthropology and Anthropologists: The Modern British School. 3. Auflage. London:
Routledge.
(WK & MR)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://archive.org
[2] http://books.google.com
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-titel.html
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-titel.html
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3 Themenbereiche
Auf den folgenden Seiten werden ausgewählte Themenbereiche und Forschungsfelder der Kultur- und
Sozialanthropologie kurz vorgestellt. Detailinformationen können über die gesetzten Verlinkungen sowie
die am Ende jedes Themenbereichs angeführte Literaturliste gefunden werden.
3.1 Religion
Die Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigt sich mit der
Vielfalt von Glaubensvorstellungen und spirituellen Praktiken,
mit deren kulturellen Kontexten und Verflechtungen sowie deren
Dynamiken innerhalb globaler Zusammenhänge[1] (vgl. auch
Schmidt 2008). Neben der Untersuchung von unterschiedlichen
Dimensionen religiöser Phänomene und ihren Verflechtungen mit
Ritualen[2] und Mythen[3] gilt besondere Aufmerksamkeit den
Zusammenhängen mit anderen Aspekten der Gesellschaft: So ist
Religion auf vielfältige Weise mit sozialen Beziehungen,
politischen und ökonomischen Prozessen, Wertvorstellungen,
Moral und Ethik, oder Konzepten von Gesundheit und Krankheit
verflochten. Die verschiedenen theoretischen Perspektiven in diesem
Themenfeld sind wiederum eng mit der Geschichte der Kultur-und
Sozialanthropologie verbunden (vgl. u.a. Bowie 2000, Morris 1987,
Schmidt 2008, Kremser und Futterknecht[4]).
Abbildung: Symbol des Yoruba-Gottes
Legba (Haiti), Quelle: wikimedia.org
Die Vielfalt der Religionen als Forschungsgegenstand der Kultur- und Sozialanthropologie umfasst
folgende Themen:
lokale und regionale Religionen
transregionale religiöse Prinzipien und Weltbilder
Varianten und spezifische lokale Praktiken im Kontext von Weltreligionen
Prozesse der Verbreitung und Veränderung von religiösen Gefügen
neue religiöse Bewegungen
verschiedene Formen von Synkretismus und interreligiösen Beziehungen
das Spektrum religiöser Kultur in einer Gesellschaft
religiöse Diversität[5] in transnationalen Kontexten
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6
[2] Siehe Kapitel 3.2
[3] Siehe Kapitel 3.7
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.html
[5] Siehe Kapitel 1.2.1
3.1.1 Religion und Ritual
Religionen zeichnen sich in der Regel durch ihre ausgeprägte
performative Ritual-Praxisaus. Dabei unterscheiden sich
jedoch religiöse Rituale[1] von nicht religiösen dadurch, dass
erstere meist im Kontext metaphysischer Vorstellungen
stattfinden, also in Zusammenhang mit einem Glauben an die
Existenz von (einem oder mehreren) spirituellen Wesen,
Gottheiten, Geistern oder ähnlichen Entitäten. Beispielsweise
sogenannte Übergangsrituale[2] (rites de passage) sind häufig
auch religiös definiert: Sie begleiten Menschen beim Übertritt von
einem sozial definierten Kontext in einen anderen und binden sie
auf diese Weise in den verschiedenen Stadien eines Lebens
immer wieder in religiöse Kontexte ein (z.B. Taufe, Firmung,
Hochzeit etc.).
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Rituale stehen auch immer in Zusammenhang mit
bestimmten Wertvorstellungen und Normen sowie mit dem
Menschenbild bzw. dem Konzept der Person. Die Person wird
in jedem religiösen Zusammenhang spezifisch definiert - etwa
hinsichtlich ihrer ontologischen Komponenten wie z.B. Körper, Seele, Geist, Energie usw. Solche
Menschenbilder hängen darüber hinaus mit religiösen Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit
zusammen. Religiöse Rituale reichen in diesem Sinne von per Trance[3] herbeigeführten Loslösungen der
Seele vom Körper bis hin zur rituellen und spirituellen Heilung[4] von Krankheiten. Weiters sind religiöse
Rituale in Natur[5], Jahreszyklus und (land)wirschaftliche Tätigkeiten eingebunden, z.B. als kalendarische
Rituale[6], Agrarrituale oder Tauschrituale im Sinne von Catherine Bell[7] (1997). Solche Rituale spiegeln auch
die Verwobenheit religiöser Strukturen mit ökonomischen Zusammenhängen[8] wider, die sich teilweise gar
darin manifestiert, dass religiöse Institutionen des Öfteren als einflussreiche ökonomische und politische
Akteure auftreten.
Foto: Brautpaar und Priester bei einer
Hochzeitszeremonie, Andhra Pradesh, Indien,
Quelle: flickr.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] Siehe Kapitel 3.1.5.1
[4] Siehe Kapitel 3.1.5
[5] Siehe Kapitel 3.5
[6] Siehe Kapitel 3.2
[7] http://en.wikipedia.org/wiki/Catherine_Bell_%28religious_studies_scholar%29
[8] Siehe Kapitel 3.6
3.1.2 Religion und Gesellschaft
Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft aus der Perspektive der Kulturund Sozialanthropologie umfasst eine große Bandbreite von Themen, Fragestellungen und theoretischen
Zugängen.
Thomas Hylland Eriksen[1] betont die Wechselwirkungen zwischen religiösen Praktiken und sozialer
Organisation, etwa in Zusammenhang mit der Ahnenverehrung (Eriksen 2010: 225ff.). So konstruieren zum
Beispiel viele westafrikanische Religionen eine Kontinuität von Verwandtschaftsgruppen und Individuen über die
Lebenszeit hinaus, wodurch sowohl eine Kontinuität von Wissen und Macht als auch eine hohe Stabilität
sozialer Gruppen etabliert wird. Solche fließenden Übergänge zwischen Lebenden und Toten werden im
Ritual[2] durch spirituelle Interaktionen verkörpert, bei denen die Ahnen mit den Lebenden kommunizieren.
Wichtige Themen in Hinblick auf die Wechselwirkungen von Religion und Gesellschaft umfassen auch das
Verhältnis von Religion/Missionierung und Kolonialismus (zu Mission und Kolonialismus in Lateinamerika vgl.
Mader[3]) oder die Zusammenhänge zwischen Religionen, Migration und Identität (vgl. Schmidt 2008:
161-196).
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Die Heilige Jungfrau von Guadalupe als Symbol mexikanischer Identität in
transnationalen Gemeinschaften in den USA. Foto: "La Virgen", Chicano
Park, San Diego (1978), Quelle: sandiegofreepress.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://folk.uio.no/geirthe/
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-69.html
3.1.2.1 Émile Durkheim
Émile Durkheim[1] ist einer der Begründer der Soziologie sowie
der Sozialanthropologie. In seiner Beschäftigung mit dem
Stellenwert von Religion in sozialen Gefügen verglich er
unterschiedliche Religionen in verschiedenen Gesellschaften[2].
Auf Grundlage dieser Untersuchungen entwickelte er die These,
dass in den verschiedenen Gesellschaften Gott im Grunde
jene Instanz darstellt, die die soziale Gruppe bzw. die
Gesellschaft repräsentiert. In diesem Sinne seien es auch de
facto die sozialen Beziehungen, die hier verehrt werden.
Durkheim (1912/2007) zufolge sind die kollektiven religiösen
Repräsentationen außerdem wesentlich für die Generierung
von Gemeinsamkeit ("Solidarität") in sozialen Gefügen.
Religion ist also nicht vom gesellschaftlichen Leben
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Foto: Gemeinschaftliches Gebet vor einer
abgetrennt, keine reine spirituelle Praxis, sie muss vielmehr als
integraler Bestandteil sozialer Beziehungen, als eine eminent
Pilgerfahrt nach Mekka, Quelle:
soziale Angelegenheit untersucht werden. Aus diesem
wikimedia.org
theoretischen Zugang Durkheims[3] entwickelte sich eine Fülle
verschiedener Fragestellungen rund um den Zusammenhang von Religion und Individuum, Familie oder
Gemeinschaft, mit denen sich die Kultur- und Sozialanthropologie sowie die Religionssoziologie seither
beschäftigen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-76.html
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89mile_Durkheim
3.1.2.2 Religion, Gesellschaft und Politik
Ein wesentlicher Aspekt des Königtums in Westafrika sind die
spirituellen Kräfte des Königs. Foto: Ngie Kamga Joseph - Fon of
Bandjun - Cameroon, Quelle: creativeroots.orf
Religiöse Institutionen und Praktiken stehen in enger Verbindung mit politischen und sozialen
Organisationsformen.
Dies betrifft zum einen die Verflechtungen von Religion und Herrschaft: Während spirituelle und soziale
Funktionen bzw. Ämter häufig voneinander getrennt sind, kommt bzw. kam es in diversen kulturellen und
historischen Kontexten auch zu einer weitgehenden Verschränkung von religiöser und politischer Macht.
Beispiele dafür reichen u.a. von den katholischen Erzbischöfen in Mitteleuropa, den Inka- Herrschern im
Andenraum[1], westafrikanischen "Gottkönigen", dem Dalai Lama in Tibet bis zu Schamanen[2] in kleineren
gesellschaftlichen Gefügen.
Zum anderen weist die Organisation religiöser Institutionen in vielen Fällen Parallelen zu gesellschaftlichen
Strukturen auf. Die Verhältnisse des größeren sozialen Umfelds - etwa in Bezug auf Hierarchie und Egalität
oder auch Genderbeziehungen - finden sich dort oft in ähnlicher Weise wieder. In gewissen Fällen können
religiöse Gruppen jedoch auch konträre soziale Prinzipien verkörpern (z.B. egalitäre Prinzipien im Rahmen stark
hierarchisierter soziopolitischer Gefüge). Schließlich existieren innerhalb großer Religionen (etwa im
Buddhismus oder im Christentum) auch unterschiedliche Organisationsformen.
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Die verschiedenen Religionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer sozialen Organisation auch in Bezug auf ihre
Kompetenzverfügung, die entweder auf Individuen oder aber auf Gemeinschaftskollektive ausgerichtet sein
kann. In bestimmten religiösen Kontexten sind es vor allem Gruppen und Institutionen, die agieren und wirken,
in anderen jedoch sind es individuelle AkteurInnen, z.B. im Schamanismus. Hierarchische Strukturen in
Religionen beruhen prinzipiell auf zwei grundlegenden Prinzipien: Sie reflektieren (mit den bereits erwähnten
Ausnahmen) die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft[3] und sie basieren auf geistiger oder spiritueller
Kompetenz.
Foto: Der Potala-Palast in Lhasa, Tibet, Quelle: wikimedia.org
Das Verhältnis von Religion zu Gesellschaft manifestiert sich z.B. in Tibet auf unterschiedlichen Ebenen.
Über viele Jahrhunderte - und jedenfalls bis zur chinesischen Besetzung und der darauffolgenden Flucht des
Dalai Lama[4] in den 1950er Jahren - bestand hier eine besondere Nähe bzw. ein fließender Übergang
zwischen religiösen und politischen Institutionen. In der über lange Zeit bestehenden feudalen Organisation
des tibetischen Staates kam den Klöstern als Teil der Grundherrschaft eine wesentliche ökonomische und
politische Funktion zu. Der Dalai Lama stand an der Spitze der religiösen Hierarchie und war gleichzeitig
politisches Oberhaupt. Erst Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama zog sich 2011 aus seinen politischen Ämtern
zurück.
Ein anderer Aspekt der Verwobenheit von Religion und Gesellschaft in Tibet[5] war/ist das das weit verbreitete
Klosterwesen, das einen wesentlichen Aspekt der tibetischen Gesellschaft darstellt. Aus fast jeder Familie lebt
mindestens ein junger Mann, in manchen Fällen auch eine Frau, in klösterlichen Einrichtungen. Die Klöster
werden ökonomisch von der lokalen Bevölkerung unterstützt, diese sind wiederum für verschiedene dörfliche
Rituale zuständig. So bestehen besonders enge Vernetzungen zwischen dem familiären bzw. dem dörflichen
Verbund und den religiösen Institutionen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-83.html
[2] Siehe Kapitel 3.1.5
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Dalai_Lama
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Tibet
3.1.2.3 Religion und Konflikt
In Zusammenhang mit Religion und religiöser
Zugehörigkeit ereignen sich immer wieder
Konflikte, die nicht selten gewaltsam ausgetragen
werden. Wenngleich viele Glaubensrichtungen
(z.B. Buddhismus[1], Christentum[2], Islam[3])
generell eine ablehnende Haltung gegenüber
Gewalt vertreten, bildet Religion doch oft Teil eines
Gefüges von multiplen Komponenten von
Konflikten: Das Verhältnis von Konflikt, Gewalt und
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Religion ist dabei mit diversen historischen und
kulturellen Gegebenheiten sowie mit politischen
und sozialen[4] Bedingungen vernetzt.
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Foto: Konflikt in Nordirland (2013), Quelle: presstv.ir
Da Religion u.a. als spezifischer Ausdruck von Identität und Differenz fungiert, wird das Verhältnis zu
anderen Personen und Gruppen auch über Religion definiert. Solche Grenzen werden entlang der
Bestimmungslinien von Eigenem und Anderem gezogen und können zu Prozessen von "othering" und
gewaltsamen Auseinandersetzungen oder Kriegen führen. Diese Kontroversen gehen Hand in Hand mit
Konflikten um Macht, Territorien und Ressourcen (vgl. u.a. Kolonialismus[5], Neokolonialismus[6]).
Dabei werden religiöse Dogmen, die Anspruch auf die ausschließliche Wahrheit und Rechtmäßigkeit eines
Glaubens erheben, immer wieder zu Wirkfaktoren im Rahmen von Intoleranz, Ausgrenzung und Abwertung.
Nicht nur die religiöse Praxis der "Heiden", "Ketzer" oder "Ungläubigen" wird verteufelt, sondern damit
verbunden auch ihr Wertsystems, ihre gesamte Lebensführung bzw. ihre kulturellen Praktiken. Solche Diskurse
wurden und werden sowohl von kleineren extremistischen Verbänden als auch von dominanten
gesellschaftlichen Gruppierungen zur Rechtfertigung von Konflikt und Gewalt verwendet.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Buddhismus
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Christentum
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
[4] Siehe Kapitel 1.1.9
[5] Siehe Kapitel 3.3
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Neokolonialismus
3.1.3 Religion als kulturelles Symbolsystem
Clifford Geertz[1] (2003) untersuchte religiöse (wie auch allgemein kulturelle) Symbolsysteme mittels "dichter
Beschreibung"[2], die er als zentrale Methode des ethnographischen Prozesses[3] verstand. Dichte
Beschreibung umfasst dabei die intensive Beobachtung, detaillierte Dokumentation und schließlich
umfassende Beschreibung kultureller Praktiken, deren Prozess wie auch Produkt laut Geertz stets
Interpretation - also Deutung - ist.
Clifford Geertz[4] ist ein wichtiger Vertreter der interpretativen bzw. symbolischen Anthropologie. Ein
wesentlicher Bestandteil seiner theoretischen Konzepte ist ein Verständnis von Kultur[5] als System von
Bedeutungen. Ziel der anthropologischen Arbeit sei es demnach, sich in andere Kulturen hineinzuversetzen,
das andere Bedeutungssystem zu erlernen, es zu verstehen und zu interpretieren. Religion steht im Mittelpunkt
vieler seiner Arbeiten - allen voran seiner Arbeiten zur balinesischen Ausprägung des Hinduismus[6], die auf
vielfältige Weise in diverse Alltagspraktiken der balinesischen Gesellschaft einfließt.
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Foto: Ritual in einem balinesischen Tempel, Quelle: wikimedia.org
Geertz’ Zugang zu Religion erinnert entfernt an Durkheims[7] These, dass das Religiöse bzw. das Göttliche
mit dem Sozialen gleichzusetzen sei. Für Geertz steht zwar das Kulturelle[8] im Gegensatz zum Sozialen[9]
im Vordergrund seiner Überlegungen, jedoch spielt Religion dabei eine fast ebenso zentrale Rolle wie bei
Durkheim, weil sie aus Geertz’ Perspektive einen wesentlichen Teil des kulturellen Bedeutungssystems
ausmacht. Zudem verstanden sowohl Durkheim die Gesellschaft als auch Geertz die Kultur gleichermaßen als
dynamische Systeme, die sich stetig verändern, die unterschiedlichen Interpretationen unterliegen und
immer mit Handlungen sowie mit sozialen Beziehungen verknüpft sind.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.7
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/ksamethoden/ksamethoden-82.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-51.html
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Clifford_Geertz
[5] Siehe Kapitel 1.1.4
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Hinduismus
[7] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[8] Siehe Kapitel 1.1.8
[9] Siehe Kapitel 1.1.9
3.1.4 Religion und Weltbild
Der Begriff des "Weltbilds" baut in gewisser Weise eine Brücke zwischen den Konzepten Durkheims[1]
(1912/2007) und jenen von Geertz[2] (2003). Während Durkheim in Zusammenhang mit Religion von
kollektiven Vorstellungen oder Repräsentationen sprach, verstand Geertz Religion als Teil kultureller
Bedeutungssysteme. Beides, Vorstellung und Bedeutung, spielt eine Rolle im Begriff des Weltbilds.
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Abbildung: Gemälde von Aborigines (Australien), das verschiedene Aspekte eines totemistischen
Weltbilds reflektiert, Quelle: elisasjourney.com
Weltbilder können als eine Matrix für Bedeutungsstrukturen, in die verschiedene kulturelle Praktiken
eingebettet sind, verstanden werden. Philippe Descola[3] (2005/2011) untersucht Weltbilder im Sinne von
Ontologien als Strukturierungsmodalitäten der Welterfahrung, die unterschiedliche Formen von Identifikation
und Beziehung zwischen Mensch und Natur[4] zum Ausdruck bringen.
Die diversen Facetten des Begriffs "Weltbild" erfahren je nach theoretischer Perspektive unterschiedliche
Gewichtung.
So begreifen zum Beispiel jene AnthropologInnen, die sich vor allem mit sprachlichen Symbolen
beschäftigen, Weltbilder auf allgemeiner und abstrakter Ebene als Kultur an sich bzw. als eine Art
Metasprache, in der Bedeutung konstruiert und repräsentiert wird.
Konkretere Aspekte werden in jenen anthropologischen Arbeiten herangezogen, die Weltbild als
Kosmologie, etwa im Sinne einer spirituellen Geographie, begreifen. Dabei geht es um die Frage, wie
sich Menschen in diversen kulturellen und/oder religiösen Konfigurationen die Welt vorstellen, also wie
verschiedene "imagines mundi" gestaltet sind.
Ein weiteres Untersuchungsfeld betrifft Weltbilder als ideologische Gefüge im Sinne eines Ideen- und
Wertsystems, das im Kontext der sozialen Beziehungen analysiert wird (Dumont 1966/1976: 56ff.). In
diesem Gefüge nimmt die Theorie der Person als Ausdruck eines kulturspezifischen Weltbilds einen
wichtigen Platz ein: Sie manifestiert sich u.a. in religiösen Praktiken, Mythen[5] oder Ritualen[6] und ist
aufs engste mit der Konstruktion von Status und der Dynamik der sozialen Beziehungen verbunden.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.3
[3] Siehe Kapitel 3.5.4.1
[4] Siehe Kapitel 3.5
[5] Siehe Kapitel 3.7
[6] Siehe Kapitel 3.2
3.1.5 Religion und spirituelle Erfahrung: Fallbeispiel Schamanismus
Ein Forschungsfeld der Religionsanthropologie beschäftigt sich mit verschiedenen Dimensionen religiöser
bzw. spiritueller Erfahrungen. Die Verbindung mit Göttern oder Geistern (etwa im Rahmen von
Vereinigungsritualen[1]) umfasst spirituelle Erlebnisse und teilweise erweiterte Bewusstseinszustände von
SpezialistInnen sowie Praktizierenden. Diese Aspekte von religiösen und rituellen Praktiken bilden eine
Schnittstelle zu Bewusstseinsforschung[2], Psychologie und Medizin. Sie wurden besonders intensiv in
Hinblick auf den Schamanismus untersucht.
Das Wort "Schamane" stammt aus Sibirien[3] und bezeichnet heute in Wissenschaft und Alltagssprache ein
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breites Spektrum von Personen, die mit Hilfe von Ritualen und spirituellen Kräften auf verschiedene
Lebensbereiche, auf Mensch, Natur und Übernatürliches einwirken. Schamanismus ist keine einheitliche
Religion, sondern eine kulturübergreifende Form spiritueller Wahrnehmung und Praxis (vgl. u.a. Vitebsky
1998).
Foto: Schamane in Sibirien, Quelle:
wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.html
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Sibirien
3.1.5.1 Schamanismus und "Ekstasetechnik"
Den Grundstein für viele Studien der kultur- und sozialanthropologischen Schamanismusforschung legte der
rumänische Religionshistoriker Mircea Eliade[1] mit seinem Buch Schamanismus und archaische
Ekstasetechnik (1951/2006). Schamanismus ist für Eliade nicht an bestimmte historische, gesellschaftliche oder
geographische Kontexte gebunden sondern bildet ein transhistorisches und transkulturelles Phänomen. Unter
den Begriff der "Ekstasetechnik" fällt u.a. die schamanische Trance, die durch verschiedene Techniken wie
Trommeln, Gesang, Tanz oder psychoaktive Substanzen herbeigeführt wird. Während solche
Bewusstseinszustände früher oft der Psychopathologie zugerechnet wurden - SchamanInnen galten als
verrückt - spricht man heute von einer spezifischen schamanischen Kognition bzw. von einer schamanischen
Wirklichkeit (vgl. Vitebsky 1998).
Schamanische Bewusstseinszustände werden freiwillig herbeigeführt, sind zeitlich begrenzt und dienen u.a.
der Heilung, der Erkenntnis, dem spirituellen Wachstum und verschiedenen Aspekten von Berufung und
Ausbildung. Die SchamanInnen stellen solche Bewusstseinszustände entweder für sich alleine her oder
beziehen ihre PatientInnen bzw. KlientInnen in diese Form der Wahrnehmung und des Erlebens mit ein.
Die schamanische Kognition ist aufs engste mit dem schamanischen Weltbild verbunden und erstreckt sich auf
verschiedene Dimensionen der Welt. SchamanInnen müssen mehr bzw. weiter sehen und eine komplexere
Realität wahrnehmen, als es für das Alltagshandeln erforderlich ist. Sie nehmen die spirituellen Aspekte der
verschiedenen Wesen und Naturerscheinungen wahr und können mit der geistigen Welt bzw. der Welt der
Geister kommunizieren und interagieren.
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(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Mircea_Eliade
3.1.5.2 Schamanismus, Weltbild und interreligiöse Beziehungen
Spirituelle Erfahrungen im Schamanismus sind mit spezifischen Weltbildern verflochten, die sowohl eine
Kosmologie und als auch eine entsprechende Theorie der Person zum Ausdruck bringen. Schamanische
Weltbilder sind oft animistisch oder totemistisch geprägt und beziehen sich auf Form und Ordnung des
Kosmos. Dieser wird als ein vielschichtiger Weltenraum verstanden, dessen Ebenen oder Zonen von
unterschiedlichen Wesenheiten bevölkert werden, die alle spirituelle Qualitäten aufweisen: Das gilt für Tiere,
Pflanzen, Menschen, göttliche Gestalten und Geister.
Schamanische Praktiken sind keineswegs statisch, sondern werden immer wieder an neue Konditionen
angepasst. Ein Beispiel für die Vielfalt und Aktualität schamanischer Praktiken ist Tuva in Zentralsibirien (vgl.
"Die Klinik der Schamanen"[1] GEO 360, Ute Gebhardt 2005) an der Grenze zur Mongolei. Nachdem
SchamanInnen und ihre Praktiken in Sibirien zur Zeit der Sowjetunion ausgegrenzt waren und teilweise verfolgt
wurden, haben sie - nicht nur in Tuva - mittlerweile einen neuen Stellenwert und hohe Wertschätzung erlangt,
wobei einerseits alte Traditionen revitalisiert und andererseits neue Aktionsfelder eröffnet wurden.
Schamanismus wird meist mit und neben anderen Religionen praktiziert. So bestehen vielfältige Typen
von interreligiösen Beziehungen zwischen schamanischen Praktiken und anderen religiösen Gefügen. Die
Beziehungen und Interaktionen können durch Vermischung oder Abgrenzung geprägt sein und umfassen
verschiedene Formen von Parallelismus (zwei oder mehrere Religionen werden von einer Person gleichzeitig
praktiziert) und Synkretismus (Elemente aus verschiedenen Religionen vermischen sich). Beispiele für
Synkretismus sind unter anderem das Verhältnis von Schamanismus und Buddhismus in Tuva, der Mongolei
und Tibet (z.B. im Rahmen der Bön-Religion[2]) sowie die Verbindungen von Schamanismus und Islam in
Zentralasien oder im Iran[3].
Transkulturelle Interaktionen im Zuge der Globalisierung[4] manifestieren sich auch im Rahmen eines
spirituellen Tourismus, der viele Parallelen zur Pilgerfahrt aufweist (vgl. Mader 2002). Dabei überschneiden
sich religiöse bzw. spirituelle Anliegen mit der Suche nach Gesundheit bzw. Wellness sowie touristischen
Erlebniswelten.
Zur Dynamik des Schamanismus in verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten vgl. u.a. Hoppal[5] 1996,
Van Bussel und Steinmann 1998. Für weitere Ausführungen zum Schamanismus (in Lateinamerika) siehe
beispielsweise das Kapitel von Mader zu Kognition und Bewusstsein[6] in der Kultur- und
Sozialanthropologie Lateinamerikas[7].
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.youtube.com/watch?v=5pIOfhyVi_g
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-26.html
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Iran
[4] Siehe Kapitel 3.4
[5] http://www.folklore.ee/folklore/vol2/hoppal.htm
[6] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-610.html
[7] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-titel.html
3.1.6 Religionen im Internet
Eine Schnittstelle zwischen kultur- und
sozialanthropologischer Religionsforschung und
Medienanthropologie[1] bilden Studien zur
Repräsentation, Zirkulation und Praxis religiöser
Traditionen im Internet[2]. Die neuen bzw. erweiterten
Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion
durch digitale Medien und das WWW werden von
religiösen Gemeinschaften intensiv genutzt.
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Religiöse Praktiken im Internet implizieren oft einen
Ritualtransfer[3]. Sie ermöglichen virtuelle
Pilgerfahrten zu heiligen Orten (z.B. Islam oder
Hinduismus), die Interaktion mit sakralen Bildnissen und Gottheiten (z.B. Hinduismus), das Praktizieren
meditativer Übungen und die spirituelle Ermächtigung durch Unterweisungen (z.B. Buddhismus), die virtuelle
Durchführung von Opferritualen (z.B. Vodun oder Hinduismus), die Teilnahme an Messen und anderen
Aktivitäten diverser religiöser Gemeinschaften - u.a. in der virtuellen Welt "Second Life"[4] (z.B. Christentum
oder Islam). Virtueller hinduistischer Segen (Shiva darshan) auf Youtube[5].
Abbildung: Digitale Darstellung des Gottes Vishnu, Quelle:
hdwpapers.com
Für Beispiele zu digitalen religiösen Praktiken vgl. u.a. Online - Heidelberg Journal of Religions on the
Internet[6] oder Cyber-Orient. Online Journal of the Virtual Middle East[7].
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8
[2] Siehe Kapitel 3.8.6
[3] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Second_Life
[5] http://www.youtube.com/watch?v=XYfDallujq8
[6] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ojs/index.php/religions/index
[7] http://www.cyberorient.net/
3.1.6.1 Afrikas Digitale Diaspora Religionen
Abbildung: Darstellung von Orixas im Internet, Quelle:
triangulodafraternidade.com
Einer der Pioniere der kultur- und sozialanthropologischen Analyse von Religionen im Internet war
Manfred Kremser[1]. Seine Studien thematisieren in erster Linie die Verflechtungen von Diaspora und
Postkolonialismus mit Religion und Medien: Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stehen die
westafrikanischen Religionen der Yorùbá und der Fõ, die darüber hinaus viele neue Religionen in Afroamerika
hervorbrachten, die heute auch "Orisha/Vodou - Komplex" genannt werden. Diese afrikanischen Diaspora
Religionen[2] umfassen eine Vielzahl religiöser Traditionen in den Amerikas, deren unverwechselbare
Spiritualität ihre Wurzeln in Afrika hat. So können z.B. viele spezifische Formen der religiösen Kultur durch
komplexe Prozesse von Kontinuität, Diskontinuität, Synkretismen, Reinterpretationen, etc. eindeutig mit Afrika in
Verbindung gebracht werden - obwohl die ebenso massiv vorhandenen Einflüsse der abendländischchristlichen Kulturen, bedingt durch ihre öffentliche Dominanz, oft die Sicht darauf verstellen mögen.
Eine besondere Dimension dieses religiösen Komplexes stellen Afrikas Digitale Diaspora Religionen[3] dar.
Durch die Entwicklung des Internets bzw. des Cyberspace hat auch das Studium von und die Beschäftigung
mit traditionellen afrikanischen Religionen und vor allem mit ihren Derivaten in der afrikanischen Diaspora eine
neue Dimension dazu gewonnen. Die Bezeichnung "Afrikas Digitale Diaspora" verweist auf die afrikanische
Besiedlung des Cyberspace[4] und die damit einhergehenden neuen Kulturentwicklungen (vgl. Kremser 2003).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Kremser
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http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfpropaedksa/einfpro...
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-99.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-114.html
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Cyberspace
3.1.7 Literatur
Bell, Catherine 1997: Ritual. Perspectives and Dimensions. Oxford und New York: Oxford University Press
Bowie, Fiona 2000: The Anthropology of Religion. Oxford: Blackwell.
Descola, Philippe 2005/2011: Jenseits von Kultur und Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Dumont, Louis 1966/1976: Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens. (Homo Hierarchicus).
Wien: Europaverlag.
Durkheim, Émile 1912/2007: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Verlag der
Weltreligionen.
Eliade, Mircea 1951/2006: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Eriksen, Thomas H. 2010: Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology.
New York: Pluto Press.
Geertz, Clifford 2003: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.:
Suhrkamp.
Hoppal, Mihaly 1996: Shamanism in a Postmodern Age.[1] In: Folklore, Vol.2. [Zugriff: 14.04.2013]
Kremser, Manfred 2003: Afrikas Digitale Diaspora Religionen: Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im
Cyberspace. In Werner Zips (Hg.): Afrikanische Diaspora: Out of Africa - Into New Worlds. Münster, Hamburg
und London: Lit Verlag: 447-456.
Kremser, Manfred und Veronica Futterknecht: Einführung in die Religion- und Bewusstseinsforschung.
Das Spektrum der Religionen.[2] [Zugriff: 16.04.2013]
Mader, Elke 2002: Reisende zwischen den Welten. Schamanismus und Globalisierung in Lateinamerika. In:
Karin Gabbert et.al. (Hg.): Religion und Macht. Jahrbuch Lateinamerika Analysen Berichte 26. Münster:
Westfälisches Dampfboot: 69-86.
Mader, Elke: Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung.[3] [Zugriff: 16.04.2013]
Morris, Brian 1987: Anthropological Studies of Religion. An Introductory Text. Cambridge: Cambridge University
Press.
Schmidt, Bettina 2008: Einführung in die Religionsethnologie: Ideen und Konzepte. Berlin: Reimer.
Van Bussel, Gerard W. und Axel Steinmann, (Hg.) 1998: Schamanismus und andere Welten.
Ausstellungskatalog. Wien: Museum für Völkerkunde.
Vitebsky, Piers 1998: Schamanismus. München: Knaur.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.folklore.ee/folklore/vol2/hoppal.htm
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.html
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-titel.html
3.2 Ritual
"Ob Taufen oder Hochzeitsfeiern, Jugendweihen,
Pilgerfahrten oder Preisverleihungen - auch in
modernen Gesellschaften schwinden Rituale
nicht. Stattdessen entstehen überall neue
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Ritualisierungen mit atemberaubender Dynamik." (
Axel Michaels[1] 2002)
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Foto: Chinesische Neujahrsfeier 2011, Seattle, USA, Quelle:
wikimedia.org
Rituale sind spezifische Formen des performativen und symbolischen Handelns, die mit vielen Bereichen
des Lebens verbunden sind. Sie sind prozessual, transformativ und dynamisch, aber auch durch eine
beständige Wiederholung von Handlungsabläufen gekennzeichnet. Sie wirken auf Menschen ein und werden
von ihnen aktiv gestaltet, sie repräsentieren und bestärken soziale, kulturelle oder politische Ordnungen oder
stellen sie in Frage. Ihre Inhalte sind ebenso vielfältig wie ihre Ausdrucksmittel und es ist müßig nach einer
essentialistischen Definition zu suchen, die festlegen will, was zu allen Zeiten und in allen Kulturen unter Ritual
zu verstehen ist.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca3_2002/michaels.html
3.2.1 Forschungskontexte und Begriffe
Mit Fragen nach Form, Funktion und Wirkungsmacht von Ritualen[1] beschäftigt sich eine Reihe von
Fachdisziplinen. In den 1980er-Jahren formierten sich die "Ritual Studies" als inter- und transdisziplinäres
Forschungsfeld, das systematisch die rituellen Aspekte verschiedener Aktivitäten untersucht. Die
Ritualforschung der Gegenwart basiert auf einer breiten Tradition von Ansätzen, die sich mit verschiedenen
Dimensionen von Ritualen und Ritualisierungen beschäftigen (vgl. auch Krieger und Belliger 1998, Michaels
1999). Unter Ritualisierungen versteht man (soziale) Prozesse, in denen etwas zum Ritual wird.
Viele Studien beschäftigen sich auch mit den Grenzen bzw. Verflechtungen zwischen Ritualen und anderen
Handlungsfeldern, etwa in Zusammenhang mit Politik, Sport oder Performance. Dabei ist oft von den rituellen
Dimensionen/Aspekten diverser Phänomene oder von deren Ritualisierung die Rede.
Foto: Schamane, Sibirien, Quelle: flickr.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Ritual
3.2.1.1 Genres ritueller Handlungen
Die große Vielfalt an rituellen Aktivitäten animierte
viele ForscherInnen dazu, Rituale in
unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Solche
Kategorisierungen erfolgen häufig aus spezifischen
theoretischen Perspektiven und reflektieren
unterschiedliche Forschungsinteressen.
Catherine Bell[1] (1997) unterscheidet sechs
grundlegende Genres ritueller Handlungen:
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Foto: Kalendarisches Ritual: Krampuslauf, Salzburg (2012), E.
Übergangsrituale[2] ("rites de passage"):
Hochzeit, Begräbnis, Namensgebung,
Mader
Promotion, Initiation in soziale oder religiöse
Gruppen …
Jahreszeitenrituale/kalendarische Rituale: diverse Feiertage (religiös und profan) im Jahreszyklus - z.B.
Neujahr, Sonnenwende, Geburtstage, Nationalfeiertage …
Tausch- und Vereinigungsrituale: religiöser Kontext - Interaktionsformen zwischen Menschen/Götter
/Geistern: Opfergaben, (Blick)kontakt mit Bildnissen/Personen, Vereinigung mit Göttern/Geistern …
Rituale und Leid ("rituals of affliction"): bewirken und/oder entfernen Leid/Unglück/Krankheit; Heilrituale,
Reinigungsrituale …
Feste, Feiern, Fasten: involvieren große Teile einer Gemeinschaft in kollektives rituelles Handeln,
gemeinsames Essen bzw. Nicht-Essen: Weihnachten, Potlach[3], Ramadan, Karneval, Holi …
Politische Rituale: "Dramaturgie der Macht" - konstruieren, zeigen oder verstärken Macht und/oder
politische Institutionen bzw. stellen sie in Frage: Krönung, Amtseinweihung, Demonstration, Militärparade
…
Die Genres ritueller Handlungen von Catherine Bell bilden keine umfassenden oder einander ausschließenden
Kategorien, sondern stellen jeweils unterschiedliche Aspekte von Ritualen in den Vordergrund. Sie verweisen
einerseits auf die Vielfalt von Formen und Kontexten, andererseits auf einige grundlegende Gemeinsamkeiten
von ritueller Praxis.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Catherine_Bell_%28religious_studies_scholar%29
[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-106.html
3.2.1.2 Grenzen und Grenzüberschreitungen
Zwischen verschiedenen Formen von Ritualen bestehen oft
fließende Übergänge, ebenso fluktuiert die Zuordnung von
Ritualen zu Konzepten wie profan oder sakral, öffentlich
oder privat, individuell oder kollektiv. Rituale integrieren oft
soziale, religiöse[1] und symbolische Aspekte und werden
unter anderem in Zusammenhang mit sozialen
Organisationsformen, als Systeme von Symbolen und
Repräsentationen oder als spirituelle und religiöse Erfahrung
untersucht.
Neue Tendenzen in der Ritualforschung beschäftigen sich
auch verstärkt mit "boundary questions": Zum einen geht es
dabei um die Funktion von Ritualen in Zusammenhang mit
der Konstruktion von Unterschieden und deren Markierung,
zum anderen um die Überbrückung und Überschreitung von
Foto: Ritualisierung nationaler Grenzen/Identitäten:
sozialen, kulturellen[2], kognitiven aber auch fachlichen
Fußball WM 2006, München, Quelle: flickr.com
Grenzen (vgl. Grimes 2006:12). Weiters rücken auch die
"Ränder des Rituals" (Oppitz 2007) in das Zentrum von
Studien: Dazu zählen Handlungen und Vorstellungen, die rund um rituelle Ereignisse zu finden und auf
verschiedenen Ebenen mit diesen vernetzt sind.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
3.2.1.3 Ritualdynamik
"In a world of fast-paced globalization[1] and market-driven economies, ritual seems awkwardly out of place, a
clumsy, tradition-laden cultural activity" - schreibt Ronald Grimes[2] (2006: IX), jedoch gerade neue Orte und
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Verortungen des Rituals prägen die Ritualforschung der Gegenwart.
Foto: Politisches Ritual: Präsidentenwahl USA 2012, Quelle:
wikimedia.org
Während ältere Studien Rituale oft als statisch interpretierten, steht heute die Ritualdynamik im Mittelpunkt
des Forschungsinteresses (vgl. Michaels 2007:6). Dazu zählen auch die vielfältigen Interaktionen von
Ritualen mit Medien[3], Sport, Politik oder Umwelt. Ein dementsprechendes rituelles Gefüge umgibt zum
Beispiel den Fußballsport als besonderen Feld, auf dem diverse Grenzen und Grenzüberschreitungen
inszeniert und verhandelt werden und dessen rituell/performative Dimension unter anderem mit der
Ritualisierung von Geschlecht[4] verwoben ist (u.a. als "Spektakel" und "Arena" von Männlichkeit, vgl.
Kreisky und Spitaler 2006).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4
[2] http://ronaldlgrimes.twohornedbull.ca/
[3] Siehe Kapitel 3.2.5
[4] Siehe Kapitel 3.9.7
3.2.1.4 Ritualtransfer
Einen wesentlichen Aspekt von Ritualdynamik[1] bildet der Ritualtransfer (vgl. Radde-Antweiler 2006).
Darunter verstehen die AutorInnen die Verlagerung (Transfer) eines Rituals von einem Kontext in einen
anderen.
Foto: Diwali-Feier der indischen Gemeinschaft im
Einkaufszentrum "Lugner City" in Wien, E. Mader
Im Zuge solcher Dynamiken können zwei Arten von Veränderungen unterschieden werden, die häufig
miteinander verflochten sind.
Die Veränderung des Ritualkontexts als Resultat des Transfers
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Eine Veränderung des Rituals als Reaktion auf die Kontextveränderung
Abbildung: Ritualkontext, E. Mader
Ritualveränderungen müssen aber nicht zwingend auf einer Kontextveränderung beruhen, sondern können
auch aus internen Ritualdynamiken entstehen (vgl. Gaida[2] 2009).
Beispiele für Ritualtransfer sind vielfältig:
regionaler und transkultureller Ritualtransfer. Dazu zählen sowohl Praktiken in Zusammenhang mit
Missionierung und Kolonialismus als auch neue Wege der Zirkulation von Ritualen im Zuge der
Globalisierung[3] (vgl. u.a. Grünwedel 2008 für den sibirischen Schamanismus[4]). Der Transfer von
ritueller Praxis steht auch in enger Beziehung mit Migration und Transnationalismus[5] (vgl. u.a. Mader
2006).
Repräsentation und Erweiterung von Ritualen in/durch Medien[6].
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.1.3
[2] http://webreligion.wordpress.com/2009/06/12/das-konzept-ritualtransfer/
[3] Siehe Kapitel 3.4
[4] Siehe Kapitel 3.1.5
[5] Siehe Kapitel 3.4.4
[6] Siehe Kapitel 3.2.5
3.2.2 Ritual und Religion
Religiöse Rituale standen zu Beginn der Ritualforschung im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt und stellen bis
heute ein wichtiges Forschungsfeld dar. Rituale bilden symbolische und performative Elemente von
Religionen[1]. Sie stellen häufig eine Kontaktzone mit dem Göttlichen dar und gehen Hand in Hand mit
spirituellen Erfahrungen der Beteiligten. Rituelle Interaktionen mit Göttern (Geistern, Heiligen etc.) umfassen in
unterschiedlichen religiösen Kontexten eine große Vielfalt an Formen und Bedeutungen.
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Foto: Vereinigungsritual: Interaktion mit Ahnen und Göttern im
Vodun, Egunguns in Cové, Benin, Quelle: flickr.com
Foto: Vereinigungsritual: Interaktion mit Ahnen und Göttern im
Vodun, Egunguns in Cové, Benin, Quelle: flickr.com
Religiöse Rituale werden oft an besonderen Orten gefeiert, die als heilig gelten und einen vom Alltag
getrennten rituellen/religiösen Raum darstellen. Dazu zählen Kirchen, Tempel oder bestimmte Orte in der
Natur. Geleitet werden sie häufig von religiösen SpezialistInnen, die unter anderem über besonderes Wissen
über rituelle Abläufe, Ritualobjekte etc. verfügen.
Forschungen zu verschiedenen Dimensionen religiöser Rituale bilden auch einen wichtigen Aspekt der
Anthropologie der Religion[2] (Religionsethnologie).
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Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1
[2] Siehe Kapitel 3.1
3.2.3 Rituale und Gesellschaft
Rituale sind eng mit sozialen Strukturen und Prozessen verbunden. Sie haben große Bedeutung für
Konstruktion, Gestaltung und Bestand von sozialen Gruppen und das Erlangen von Status in einer
Gemeinschaft. Studien zum Verhältnis von Ritualen und Gesellschaft[1] im Rahmen der Kultur- und
Sozialanthropologie thematisieren zum Beispiel:
Lebensabschnitte und Status (Übergangsrituale)
Macht, Herrschaft, Widerstand
Gender[2]
Wertvorstellungen
Identitäten
Foto: Maibaum, München, Quelle: flickr.com
Wichtige Grundlagen dieser Forschungsrichtung stammen von Émile Durkheim[3] (1912/1981). So betont
Durkheim, dass eine Gesellschaft eine moralische Gemeinschaft darstellt, welche die Solidarität zwischen den
Menschen durch Riten kreiert und fördert. Rituale haben belebende Kraft für das soziale Leben und implizieren
Handlungsweisen und Verhaltensregeln, die es dem Menschen ermöglichen, aus dem Alltag heraus in einen
speziellen Zustand zu gelangen. Auf diese Art und Weise schaffen Rituale soziale Beziehungen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.3
[2] Siehe Kapitel 3.9
[3] Siehe Kapitel 3.1.2.1
3.2.3.1 Übergangsrituale
Eine wesentliche Komponente in rituellen Prozessen bildet der Übergang von einer sozialen Gruppe in eine
andere bzw. von einem sozialen Status in einen anderen. Diese Thematik steht im Mittelpunkt des Werks
Les rites de passage (Übergangsriten) von Arnold van Gennep[1] (1909/1986): Er geht davon aus, dass
Lebenskrisen durch Rituale leichter bewältigt werden können, und unterscheidet verschiedene Formen von
Übergangsriten, zum Beispiel Heirat oder Initiation.
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Foto: Knabeninitiation in Malawi, Quelle: wikimedia.org
Auf Basis eines breit angelegten transkulturellen Vergleiches stellt van Gennep fest, dass zwar Zweck und
Ausformung solcher Rituale variieren, sie jedoch eine gemeinsame Verlaufsstruktur aufweisen. Er erkennt ein
Schema der Übergangsriten, das drei Hauptphasen umfasst, nämlich (1) Separation/Trennung, (2)
Schwellenzustand/Übergang und (3) Inkorporation/Wiedereingliederung. Diese Struktur lässt sich bei allen
Gesellschaften erkennen, wird aber immer wieder anders gewichtet. Besonders intensiv beschäftigt sich van
Gennep mit der mittleren Phase, also den Dimensionen des Übergangs, die er wiederum in drei Abschnitte
unterteilt: preliminal, liminal, postliminal (vgl. auch Förster 2003, Stohrer 2008).
Victor Turner[2] (1987) erweitert das Strukturschema der Übergangsriten von van Gennep. Mittels der
Integration soziologischer und symbolistischer Ansätze untersucht er den rituellen Prozess und seine soziale
Bedeutung, insbesondere die sozialen Merkmale der Schwellenphase sowie das Verhältnis von Struktur und
Anti- Struktur. Weiters erkannte er früh die kreativen und dynamischen Dimensionen von Ritualen sowie ihr
Naheverhältnis zu anderen Formen von Performanz.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_van_Gennep
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Turner
3.2.3.1.1 Soziale Dramen
In der Folge von Émile Durkheim, der die Bedeutung von Ritualen für gesellschaftliche Solidarität hervorhebt,
betont der britische Sozialanthropologe Max Gluckman[1] ihren Stellenwert im Rahmen des Umgangs mit
Spannungen und Konflikten. Für Gluckmann sind Rituale primär Ausdruck sozialer Spannungen: Im
Rahmen der performativen Handlungen zeigen sie oft dramatisch Konfliktlinien auf und stellen erst am Ende
wieder soziale Einigkeit her.
In "Ritualen der Rebellion" wird der Status quo sozialer Hierarchien auf den Kopf gestellt, die normalen Regeln
von Ordnung und Autorität werden ausgesetzt. Als Beispiel führt Gluckman unter anderem Agrarriten der Zulu
in Südafrika an, in denen die Gender-Hierarchien umgekehrt werden: Die Frauen kleiden sich im Ritual als
Männer und führen all jene Handlungen durch, die im Alltag den Männern vorbehalten sind. Diese temporäre
Inversion der patriarchalen Gesellschaftsordnung trägt dazu bei, ihr Konfliktpotential einzuschränken. Das Ziel
von "Ritualen der Rebellion" besteht laut Gluckmann darin, Konflikte zum Ausdruck zu bringen und dadurch
das soziale Gleichgewicht zu erhalten (vgl. Bell 1997: 38-39).
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Foto: Zulu Frauen und Mädchen bei einem Fest, Quelle: flickr.com
Victor Turner analysiert das Verhältnis von Ritual und Gesellschaft als Dynamik zwischen Struktur und
Anti-Struktur: Er geht dabei von zwei Modellen menschlicher Sozialbeziehungen aus
"Societas" - Gesellschaft als strukturiertes und hierarchisch gegliedertes System
"Communitas"[2] - relativ undifferenzierte Gemeinschaft, Gemeinschaft Gleicher, Antistruktur
Communitas entwickelt sich zwischen rituellen Subjekten während der liminalen Phase, die Turner als Phase
der Strukturlosigkeit oder Anti-Struktur bezeichnet. Sie ist durch Erfahrungen der Gleichheit und
außeralltägliche Beziehungen gekennzeichnet.
Bestimmte Rituale analysiert Turner als "liminuide Riten" bzw. "soziale Dramen": Sie bieten die Möglichkeit,
über all das, was als selbstverständliche, alltägliche Struktur erscheint, neu nachzudenken und stehen in
Zusammenhang mit Kritik an bzw. Protest gegen soziale, kulturelle oder politische Verhältnisse (vgl. Turner
1969, Förster 2003).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/organthro/organthro-38.html
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Communitas
3.2.4 Rituale und Symbole
Rituale sind eine aktive Form der Kommunikation und der Konstruktion von Bedeutung. Sie beruhen auf
der Fähigkeit, komprimierte Symbole aufzunehmen und zu interpretieren.
Stanley Tambiah[1] (1985: 128) schreibt: "Ritual is a culturally constructed system of symbolic communication.
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It is constituted of patterned and ordered sequences of words and acts, often expressed in multiple media,
whose content and arrangement are characterized in varying degree by formality (conventionality), stereotypy
(rigidity), condensation (fusion) and redundancy (repetition)."
Foto: Austreiben "böser Geister" nach Neujahr (Teil eines größeren
Komplexes von kalendarischen Riten am Balkan), Kukeri, Bulgarien,
Quelle: flickr.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.fas.harvard.edu/~anthro/social_faculty_pages/social_pages_tambiah.html
3.2.4.1 Im Wald der Symbole
"The symbol is the smallest unit of ritual which still retains the specific properties of ritual behavior; it is a
‚storage unit‘ filled with a vast amount of information." (Turner 1968a: 1-2)
Victor Turner[1] widmet sich (u.a. in seinem Buch A Forest of Symbols) verschiedenen Dimensionen der
symbolischen Bedeutung von Ritualen. Er betont, dass rituelle Praktiken mehrere Bedeutungsebenen
umfassen, die von vielstimmigen und vieldeutigen Symbolen (multivocality) zum Ausdruck gebracht werden.
"Multivocality endows ceremonies, even those of the simplest form, with multiple levels of meaning, with
referents from cosmology to social relations. Turner essentially portrays ritual as a set of symbolic actions and
displays of symbolic objects that represent the premises, core values, and norms of a particular culture."
(Baer[2] 2007)
Symbole weisen auch vielfältige Formen auf: Es kann sich dabei um Objekte, Handlungen, Worte,
Beziehungen, Ereignisse, Gesten oder räumliche Einheiten handeln (vgl. Turner 1967:19).
Foto: Buddhistisches Ritual, Tharlam Gompa, Boudha, Kathmandu,
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Nepal, Quelle: flickr.com
Durch Symbole werden in Ritualen gesellschaftliche Werte und Bedeutungen "gelagert": "Rituals are
storehouses of meaningful symbols by which information is revealed and regarded as authoritative, as dealing
with the crucial values of the community" (Turner 1968a: 2). Diese Werte und Symbole sind jedoch immer
wieder Veränderungen unterworfen und repräsentieren verschiedene AkteurInnen und Interessen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Turner
[2] http://hirr.hartsem.edu/ency/Symbols.htm
3.2.4.2 Körpersymbole
Die Symbolik von Ritualen bildet auch einen Schwerpunkt der Arbeiten von Mary Douglas[1] (u.a.
1974/1993), wobei der Zusammenhang von Ritualen und Reinheitsvorstellungen im Mittelpunkt ihrer Analyse
steht. Letztere analysiert sie als Konstrukte, welche die hierarchische oder symmetrische Ordnung des sozialen
Systems widerspiegeln.
Der Glaube an gefährliche Verunreinigungen definiert in diesem Prozess eine Reihe von sozialen Regeln, der
Körper fungiert als ein Symbol für die Gesellschaft[2], er ist nichts "Natürliches", sondern ein
Ausdrucksmedium für Soziales - so etwa im hinduistischen Kastensystem. Die Körpertheorien von Douglas
haben besonderen Einfluss auf die Untersuchung von (Initiations-)Ritualen in Hinblick auf die Konstruktion von
Gender[3], Tabus und Reinheit, zum Beispiel in Zusammenhang mit der Menstruation.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Douglas
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] Siehe Kapitel 3.9
3.2.5 Rituale und Medien
"Not long ago the terms ’ritual’ and ’media’ would have been regarded as labels for seperate cultural domains the one sacred, the other one secular … Now, media often validate rites.The presences of the camera
announces: ’This is an important event.’ Today both notions, ritual and media, are understood quite differently,
and connections between them are remarked upon with growing frequency in scholarly writing." (Grimes 2006:
3-4)
Das Verhältnis von Ritualen und Medien stellt ein relativ neues Forschungsfeld dar: Es reflektiert die ständig
zunehmende Bedeutung von Medien[1] in der gegenwärtigen globalisierten Lebenswelt[2] sowie
Veränderungen des Ritualbegriffs und der Ritualforschung (vgl. Ritualdynamik[3] oder Ritualtransfer[4]).
Foto: Ritual als Medienereignis: Die Hochzeit von William und
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Catherine Duke & Duchess of Cambridge (2011), Quelle:
flickr.com
Die komplexen Beziehungen zwischen Medien und Ritualen umfassen verschiedene Kontexte und
Verknüpfungen und werden vor allem in Hinblick auf zwei Aspekte untersucht:
Rituale in Medien
Medien als Rituale
Dabei können zwei Typen von Verflechtungen zwischen Ritualen und Medien unterschieden werden, bei denen
entweder die Repräsentation oder die Interaktion im Vordergrund steht.
Repräsentation:
Medien "beschreiben" Rituale
Medien bestätigen Rituale
Medien vermitteln zwischen Ritualen und anderen Lebensbereichen
Interaktion:
Medien ermöglichen die Teilnahme an Ritualen über räumliche Distanzen hinweg
Medien stellen den Raum dar, in dem Rituale praktiziert werden (z.B. Internet[5])
Medien bilden Gegenstand und Kontext von Ritualen
Foto: "World of Warcraft Cosplayers", verkleidet als Nachtelf Druiden,
Quelle: wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8
[2] Siehe Kapitel 3.4.1
[3] Siehe Kapitel 3.2.1.3
[4] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[5] Siehe Kapitel 3.8.6.4
3.2.5.1 "Rite out of Place" oder die Medialisierung von Ritualen
Ronald Grimes[1] (2006) analysiert eine Vielfalt von Möglichkeiten, wie Rituale fotografiert, gefilmt und
medialisiert werden - und dadurch an neue Orte und in andere Kontexte gelangen. Diese reichen von der
wissenschaftlichen visuellen Dokumentation (z.B. im ethnographischen Film) bis zur "mediated ritual fantasy":
Spielfilme, Videospiele und virtuelle Welten erfinden Rituale, die oft eine Collage aus Elementen diverser
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ritueller Traditionen darstellen.
Die mediale (Re)präsentation von Ritualen bildet eine besondere Form des Ritualtransfers[2] . Grimes
bezeichnet diesen Prozess als "reframing": So erhalten etwa Rituale im Spielfilm als Teile der Handlung und
der Erzählung eine neue Bedeutung.
Besonderen Stellenwert nehmen durch Medien erweiterte Rituale ein: TV- Übertragungen oder YoutubeVideos[3] von rituellen Ereignissen (z.B. im Rahmen des Sports) führen zu einer Entgrenzung der Teilnahme
an solchen Events und schaffen neue Dimensionen des rituellen Raums in Zusammenhang mit verschiedenen
Aspekten von Globalisierung[4].
Foto: Olympische Spiele, London (2012), Quelle: wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://ronaldlgrimes.twohornedbull.ca/
[2] Siehe Kapitel 3.2.1.4
[3] http://www.youtube.com/
[4] Siehe Kapitel 3.4
3.2.6 Literatur
Baer, Hans A. 2007: Symbols.[1] In: William H. Swatos (Hg.): Encyclopedia of Religion. Web Version. [Zugriff:
19.04.2013]
Bell, Catherine 1997: Ritual. Perspectives and Dimensions. Oxford, New York: Oxford University Press.
Durkheim, Émile 1912/1981: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Douglas, Mary 1974/1993: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in
Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Förster, Till 2003: Victor Turners Ritualtheorie.[2] Eine ethnologische Lektüre. In: Theologische
Literaturzeitung 128.7-8: 703-716. [Zugriff: 19.04.2013]
Gaida, Anne-Kathrin 2009: Das Konzept "Ritualtransfer".[3] [Zugriff: 19.04.2013]
Gennep, Arnold van 1909: Les rites de passage. Paris: Nourry [dt. Übergangsriten. Frankfurt/M.: Campus,
1986].
Grimes, Ronald 2006: Rite out of Place. Ritual, Media, and the Arts. Oxford, New York: Oxford University Press.
Grünwedel, Heiko 2008: Schamanenbiografien zwischen Sibirien und Deutschland.[4] Gegenwärtige
Wanderbewegungen von Ritualen im Raum des Dazwischen. In: journal-ethnologie.de. [Zugriff: 19.04.2013]
Krieger, David und Andrea Belliger 1998: Einführung. In: dies. (Hg.): Ritualtheorien: Ein einführendes
Handbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 7-35.
Mader, Elke 2007: Encounters with Otavalo. Ritual, Identities, and the Internet. In: Muršic, Rajko und Jaka
Repic (Hg.): Places of Encounter. In memoriam Borut Brumen. Ljubljana: Zupanjceva knjiznica: 221-239.
Michaels, Axel 1999: „Le rituel pour le rituel“ oder wie sinnlos sind Rituale? In: Caduff, Corina und Johanna
Pfaff-Czarnecka (Hg.): Rituale heute. Theorien - Kontroversen - Entwürfe. Berlin: Reimer: 23-48.
Michaels, Axel 2002: Wozu Rituale gut sind.[5] In: Ruperto Carola 3/2002 [Zugriff: 19.04.2013].
Michaels, Axel 2007: Vorwort. In: ders. (Hg.): Die neue Kraft der Rituale. Heidelberg: Universitätsverlag Winter:
5-9.
Oppitz, Michael 2007: An den Rändern des Rituals. In: Michaels, Axel (Hg.): Die neue Kraft der Rituale.
Heidelberg: Universitätsverlag Winter: 261-290.
Radde-Antweiler, Kerstin (Hg.) 2006: Heidelberg Journal of Religions. Special Issue on Rituals on the
Internet.[6] [Zugriff: 19.04.2013]
Stohrer, Ulrike 2008: Väter der Ritualtheorie.[7] Arnold van Gennep und die Übergangsriten und Victor
Turners Begriff der "Liminalität". In: journal- ethnologie.de. [Zugriff: 19.04.2013]
Tambiah, Stanley 1985: Culture, Thought and Social Action: An Anthropological Perspective. Cambridge,
London: Harvard University Press.
Turner, Victor 1967: The Forest of Symbols. Ithaca: Cornell University Press.
Turner, Victor 1969: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Ithaca: Cornell University Press.
Turner, Victor 1987: The Anthropology of Performance. New York: PAJ Publications.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://hirr.hartsem.edu/ency/Symbols.htm
[2] http://www.unibas-ethno.ch/redakteure/foerster/dokumente/Turner2.pdf
[3] http://webreligion.wordpress.com/2009/06/12/das-konzept-ritualtransfer/
[4] http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2008/Rituale_heute
/Schamanenbiografien_zwischen_Sibirien_und_Deutschland/index.phtml
[5] http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca3_2002/michaels.html
[6] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ojs/index.php/religions/issue/view/151
[7] http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2008
/Ethnologische_Theorien/Vaeter_der_Ritualtheorie/index.phtml
3.3 Kolonialismus
Kolonialismus, Kolonialität, Imperialismus oder
Neokolonialismusbezeichnen historische, politische,
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ökonomische oder kulturelle Prozesse in Verbindung mit
Abbildung: "Enjoy colonialism since 1493", Quelle:
einer Herrschaftsform, die auf territorialer Expansion
nothingtobegainedhere.wordpress.com
und hegemonialen Ansprüchen auf Menschen und
Ressourcen beruht. Diese gehen oft Hand in Hand mit ideologischen Rechtfertigungsdoktrinen der
kulturellen[1] Höherwertigkeit - z.B. Zivilisierte vs. Wilde, richtiger Glaube vs. Aberglaube, Rationalität vs.
Irrationalität (vgl. Osterhammel 1995). Kolonialistische (Denk-)Systeme zeichnen sich daher durch eine
Abwertung der Kolonisierten und eine entsprechende Aufwertung der Kolonialherrschaft aus. Sie stehen
in enger Verbindung mit Rassismus und Ethnozentrismus[2].
Im Zuge von Kolonialismus kommt es auch zu einer Reihe von inter- und transkulturellen Prozessen, die
unter bestimmten Herrschaftsverhältnissen vonstatten gehen. Transkulturalität, Anpassung, Synkretismus,
Hybridisierung oder Kreolisierung sind oft Teil von lange andauernden kulturellen Interkationen, die unter
anderem koloniale Systeme und diverse Formen von Kolonialität kennzeichnen. Ein gutes Beispiel für solche
kulturellen Baukästen und Verflechtungen ist Lateinamerika[3].
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.8
[2] Siehe Kapitel 1.2.4
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-241.html
3.3.1 Dimensionen des Kolonialismus
Koloniale und imperiale Herrschaftssysteme etablierten sich in verschiedenen historischen Epochen
(z.B. Antike, Neuzeit) und kulturellen Kontexten (z.B. Römisches Imperium, Reich der Inka, chinesischer
Kolonialismus). Die größte räumliche Ausdehnung hatte das europäische Kolonialsystem der Neuzeit: "In der
Weltgeschichte hat kein Kontinent so viele unterschiedliche Formen an Kolonien besessen und keiner den
Zugriff auf die Welt über die Zivilisierungsmission als einem säkularem Programm so unvergleichlich definiert
wie das neuzeitliche Europa." (Stuchtey 2010: 1)
Abbildung: Europäische Kolonialismus 1500-2000, Quelle: qed.princeton.edu
Für allgemeine Definitionen und Konzepte sowie einen Überblick zum europäischen Kolonialismus der Neuzeit
vgl. z.B. Stuchtey[1] 2010. Eine interaktive Karte[2] veranschaulicht die Entwicklung kolonialer
Herrschaftssysteme.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
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[1] http://www.ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/kolonialismus-und-imperialismus/benedikt-stuchteykolonialismus-und-imperialismus-von-1450-bis-1950
[2] http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/89/Colonisation2.gif
3.3.1.1 Colonial Frontier
Eine besondere Dimension des Kolonialismus bildet die colonial frontier ("Kolonisationsfront", Grenzzone). Sie
befindet sich an inneren und äußeren Rändern kolonialer Gefüge, an denen es oft (noch) keine eindeutigen
Herrschaftsverhältnisse gibt, und involviert verschiedene Akteure, Interessen, Konzepte und Handlungsweisen
in ein komplexes Feld von Interaktionen und Gewalt.
Eine colonial frontier kann in einer Region über Jahrhunderte in veränderten Konstellationen bestehen und mit
unterschiedlichen historischen und ökonomischen Prozessen vernetzt sein. So umfasst die colonial frontier im
südamerikanischen Tiefland eine Vielfalt von regionalen Facetten in unterschiedlichen Zeitepochen. Beispiele
für die Diversität dieser Grenzzonen sind etwa die Küste Brasiliens in der frühen Kolonialzeit[1], der
Kautschukboom im 19. und 20. Jahrhundert und seine Folgen (vgl. Taussig 1987), aber auch Konfrontationen
zwischen indigenen Gemeinschaften, Nationalstaaten und transnationalen Konzernen im Amazonasgebiet
bezüglich Ressourcennutzung und Landrechtsfragen oder die anhaltende Missionstätigkeit in der Gegenwart.
Ein klassisches Beispiel für die Ränder und Fronten des Kolonialismus ist auch die US-Amerikanische
"frontier"[2], der sogenannte "Wilde Westen". So repräsentiert der "spirit of the frontier" eine typisch
kolonialistische Ideologie der Überlegenheit, die Hand in Hand mit der gewaltsamen Aneignung von Land und
Ressourcen geht.
Abbildung: "Spirit of the Frontier" John Gast (1872); "This painting shows ‘Manifest Destiny’
(the religious belief that the United States should expand from the Atlantic Ocean to the Pacific
Ocean in the name of God). In 1872 artist John Gast painted a popular scene of people
moving west that captured the view of Americans at the time. Called ‘Spirit of the Frontier’ and
widely distributed as an engraving portrayed settlers moving west, guided and protected by a
goddess-like figure of Columbia and aided by technology (railways, telegraphs), driving Native
Americans and bison into obscurity. It is also important to note that angel is bringing the ‘light’
as witnessed on the eastern side of the painting as she travels towards the ‘darkened’ west."
Quelle: wikimedia.org
Auch der ehemalige "Wilde Westen" (sowie andere Regionen der USA und Kanadas) sind bis heute durch
Kolonialität, d.h. durch eine andauernde koloniale Machtmatrix in Hinblick auf die Native Americans/First
Nations gekennzeichnet. Diese Prozesse werden beispielsweise im Dokumentarfilm "No More Smoke
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Signals"[3] (Bräuning 2008) thematisiert.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-77.html
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Frontier
[3] http://www.youtube.com/watch?v=ufHU1UnnhrE
3.3.1.2 Kolonialität
Unter dem Begriff der Kolonialität werden Prozesse und Strukturen verstanden, die aus kolonialen
Verhältnissen hervorgehen: Er bezeichnet die Kontinuität solcher Machtverhältnisse auch nach dem Ende von
kolonialen Verwaltungen. Kolonialität ist Teil des Strukturierungsprozesses im Rahmen spezifischer politischer
Gefüge (z.B. in den USA oder in Lateinamerika in Hinblick auf die indigenen Gemeinschaften/Native Americans
oder Afro- AmerikanerInnen). So sind Gesellschaft und Politik in vielen Ländern von einer "kolonialen
Machtmatrix" bzw. der "Kolonialität der Macht" geprägt (vgl. Grosfoguel 2010). Ökonomische und politische
Aspekte der Globalisierung[1] stehen ebenfalls oft in einem Naheverhältnis zu kolonialen Prozessen, weil sie
alte, jedoch meist immer noch fortwirkende Machtverhältnisse aufs Neue verstärken oder neue kolonialistische
Beziehungen etablieren.
Abbildung: "The Achuar People vs Big Oil", Quelle: cipovan.org
Kolonialität beeinflusst heute viele Aspekte des Lebens weltweit: Sie kommt in ökonomischen
Zusammenhängen[2], sozialen und politischen Machtverhältnissen oder kulturelle Verflechtungen, Praktiken
und Diskursen zum Ausdruck. Kolonialität kann als ein Prozess verstanden werden, der mit Machtansprüchen
und Herrschaftsverhältnissen verbunden ist, die in unterschiedlichen historischen und politischen Konditionen
immer wieder neu definiert, angeeignet, aber auch in Frage gestellt werden (vgl. auch Davis-Sulikowski, Khittel
und Slama 2009).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.6
3.3.1.3 Kolonialität am Beispiel Lateinamerikas
Lateinamerika war das erste große Kolonialsystem Europas in der Neuzeit. Im 19. Jahrhundert kam es zwar
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zur politischen Trennung der lateinamerikanischen Staaten vom spanischen und im Fall von Brasilien
portugiesischen "Mutterland" - dies implizierte jedoch nur in wenigen Fällen eine Entkolonialisierung der
lateinamerikanischen Gesellschaft. Vielmehr orientieren sich jene Eliten, die schon während der Kolonialzeit
hohe gesellschaftliche Positionen innehatten (also primär Menschen iberischer Herkunft - in manchen Fällen
durch Heirat mit der lokalen Bevölkerung vermischt), in ihren Lebensweisen und Praktiken weiter an Europa.
Die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten implizierte keine grundlegenden Veränderungen
der kolonialen Machtmatrix in Bezug auf die indigene und afro-amerikanische Bevölkerung.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Phase der Entkolonialisierung und des
Postkolonialismus[1] in Afrika und Asien, entwickelte sich in Lateinamerika ein gesellschaftlicher Prozess, der
als Entkolonialisierung verstanden werden kann (z.B. entsprechende Änderungen der Verfassung). Dies
erfolgte allerdings nur partiell in einzelnen Staaten. Generell ist die Gesellschaft Lateinamerikas durch
Kolonialität[2] geprägt.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.3.1.4
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-749.html
3.3.1.4 Postkolonialismus
Der Begriff "postkolonial"entstand Ende der 1980er Jahre und bezieht sich auf den Zeitraum nach der
Entkolonisierung, das heißt nach dem Erlangen der politischen Unabhängigkeit der europäischen Kolonien in erster Linie in Afrika und Asien. Die postkoloniale Periode steht in enger Verbindung mit Migration und
Diaspora sowie mit Prozessen der Globalisierung[1]. Der Begriff des Postkolonialismus impliziert auch eine
kritische Position zu kolonialen Systemen und beinhaltet eine Sichtweise auf die Welt jenseits
eurozentrischer[2] Mächtigkeiten (vgl. Davis- Sulikowski, Khittel und Slama 2009: 94).
Die interdisziplinäre Forschungsrichtung der Postcolonial Studies (für einen Überblick siehe z.B. Reuter und
Karentzos 2012) umfasst unter anderem auch kultur-und sozialanthropologische Untersuchungen. Einen
Schwerpunkt bildet die Analyse und Dekonstruktion von bis in die Gegenwart hinein wirkmächtigen kolonialen
Strukturen, Diskursen und Denkmustern im Sinne der Kolonialität[3]. Wesentlich für die Postcolonial Studies
sind auch neue Konzepte der (kulturellen) Zugehörigkeit und Verortung, wie sie zum Beispiel von Homi
Bhabha[4] (1994) entwickelt wurden.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4
[2] Siehe Kapitel 1.2.4
[3] Siehe Kapitel 3.3.1.2
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Homi_K._Bhabha
3.3.2 Kolonialismus und Kultur-und Sozialanthropologie
Eine Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen (u.a. Geschichte, Ökonomie, Politikwissenschaften,
Religionswissenschaft oder Kultur- und Sozialanthropologie[1]) untersucht verschiedene Dimensionen von
Kolonialismus. Entsprechende Studien stehen in Zusammenhang mit Fragen nach Macht und Herrschaft
sowie nach spezifischen Konditionen ökonomischer, sozialer und (trans)kultureller Entwicklungen und
Interaktionen.
In der Kultur- und Sozialanthropologie steht Kolonialismus in Zusammenhang mit
den Rahmenbedingung der Entwicklung des Faches
epistemologischen und methodologischen Überlegungen
diversen Forschungsfeldern und Fragestellungen
theoretischen Konzepten und Modellen.
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Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1
3.3.2.1 Kolonialismus als Rahmenbedingung des Faches
Die Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie als
Fachdisziplin muss in Zusammenhang mit ihren
Verflechtungen mit dem Kolonialismus und dessen
Machtstrukturen verstanden werden. Das Verhältnis von KSA
und Kolonialismus ist als Teil der weltweiten
Herrschaftsstrukturen des europäischen Kolonialismus der
Neuzeit zu betrachten und stellt seit circa 1970 auch ein
wichtiges Forschungsfeld einer kritischen Fachgeschichte dar.
Zur Debatte stehen dabei anthropologische Diskurse als eine
Form der Repräsentation der Kolonisierten sowie Fragen nach
theoretischen Fundamenten des Faches und ihren kolonialen
Perspektiven.
So sind zentrale Konzepte des Faches im 19. Jahrhundert[1]
und darüber hinaus - so etwa der Begriff der "primitiven
Gesellschaft" - eng mit Kolonialismus und einem eurozentrischen
Überlegenheitsdenken verbunden. Adam Kuper[2] (1988) zeigt
in seinem Buch The Invention of Primitive Society wie
Erklärungsmodelle zur Entstehung der Gesellschaft oder der
Religion, die seit dem Evolutionismus diskutiert werden, ein
unzivilisiertes Gegenbild zur westlichen Gesellschaft
konstruieren.
Foto: Evans-Pritchard bei den Azande (1928),
Quelle: classes.yale.edu
Die kolonialen Konditionen beeinflussten die
ethnographische Datenerhebung[3] in diversen Regionen und
in Bezug auf unterschiedliche koloniale Regime. Das betrifft
einerseits frühe Quellen, die oft aus der Feder von Personen stammen, die direkt an Eroberung, Missionierung
oder Verwaltung der entsprechenden Kolonien beteiligt waren. Ein gutes Beispiel für diese Form der
Konstruktion von ethnographischem Wissen sind Chronisten und Missionare in Lateinamerika[4].
Auch im 20. Jahrhundert arbeiteten einige Forscher direkt für die Kolonialherrschaft (z.B. Sir Edward Evan
Evans-Pritchard[5] in Afrika im Auftrag der englischen Krone), oder sie unterstützten kolonialistische Politik
(z.B. Julian Steward[6] in Bezug auf Native Americans in den USA - vgl. Pinkoski 2008).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.1
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Adam_Kuper
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-69.html
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/E._E._Evans-Pritchard
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Julian_Steward
3.3.2.1.1 Chronisten und Missionare in Lateinamerika
Die Geschichte der Ethnographie sowie der Kultur- und Sozialanthropologie in Lateinamerika[1] beginnt
mit den ersten Berichten von Conquistadoren, Chronisten und Missionaren über Land und Leute. Bei diesen
Frühformen ethnographischen Schreibens und den dort formulierten Kulturtheorien handelt es sich zwar nicht
um wissenschaftliche Texte im Sinne der modernen Kultur- und Sozialwissenschaften als akademische
Disziplinen[2], die sich im 19. Jahrhunderts konstituierten, sie stellen jedoch eine wichtige Form der
Auseinandersetzung mit anderen Kulturen dar und haben die Entstehung dieser Wissenschaften wesentlich
beeinflusst.
Die Chroniken und Berichte entstanden im Zuge von Kontakten und Konfrontationen der EuropäerInnen mit
den BewohnerInnen der "Neuen Welt". Der soziale und politische Kontext, in dem die frühen
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ethnographischen Texte entstanden, ist die gewaltsame Eroberung von Mittel- und Südamerika und das
Implementieren des kolonialen Systems in Lateinamerika. Beispiele für solche Texte sind etwa die
Rechenschaftsberichte an die Herrschenden (relaciones), das Bordbuch des Kolumbus[3] (1492/1970), Hans
Stadens[4] Buch Die wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute (1557) oder
die Chronik des Poma de Ayala[5] (1615).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-69.html
[2] Siehe Kapitel 2
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-70.html
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-76.html
[5] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-83.html
3.3.2.2 Kolonialismus als Forschungsgegenstand
"Anthropologists mostly think of colonialism in three ways: as the universal, evolutionary progress of
modernization; as a particular strategy or experiment in domination and exploitation; and as the unfinished
business of struggle and negotiation. All these views, in both positive and negative versions, were common
colonial currency. Anthropological views of colonialism commonly stressed a combination of the three." (Pels
1997: 164)
Kolonialismus ist mit diversen Forschungsfeldern und Fragestellungen der KSA verbunden. Diese
beziehen sich zum einen - im Sinne der historischen Anthropologie - auf die spezifische historische Phase der
Kolonialherrschaft in verschiedenen Regionen. Zum anderen untersucht die Kultur- und Sozialanthropologie
diverse kolonialistische Strukturen und Prozesse, die kulturellen Praktiken und sozio-politischen Gefügen der
Gegenwart zugrunde liegen und/oder in diesen zum Ausdruck kommen.
Abbildung: Sklaventransport in Afrika, Quelle: wikimedia.org
Beispiele für die Vielfalt an Themen und Forschungsfeldern der Anthropologie des Kolonialismus sind
(vgl. auch Pels 1997):
ökonomische und kulturelle Verflechtungen in Sinne eines von Kolonialismus geprägten Weltsystems
(vgl. Eric Wolf[1] 1982/1991 und Sidney Mintz[2] 1987)
Konflikt, Gewalt, Widerstand (u.a. in Zusammenhang mit neo-kolonialen Aktivitäten)
Weltbild, Ritual[3], Religion[4] (u.a. in Zusammenhang mit Missionierung). Zu Weltbild und
Menschenbild im Rahmen der Kolonialherrschaft in Lateinamerika siehe Mader[5], zur kolonialen Debatte
der Frage "Sind Indianer Menschen?"
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Sklaverei und ihre Folgen für die betroffenen Bevölkerungsgruppen in der Gegenwart
Einfluss von Kolonialismus auf lokale Gesellschaften/Kulturen (z.B. Gemeinschaft, Ökonomie, Religion,
Familie, Gender) bzw. interaktive Prozesse zwischen diversen AkteurInnen
Transkulturelle Prozesse und die Entstehung neuer kultureller Praktiken (z.B. im religiösen und rituellen
Bereich oder in Hinblick auf materielle Kultur und Konsum)
Entkolonialisierung, Postkolonialismus und die Konstruktion neuer Identitäten
Verbindung von vorkolonialer und postkolonialer Praxis - u.a. die Neubewertung und Neuinszenierung von
indigenen Traditionen
Migration und Diaspora
Repräsentation von Kolonialismus und Postkolonialismus in visueller oder materieller Kultur
Foto: Afrikanisches Textilgeschäft in London, E. Mader
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-243.html
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-255.html
[3] Siehe Kapitel 3.2
[4] Siehe Kapitel 3.1
[5] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-94.html
3.3.3 Eric Wolf: Kolonialismus, Ökonomie und Verflechtungen
"Unsere Menschenwelt stellt eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und
Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität."
(Wolf 1982/1991: 17)
Eric Wolf[1] leistete einen wesentlichen Beitrag zur Kolonialismus-Forschung in der Kultur- und
Sozialanthropologie und darüber hinaus. In seinem Werk Europe and the People without History / Die Völker
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ohne Geschichte (1982/1991) betont er die Vielfalt historischer Beispiele für unterschiedlichste
Verflechtungen, konzentrierte sich dabei jedoch vor allem auf den europäischen Kolonialismus der Neuzeit. In
dieser Zeit konstituierte sich erstmals eine Art dichtes globales Netzwerk, in dem Menschen aus
unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen in einem ökonomischen Gefüge miteinander
verbunden waren.
Abbildung: Karte des transatlantischen Sklavenhandels, Quelle: hrsbstaff.ednet.ns.ca
Wolf analysiert den Kolonialismus als ein weltumspannendes wirtschaftliches Gefüge von Produktion
und Zirkulation verschiedenster Waren und der damit zusammenhängenden Akkumulation von Macht in
bestimmten Zentren. Im Mittelpunkt seiner theoretischen Grundlagen steht die politische Ökonomie[2] und
damit verbunden Fragen nach dem Verhältnis von Macht und Geschichte sowie nach Gruppenbeziehungen in
komplexen Gesellschaften.
Wolf thematisierte verschiedene ökonomische Bedingungen und Ziele der europäischen Expansion im Zuge der
Kolonialisierung. Er untersucht dabei auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowohl verschiedener
europäischer Staaten, als auch kolonialisierter Zonen. In diesem Sinne ist Eric Wolf[3] auch als ein Vorläufer
von Globalisierungstheorien[4] zu verstehen, die ebenfalls von einer Intensivierung solcher
Vernetzungsprozesse ausgehen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-243.html
[2] Siehe Kapitel 3.6.1
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-163.html
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.2
3.3.4 Repräsentation von Kolonialismus im Spielfilm
"…fictional feature film can also act as a guide to cultural constructions of everyday life, to symbolic and
metaphoric communication, and to political and economic forces." (Gray 2010: XI)
Die Auseinandersetzung mit der Repräsentation von Kolonialismus im Spielfilm liegt an der Schnittstelle
zwischen der Anthropologie des Kolonialismus[1], der visuellen Anthropologie und der
Medienanthropologie[2].
Die Analyse von Spielfilmen aus der Perspektive der Kultur- und Sozialanthropologie ist eine relativ neue
Forschungsrichtung, die sich sowohl mit Inhalten der Filme als auch mit deren Kontext beschäftigt (vgl. Gray
2010, Mader 2008, Sutton und Wogan 2009). Sie geht davon aus, dass Filme in spezifischen soziokulturellen, ökonomischen und politischen Kontexten entstehen und rezipiert werden, und untersucht
verschiedene Dimensionen von Inhalt, Produktion, Zirkulation und Rezeption.
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Spielfilme können als visuelle Diskurse zu verschiedenen Aspekten von Kolonialismus, Kolonialität[3]
und Postkolonialismus[4] verstanden werden. Die filmische Umsetzung kolonialistischer Welten erfolgt in
unterschiedlichen Formen: Historische Darstellungsweisen verlegen die Handlung in konkrete räumliche und
zeitliche Kontexte, andere Darstellungsweisen (vor allem im Rahmen des Science Fiction Genres) transferieren
die Repräsentation von Kolonialismus in andere Welten und Zeiträume.
Abbildung: Filmplakat "Dances with Wolves", USA
1990, Regie: Kevin Costner, youtube.com
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Abbildung: Filmplakat "Avatar", USA 2009, Regie:
James Cameron, youtube.com
Parallelen zwischen "Dances with Wolves" & "Avatar" werden beispielsweise in einer Trailer Parodie[5]
aufgegriffen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.3.2
[2] Siehe Kapitel 3.8
[3] Siehe Kapitel 3.3.1.2
[4] Siehe Kapitel 3.3.1.4
[5] http://www.youtube.com/watch?v=Q9uo4nOD__s
3.3.4.1 Konflikt, Kultur und Transformation
Zentrale Themen in Spielfilmen bilden die Repräsentation und Reflexion der eigenen Vergangenheit als
Kolonialherrn oder Kolonisierte, sie umfassen die Aufarbeitung der Beziehung zu (ehemaligen) Kolonien
sowie die Konstruktion von postkolonialen Identitäten[1]. Die Filme erzählen Geschichten, in denen
Machtverhältnisse interpretiert, bestätigt oder in Frage gestellt werden. Im Mittelpunkt der Handlung steht
häufig die Gegenüberstellung von Kolonialherrschaft und Kolonisierten im Zuge von Konflikten, Gegensätzen
und Interaktionen. Dabei wird das Verhältnis von Homogenität und Diversität[2], Individuum und
Gesellschaft[3], Zustimmung und Widerstand angesprochen.
Spielfilme über Kolonialismus konstruieren und/oder dekonstruieren Identitäten, und zwar oft aus einer
Perspektive des Postkolonialismus. Dabei kommt der Darstellung kultureller Praktiken besondere Bedeutung
zu. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Repräsentation von transkulturellen Prozessen, die oft mit
Liebesgeschichten verbunden werden. Diese Verflechtungen, Transfers und Transformationen betreffen des
weiteren unter anderem materielle Kultur, Technologien und diverse kulturelle Praktiken. Wesentliche Themen
sind aber auch Krieg, Kampf und Gewalt. (Vgl. z.B. Needham und Eleftheriotis 2006)
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Abbildung: DVD der Filmreihe "Wong Fei-hung 飛鴻
(Once upon a time in China)" 1-8, Hong Kong 1991
ect., Regie: Tsui Hark, youtube.com
Abbildung: Filmplakat "Lagaan (Once upon a time in
India)", Indien 2001, Regie: Ashutosh Gowariker,
youtube.com
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Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.3.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
3.3.5 Literatur
Bhabha, Homi 1994: The Location of Culture. London: Routledge.
Davis-Sulikowski, Ulrike, Stefan Khittel und Martin Slama 2009: Migration, Diaspora und postkoloniale
Zugehörigkeiten. Identitäten, Grenzen, Verortungen. In: Maria Six-Hohenbalken und Jelena Tošić (Hg.):
Anthropologie der Migration. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte. Wien: Facultas: 93-109.
Eleftheriotis, Dimitri und Gary Needham (Hg.) 2006: Asian Cinemas: A Reader and Guide. Edinburgh:
Edinburgh University Press.
Gray, Gordon 2010: Cinema: A Visual Anthropology. London und NewYork: Berg.
Grosfoguel, Ramón 2010: Die Dekolonisation polit-ökonomischer und postkolonialer Studien – Transmoderne,
Grenzdenken und Postkolonialität. In: Manuela Boatcă und Willfried Spohn (Hg.): Globale, multiple und
postkoloniale Modernen. München: Rainer Hampp Verlag: 309-339.
Kuper, Adam 1988: The Invention of Primitive Society: Transformations of an Illusion. London: Routledge.
Mader, Elke 2008: Anthropologie der Mythen. Wien: Facultas.
Mintz, Sidney 1987: Die süße Macht. Eine Kulturgeschichte des Zuckers. Frankfurt/Main: Campus.
Osterhammel, Jürgen 1995: Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen. München: Beck.
Pels, Peter 1997: The Anthropology of Colonialism: Culture, History, and the Emergence of Western
Governmentality. In: Annual Revue of Anthropology 26: 163-113.
Pinkoski, Marc 2008: Julian Steward, American Anthropology, and Colonialism. In: Histories of Anthropology
Annual, Vol 4. No. 1: 172-204.
Reuter, Julia und Alexandra Karentzos (Hg.) 2012: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.
Stuchtey, Benedikt 2010: Kolonialismus und Imperialismus von 1450 bis 1950.[1] [Zugriff: 03.09.2013].
Sutton, David und Peter Wogan 2009: Hollywood Blockbusters: The Anthropology of Popular Movies. London
und NewYork: Berg.
Taussig, Michael 1987: Shamanism, Colonialism, and the Wild Man. Chicago: University of Chicago Press.
Wolf, Eric 1982/1991: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt/Main und
New York: Campus Verlag.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.ieg-ego.eu/de/threads/hintergruende/kolonialismus-und-imperialismus/benedikt-stuchteykolonialismus-und-imperialismus-von-1450-bis-1950
3.4 Globalisierung
Es gibt in der Kultur- und Sozialanthropologie eine Vielzahl an Definitionen für "Globalisierung" und
unterschiedliche Konzepte, um globale und globalisierende Prozesse und Phänomene zu beschreiben und zu
untersuchen (vgl. z.B. Eriksen 2003, 2007, Friedman 1994, Hannerz 1996, Hauser-Schäublin und Braukämper
2002, Inda und Rosaldo 2002b). In der Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology (Barnard und Spencer
1996: 607) wird Globalisierung knapp als die Tendenz zunehmender globaler Verflechtungen in Kultur,
Ökonomie und sozialem Leben beschrieben. Im Lexikon der Globalisierung (Kreff, Knoll und Gingrich 2011)
findet sich eine detaillierte Begriffsbestimmung:
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"Globalisierung bezeichnet weltweite Verflechtungs-, Austausch- und Abhängigkeitsprozesse.
Kommunikations- und Transportmittel sind dabei besonders bedeutsam für die weltumspannenden Ströme
von Finanzkapital, Waren, Technologien, Menschen und Ideen. Globalisierung hat nicht nur
vereinheitlichende Wirkung, sondern geht auch mit kreativen Aneignungen oder Widerstand einher und
reproduziert alte und bringt neue Unterschiede hervor. Daß diese Verflechtungen und Auswirkungen weltweit
im wissenschaftlichen und im Alltagsleben spürbar und bewußt sind, ist - im Unterschied zu früheren
überlokalen Interaktionen - ein wesentliches Merkmal der gegenwärtigen Phase der Globalisierung." (Knoll,
Gingrich und Kreff 2011: 126)
Jonathan Xavier Inda[1] und Renato Rosaldo[2] (2002a: 2) argumentieren, dass sich der Begriff
"Globalisierung" vor allem auf die Intensivierung globaler Vernetzungen bezieht, was eine Welt voller
Bewegung und Vermischung, Kontakten und Verbindungen sowie kultureller Interaktionen und
Austausch ermöglicht. Die Mobilität von Menschen, Kapital, Bildern und Ideen und ihre Verbindungen sind
charakteristisch für die globalisierte Welt. In dieser vernetzen Welt in Bewegung erfahren wir eine zunehmende
Komprimierung von Zeit und Raum. Die Intensivierung und die Beschleunigung dieser Raum-Zeit
Komprimierung im ökonomischen und sozialen Leben sind für viele Globalisierungstheoretiker die zentralen
Aspekte von Globalisierung[3] (vgl. Inda und Rosalda 2002a: 6 und z.B. Giddens 1990, Harvey 1989,
Kearney 1995).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lls.illinois.edu/people/jxinda
[2] http://anthropology.as.nyu.edu/object/RenatoRosaldo.html
[3] Siehe Kapitel 3.4.1.1
3.4.1 Gegenwärtige Phase der Globalisierung
Da es sich bei Globalisierung um einen fortlaufenden Prozess handelt, der eine lange Geschichte hat
(vgl. z.B. Wolf 1986), macht es laut einiger Kultur- und SozialanthropologInnen Sinn von einer
gegenwärtigen oder aktuellen Phase der Globalisierung zu sprechen (vgl. z.B. Eriksen 2007, Knoll, Kreff
und Gingrich 2011, Lewellen 2002). Ted C. Lewellen[1] (2002: 7f.) versteht unter der gegenwärtigen
Globalisierung einerseits die zunehmenden Ströme von Waren, Finanzen, Kultur, Ideen und Menschen, die
durch Kommunikations- und Transporttechnologien sowie durch die weltweite Verbreitung des neoliberalen
Kapitalismus ermöglicht werden. Anderseits ist Globalisierung auch gegenwärtig durch die lokale und
regionale Anpassung an diese Ströme sowie durch Widerstand gegen sie gekennzeichnet.
Foto: "Idle No More"
ProtestantInnen in Victoria, Kanada (2012), Quelle: flickr.com
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In Zeiten gegenwärtiger Globalisierungsprozesse befasst sich die Kultur- und Sozialanthropologie besonders
mit überlokalen und transkulturellen Strömungen sowie mit globalen und transnationalen
"Landschaften" und "Räumen" (Knoll, Kreff und Gingrich 2011, vgl. auch Appadurai 1996). Globalisierung
wird einerseits mit Finanzmärkten und der Expansion des Neoliberalismus assoziiert, die in Zusammenhang mit
Konsumtion und Kommodifizierung sämtliche Lebensbereiche durchdringen und so auch für den Einzelnen
spürbar sind. Multinationale und globale Firmen sowie der Welthandel beeinflussen das Arbeitsleben und
formen neue Arbeitswelten. Andererseits zeigt sich Globalisierung auch in einem politisch-ideologischen
Spannungsverhältnis, in dem "von unten" zivilgesellschaftliche Bewegungen überlokalen Herrschaftsformen
"von oben" entgegenwirken (vgl. Knoll, Kreff und Gingrich 2011).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Ted_C._Lewellen
3.4.1.1 Aspekte und Elemente der gegenwärtigen Globalisierung
Auch wenn Globalisierung kein neues Phänomen ist[1] und sich über hunderte Jahre prozessual
entwickelt[2] hat, finden sich sehr wohl neue Aspekte in der gegenwärtige Phase der Globalisierung:
1. Die globale Verbreitung und Dominanz des neoliberalen Kapitalismus (vgl. Lewellen 2002, Eriksen
2007).
2. Lokalisierung, Regionalisierung und Globalisierung bilden zusammen ein System, das enger
miteinander verbunden ist als jemals zuvor. Das bedeutet anders ausgedrückt, dass die "Präsenz des
Globalen" von mehr und mehr Menschen direkt und in ihrem spezifischen lokalen Kontext erfahren wird
(vgl. Lewellen 2002).
3. Die Entwicklung und globale Verbreitung von neuen Kommunikationstechnologien wie dem
Internet[3] (vgl. Eriksen 2007).
Abbildung: Anteil der Internet NutzerInnen an der Gesamtbevölkerung 2012, International
Telecommunications Union, Quelle: wikimedia.org
Nach Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a) setzt sich Globalisierung aus vier
charakteristischen Elementen zusammen:
1. Die Beschleunigung der Ströme[4] von Menschen, Waren, Ideen, Finanzen, etc.
2. Die Intensivierung der Interaktionsmodi, die die Welt vernetzen.
3. Die Ausdehnung von soziokulturellen, politischen und ökonomischen Praktiken über
(nationalstaatliche) Grenzen hinweg[5].
4. Die Verknüpfung des Lokalen mit dem Globalen[6] und umgekehrt: "… while everyone might continue
to live local lives, their phenomenal worlds have to some extend become global as distant events come to
have an impact on local spaces, and local developments come to have global repercussions" (Inda und
Rosaldo 2002a: 9).
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(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.2
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-9.html
[3] Siehe Kapitel 3.8.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.7
[5] Siehe Kapitel 3.4.4
[6] Siehe Kapitel 3.4.6.1
3.4.2 Thesen über und Perspektiven auf Globalisierung
Ted C. Lewellen (2002: 9ff.) identifiziert drei wissenschaftliche Thesen über die "Natur der
Globalisierung", die sich maßgeblich voneinander unterscheiden:
1. Die skeptische These argumentiert, dass Globalisierung gar nicht existiere oder stark übertrieben
dargestellt und behandelt werde. So waren beispielsweise die Migrationsbewegungen im 19. Jahrhundert
teilweise größer als heutzutage. Außerdem wird argumentiert, dass die Bildung von ökonomischen und
politischen Allianzen und Bündnissen viel eher als Regionalisierung denn als Globalisierung verstanden
werden kann. Außerdem ist dieser These zufolge die Stärkung von ethnischen Gruppen und
Bewegungen eher das Resultat von Lokalisierungsprozessen.
2. Die zweite These lässt sich als evolutionär beschreiben und versteht Globalisierung als ein Faktum, das
sich zwar in Stärke und Intensität verändert hat, nicht jedoch in seiner Art. Prozesse der Globalisierung
haben sich so gesehen über Jahrhunderte entwickelt und dabei die Welt und ihre Strukturen nicht auf
eine revolutionäre Art und Weise verändert.
3. Die These der "Hyperglobalisierung" schließlich meint, dass wir heute etwas komplett Neues erfahren
und deswegen in einer neuen Ära leben. Globalisierung unterscheidet sich in dieser Sichtweise
grundlegend von allem bisher Dagewesenen. Es wird angenommen, sie werde die Menschheit und das
menschliche Leben fundamental verändern: "Globalization represents not a smooth evolutionary
sequence but a rupture with the past, […] a new era" (Lewellen 2002: 10).
Eine ähnliche Unterscheidung in der perspektivischen Sicht auf Globalisierung nimmt auch Michael
Burawoy[1] (2000) vor. Ihm zufolge lassen sich Globalisierungstheoretiker und die von ihnen vertretenen
Behauptungen ebenfalls drei Perspektiven oder Kategorien zuordnen, die sich teilweise mit den von Lewellen
(2002) identifizierten Thesen decken:
1. Die Skeptiker (sceptics) behaupten, dass Globalisierung und die Diskurse zu diesem Thema künstliche
aufgebauscht werden.
2. Die Radikalen (radicals) argumentieren, dass Globalisierung einen dramatischen Wandel für alle Aspekte
des menschlichen Lebens bedeutet.
3. Die Perspektivalisten (perspectivalists) nehmen an, dass Menschen Vorstellungen zu Globalisierung
nach ihren eigenen globalen Lokalitäten kreieren.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://burawoy.berkeley.edu/index.htm
3.4.3 Globalismus, Globalität und Globalisierung
Der Soziologe Ulrich Beck[1] (1997) unterscheidet
"Globalismus", "Globalität" und "Globalisierung"
voneinander. Er beabsichtigt damit Orthodoxien
aufzubrechen, die im Zuge der Entwicklung und
Etablierung der Nationalstaaten[2] in der, wie er es nennt
"Ersten Moderne", entstanden sind (vgl. Beck 1997: 26).
Diese "Erste Moderne" ist charakterisiert durch
institutionelle Unterscheidungen, beispielsweise zwischen
Politik und Ökonomie sowie durch die Vorstellung von
geschlossenen, territorial gebundenen Einheiten wie
Nationalstaaten.
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Foto: Geld, Quelle: wikimedia.org
Während Globalismus die Ideologie der
Weltmarktherrschaft - des Neoliberalismus - und die damit
verbundene Ablöse politischer durch ökonomische Ideologien meint, lässt sich unter Globalität die Tatsache
verstehen, "dass wir (längst) in einer Weltgesellschaft leben", in der die Vorstellung von geschlossenen
Territorien fiktiv ist (ebd.: 28). Globalisierung schließlich meint "die Prozesse, in deren Folge die
Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen,
Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden" (ebd.). Globalisierung in diesem Sinn
ermöglicht also die globale Vernetzung transnationaler AkteurInnen sowie die Schaffung neuer
Verbindungen und Räume.
Diese Globalisierungsprozesse konstituieren was Beck (1997: 29) die "Zweite Moderne" nennt. Wesentlich
dabei sind kulturelle Faktoren[3], die aufgrund der Konzentration auf die ökonomischen Aspekte des
Globalismus im öffentlichen Diskurs zumeist unterrepräsentiert sind (vgl. z.B. Appadurai 1996, Hannerz 1996).
Doch gerade die "Erforschung der kulturellen Globalisierung aus einer ethnologischen Perspektive zeigt andere
Chancen und Risiken als die der wirtschaftlichen Dimension" (Breidenbach und Zukrigl 2000: 234).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.ulrichbeck.net-build.net/index.php?page=person
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-46.html
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.4
3.4.4 Transnationalismus und Transnationalisierung
Grundsätzlich sind Globalisierung[1] und Transnationalismus oder Transnationalisierung eng miteinander
verbunden. Transnationale Prozesse, Phänomene und Praktiken sind Bestandteile dessen, was zumeist als
Globalisierung verstanden wird (vgl. Eriksen 2007). Das Überschreiten von nationalstaatlichen Grenzen
sowie der Erhalt und die Etablierung von sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen sind hier
die wesentlichen Aspekte: "Transnationalisierung bezeichnet grenzüberschreitende Praktiken, Prozesse und
Vorstellungen, durch die auch über größere Distanzen hinweg Beziehungen eingegangen werden und sich
verstetigen" (Knecht 2011: 389). In der kultur- und sozialanthropologischen Analyse von Transnationalisierung
geht es vor allem um konkrete Abhängigkeitsverhältnisse und spezifische Verflechtungen, die durch
transnationale Prozesse, wie Migration, entstehen.
Foto: Mexikanische Arbeiter warten auf Arbeitsgenehmigung in den USA (1954), Quelle:
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wikimedia.org
Für Michael Kearney[2] (1995) ist Transnationalismus zu allererst im Nationalstaat verankert sowie weiters im
Überschreiten nationaler Grenzen. Das Paradebeispiel für einen transnationalen Prozess sind
Migrationsbewegungen über die Grenzen eines oder mehrerer Nationalstaaten hinweg. Entscheidend sind
hier einerseits die nationalstaatliche Ebene und die dort herrschenden soziokulturellen, politischen und
ökonomischen Verhältnisse. Andererseits ist das Überwinden von nationalstaatlichen Grenzen für den Prozess
der transnationalen Migration kennzeichnend.
Wie beispielsweise ethnographische Studien[3] zeigen, sind Nationalstaaten auch unter dem Einfluss
globaler und transnationaler Kräfte und Verbindungen noch immer mächtig (vgl. z.B. Burawoy 2000a, Burawoy
et al. 2000). Andererseits emanzipieren sich Imaginationen und Vorstellungen über globale Phänomene und
Prozesse zusehends vom Einfluss der Nationalstaaten und der Nationalstaatlichkeit (vgl. z.B. Appadurai 1996).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[2] Siehe Kapitel
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
3.4.5 Dimensionen und Faktoren der Globalisierung
Nach Thomas Hylland Eriksen[1] (2007: 8-9) beinhaltet Globalisierung folgende Dimensionen, Faktoren
oder Merkmale:
1. "Entwurzelung" (disembedding), die Delokalisierung beinhaltet und meint, dass das soziale Leben in der
Globalisierung durch die schnelle Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen seinem lokalen, räumlich
fixierten Kontext entzogen wird.
2. Beschleunigung (acceleration) durch neue Transport- und Kommunikationsmittel.
3. Standardisierung (standardization), beispielsweise durch Englisch als lingua franca oder eine
zunehmende Zahl an internationalen Vereinbarungen.
4. Verflechtung (interconnectedness) von Menschen durch Netzwerke, die zunehmend dichter und größer
werden.
5. Bewegung (movement) von Menschen, beispielsweise bei Migrationsprozessen oder im Tourismus.
6. (Ver)Mischen (mixing) von kulturellen und anderen Merkmalen des sozialen Lebens.
7. Verletzlichkeit (vulnerability) meint die Schwächung und manchmal das Auflösen von Grenzen durch
Ströme von Menschen, Finanzen und Waren.
8. "Wiedereinbettung" (re-embedding) ist die Reaktion auf Tendenzen der "Entwurzelung" in
Globalisierungsprozessen. Dabei werden lokale Zusammenhänge erneut verstärkt.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hylland_Eriksen
3.4.5.1 "Entwurzelung"
Diese Dimension der Globalisierung lässt sich als "Herausheben von sozialen Beziehungen" aus einem
lokalen Kontext von Interaktionen verstehen. Als ein wichtiges Merkmal von Globalisierung bezieht es sich
auf den zunehmend abstrakteren Charakter von Kommunikation und Objekten. Unter den
"Entwurzelungsmechanismen" in der modernen Gesellschaft finden sich unter anderem Zeit, Geld, Schreiben
sowie standardisierte Maße und Maßeinheiten. Moderne, digitale Kommunikationstechnologien[1]
gewährleisten die Effektivität der "Entwurzelungsmechanismen" in transnationalen und globalen Systemen.
Manche Kritiker sehen in der "Entwurzelung" sozialer Beziehungen auch die Gefahr der Fragmentierung und
der Entfremdung (vgl. Eriksen 2007: 31).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8.6
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3.4.5.2 Beschleunigung
Beschleunigung erscheint als Raum-Zeit-Komprimierung[1] aufgrund von ökonomischem und
technologischem Wandel. Dabei sind Technologien, die Kommunikation beschleunigen, nicht gleichmäßig
über den Globus verteilt, was zur Exklusion vieler Menschen führt. Die Gründe für die Beschleunigung in
Kommunikation, Produktion und Konsumtion liegen einerseits in der "Logik des kapitalistischen Wachstums"
und andererseits in der Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien. Beschleunigte
Kommunikation führt weiters auch zu Wissen über entfernte und ehemals unbekannte Orte in weiten Teilen der
Welt (vgl. Eriksen 2007: 49).
Abbildung: Internet NutzerInnen pro 100 EinwohnerInnen 2012, International Telecommunications
Union, Quelle: wikimedia.org
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4
3.4.5.3 Standardisierung
Die Standardisierung zielt darauf ab Standards zu implementieren, die Ereignisse und Objekte vergleichbar
machen. Das wiederum ermöglicht Kommunikation und Übersetzung. Dabei werden auch lokal einzigartige
Merkmale zerstört. In manchen Fällen, beispielsweise in der Sprache, koexistieren internationale Standards mit
lokalen Eigenheiten. Viele der Spannungen und Konflikte, die aus Globalisierungsprozessen resultieren,
basieren auf dem Kontrast zwischen universalisierenden Standardisierungen und lokalen Alternativen[1] oder
lokalem Widerstand (vgl. Eriksen 2007: 68).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.1
3.4.5.4 Verflechtung
Verflechtung oder Vernetzung ist der zentrale Aspekt der "Netzwerkgesellschaft" (network society) im
Sinne von Manuel Castells[1] (2003). Im "transnationalen Informationskapitalismus", der sich massiv von
früheren Weltordnungen[2] unterscheidet, wechseln soziale Organisationen in Politik, Wirtschaft und
Zivilgesellschaft von einer relativ stabilen Hierarchie zu einer "flüssigeren" Netzwerkstruktur. Handel,
Kommunikation und Bewegungen vernetzen die Welt zusehends und das hat politische, ökonomische und
kulturelle Konsequenzen (vgl. Eriksen 2007: 89).
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Abbildung: Teile einer "Karte des Internets", basierend auf Daten von opte.org
15.01.2005, Quelle: wikimedia.org
am
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Manuel_Castells
[2] Siehe Kapitel 3.4.2
3.4.5.5 Bewegung
Globalisierung beinhaltet die beschleunigte und intensivierte Bewegung von Menschen[1], Objekten und
Ideen, nicht nur von Norden nach Süden oder vom Zentrum zur Peripherie sondern in alle Richtungen.
Allerdings tendieren Bewegungen auch dazu bestehende globale Machtdiskrepanzen zu reflektieren und zu
reproduzieren. Vor hundert Jahren etwa gab es viel größere Migrationsbewegungen als heutzutage. Heute
beinhaltet Migration transnationale[2] Verbindungen und Beziehungen. Menschliche Mobilität in einem
globalen Kontext setzt sich zusammen aus: Migration, Geschäftsreisen, Mobilität von StudentInnen und
ForscherInnen, Verbrechen, etc. (vgl. Eriksen 2007: 105).
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Foto: Flugzeugkabine mit Reisenden, Quelle: wikimedia.org
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.7
[2] Siehe Kapitel 3.4.4
3.4.5.6 (Ver)Mischen
Das kulturelle Vermischen durch Globalisierungsprozesse nimmt unterschiedlichste Formen an und ist
immer auch ein Indikator für die Machtverhältnisse zwischen Menschengruppen. Dabei verhindert Vermischung
nicht die Etablierung von Gruppenidentifikation und die Bildung kollektiver Identitäten. Und kulturelles
Vermischen produziert nicht Homogenität sondern neue Konfigurationen von Diversität[1]. Kultur an sich
war nie "rein" oder "begrenzt". Eine Erkenntnis, die wiederum Theorien zu Kreolisierung und Hybridisierung - so
diese von "reinen" oder "begrenzten" Kulturen ausgehen, die gemeinsam etwas Neues formen - in Frage stellt.
Die kulturelle Diffusion, die mit Globalisierung in Verbindung gebracht wird, kann dabei nicht als
"Verwestlichung" bezeichnet werden, sondern vielmehr als kulturelle Glokalisierung[2] (vgl. Eriksen 2007:
122).
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Foto: Korea Town, Toronto, Ph. Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-21.html
3.4.5.7 Verletzlichkeit
Risiken und die Risikoumwelt werden von Globalisierungsprozessen[1] aufgrund steigender
Abhängigkeiten und daraus folgenden Verletzlichkeiten verändert. Beispiele für globale Risiken wären
Klimawandel[2] oder Terrorismus. Transnationale und globale Risiken resultieren häufig in neuen politischen
Zwangslagen, da diese für Spannungen zwischen (öffentlicher) Sicherheit und persönlichen Rechten führen
(vgl. Eriksen 2007: 139).
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Abbildung: Klimawandel in Bangladesh, Gemälde von Studierenden der Charupeeth School of Fine
Art, Quelle: flickr.com
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1
[2] Siehe Kapitel 3.5.7
3.4.5.8 "Wiedereinbettung"
Die "entwurzelnden" Kräfte der Globalisierung werden durch "wiedereinbettende" Projekte ergänzt, die
darauf abzielen ein Gefühl der Kontinuität, der Sicherheit und des Vertrauens wieder herzustellen. Unter
den Widerstandsphänomen, die sich gegen Globalisierung stellen, befinden sich identitätspolitische Projekte,
wie religiöse, ethnische oder nationalistische Politik, die allerdings verstärkt von globalisierten Ressourcen wie
internationalen Nichtregierungsorganisationen[1] und Computernetzwerken[2] abhängig sind. Weltweit gibt
es unterschiedlichste Formen von "wiedereinbettenden" und widerständigen Tendenzen, etwa unter indigenen
Gruppen oder migrantischen Bewegungen (vgl. Eriksen 2007: 154).
Foto: Dreisprachiges Schild, Sioux Lookout, Ontario, Kanada, Ph.
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Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.3
[2] Siehe Kapitel 3.8.6
3.4.6 Anthropologie der Globalisierung
Globalisierung hat sich zu einem der wichtigsten Themen in der Kultur- und Sozialanthropologie[1]
entwickelt. Indem Globalisierung traditionelle Schlüsselthemen der Kultur- und Sozialanthropologie, wie
Lokalkulturen, rurale Gemeinschaften sowie Jäger- und Sammlergesellschaften, verändert und deren
(scheinbare) Begrenztheit in Frage stellt, öffnet sie der Wissenschaft neue Arbeitsfelder (vgl. Lewellen 2002).
Auch wenn Globalisierung ein wichtiges Forschungsthema[2] für und in der Kultur- und Sozialanthropologie
ist, wird sie sich, zumindest nach Ted C. Lewellen (2002), jedoch nicht zum dominierenden Paradigma in der
Wissenschaft entwickeln. Die eigentliche Bedeutung von Globalisierung für die Kultur- und Sozialanthropologie
liegt vielmehr darin, dass sie einen alternativen Verständniszugang ermöglicht und so Zugang zu
Themenfeldern öffnet, die vormals ignoriert wurden. So stellt Globalisierung für die Kultur- und
Sozialanthropologie eine weitere Analyseebene für unterschiedlichste soziokulturelle Phänomene dar.
In einer Anthropologie der Globalisierung lassen sich laut Lewellen (2002: 33- 37) und Michael Kearney
(1995: 550) unter anderem folgende Forschungsfelder und Schlüsselthemen identifizieren:
Entwicklung
Identität und Kultur[3]
Bildung von Gemeinschaften
Migration und Diaspora (und damit verbunden Prozesse der Deterritorialisierung)
(die Beziehungen von) global-lokal[4]
Gender
Verbreitung von Krankheiten und Epidemien (z.B. HIV/AIDS)
globale und globalisierte Städte[5]
transnationale religiöse Bewegungen[6]
Tourismus
Medien[7]
Politik
Die Kultur- und Sozialanthropologie[8] hat eine Menge zum Studium der Globalisierung beizutragen.
Zumeist aus einer Mikro-Perspektive befasst sich die Disziplin mit dem, was Jonathan Xavier Inda und Renato
Rosaldo (2002a: 5) als "situated and conjunctural nature of globalization" benennen. Eine Anthropologie der
Globalisierung fokussiert dabei auf menschliche Handlungsweisen, Alltagspraktiken und die
Mediatisierung von Globalisierungsprozessen durch Menschen in bestimmten Lokalitäten. Gleichzeitig
muss die Kultur- und Sozialanthropologie aber auch großräumige Prozesse, wie die globalen Ströme von
Menschen und Waren, berücksichtigen, um diese mit ethnographischen Untersuchungen[9] zu verbinden,
und so letztlich zu verstehen wie Menschen mit diesen globalen Prozessen kulturell spezifisch umgehen
(vgl. ebd.).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-2.html
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.1
[5] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-18.html
[6] Siehe Kapitel 3.1.2
[7] Siehe Kapitel 3.8.1
[8] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-1.html
[9] Siehe Kapitel 1.3.1
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3.4.6.1 Das Globale und das Lokale
Michael Kearney (1995) zufolge bezieht sich Globalisierung auf die sozialen, ökonomischen, kulturellen und
demographischen Prozesse, die sowohl innerhalb von Nationalstaaten[1] stattfinden als auch deren Grenzen
überschreiten. In diesem Kontext die Aufmerksamkeit alleine auf lokale Prozesse und Identitäten zu richten,
bedeutet laut Kearney ein unvollständiges Verständnis des Lokalen.
Globalisierung lässt sich auch als Intensivierung von globalen Beziehungen verstehen, durch die
distanzierte Lokalitäten miteinander verbunden werden (vgl. Giddens 1990). Das Verhältnis und die
Verbindung zwischen dem Lokalen und dem Globalen sind hier entscheidend. Wir leben in einer
geschrumpften Welt von Kontakten, Spannungen, Vergleichen, Kommunikation und Bewegung, die nicht
(mehr) von Distanzen eingeschränkt ist. Gleichzeitig aber finden weiterhin Aktivitäten statt, die keine
Auswirkung außerhalb des Lokalen haben. So würde eine weitere simple Definition von Globalisierung nach
Eriksen (2007: 16) alle gegenwärtigen Prozesse[2] meinen, die Distanz (zwischen sozialen Lokalitäten)
irrelevant machen.
Moderne Kommunikationsmedien[3] tragen entscheidend zur Komprimierung von Zeit und Raum bei,
beispielsweise durch Live-Berichterstattung oder Online- Spiele. Anthony Giddens (1990) argumentiert, dass
durch neue Kommunikations- und Transporttechnologien Menschen in der Lage sind, ihr soziales Leben von
lokalen Face-to-Face Interaktionen zu entfernten globalen Begegnungen zu erweitern. Moderne Lokalitäten
sind so der Rahmen für distanzierte soziale Beziehungen, in denen Raum und Zeit gedehnt werden (Inda und
Rosaldo 2002: 8). Das Lokale und das Globale sind also miteinander verbunden (vgl. beispielsweise
Appadurai 1996, Robertson 1992, 1995).
Foto: Satellitenschüsseln, Fort Severn, Ontario, Kanada, Ph. Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.4
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-9.html
[3] Siehe Kapitel 3.8.1
3.4.6.2 Historisches zu kultur- und sozialanthropologischen Globalisierungsstudien
Bestimmte Globalisierungstendenzen und -prozesse, wie die Vernetzung von Menschen und (Handels-)
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Gütern durch Transportmittel und -wege, die die ganze Welt umspannen, gab es bereits zu
Kolonialzeiten[1]. Globalisierung als globales oder transnationales System von Interaktionen, beispielsweise
als Handelssystem, ist also nichts komplett Neues (vgl. z.B. Wolf 1986). So ist etwa schon das 19. Jahrhundert
durch eine Zunahme des internationalen Handels durch industrielle Entwicklung, koloniale Expansion und
technologischen Wandel beziehungsweise Fortschritt (z.B. Dampfschiff und Telegraphen) gekennzeichnet (vgl.
Eriksen 2007). In der historischen und anthropologischen Untersuchung des Phänomens Globalisierung
erweist es sich also als hilfreich etwa zwischen präkolonialen, kolonialen und postkolonialen
Globalisierungsphasen in der menschlichen Geschichte zu unterscheiden (vgl. z.B. Knoll, Kreff und Gingrich
2011). Was sich über die Jahrhunderte verändert hat, ist, dass sich heute viele Menschen der Tatsache
bewusst sind, dass sie in einer globalisierten Welt leben (vgl. z.B. Beck 1997, Inda und Rosaldo 2002a).
Eric Wolf[2] (1986) und Peter Worsley[3] (1984) untersuchten Globalisierung aus einer globalen und
anthropologischen Perspektive als weltweites System[4] von ökonomischen und kulturellen Verbindungen
(vgl. Lewellen 2002). Die Völker ohne Geschichte (Wolf 1986) und The Three Worlds (Worsley 1984) können als
bahnbrechende Studien bezeichnet werden, die zur frühen sozialanthropologischen Analyse von
Globalisierung[5] aus einer globalen Perspektive beitrugen. Beiden gelang es den oftmals limitierten lokalen
Kontext, der für viele anthropologischen und ethnographischen Projekte typisch war und teilweise noch immer
ist, um globale Dimensionen von wirtschaftlichen und soziokulturellen Verbindungen und Verflechtungen zu
erweitern. Besonders Wolfs Arbeit bedeutete so auch einen Schritt weg von der anthropologischen bzw.
ethnographischen Untersuchung "isolierter" Lokalkulturen hin zur kultur- und sozialanthropologischen Studie
globaler Prozesse und Beziehungen.
Im 20. Jahrhundert lassen sich laut Thomas Hylland Eriksen (2007) drei wesentliche Faktoren identifizieren,
die die Debatte und letztlich auch die (kultur- und sozialanthropologische) Forschung zu Globalisierung
anstießen: (1) der Kalte Krieg[6], (2) das Internet[7] und (3) Identitätspolitik[8].
"These three dimensions of globalization – increased trade and transnational economic activity, faster and
denser communication networks, increased tensions between (and within) cultural groups due to intensified
mutual exposure – do not suggest that the world has been fundamentally transformed after the late 1980s but
that the driving forces of both economic, political and cultural dynamics are transnational – and that this is now
widely acknowledged." (Eriksen 2007: 4)
Die treibenden Kräfte hinter ökonomischen, politischen und kulturellen Dynamiken sind also
transnationaler Natur[9]. Und dieser (neue) Umstand wird nun mehrheitlich anerkannt. Globalisierung
beinhaltet somit transnationale Verbindungen und Beziehungen sowie das Faktum, dass die Menschen auf
unserem Planeten sich dieser Prozesse immer stärker bewusst werden.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Eric_Wolf
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Worsley
[4] Siehe Kapitel 3.3.3
[5] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-1.html
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg
[7] Siehe Kapitel 3.8.6.4
[8] Siehe Kapitel 1.1.7
[9] Siehe Kapitel 3.4.4
3.4.6.3 Globalisierung und kultur- und sozialanthropologische Methodologie
Globalisierung zwingt die Kultur- und Sozialanthropologie ihre methodologischen Werkzeuge, wie
ethnographische Feldforschung[1] und teilnehmende Beobachtung[2], zu überdenken und manchmal
neu zu definieren. Menschen befinden sich zunehmend in Bewegung und Kultur- und SozialanthropologInnen
müssen ihnen folgen, um weiterhin an ihrem Lebensalltag teilnehmen zu können. Manche Gemeinschaften
existieren nur für kurze Zeit und AnthropologInnen müssen ihren Zugang zu und ihre Anwesenheit in diesen
fluktuierenden Vergemeinschaftungsformen adaptieren und beständig neu entwerfen. Anthropologische
Globalisierungsstudien fördern dementsprechend auch andere Forschungsfelder und - themen: "The subjects
of anthropological globalization studies are less likely to be communities or cultures than translocalities, border
zones, migrations, diasporas, commodity chains, transnational corporations, foreign aid agencies, tourists,
refugees, cyberspace, the influences of television and other communication media, the international processes
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of science, or commercialized art." (Lewellen 2002: 57)
Die Anthropologie der Globalisierung produziert ihre Theorien großteils über ethnographische Feldforschung
(vgl. Lewellen 2002). Diese epistemologische und methodische Herangehensweise ist ein entscheidendes
Merkmal der Kultur- und Sozialanthropologie und macht diese, durch die Etablierung eines eigenen,
spezifischen Zuganges, zu einem potentiellen Vorreiter in der wissenschaftlichen Analyse von
Globalisierungsprozessen[3] (vgl. z.B. Burawoy et al. 2000, Eriksen 2003). So stellt etwa Michael Burawoy
(2000) fest, dass es ohne die Ethnographien zu globalen Kräften, Verbindungen und Imaginationen unmöglich
sei zu verstehen, wie Globalisierung aufrechterhalten und reproduziert sowie herausgefordert und transformiert
wird.
Foto: Flüchtlinge aus Simbabwe in Mozambique, Quelle: flickr.com
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] Siehe Kapitel 1.3.2
[3] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-2.html
3.4.6.4 Globalisierung und Kultur
Globalisierung lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven untersuchen, aus einer politischen, ökonomische,
historischen oder (sozio)kulturellen. Obwohl die Kultur- und Sozialanthropologie all diese verschiedenen
Sichtweisen wahrnimmt, sind es im Besonderen das Kulturelle[1] sowie die soziokulturellen Dynamiken
und Phänomene der Globalisierung, die von Interesse für die Disziplin sind.
Das Konzept und die Idee der "Kultur"[2] wird durch die Beschäftigung mit Globalisierungsphänomenen noch
abstrakter und amorpher, da Globalisierung die Nützlichkeit des Kulturkonzepts als Kategorie der
Einschließung sowie als Identifikation von Andersartigkeit in Frage stellt (vgl. Lewellen 2002: 50). Obwohl
Konsum[3] und Konsumdenken[4] nach Ted C. Lewellen (2002) die dominierenden kulturellen Kräfte der
Globalisierung sind, bedeutet das nicht, dass eine homogene "Weltkultur" oder "Globalkultur" entsteht. Es
bedeutet vielmehr, dass eine fragile und oftmals oberflächliche Globalkultur nur durch unterschiedliche
lokale Kulturen und deren Interaktion untereinander existieren kann.
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Foto: McDonald’s in Osaka, Japan (2005), Quelle: wikimedia.org
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.8
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/konsum/konsum-titel.html
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/konsum/konsum-41.html
3.4.6.4.1 "Globalkultur" oder die kulturellen Aspekte von Globalisierung
Erweitert man den, oftmals von ökonomischen und politischen Themen[1] dominierten,
Globalisierungsdiskurs um die kulturelle Dimension, offenbart sich sowohl die Komplexität der Thematik als
auch die Notwendigkeit ihrer kritischen Analyse. Joana Breidenbach[2] und Ina Zukrigl (2000: 35ff.)
untermauern in diesem Sinne die Bedeutung von Kultur für das Verständnis von Globalisierungsprozessen
durch neun Thesen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Durch Globalisierung differenziert sich die Welt (vgl. Appadurai 1996).
Menschen interpretieren globale Waren und Ideen höchst unterschiedlich.
Weltweite Einflüsse lassen sich nicht auf US-amerikanischen Kulturimperialismus[3] reduzieren.
Geographische Räume verlieren zunehmend an Bedeutung.
Die Ausdifferenzierung der Welt erfolgt über ein globales Referenzsystem. Diese Ebene wird als
"Globalkultur" bezeichnet und besteht aus einer Reihe universeller Konzepte, wie Demokratie,
Menschenrechte und Feminismus.
Die Globalkultur ist keine Kulturschmelze[4].
Die Globalkultur ist von ungleichen Machtverhältnissen geprägt.
Die Globalkultur ist authentisch. Waren, Ideen und Institutionen sind in dem Maße authentisch, wie sie
von Menschen erfolgreich für ihre eigenen kulturellen Projekte angeeignet werden können.
Die Globalkultur verändert sich ständig.
Wie diese Thesen verdeutlichen, sind kulturelle[5] Aspekt im Verständnis von Globalisierungsprozessen,
-phänomenen und -praktiken wichtig. Konsequenterweise sind hier die Sozial- und Kulturwissenschaften, wie
die Kultur- und Sozialanthropologie, gefordert als SpezialistInnen für soziokulturelle Phänomene kritische
Analysen und Studien zu produzieren.
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(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.3
[2] http://www.joanabreidenbach.de/
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.6
[5] Siehe Kapitel 1.1.8
3.4.6.5 Kulturelle Globalisierung und die Kultur- und Sozialanthropologie
In der Kultur- und Sozialanthropologie wurde das Konzept der "Kultur"[1] oftmals an die Idee eines
festgelegten Territoriums oder einer starren Lokalität gebunden (vgl. z.B. Gupta und Ferguson 1997, Inda und
Rosaldo 2002a). Ein Volk[2], eine ethnische Gruppe[3] oder eine "Kultur" wurden zumeist als verwurzelt in
einem bestimmten Gebiet verstanden. In Zeiten zunehmender Globalisierung[4] hat sich diese Sichtweise
allerdings fundamental verändert. Kultur wird nun nicht mehr vorwiegend als mit einer bestimmten
Örtlichkeit verbunden gesehen. Kultur[5] wird vielmehr als dynamisch und mobil wahrgenommen. Und die
anthropologische Beschäftigung mit Globalisierung hat hier einen wesentlich Beitrag geleistet, wie etwa
Jonathan Xavier Inda und Renato Rosaldo (2002a: 11) meinen: "… globalization has radically pulled culture
apart from place."
Das bedeutet andererseits nicht, dass Kultur irgendwo, ohne Verankerung, herumschwebt. Es bedeutet
vielmehr, dass Kultur im Globalisierungskontext[6] als "deterritorialisiert" verstanden wird, nur darauf
wartend wieder in einen neuen Raum-Zeit Kontext eingefügt zu werden. Dieser Vorgang wird auch als
"Reterritorialisierung" bezeichnet und meint die "Relokalisierung" von Kultur in einer spezifischen
kulturellen Umgebung. Kultur hat also auch in Zeiten zunehmender Globalisierung einen territorialen Bezug,
allerdings einen eher instabilen (vgl. Inda und Rosaldo 2002a: 12).
Foto: "Piccola Italia", Montreal, Ph. Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
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[4] Siehe Kapitel 3.4.1
[5] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-314.html
[6] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-307.html
3.4.6.6 Homogenisierung und Heterogenisierung
Ideen zur "Homogenisierung" und "Verwestlichung", besonders der kulturellen Welt, werden öfters mit
Globalisierung in Zusammenhang gebracht (z.B. Ritzer 2004). Aus einer anthropologischen und
ethnographischen Perspektive schaffen es diese Ideen, die eine globale Dominanz der "westlichen" Welt und
einen einseitigen Strom vom Zentrum in die Peripherie implizieren, allerdings nicht tatsächliche
Lebensumstände und Situationen zu erklären und zu verstehen. Denn wie beispielsweise Jonathan Xavier Inda
und Renato Rosaldo (2002a: 25) argumentieren, gestalten sich Globalisierungsprozesse[1] als viel
komplexer (vgl. auch Appadurai 1996). Es gibt kein kulturelles "Machtzentrum" in der Welt, sondern viele
unterschiedliche Einflüsse, die sich gegenseitig befruchten. Globalisierung resultiert in miteinander
verbundenen und verwobenen kulturellen Räumen, in welchen unterschiedliche Ströme von Bedeutungen und
Ideen produziert, interpretiert und ausgetauscht werden. Globalisierung ist somit kein "westliches" oder
euro-amerikanischen Phänomen oder Projekt sondern ein tatsächlich globales (vgl. Inda und Rosaldo
2002a: 26).
Globalisierung ist kein unidirektionaler Prozess (vgl. Eriksen 2007: 9). Er hat kein Ende und keinen
intrinsischen Zweck und ist weder unbestritten, widerspruchsfrei noch allgegenwärtig. Globalisierung, auch
wenn von ökonomischen und technologischen Prozessen angetrieben, ist multidimensional.
Globalisierung[2] beinhaltet Prozesse der Homogenisierung[3] und der Heterogenisierung. Das bedeutet
Globalisierung macht uns einander gleichzeitig ähnlicher und unterschiedlicher: "… globalization does not
entail the production of global uniformity or homogeneity. Rather it can be seen as a way of organizing
heterogeneity. … The local continues to thrive, although it must increasingly be seen as glocal, that is
enmeshed in transnational processes" (Eriksen 2007: 10).
Globalisierung macht es leichter uns miteinander über kulturelle Grenzen[4] hinweg auszutauschen. Aber
Globalisierungsprozesse schaffen auch neue Spannungen zwischen Gruppen, die früher stärker
voneinander isoliert gelebt haben. Globalisierung erzeugt so auch ein neues Bedürfnis danach Einzigartigkeit
und historische Verbundenheit aufzuzeigen und gegenüber Anderen abzugrenzen (vgl. Eriksen 2007: 13).
Dabei steht Globalisierung nicht stellvertretend für "Verwestlichung" oder Neoimperialismus, denn
unterschiedliche Prozesse bewegen sich nicht nur von Norden nach Süden sondern auch von Süden nach
Norden.
Es ist auch eine Tatsache, dass nicht alle Menschen weltweit gleichberechtigt an
Globalisierungsprozessen, wie der globalen Vernetzung durch Transport- und Kommunikationstechnologien,
partizipieren. Es gibt viele Menschen, die von diesen Prozessen ausgeschlossen sind oder diese lediglich von
den Rändern der Gesellschaften mitverfolgen. Auch diese Nicht-Teilhabe ist ein wichtiger Aspekt der
Globalisierung. Anthony Giddens (1991), beispielsweise, erinnert uns diesbezüglich daran, dass auch die
Moderne Differenzen, Exklusion und Marginalisierung produziert.
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Foto: China Town, Toronto, Ph. Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-9.html
[2] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-314.html
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.4
3.4.6.7 Globale kulturelle Landschaften und (Handlungs)Räume
Einen prominenten kultur- und sozialanthropologischen Beitrag zur Globalisierungsdebatte liefert Arjun
Appadurai[1] (1996: 33) mit seinem Konzept der landscapes[2] ("Landschaften"), die auch als "dimensions
of global cultural flows" verstanden werden können. Insgesamt unterscheidet Appadurai fünf solcher
Dimensionen, die helfen sollen die Trennungen (disjunctures) zwischen Ökonomie, Kultur und Politik zu
untersuchen: (1) ethnoscapes, (2) mediascapes, (3) technoscapes, (4) financescapes und (5) ideoscapes. Das
Suffix "scape" unterstreicht dabei die flexible, dynamische, unregelmäßige und extrem perspektivische
Gestaltung dieser Konstrukte. Diese Landschaften sind die Bausteine von "imaginierten" oder "vorgestellten"
Welten: "… worlds that are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread
around the globe" (Appadurai 1996: 33).
Ethnoscapes, die die Grundlage für alle weiteren "scapes" bilden, können als deterritorialisierte "Räume" - in
diesem Zusammenhang ist der Begriff "Raum" nicht an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden - verstanden
werden, die sich durch global beständig wechselnde Ströme von Personen und ethnischen Gruppen
konstituieren. Financescapes meinen die globalisierten Finanzwelten und die so entstehenden "Räume".
Ideoscapes wiederum beziehen sich auf komplexe ideelle Landschaften, die sich heute besonders schnell
bewegen und immer wieder neue regionale Grenzen überschreiten und sprengen. Technoscapes und
mediascapes bezeichnen Landschaften, die durch transnationale Medien und globale Technologieverbreitung
entstehen.
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In Anlehnung an Benedict Andersons (1998) "vorgestellte Gemeinschaften", die als Vorstellungen in unseren
Köpfen einflussreiche Konstrukte wie jenes der Nation hervorbringen können, spricht Appadurai von "imagined
worlds", die sich durch die unterschiedlichen landscapes und die historisch kontextualisierten Imaginationen von
Personen und Gruppen, die diese weltweit formen, konstituieren. Dabei sind Imaginationen als soziale
Praktiken zu verstehen, die zentral für transnationale kulturelle Prozesse und die neue globale Ordnung sind:
"The image, the imagined, the imaginary - these are all terms that direct us to something critical and new in
global cultural processes: the imagination as social practice." (Appadurai 1996: 31)
In dem disjunktiven und instabilen Zusammenspiel von ideologischen, technologischen und medialen
Landschaften, die staatliche Grenzen überschreiten und durchbrechen, und in Zusammenhang mit staatlichen
Bestrebungen "die Nationalitätsvorstellung zu monopolisieren" hat sich Ethnizität[3] als eine treibende Kraft
entwickelt, die zusehends an Bedeutung gewinnt (Kreff 2003: 136). Die Konzepte der "landscapes" sowie
der "imagined worlds" bieten einen theoretischen Rahmen, transnationale Bewegungen von
Menschen[4], Ideologien, Technologien und Medien zu verstehen und zu analysieren, ohne dabei die
kulturelle Dimension zu vernachlässigen.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Arjun_Appadurai
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-317.html
[3] Siehe Kapitel 1.1.2
[4] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/debattenksa/debattenksa-24.html
3.4.7 Literatur
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Worsley, Peter 1984: The three worlds: culture and world development. Chicago: Chicago University Press.
(PB)
3.4.7.1 Weiterführende Literatur
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Bhabah, Homi K. 1994: The location of culture. London und New York: Routledge.
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Han, Byung-Chul 2005: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. Berlin: Merve.
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Howes, David (Hg.) 1996: Cross-cultural consumption: global markets, local realities. London und New York:
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Mader, Elke 2004: Lokale Räume, globale Träume. Tourismus und Imagination in Lateinamerika. In: Ernst
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Tosic, Jelena und Marianne Six-Hohenbalken (Hg.) 2010: Anthropologie der Migration. Theoretische
Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte. Wien: Facultas.
Vertovec, Steven und Robin Cohen (Hg.) 1999: Transnationalism. Cheltenham und Northampton: Elgar
Publishing.
(PB)
3.5 Anthropologie der Natur
"At the end of the 20th century, the question of nature remains unresolved in any modern social or
epistemological order. By this I mean not only modern people’s inability to find ways of dealing with nature
without destroying it but the fact that the answers given to ‘the question of nature’ by modern forms of
knowledge - from the natural to the human sciences—have proven insufficient to the task, despite the
remarkable leap forward they seem to have taken in recent decades." (Arturo Escobar 1999: 1)
Die Anthropologie der Natur bündelt verschiedenen Fragestellungen, die das Verhältnis von Mensch
und Natur, die Konzeption von Kultur und Natur sowie die Interkationen zwischen Umwelt und
menschlicher Gesellschaft betreffen.
Die Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern in der Kultur- und Sozialanthropologie geht bis an die
Anfänge des Faches im 19. Jahrhundert zurück: Begriffe wie "Naturvölker", das Verhältnis von Natur und
Wirtschaft[1] oder auch Theorien zu Beziehungen zwischen Natur und Mythologie[2] reflektieren diverse
Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts, z.B. den Evolutionismus[3] oder die Politische Ökonomie.
Auch im 20. Jahrhundert stehen Fragen der Anthropologie der Natur im Mittelpunkt einiger
Forschungsrichtungen der Kultur- und Sozialanthropologie: Dazu zählt die strukturale Anthropologie von
Claude Lévi-Strauss[4], die bis heute eine wichtige Basis für die Analyse der Bedeutung von Kultur und Natur
im menschlichen Denken und in diversen Weltbildern[5] bzw. Ontologien bildet. In der US-amerikanischen
Kulturanthropologie[6] stellt die Kulturökologie (Julian Steward[7]), die verschiedene Facetten des
Verhältnisses von Gesellschaft und Umwelt untersucht, ein wichtiges Forschungsfeld dar. Darüber hinaus
widmet sich eine große Vielfalt an Studien diversen Interaktionen und Verflechtungen von Natur und Kultur
(vgl. z.B. Selin 2003).
Die Verflechtungen von Gesellschaft, Ökonomie, Umwelt und Klimawandel stellen zentrale Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts dar. So stehen verschiedene (kulturelle) Kontexte von Phänomenen des
Klimawandels[8] auch verstärkt im Mittelpunkt der Anthropologie der Natur.
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Foto: Inuit Jäger: Viele indigene Gemeinschaften sind heute direkt vom Klimawandel betroffen,
Quelle: news.nationalgeographic.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.6
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-1193.html
[3] Siehe Kapitel 2.1
[4] Siehe Kapitel 2.5
[5] Siehe Kapitel 3.1.4
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_anthropology
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Julian_Steward
[8] Siehe Kapitel 3.4.5.7
3.5.1 Natur und Subsistenz
"Der Arbeitsprozess[1], wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist
zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche
Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung
des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen
Gesellschaftsformen gleich gemeinsam." (Karl Marx 1977: 198)
Subsistenz als Bestreiten des materiellen Lebensunterhalts der Menschen in Auseinandersetzung mit der
Natur, bzw. Subsistenzformen (Wirtschaftsweisen) als bestimmte Formen oder Typen des Bestreitens des
materiellen Lebensunterhalts sind mit diversen sozialen und kulturellen Systemen verbunden. Studien zu
dieser Thematik bilden eine Schnittstelle zwischen der Anthropologie der Natur, der Ökonomischen
Anthropologie[2] und der Analyse sozialer Organisationsformen.
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Foto: Reisterrassen in Bali, E. Mader
Foto: Weideflächen, Aran Inseln, Irland, E. Mader
"Aneignende"/"erwerbende" Subsistenzformen: Diese Form des Bestreitens des Lebensunterhalts prägt
Gesellschaften von Jäger/SammlerInnen[3] (foragers) und bildet eine wichtigen Aspekte der Subsistenz von
Gartenbaugesellschaften im tropischen Regenwald (z.B. im Amazonasgebiet[4]).
"Produzierende" Subsistenzformen: Unter dieser Kategorie werden eine große Bandbreite von
Ökonomien/Gesellschaften zusammengefasst. Dazu zählen der Bodenbau, Viehzucht und Hirtennomadismus
sowie die Industriegesellschaft.
Studien zu Subsistenzformen konzentrieren sich häufig auf folgende Schwerpunkte:
Ethnographie[5] lokaler wirtschaftlicher Aktivitäten
Lokales bzw. traditionelles Wissen
Verhältnis von ökonomischem Handeln[6], sozialen Organisationsformen, Gender und natürlicher
Umwelt
Beziehungen zwischen Subsistenz, Natur, Mythologie[7] und Ritual[8]
Fallbeispiele:
Eva Fischer: Ökologie und Wirtschaftsformen der Anden.[9] Das Beispiel der Dorfgemeinschaft Upinhuaya.
Anja Fischer: Imuhar-Nomadinnen: Kollektives Handeln in Extremen.[10] Momentaufnahmen pastoraler
Ökonomie in der Sahara.
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Elke Mader: Subsistenz im Amazonasraum. Die Achuar in Peru. (in Vorbereitung)
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-47.html
[2] Siehe Kapitel 3.6
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-288.html
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-169.html
[5] Siehe Kapitel 1.3.1
[6] Siehe Kapitel 3.6.1
[7] Siehe Kapitel 3.7
[8] Siehe Kapitel 3.2
[9] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-834.html
[10] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/imuhar/imuhar-titel.html
3.5.2 Kulturökologie
Die Kulturökologie zählt zu den materialistischen Ansätzen in der Anthropologie der Natur. Im Mittelpunkt
dieser Studien steht Natur als Materie (Physis) und materielle Basis für das menschliche Leben bzw. Natur im
Sinne von natürlicher Umwelt oder Habitat. Zentraler Untersuchungsgegenstand sind Interaktionsformen
zwischen Mensch und Natur sowie ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung.
Die von Julian Steward[1] begründete Kulturökologie beruht auf einer Kombination von Forschungsansätzen.
Dazu zählt das Verhältnis von Kultur und geographischer Region wie es im Konzept der Kulturregionen
(culture area approach[2]) der US-amerikanischen Kulturanthropologie dargelegt wird. Wesentliche
Komponenten seiner theoretischen Ansätze bilden das Konzept eines "kulturellen Kerns" (cultural core), der
von den jeweiligen Umweltbedingungen bestimmt wird, sowie verschiedener Ebenen der sozio-politischen
Integration[3].
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Abbildung: Julian Steward: Umwelt bestimmt Gesellschaftstypus, E.
Mader
Abbildung: Julian Steward: Umwelt bestimmt Gesellschaftstypus, E.
Mader
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(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.indiana.edu/~wanthro/theory_pages/Steward.htm
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-798.html
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-147.html
3.5.3 Natur und Weltbild
Ein Themenfeld der Anthropologie der Natur bilden Verflechtungen mit Weltbildern, Mythen[1] und
Ritualen[2]. Solche Fragestellungen werden oft aus symboltheoretischer Perspektive untersucht und
konzentrieren sich auf die gedankliche Konstruktion von bzw. den gedanklichen Umgang mit Natur.
Natur wird dabei als Ausdruck von kulturspezifischen Sichtweisen und als Teil von Bedeutungs- und
Wertesystemen verstanden, die Denken und Handeln in diversen Lebensbereichen prägen.
Vielfältige und komplexe Verflechtungen von Natur, Weltbild und Ritual betreffen u.a. Form und Ordnung des
Kosmos, lokale Konzepte von Mensch und Tier oder Körper und Seele sowie mythische und spirituelle
Landschaften.
Beispiel: Natur und Weltbild bei indigenen Kulturen in Südamerika[3]
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-6.html
[2] Siehe Kapitel 3.2
[3] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-192.html
3.5.4 Natur ist "gut zum Denken": Claude Lévi-Strauss
Die Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur zählt für Claude Lévi- Strauss[1] zu den
grundlegenden Aufgaben der KSA. Sie bildet die Basis vieler Fragestellungen im Rahmen seiner
strukturalen Anthropologie[2]. Dabei wird der Mensch in strukturalen Analysen sowohl als biologisches
Wesen als auch als gesellschaftliches Individuum betrachtet. Das Natürliche und das Kulturelle bilden
Aspekte der Weltordnung. Das Verhältnis bzw. der Gegensatz von Natur und Kultur[3] ist ein zentraler
Aspekt der Mythologie, des Denkens und der Sprache, die von binären Oppositionen[4] geprägt sind (vgl.
auch Descola 2005/2011, Oppitz 1993, Kauppert und Funcke 2008).
In seinem Buch Das Ende des Totemismus argumentiert Claude Lévi-Strauss[5] (1962/1965), dass der
Totemismus[6] weniger eine Institution von "primitiven" Gesellschaften darstellt, sondern vielmehr Ausdruck
einer universellen klassifikatorischen Logik ist. Beobachtbare Differenzen zwischen Tier- und Pflanzenarten
(Gestalt, Farbe, Habitat) dienen dazu Diskontinuitäten zwischen sozialen Gruppen in Begriffe zu fassen: "Der
totemistische Code übersetzt die natürliche Differenz in eine soziologische Differenz." (ebd.: 19) Die Natur
bildet in diesem Sinne einen "Leitfaden" oder eine "Denkmethode".
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Foto: Totempfahl, Saxman Totem Park, Quelle: wikimedia.org
Die Konstruktion des Verhältnisses von Natur und Kultur[7] ist ein universelles Merkmal des menschlichen
Geistes und gehört zu einer größeren Gruppe von Klassifikationen, die u.a. die Konzeption von Innen und
Außen, vom Wir und von den Anderen betreffen. So steht das Verständnis von Natur in Europa auch in engem
Zusammenhang mit der Konstruktion von Andersartigkeit zwischen verschiedenen Kulturen, vor allem auch mit
der Konstruktion der "Primitiven". Man "verweist einige Völker in die Natur", um sich von ihnen abzugrenzen
("Naturvölker", "Wilde"): "Die "Naturzugehörigkeit" wurde zu einem Probierstein, mit dessen Hilfe es gelang,
sogar innerhalb der Kulturen den Wilden von dem Zivilisierten zu isolieren." Diese Klassifikation/Konstruktion
machte bestimmte Menschen/Kulturen "verschiedener im Unterschied zu uns als sie sind" (Lévi- Strauss
1962/1965: 9).
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Abbildung: "Blackbirds": Naturalisierende Darstellung afrikanischer Kinder
(ca. 1890), Quelle: wikimedia.org
Solche Konstruktionen von "Natürlichkeit" und "Andersartigkeit" stehen in engem Zusammenhang mit
Machtverhältnissen, Kolonialismus[8], Rassismus oder Orientalismus. Die gedanklichen und politischen
Prozesse, die solchen Formen der Ab- und Ausgrenzung zugrunde liegen, werden auch als othering[9]
bezeichnet (vgl. Spivak 1985).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-160.html
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-430.html
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Claude_L%C3%A9vi-Strauss
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Totemismus
[7] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-326.html
[8] Siehe Kapitel 3.3
[9] http://www.kulturglossar.de/html/o-begriffe.html#othering
3.5.4.1 Jenseits von Kultur und Natur: Philippe Descola
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Abbildung: Die vier Ontologien von Philippe Descola,
Quelle: equivalentexchange.wordpress.com
Philippe Descola[1] (2005/2011) analysiert das Verhältnis Mensch/Natur als Basis für vier große Ontologien,
die weltweit Denken und Handeln prägen. Diese sind als Systeme von Eigenschaften der/des Existierenden zu
verstehen und implizieren kontrastierende Formen der Kosmologie, Modelle der sozialen Beziehungen sowie
Theorien der Identität und Andersartigkeit.
Seine theoretische Perspektive ist im französischen Strukturalismus[2] verortet und stellt eine kritische
Weiterentwicklung von Erkenntnissen von Claude Lévi-Strauss[3] dar. Die universelle Basis der Ontologien
stellt bei Descola nicht der Gegensatz Natur/Kultur dar. Ihre universelle Basis bilden stattdessen verschiedene
Formen der Identifikation und Beziehung als zwei grundlegende Strukturierungsmodalitäten der Welterfahrung.
Identifikation bezieht sich auf Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen mir und den Existierenden: z.B.
Tier = Person.
Beziehung bringt Modalitäten des Verhältnisses zu Anderen zum Ausdruck: z.B. Verwandtschaft.
Descola analysiert und vergleicht eine große Vielfalt von Weltbildern unterschiedlicher Kulturen, Regionen und
Zeiten in Hinblick auf ihre Konzeption von Mensch und Natur und ordnet sie in der Folge in ein strukturales
Schema ein. Dabei werden Ähnlichkeiten und Unterschiede der Identifikationsmodi und Beziehungsmodi in
Bezug auf Interioritäten und Physikalitäten kontrastiert.
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Abbildung: Die vier Ontologien von Philippe Descola, Quelle:
equivalentexchange.wordpress.com
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Abbildung: Traumzeit als Ausdruck einer totemistischen Ontologie der
Aborigines in Australien, Quelle: aboriginalartstore.com.au
"Die Traumzeit ist weder eine erinnerte Vergangenheit noch eine rückwirkende Gegenwart, sondern Ausdruck
der erwiesenen Ewigkeit im Raum, ein unsichtbarer Rahmen des Kosmos, der die Fortdauer seiner
ontologischen Unterteilungen gewährleistet." (Descola 2005/2011: 224)
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.college-de-france.fr/site/en-philippe-descola/biography.htm#|p=../en-philippe-descola
/biography.htm|
[2] Siehe Kapitel 2.5
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Claude_L%C3%A9vi-Strauss
3.5.5 Perspektiven des Bauens oder Bewohnens: Tim Ingold
"Persons and environment are mutually constitutive components of the same world, and in both perception and
consumption, meanings embodied in environmental objects are "drawn into" the experience of subjects."
(Ingold 1992: 51)
Der britische Sozialanthropologe Tim Ingold[1] widmet sich seit den 1980er Jahren unterschiedlichen Facetten
der Wahrnehmung von und Interaktion mit der Natur. Sein Werk zählt zu den synthetischen Ansätzen der
Anthropologie der Natur: Er analysiert das Verhältnis von Natur und Kultur nicht als Dichotomie (Gegensatz),
sondern als gemeinsamen, interaktiven Prozess.
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Foto: In einem Bauernhof in Großarl, Salzburg, E. Mader
Ingold kritisiert Forschungsansätze, die eine "Perspektive des Bauens" bzw. der Konstruktion (building
perspective) vertreten. Er argumentiert, dass Natur nicht kulturell konstruiert wird, sie wird nicht zuerst
konzeptuell "erfasst" und dann innerhalb einer gegebenen kulturellen Matrix symbolisch angeeignet. Natur ist
nicht Teil genau jener intentionalen Welt, in der das Projekt westlicher Wissenschaft als das "objektive"
Studium natürlicher Phänomene verankert ist (vgl. Ingold 2002).
Er zeigt am Beispiel von Jäger/SammlerInnen, dass sie ihre Umwelt nicht als eine externe Welt der Natur
wahrnehmen oder verstehen - eine Trennung von Geist und Natur hat keinen Platz in ihrem Denken und in
ihrer Praxis. Diese Perspektive des Bewohnens (dwelling perspective) kann als generelles Modell für eine
"neue Ökologie" dienen, um "die menschliche Existenz, wie die anderer Wesen auch, von Anfang an als aktive,
praktische und wahrnehmende Auseinandersetzung mit den Konstituenten der bewohnten Welt zu begreifen.
... [D]as Begreifen der Welt [ist] nicht eine Sache der Konstruktion, sondern der Auseinandersetzung, nicht eine
Sache des Bauens, sondern des Bewohnens, nicht eine Sichtweise der Welt, sondern eine Sichtweise in der
Welt" (Ingold 2002: 72) .
Menschen können mittels verschiedener Praktiken in Interaktion mit der Umwelt direkt Wissen
generieren. In solchen Prozessen wird die Umwelt oder die Landschaft Teil der Beschaffenheit von Personen:
Sie sind nicht bloß Nahrungsquelle bzw. die materielle Basis für die Subsistenz, sondern auch als Quelle von
Wissen, Kompetenzen (skills), Technologie und materieller Kultur (vgl. Ingold 2000).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.abdn.ac.uk/elphinstone/staff/details.php?id=tim.ingold
3.5.6 Glokale Natur: Lokales/traditionelles Wissen und globale Prozesse
"Traditional Knowledge in social-ecological systems provides insights into how ecosystem assessment and
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management by local people can fulfill several important objectives, can inform contemporary society, but can
also be influenced and supported by contemporary science and institutions." (Folke 2004)
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Abbildung: Fischfang, Zeichnung von Indigenen aus Boa Vista Roraima
(Brasilien) für eine Präsentation ihrer Lebenswelt bei der Rio+20 UmweltKonferenz, Quelle: flickr.com
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Abbildung: Fischerei als globales ökologisches-ökonomisches System, Quelle:
forskningsradet.no
"The world’s total catch of fish and shellfish was approx. 95 million tonnes in 2003. Of this, 65 million tonnes
were for human consumption, while 30 million tonnes were used in fish meal as feed for fish, chickens, pigs,
dogs and cats. 7 million tonnes were by-catch, discarded as the wrong species or size. Aquaculture contributes
40 million tonnes, not including algae. The dotted lines in the figure indicate negative environmental effects."
(Ditlefsen[1] 2006)
Lokale bzw. kulturspezifische Wissensgefüge und Erkenntniswege in Zusammenhang mit Umwelt,
Subsistenzformen sowie Weltbildern und Ritualen sind nicht nur Thema ethnographischer Studien. Sie bilden
auch einen wichtigen Aspekt interdisziplinärer und anwendungsorientierter Forschung an der Schnittstelle zu
nationalen bzw. globalen Institutionen und Projekten (u.a. Naturschutz).
Bei der Diskussion der Begriffe "lokales Wissen" oder "traditionelles ökologisches Wissen" (traditional
ecological knowledge - TEK) werden folgende Aspekte hervorgehoben:
Wissen lokaler Bevölkerungsgruppen, das durch direkten Kontakt mit der Natur über lange historische
Phasen hinweg erworben wurde
Strukturiertheit des Wissens: Verständnis von ökologischen Zusammenhängen und vom Umgang mit
natürlichen Ressourcen
Das Wissen basiert auf lokalen, empirischen Beobachtungen über längere Zeiträume und ist an regionale
Gegebenheiten angepasst.
Das Wissen ist auf praktische Art und Weise an der Anwendung orientiert und bezieht sich auf wichtige
Ressourcen.
Das Wissen umfasst detaillierte Kenntnisse der Flora und Fauna, der Naturphänomene, der Entwicklung
und des Einsatzes von Technologien für die Jagd, Fischerei, Land- und Forstwirtschaft sowie Weltbild,
Mythen und Rituale.
Es handelt sich um einen kumulativen Wissenskörper, welcher Glaubensvorstellungen miteinschließt und
durch kulturelle Überlieferung über Generationen weitergegeben wird.
TEK umfasst auch die Praxis, die Art wie die Menschen Aktivitäten ausführen.
Lokale Wissenssysteme sind dynamisch, das heißt es können auftretende Veränderungen flexibel
integriert werdenMit der Zerstörung von Ökosystemen und indigenen Kulturen geht traditionelles Wissen unaufhaltsam
verloren. Solche fortschreitende Verluste führen zu einem erhöhten Bewusstsein für die Notwendigkeit
von spezifischer Forschung.
Forschung zu lokalem Wissen bzw. TEK erstreckt sich auch auf eine Reihe von interdisziplinären
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Forschungsrichtungen, z.B. Ethnobotanik, Ethnozoologie oder Ethnopharmakologie. Das Präfix "ethno"[2]
verweist dabei auf die kulturspezifischen Kontexte des Wissens und der Forschung, ihre Theorien und
Methoden sind stark von den Naturwissenschaften geprägt.
Forschung zu TEK umfasst in einigen Fällen die gleichwertige Behandlung lokaler/indigener Methodologien
und Erkenntniswege (Epistemologien) - z.B. die Einbeziehung lokaler Konzepte von Natur und Kosmologie - in
das Forschungsdesign. Darüber hinaus folgen einige Projekte dem Prinzip von community-based participartory
research: Hier wird der gesamte Forschungsprozess in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung gestaltet
und soll auch (zumindest teilweise) den lokalen Gemeinschaften zugutekommen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.forskningsradet.no/servlet/Satellite?c=Nyhet&pagename=havbruk%2FHovedsidemal&
cid=1226994286933
[2] Siehe Kapitel 1.1.2
3.5.6.1 Glokale Vernetzungen
Lokales Wissen bzw. traditionelles ökologisches Wissen ist ein Baustein von globalen Diskursen[1] und
Praktiken in Bezug auf Umweltprobleme und einen nachhaltigen Umgang mit Natur. Es ist in ein
komplexes Netzwerk von Wissen und Akteuren eingebunden, das lokale/indigene Personen oder
Organisationen mit regionalen, nationalen und globalen Institutionen verbindet. Die Machtverhältnisse in
solchen Netzwerken sind auch Forschungsgegenstand der Politischen Ökologie.
Abbildung: Folie einer Präsentation zu nachhaltiger Waldbewirtschaftung, Quelle:
thereddsite.wordpress.com
Carl Folke[2] (2004) betont folgende Aspekte solcher Vernetzungen: "Local ecosystem assessment and
management can create alliances between owners of formal and informal knowledge. It can establish links
between governments, local users, and scientists. It can create new information about local ecosystem
conditions, to be shared vertically from local to national levels, and horizontally among regional groups of
indigenous peoples."
(EM)
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Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.1.1
[2] http://www.ecologyandsociety.org/vol9/iss3/art7/
3.5.7 Anthropologie und Klimawandel
"Increasingly, anthropologists are encountering the local effects and broader social, cultural, economic, and
political issues of climate change with their field partners. Wherever we go and work, we encounter people
telling similar accounts of the changes they notice in the weather and climate." (Crate und Nuttall 2009: 9)
Indigene Gemeinschaften in der Arktis sind besonders vom Klimawandel[1] betroffen: Der Rückgang des
Polareises führt zu substantiellen Veränderungen ihrer Subsistenz (Jagd, Fischfang) und ihres lokalen Wissens
zu Wetter und Klima. Der Film von Zacharias Kunuk und Ian Mauro[2], der gemeinsam mit Inuit
Gemeinschaften in Kanada gestaltet wurde, dokumentiert ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Bezug auf den
Klimawandel.
Veränderungen durch Klimawandel betreffen eine Vielzahl von Regionen und Kulturen: Dazu zählen neben den Jäger/SammlerInnen in der Arktis[3] - HirtennomadInnnen und ViehzüchterInnen in der Tundra und
in den Waldgebieten des hohen Nordens ebenso wie Dörfer in der Subsahara-Region[4], die immer stärker
durch lang anhaltende Trockenperioden gefährdet sind. Der Rückgang der Gletscher - u.a. in den Anden bedeutet Wassermangel und bedroht die Landwirtschaft in großen Gebieten weltweit. Solche Prozesse
beeinflussen nicht nur die Subsistenz, sondern wirken sich auch auf soziale Organisation, Kosmologien
oder Rituale aus.
"Indigenous peoples and other place-based peoples find themselves at the mercy of - and having to adapt to changes far beyond their control. Yet climate change is a threat multiplier. It magnifies and exacerbates existing
social, economic, political, and environmental trends, problems, issues, tensions, and challenges." (Crate und
Nuttall 2009: 11)
Viele Forschungen zu Klimawandel sind stark anwendungsorientiert, wobei die kultur- und
sozialanthropologische Perspektive häufig in interdisziplinäre Projekte eingebunden ist. Susan Crate[5] und
Mark Nuttall[6] verweisen u.a. auf folgende Fragen in diesem Kontext:
"What insights can we gain and use from the work being done where communities are the hardest hit where climate change is already having profound effects, for example in the Arctic, Africa, South Pacific
islands, and other low- lying lands?" (ebd.: 10)
"How do we understand the complexity of everyday life in relation to climate change?" (ebd.)
"How can we transform knowledge into action, vulnerability to learning to cope and to be responsible?"
(ebd.)
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Klimawandel
[2] http://www.isuma.tv/en/inuit-knowledge-and-climate-change/movie
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Arktis
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Sub-Saharan_Africa
[5] http://mason.gmu.edu/~scrate1/
[6] http://www.see.ualberta.ca/en/AboutUs/Researcher%20Profiles/MarkNuttallAnthropology.aspx
3.5.7.1 Schneestern ohne Schnee? Ritual und Klimawandel in den Anden
Das Heiligtum Señor de Qoyllur Rit’I ("Herr des Schneesterns") auf über 4.500m Höhe im Sinakara Tal (Region
Cusco[1], Peru) ist Ziel einer Wallfahrt, an der zu Fronleichnam Tausende von Menschen aus
unterschiedlichen Orten beteiligt sind. Sie pilgern meist in Gruppen aus verschiedenen Dörfern zu einer Kapelle
am Fuß des Gipfels des Berges Schneestern.
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Foto: Señor de Qoyllur Rit’I, Quelle: wikimedia.org
Die synkretistische Wallfahrt beinhaltet eine große Bandbreite von rituellen Elementen (u.a. Tänze und
Umzüge), die in indigenen andinen Religionen und im Christentum verwurzelt sind. Struktur und Performanz
sind mit der sakralen Landschaft der Anden und ihren Berggottheiten verbunden, mythische Figuren aus den
Erzähltraditionen der Kechua wie der Ukuku (ein Mischwesen aus Mensch und Bär) spielen eine wichtige Rollen
bei der Wallfahrt und werden von bestimmten Personengruppen verkörpert.
Foto: Ukuku, Quelle: flickr.com
Die Ukuku sind Trickster-Figuren, die Humor, Spiritualität und soziale Ordnung miteinander verbinden (vgl.
Hartig 2011). Zu ihren vielfältigen Aufgaben während der Wallfahrt gehört der gefährliche Aufstieg zum
Gletscher, um das heilige Eis zu holen. Dieser essentielle Teil des Rituals kann aufgrund des Rückgangs der
Gletscher nur mehr sehr eingeschränkt durchgeführt werden. Das Verhältnis von Ritual und Klimawandel ist
auch Thema des preisgekrönten Kurzfilms "Ukuku"[2] von Gaston Vizcarra (2009).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Cusco_%28Region%29
[2] http://vimeo.com/15212858
3.5.8 Natur, Geschichte und Politik
"Political ecology can be defined as the study of the manifold articulations of history and biology and the
cultural mediations through which such articulations are necessarily established." (Escobar 1999: 3)
Studien der historischen oder politischen Ökologie betonen die vielfältigen Verflechtungen zwischen
Natur bzw. Landschaft und spezifischen historischen, ökonomischen[1] oder sozialen[2] Prozessen. Sie
verbinden u.a. Fragen nach dem Verhältnis von Umwelt und Gesellschaft[3] mit Fragen nach Macht und
ökonomischen Interessen[4]. Diese Ansätze werden mit poststrukturalistischen Analysen von Wissen,
Institutionen, Gender, Entwicklung und sozialen Bewegungen kombiniert: "It highlights the interwoven character
of the discursive, material, social, and cultural dimensions of the human-environment relation." (Escobar 1999:
2)
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Foto: Subsistenz in Yunnan, Süd-China, Quelle: wikimedia.org
Die Fragestellungen in diesem interdisziplinären Bereich umfassen eine große Bandbreite von Themenfeldern:
Sie reichen von der archäologischen Forschung[5], die sich z.B. mit Entwicklung und Transformation von
Kulturlandschaften beschäftigt, bis zu Analysen von Netzwerken und Akteuren[6] in politischen Gefügen der
Gegenwart im Sinne von Bruno Latour[7] (1993: 6): "… for us humans (and this includes life scientists and
ecologists) nature is always constructed by our meaning- giving and discursive processes, so that what we
perceive as natural is also cultural and social; said differently, nature is simultaneously real, collective, and
discursive - fact, power, and discourse - and needs to be naturalized, sociologized, and deconstructed
accordingly."
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.6
[2] Siehe Kapitel 1.1.9
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] Siehe Kapitel 3.6.1
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Arch%C3%A4ologie
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Akteur-Netzwerk-Theorie
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Latour
3.5.8.1 Hybride Naturen und politische Akteure: Arturo Escobar
"Hybridizations of nature and culture and new narratives of gender and biodiversity are emerging from the
collective practice of social movements and communities despite difficulties and contradictions and against
tremendous odds." (Escobar 1999: 14)
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Foto: Präsentation eines Naturschutzprojekts für Lake Niassa in Mozambik, Quelle: wikimedia.org
Der kolumbianische Sozialanthropologe Arturo Escobar[1] versteht Geschichte und Biologie als Teil eines
gemeinsamen Prozesses. Dieses Konzept soll ein Verständnis von "Natur und Gesellschaft/Kultur" als
Dichotomie und getrennte Kategorien ersetzen. Er spricht in diesem Zusammenhang von "hybriden Naturen",
die u.a. im Rahmen der Biotechnologie, aber auch im Kontext von sozialen (indigenen) Bewegungen zum
Ausdruck kommen. Solche Verflechtungen analysiert er u.a. am Beispiel von Biodiversität: Er zeigt, wie
Biodiversität[2] als Diskurs und Kulturpolitik auf verschiedenen Ebenen zum Tragen kommt und sowohl
globale Institutionen als auch die politische Ökologie lokaler sozialer Bewegungen prägt (vgl. Escobar 1999).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://anthropology.unc.edu/people/faculty/aescobar
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Biodiversit%C3%A4t
3.5.8.2 Indigene Naturpolitik
"Entsprechend ihres Weltbilds stellt für die Menschen der indigenen Kulturen die Welt ein Energiesystem dar,
das den Menschen miteinschließt. Berge, Wälder, Flüsse, Erde, Felsen und Minerale sind Teil eines Systems,
in dem organische und anorganische Aspekte nicht kategorisch getrennt, sondern systematisch miteinander
verbunden sind." (CONAIE 1992: 7)
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Abbildung: Repräsentation der indigenen Organisation
CONAIE in Ecuador mit den mythischen Tieren Condor und
Anakonda, Quelle: fondoindigena.org
Ein Beispiel für indigene "Naturpolitik" im Sinne von Verbindungen zwischen Naturnutzung, Naturkonzeption
und indigenen Rechten bilden indigene Organisationen[1] in der in den frühen 90er Jahren des
20.Jahrhunderts in Ecuador (vgl. Mader 1994).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-224.html
3.5.9 Schöne Natur: Landschaft, Repräsentation und Tourismus
Abbildung: Natur und Mythen in der indischen Malerei: Vishvamitra führt Rama und Lakshmana zu
seiner Einsiedelei (1594). Quelle: kultur-online.net
Natur[1] wird in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten immer wieder anderes bewertet.
Natur oder Landschaft gilt als schön oder reizlos, erbaulich oder bedrohlich. Solche u.a. ästhetische
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Bewertungen bilden Teil eines größeren Gefüges der Konstruktion von Bedeutungen von Natur. Sie stehen in
Zusammenhang mit Kunst, visueller Kultur oder Tourismus und umfassen diverse Formen der Repräsentation
und Interaktion.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.5
3.5.9.1 Anthropologie der Landschaft
Studien zu Bedeutung und Bewertung von Landschaften betonen die konzeptuelle Verbindung zwischen
dem Konzept von Landschaft und Kunst (Malerei). So wird im Europa der Neuzeit und Moderne Landschaft
als schön empfunden, wenn ein Naheverhältnis zu künstlerischen Darstellungen besteht: "… it reminded the
viewer of a painted landscape, often of European origin … Indeed the scene was only called a "landscape"
because it was reminiscent of a painted "landskip"; it was "picturesque" because it looked like a picture."
(Hirsch 1995: 2)
Die Anthropologie der Landschaft umfasst verschiedene Forschungsfelder und theoretische Perspektiven
und untersucht unter anderem die Symbolik von Landschaften in Hinblick auf die Produktion von Bedeutung in
Mythen[1], Kosmologien und Ritualen[2] sowie in diversen Formen von Kunst und Narration. Aus einer
symboltheoretischen Perspektive fungiert Landschaft dabei als vieldeutiges Zeichen, das mit einer großen
Bandbreite von Konzepten und Emotionen in Verbindung gebracht wird (z.B. Liebe, Spiritualität oder Freiheit).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.7
[2] Siehe Kapitel 3.2
3.5.9.1.1 Die Alpen
Foto: Blick auf den Großglockner, Nationalpark Hohe Tauern, Sonnblick, wikimedia.org
"Man soll auf Bergen leben. Mit seligen Nüstern atme ich wieder Bergesfreiheit! Erlöst ist endlich meine Nase
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vom Geruch allen Menschenwesens!" (Nietzsche 1883/2005: Also sprach Zarathustra[1])
"Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen." (Kafka1912/2007: Der Ausflug ins
Gebirge[2])
Galten die Alpen den Römern als "montes horribiles", als eine bedrohliche Wildnis, die von Barbaren bewohnt
war, so stellen dieselben Landstriche heute ein beliebtes Reiseziel des globalisierten Tourismus dar. Ab
dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Berge zunehmend positiv bewertet: Sie wurden von Alpinisten
bestiegen und erkundet, einzelne Teile der Alpenregion wurden in der Folge verstärkt von der urbanen
Bevölkerung zur Erholung aufgesucht (vgl. Bätzing 2003). Diese Prozesse umfassen viele Facetten: Sie gehen
Hand in Hand mit der verkehrstechnischen Erschließung der Alpen[3], können aber auch als Ausdruck einer
naturalistischen Ontologie in Sinne von Philippe Descola[4] (2005/2011) betrachtet werden. Des Weiteren
stehen sie in enger Verbindung mit der Geistesströmung der Romantik, wo Natur u.a. ein Symbol für Freiheit
darstellt. Solche Konzepte bilden bis in die Gegenwart einen Rahmen für Vorstellungen und Bewertungen von
Natur und beeinflussen eine große Bandbreite von Praktiken (u.a. ökologische Bewegungen oder Tourismus).
Die Repräsentation der Alpen als imaginärer Raum der Liebe im indischen Film ist hingegen eng mit
Konzepten von Landschaft in diversen religiösen Traditionen in Südasien verbunden. Die großen hinduistischen
Epen wie Rāmāyana und Mahābhārata beeinflussen den indischen Film auf verschiedenen Ebenen, u.a. in
Zusammenhang mit Beschreibungen und Bewertungen von Landschaften. Die Darstellung der Alpen im Film
zieht wiederum viele indische TouristInnen in die Schweiz und nach Österreich.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.gutenberg.org/cache/epub/7205/pg7205.html
[2] http://www.gutenberg.org/files/23532/23532-h/23532-h.htm
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Alpen
[4] Siehe Kapitel 3.5.4.1
3.5.9.2 Natur, Landschaft, Tourismus
Foto: Am Königsee, Berchtesgaden, E. Mader
Natur bzw. Landschaft bilden im Rahmen des Tourismus sowohl ein Objekt für den "touristischen Blick"
(tourist gaze) und visuellen Konsum als auch einen Hintergrund und eine "Bühne" für diverse Praktiken. Sie
sind wesentliche Elemente der Konstruktion des touristischen Raums und sind Teil eines komplexen
glokalen[1] Gefüges von Akteuren, ökonomischen Aktivitäten, transkulturellen Prozessen, multiplen Rollen und
Identitäten. Diese Verflechtungen kommen auch im Rahmen des Tourismus in Lateinamerika[2] zum
Ausdruck.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.4.6.1
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-309.html
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3.5.10 Literatur
Bätzing, Werner 2003: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. München:
Verlag C.H. Beck.
Crate, Susan A. und Mark Nuttall 2009: Introduction: Anthropology and Climate Change. In: dies. (Hg.):
Anthropology and Climate Change. From Encounters to Actions. Walnut Creek: Leftcoast Press: 9-34.
Descola, Philippe 2005/2011: Jenseits von Kultur und Natur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Ditlefsen, Anne 2006: Global perspective on aquaculture.[1] [Zugriff: 29.03.2013].
Escobar, Arturo 1998: Whose Knowledge, Whose nature? Biodiversity, Conservation, and the Political Ecology
of Social Movements. In: Journal of Political Ecology, Vol. 5: 53- 82.
Escobar, Arturo 1999: After Nature: Steps to an Antiessentialist Political Ecology, In: Current Anthropology, Vol.
40, No. 1: 1-30.
Folke, Carl 2004: Traditional knowledge in social–ecological systems.[2] In: Ecology and Society, Vol.9, No.
3: 7. [Zugriff: 29.03.3013].
Hartig, Marie-Christine 2011: Im Spannungsfeld zwischen Autorität und burlesker Performance. Der Wandel der
rituellen Performance des Pablo in der Pilgerfahrt des Señor de Qoyllur Rit’i. Diplomarbeit, Universität Wien.
Hirsch, Eric 1995: Introducation. Landscape: Between Space and Place. In: ders. und Michael O’Hanlon: The
Anthropology of Landscape. Perspectives on Place and Space. Oxford: Oxford University Press: 1-30.
Ingold, Tim 1992: Culture and the perception of the environment. In: Croll, Elisabeth und David Parkin (Hg.):
Bush Base: Forest Farm. Culture, Environment and Development. London und New York: Routledge: 39-56.
Ingold, Tim 2000: The Perception of the Environment: Essays in Livelihood, Dwelling and Skill. London und
New York: Routledge.
Ingold, Tim 2002: Jagen und Sammeln als Wahrnehmungsformen der Umwelt. In: Gingrich, Andre und Elke
Mader (Hg.): Metamorphosen der Natur. Wien: Böhlau: 69-101.
Kafka, Franz 1912/2007: Der Ausflug ins Gebirge.[3] In: ders.: Betrachtungen. Project Gutenberg. [Zugriff:
29.03.2013].
Kauppert, Michael und Dorett Funcke 2008: Wirkungen des wilden Denkens: Zur strukturalen Anthropologie
von Claude Lévi-Strauss. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Latour, Bruno 1993: We Have Never Been Modern. Cambridge: Harvard University Press.
Lévi-Strauss, Claude 1962/1965: Das Ende des Totemismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Lévi-Strauss, Claude 1962 /1968: Das wilde Denken. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Lévi-Strauss, Claude 1966/1972: Vom Honig zur Asche. Mythologica II. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Lévi-Strauss, Claude 1964/1976: Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Mader, Elke 1994: Indigene Naturpolitik. Ökologie, Kultur und territoriale Rechte in Ekuador. In: Cech, Doris,
Elke Mader und Stefanie Reinberg (Hg.): Tierra. Indigene Völker, Umwelt und Recht. Frankfurt/M. und Wien:
Brandes & Apsel/Südwind: 133-146.
Marx, Karl 1977: Das Kapital. Berlin/DDR: Dietz Verlag.
Nietzsche, Friedrich 1883/2005: Also sprach Zarathustra.[4] Project Gutenberg. [Zugriff: 29.03.2013].
Oppitz, Michael 1993: Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthroplogie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Selin, Helaine (Hg.) 2003: Nature across Cultures. Views of Nature and the Environment in non-Western
Cultures. Dordrecht, Boston und London: Kluwer Academic Publishers.
Spivak, Gayatari C. 1985/1996: Subaltern studies. Deconstructing historiography. In: Landry, Donna and Gerald
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MacLean (Hg.): The Spivak Reader. London und New York: Routledge: 203-236.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.forskningsradet.no/servlet/Satellite?c=Nyhet&pagename=havbruk%2FHovedsidemal&
cid=1226994286933
[2] http://www.ecologyandsociety.org/vol9/iss3/art7/
[3] http://www.gutenberg.org/files/23532/23532-h/23532-h.htm
[4] http://www.gutenberg.org/cache/epub/7205/pg7205.html
3.6 Ökonomische Anthropologie
"Anthropologists have always - at least since
Malinowski[1] - wished to call attention to the ways in
which economy is an integrated part of a social and
cultural totality, and to reveal that economic systems
and actions can only be fully understood if we look into
their interrelationships with other aspects of culture and
society.“ (Eriksen 2010: 184)
Die Kultur- und Sozialanthropologie untersucht
wirtschaftliche Tätigkeiten, Strukturen oder
Prozesse als Teilbereich umfassenderer kultureller
und sozialer Gegebenheiten. Ökonomie ist aus dieser
Perspektive betrachtet kein isolierter Sektor sondern ein
kulturelles[2] Produkt. Dieses Prinzip gilt für die
Analyse ökonomischer Aspekte in unterschiedlichen
Gesellschaften inklusive der gegenwärtigen
globalisierten Marktökonomie[3].
Foto: Plastikimitation von Speisen in der Auslage eines
Restaurants in Kyoto, Japan, Quelle: wikimedia.org
Die Vielfalt an Forschungsfeldern und
Fragestellungen der ökonomischen Anthropologie gibt Einblick in andere Ökonomien und in die große
Diversität an wirtschaftlichen Systemen und Praktiken, unter anderem in Zusammenhang mit
verschiedenen Formen der Nutzung von natürlichen Ressourcen. Die ethnographische Untersuchung von
ökonomischen Tätigkeiten fokussiert Prozesse der Produktion, Distribution/Zirkulation und Konsumption von
Gütern und Dienstleistungen in sogenannten einfachen wie auch in komplexen Gesellschaften, sei dies auf der
Basis von Individuen, Haushalten oder größeren wie kleineren Verwandtschafts- und Interessengruppen (vgl.
Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern[4] 2010).
Die Ökonomische Anthropologie (bzw. Wirtschaftsanthropologie) legt dabei besonderes Augenmerk auf
Schnittstellen und Verflechtungen mit anderen Bereichen, z.B. mit sozialer Organisation und Gender oder
Religion[5] und Ritual[6]. So sind etwa Subsistenz[7] bzw. verschiedene Subsistenzformen
(Wirtschaftsweisen) mit diversen sozialen und kulturellen Systemen verbunden. Diese Themenfelder stehen
auch in Verbindung mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Arbeit mit Natur und Landschaft sowie mit
spezifischen kulturellen Traditionen und Praktiken.
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Foto: Reisterrassen in Indonesien, Quelle: wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] Siehe Kapitel 3.4.3
[4] http://www.anthro.unibe.ch/content/institutsprofil/oekonomische_anthropologie/index_ger.html
[5] Siehe Kapitel 3.1
[6] Siehe Kapitel 3.2
[7] Siehe Kapitel 3.5.1
3.6.1 Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
(Wirtschaftsanthropologie)
Die aktuellen Modelle und Ansätze der Ökonomischen Anthropologie speisen sich primär aus zwei
Quellen: den Wirtschaftswissenschaften und der Kultur- und Sozialanthropologie. Darüber hinaus sind
verschiedene Denkmodelle der frühen Sozialwissenschaften in die Entwicklung dieser Forschungsrichtung
eingeflossen. Die Geschichte der Wirtschaftsanthropologie ist durch wechselseitige Beeinflussung aber auch
durch Kontroversen zwischen verschiedenen Disziplinen und theoretischen Perspektiven gekennzeichnet.
Zu den wichtigsten ökonomischen Theorien, die auch eine Basis der Wirtschaftsanthropologie darstellen,
zählen:
Politische Ökonomie/Marxismus[1] (vgl. auch http://www.lateinamerika- studien.at/content
/wirtschaft/ipo/ipo-1438.html[2])
Neoklassik/Rational Choice[3] (vgl. auch http://www.lateinamerika- studien.at/content/wirtschaft
/ipo/ipo-753.html[4])
Eine zentrale Forschungsrichtung der Ökonomischen Anthropologie ist der Institutionalismus oder
Substantivismus[5]. Die unter diesen Begriffen zusammengefassten theoretischen Ansätze gehen davon aus,
dass die Ökonomie in die Gesamtheit aller Institutionen eingebettet ist. Dem gegenüber argumentieren
VertreterInnen des Formalismus[6] in Anlehnung an die Position der Neoklassik, dass regionale ökonomische
Besonderheiten nur Varianten von generellen Gesetzmäßigkeiten - die uneingeschränkt weltweit gelten darstellen. Die Kontroversen zwischen diesen beiden Positionen dominierten vielfach die theoretischen
Diskussionen in der Wirtschaftsethnologie im 20.Jahrhundert.
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Abbildung: Homo oeconomicus, Quelle: wpgs.de
Besonders umstritten war und ist in diesem Zusammenhang das Modell des "homo oeconomicus"[7], dessen
Anwendbarkeit im Rahmen der Wirtschaftsanthropologie[8] immer wieder aus unterschiedlichen
Gesichtspunkten debattiert wurde.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-35.html
[2] http://www.lateinamerika-studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-1438.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-61.html
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-753.html
[5] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-270.html
[6] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-312.html
[7] http://www.lateinamerika-studien.at/content/wirtschaft/ipo/ipo-272.html
[8] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-322.html
3.6.2 Theoretische Grundlagen: Ökonomie, Gesellschaft und Weltbild
Foto: Herstellung von Tonfiguren, Indien, Quelle:
wikimedia.org
Die vielfältigen Verbindungsweisen zwischen (lokalen) symbolischen Systemen (Bedeutungen, Werten)
und wirtschaftlichen Prozessen in einem globalisierten Handlungs- und Bedeutungsraum stellen
gegenwärtig wichtige Forschungsfelder dar. Zu den Vordenkern in Zusammenhang mit solchen
Fragestellungen gehören Max Weber[1] und Émile Durkheim[2]. Max Weber[3] übte nachhaltigen Einfluss
auf die Konzepte und Arbeitsfelder der Ökonomischen Anthropologie aus.
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Weber betrachtet den Menschen als komplexes soziales und kulturelles
Wesen, das weder aus einer vereinfachenden utilitaristischen Perspektive
betrachtet werden kann, noch durch universelle natürliche Impulse bestimmt
ist. Max Weber führte kulturvergleichende Studien durch, in denen er religiöse
Weltbilder, soziale Institutionen und ökonomisches Handeln in Beziehung
setzt. Er vergleicht z.B. die indische, chinesische und jüdische Zivilisation und
analysiert deren wirtschaftliches und soziales Verhalten. Der spezifische
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Foto: Frauen und Kinder bei der "Geist" einer Kultur bestimmt Weber zufolge auch ökonomische Prozesse, so
untersucht er unter anderem die Auswirkungen des hinduistischen
Palmölherstellung in Ghana,
Kastensystems auf die (lokale) Ökonomie.
Quelle: wikimedia.org
Für Durkheim sind Menschen primär soziale[4] Wesen, sie leben in
Gruppen und ihr Bewusstsein wird durch Interaktionen mit Anderen geprägt. Daher kann menschliches Denken
und Handeln nur dann zielführend untersucht bzw. verstanden werden, wenn nicht das Individuum, sondern
die Gruppe bzw. die Gesellschaft den Forschungsgegenstand bildet.
Durkheim[5] wendet diese Grundannahmen auf verschiedene Dimensionen des Denkens und Handelns an,
insbesondere auf die Gestaltung von sozialen Gruppen und gesellschaftlichen Institutionen, auf Wirtschaft
sowie auf Religion. Im Rahmen seiner "sozialen Ökonomie" erarbeitete Durkheim verschiedene Themen, die für
die Weiterentwicklung der ökonomischen Anthropologie von besonderer Bedeutung waren (z.B. in Hinblick auf
soziale Teilung der Arbeit oder Verflechtungen von Gesellschaft[6], Ökonomie und Religion[7]).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfsoz/einfsoz-46.html
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/einfsoz/einfsoz-20.html
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-88.html
[4] Siehe Kapitel 1.1.9
[5] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-76.html
[6] Siehe Kapitel 1.1.3
[7] Siehe Kapitel 3.1
3.6.2.1 Fallbeispiel: Tausch und Gabe - frühe Beiträge zur Ökonomischen
Anthropologie
Foto: Frau SteneTu und Sohn in Kleidung für Potlach-Feiern
(1906), Quelle: wikimedia.org
Als Fallbeispiel für die Forschungsgeschichte und Theorienbildung werden in der Folge zwei Anthropologen
genauer vorgestellt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich zur Professionalisierung der
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Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin beigetragen haben:
Bronislaw Malinowski[1]
Marcel Mauss[2]
Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des Austausches von Produkten. Ihre
Analysen dieser Prozesse betonen die Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft[3], von sozialen und
religiösen Institutionen und Konzepten sowie von individuellen Bedürfnissen und Interessen.
Bronislaw Malinowski[4] lieferte eine genaue ethnographische Beschreibung der Institution Kula in all
ihren Dimensionen und analysiert sie im Rahmen des Funktionalismus. Seine Erkenntnisse basieren auf
langjährigen Feldforschungen[5] auf den Trobriand-Inseln.
Marcel Mauss erstellte vergleichende Analysen und theoretische Überlegungen zum Konzept des
Tausches bzw. der Gabe, wobei er (aufbauend auf der Arbeit von Malinowski) Kula zu anderen Formen
von Austausch in verschiedenen Regionen und historischen Epochen (z.B. Potlatch[6] in
Nordwestamerika, Geschenksaustausch in Polynesien, Neuseeland und auf den Andamanen sowie im
alten römischen und germanischen Recht) in Beziehung setzt.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-117.html
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/theogrundlagen/theogrundlagen-107.html
[5] Siehe Kapitel 1.3.1
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Potlatch
3.6.3 Literatur
Eriksen, Thomas Hylland 2010: Small Places, Large Issues: An Introduction to Social and Cultural
Anthropology. London: Pluto Press.
Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern 2010: Schwerpunkt ökonomische Anthropologie.[1]
[Zugriff: 27.08.2013]
Weitere Literaturhinweise zur Ökonomischen Anthropologie finden sich auf den entsprechenden verlinkten
Seiten.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.anthro.unibe.ch/content/institutsprofil/oekonomische_anthropologie/index_ger.html
3.7 Anthropologie der Mythen
Mythen sind Geschichten, sie sind eine spezifische Dimension narrativer Kultur, deren vielstimmiger
Diskurs in einem breiten Spektrum von Definitionen, Analysen und Interpretationen reflektiert wird. Sie
sind ein Genre mit fließenden Übergangen zu anderen Erzählweisen, erklären Natur und Übernatürliches,
berichten von Menschen, Göttern, Geistern und Dämonen, vom Ursprung der Dinge und von den Regeln des
Zusammenlebens. Sie sind der Lebenswelt jener Menschen verbunden, die sie weitergeben und gestalten,
zirkulieren jedoch auch aber über große Distanzen und kulturelle Kontexte hinweg. Mythen repräsentieren
einerseits alte symbolische Traditionen, andererseits werden sie immer wieder an neue Kontexte und
Erzählformen angepasst.
Die Inhalte von Mythen bilden auch einen integralen Bestandteil von Wissensgefügen und stellen eine
Grundlage für Weltbilder[1], Religionen[2] und Rituale[3] dar. Sie erzählen auch über Gefühle, Wünsche
oder Konflikte, die Menschen in verschiedenen Lebenswelten berühren und vermitteln Vorstellungen und
Normen, die in diversen sozialen Gefügen zum Tragen kommen. Sie konstruieren einen imaginären und
symbolischen Raum, der eng mit der Alltagswelt verwoben ist, und zeigen ein breites Spektrum von
Bewertungen bestimmter Fähigkeiten, Ereignissen und Handlungen (vgl. Mader 2008).
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Foto: Darstellung des Ramayana (Rama und Sita) in einem
Themenpark in Tamil Nadu, Indien, Quelle: wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1.4
[2] Siehe Kapitel 3.1
[3] Siehe Kapitel 3.2
3.7.1 Theoretische Perspektiven und Forschungsgeschichte
Die Mythenforschung als akademische Forschungsrichtung stellt seit dem 19. Jahrhundert ein inter- und
transdisziplinäres Feld dar und erstreckt sich heute auf eine große Bandbreite von Fachdisziplinen der Kulturund Sozialwissenschaften und darüber hinaus (Archäologie, Cultural Studies, Folklore Studies, Geschichte,
Kognitionsforschung, Kultur- und Sozialanthropologie[1], Linguistik, Philologie, Philosophie, Psychologie,
Theologie, Religionswissenschaft und andere mehr). Im Rahmen der Mythenforschung existieren auch
verschiedene Gruppierungen von Fragestellungen, die oft aus den Perspektiven mehrerer Fachrichtungen
untersucht werden.
Zum Beispiel konzentriert sich eine Gruppe von
Fragestellungen auf Gemeinsamkeiten in Bezug auf
menschliches Denken und Handeln: Die Schwerpunkte
solcher Untersuchungen liegen unter anderem auf der
Bedeutung von Mythen als Schlüssel zu psychischen und
intellektuellen Prozesse oder auf ihrer Struktur und
Symbolik. Andere Gruppen von Forschungsfragen
konzentrieren sich auf die Untersuchung von Mythen in
Zusammenhang mit der Beschreibung, Interpretation und
Erklärung von gesellschaftlichen[2] Prozessen und
Systemen von Repräsentationen. Mythen stellen in diesem
Forschungsfeld einen Schlüssel zum Verständnis von
religiösen, sozialen und politischen Gefügen dar. Sie werden
als eine wichtige Dimension der Lebenswelt der Menschen in
verschiedenen Gesellschaften, zu diversen Zeiten und an
unterschiedlichen Orten analysiert.
Foto: Darstellung einer Mythe der Aborigines,
Australien, Quelle: wikimedia.org
Mythenforschung kann sich auf eine bestimmte
(kulturelle) Gruppe konzentrieren oder vergleichende Studien umfassen. Wendy Doniger[3] (1998: 9f.)
spricht in diesem Zusammenhang von "mikroskopischen" und "teleskopischen" Perspektiven auf Mythen, die
einander ergänzen: "Through the microscope end of a myth, we can see the thousand details that each culture,
indeed each version, uses to bring the story to life - what the people in the story are eating and wearing, what
language they are speaking, and all the rest. … But through the telescope end, we can see the unifying
themes."
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Definitionsversuche und theoretische Perspektiven[4] auf Mythen stehen in Zusammenhang mit der
Forschungsgeschichte und der großen Bandbreite von Fragestellungen (vgl. Mader 2008).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Wendy_Doniger
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-6.html
3.7.2 Fallbeispiel: Mythen im Kino
Seit den Anfängen des Kinos besteht ein Naheverhältnis von Mythen und Filmen, das in den 1990erJahren verstärkt in den Mittelpunkt von Arbeiten aus dem Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie[1]
sowie der Film- und Kulturwissenschaften (film studies und cultural studies) gerückt ist.
Einige Fragestellungen an der Schnittstelle zwischen Mythenforschung und Filmstudien beschäftigen sich mit
inhaltlichen Aspekten. Sie erkunden die mythischen Motive und Figuren im Kino und setzen sich mit dem Film
als Repräsentationsform traditioneller und neuer mythischer Erzählstoffe auseinander.
Abbildung: Filmplakat "King Arthur", USA 2004,
Regie: Antoine Fuqua, Quelle: wikimedia.org
Andere Studien thematisieren die Verflechtungen von Mythen, Ritual/Religion und Film in verschiedenen
kulturellen[2] Kontexten oder vergleichen die Wirkungsweisen von Mythen und Filmen auf ihr Publikum in
verschiedenen kulturellen Kontexten, etwa in Hinblick auf die Tradierung von Werten in sozialen und politischen
Gefügen.
In einer Welt globaler Kulturströme[3] (cultural flows) tragen Filme auch zu einer weiten Verbreitung und einer
verstärkten transkulturellen Rezeption mythischer Stoffe aus verschiedenen lokalen Traditionen bei (vgl. z.B.
Kung Fu-Filme, Bollywood). So entstehen an der Schnittstelle von Mythen und globalen Medien[4] neue
Formen von "mythscapes" besonderer Art, die sich wiederum mit anderen kulturellen Praktiken vermischen.
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Abbildung: Filmplakat "The Forbidden
Kingdom", China 2008, Regie: Rob Minkoff,
Quelle: wikimedia.org
Einige ForscherInnen betrachten populäres Kino generell als Mythen der Gegenwart: Sie analysieren Filme
mittels (erweiterter) Methoden der Mythenforschung, wobei strukturale sowie semiologische und semiotische
Zugänge besonders großen Raum einnehmen.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
[3] Siehe Kapitel 3.4.6.4
[4] Siehe Kapitel 3.4.6.7
3.7.2.1 "American Dreamtime" - Hollywood-Mythen und die Konstruktion von
Bedeutung im populären Kino
Lee Drummond[1] untersucht das populäre Kino in den USA aus der Perspektive einer semiotisch orientierten
Mythenforschung. In dem Buch American Dreamtime (1996) widmet er sich mehreren Fragen, die sich
AnthropologInnen im Kino eröffnen: Warum sind bestimmte Filme Blockbuster? Was fasziniert die Menschen an
diesen Filmen? Welche Bilder und Vorstellungen kommen dabei zum Tragen?
Drummond versteht seine Auseinandersetzung mit dem Kino als Analyse der Praxis kultureller Produktion einer
Gruppe von Menschen. Diese Gruppe sieht er als in einem Bedeutungssystem verankert, das eine Quelle
kultureller Produktion (generative source of culture) darstellt und sich - wie Mythen - auf verschiedene
Dimensionen eines sozialen und kulturellen Gefüges bezieht. Kultur stellt in diesem Zusammenhang einen
Raum von Bedeutungen (semiospace) dar, der auch im Kino zum Ausdruck kommt. Drummond hebt
diesbezüglich die Notwendigkeit hervor, Produktionen der Populärkultur in Industriegesellschaften mit
derselben Ernsthaftigkeit zu erforschen wie andere Themenfelder, da sie eine Fülle von kulturellen
Vorstellungen und Praktiken präsentieren und prägen.
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Parallelen zwischen diesen populären
Hollywood-Filmen und Mythen sind auf mehreren
Ebenen zu erkennen. So drehen sich Mythen wie
Filme um Achsen der Konstruktion von Bedeutung,
die Drummond in Anlehnung an Claude
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Lévi-Strauss[2] (z.B. 1964/1976) an
Gegensatzpaaren festmacht. Drummond
unterscheidet drei zentrale Achsen in Film-Mythen:
Die erste umfasst Beziehungen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Mensch und Artefakt oder
Maschine, die zweite erstreckt sich vom Wir bzw. dem Eigenen zum Sie bzw. dem/den Anderen, und die dritte
spannt sich zwischen Leben und Tod. Diese Achsen durchziehen Hollywood-Mythen in verschiedenen Genres
sowie in diversen inhaltlichen Zusammenhängen. Sie sind nicht scharf voneinander getrennt, vielmehr
zirkulieren verschiedene Elemente des komplexen Gefüges von Bedeutungen zwischen den drei Achsen und
stellen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Bereichen von Dilemmas her.
Abbildung: Filmplakat "Star Wars", USA 1977, Regie:
George Lucas
Bei der Erkundung solcher Gegensätze und/oder Widersprüche im Rahmen von mythologischen Filmanalysen
spielt der Begriff "schismogenesis" eine wichtige Rolle. Drummond übernimmt dieses Konzept von Gregory
Bateson[3]: Es besagt, dass im Kern von Mythen und Ritualen[4] (gesellschaftliche und kognitive) Konflikte
und Widersprüche liegen, die zwar nicht gelöst werden können, deren Repräsentation jedoch von großer
Bedeutung für die kulturellen Prozesse ist. Einen Bereich solcher Dilemmas stellt die Beziehung des Menschen
zu seiner Umwelt dar. Wie viele Mythen thematisiert auch ein guter Teil der untersuchten Hollywood- Filme
Beziehungen des Menschen zur Natur - zum Beispiel zu Tieren - aber auch zur Umwelt der
Industriegesellschaft, die durch Artefakte und Maschinen wesentlich mitgestaltet wird (z.B. Star Wars).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.peripheralstudies.org/
[2] Siehe Kapitel 2.5
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Gregory_Bateson
[4] Siehe Kapitel 3.2
3.7.2.2 Mythische Figuren und Motive im Kino - Pirates of the Caribbean
In der Filmreihe Pirates of the Caribbean kommen Verflechtungen
von Mythen und Filmen unter anderem durch gemeinsame
Inhaltselemente zum Ausdruck (vgl. Mader 2008: 184ff. und
Mader 2011). Dazu zählen Kontinuitäten bei der
Charakterisierung der HandlungsträgerInnen, wie sie an der
Figur des Tricksters (Captain Jack Sparrow) besonders deutlich
zu erkennen sind. Darüber hinaus äußern sie sich in einer Reihe
von Motiven und Themen, die wichtige Elemente im Rahmen der
Konstruktion von Bedeutung darstellen. Diese
Vermischungsprozesse können als Intertextualität analysiert
werden: Darunter versteht man das Verschieben von
Inhaltselementen aus einem Zusammenhang (Text) in einen
anderen. Dabei bleiben einige Aspekte ihrer Bedeutung erhalten,
andere werden durch den neuen Zusammenhang verändert bzw.
kommen neu dazu.
Pirates of the Caribbean bedient sich aus einem Baukasten, der
aus verschiedenen mythischen Figuren sowie aus Motiven und
Inhaltselementen aus Literatur und Film besteht. Darüber hinaus
wurden Szenarien einer Grottenbahn gleichen Namens in
Disney-Land eingebaut.
Narration und Konstruktion von Bedeutung im Rahmen der
Filmreihe baut auf bekannten Schemata des Piratenfilms auf und
Abbildung: Filmplakat "Pirates of the Caribbean
vermischt diese intertextuell mit einer großen Bandbreite von
Motiven und Figuren. Mythen des Wassers und der Seefahrt von
- On Stranger Tides", USA 2011, Regie: Rob
der Antike bis in die Neuzeit, insbesondere aus der
Marshall
Entdeckungszeit mit ihren Schätzen, Wilden, Monstern und
Paradiesen am Rand der (Neuen) Welt werden herangezogen.
Der Fliegende Holländer und die Nymphe Kalypso[1] (die dem schiffbrüchigen Odysseus Unsterblichkeit
verspricht und ihn sieben Jahre auf ihrer Insel gefangen hielt), Meerjungfrauen und Seeungeheuer, Zombies
und Geister reichen einander die Hand und sind wesentliche Handlungsträger der Filme. Magische Objekte z.B. der Kompass, der Jungbrunnen oder auch das Schiff "Black Pearl" - nehmen wichtige Funktionen der
Erzählung ein. Das Motiv der verkehrten Welt, das in vielen Mythologien weltweit zu finden ist, wird im dritten
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Teil filmisch spektakulär umgesetzt.
Abbildung: Filmplakat "Pirates of the Caribbean - On Stranger Tides",
USA 2011, Regie: Rob Marshall
Die Hauptfigur der Filmreihe ist Captain Jack Sparrow - ein Trickster. Der Trickster ist eine weit verbreitete
mythische Figur und symbolisiert bestimmte Formen der Interaktion mit der Welt und der Gestaltung
sozialer Beziehungen. Im Gegensatz zu Helden oder Schurken, die Gut und Böse deutlich kontrastieren,
spielt er mit den Grenzen zwischen Gut und Böse und gilt als "mythische Verkörperung von Ambivalenz" (Hyde
1998: 7): Er erschafft und zerstört, trickst andere aus und wird selbst ausgetrickst.
Ein Prototyp dieser Figur in der europäischen Mythologie ist Odysseus, dessen Reisen und Erlebnisse auch
mehrmals verfilmt wurden. Von seinem Vorfahren, dem göttlichen Hermes, erbte er eine Reihe von Fähigkeiten:
So kann er perfekt lügen, tarnen und täuschen. Solche Kapazitäten sind auch im Kampf oder Krieg besonders
nützlich, man denke an das trojanische Pferd. Trickster tauchen oft dort auf wo Eine/r oder Wenige gegen eine
große Übermacht antreten, sie prägen viele indianische und afrikanische Mythen sowie Comic-Figuren. Viele
Elemente dieser Figuren und ihrer Handlungsweisen werden in Captain Jack Sparrow vereinigt, der sich in
Zukunft vielleicht noch durch weitere Teile der Filmreihe tricksen wird.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Kalypso_%28Mythologie%29
3.7.3 Literatur
Doniger, Wendy 1998: The Implied Spider. Politics & Theology in Myth. New York: Columbia University Press.
Drummond, Lee 1996: American Dreamtime. A Cultural Analysis of Popular Movies, and their Implications for a
Science of Humanity. Maryland, Littlefield Adams Books.
Hyde, Lewis 1998: Trickster makes this world. Mischief, Myth, and Art. New York: Farrar, Straus and Giroux.
Lévi-Strauss, Claude 1964/1976: Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Mader, Elke 2008: Anthropologie der Mythen. Wien: Facultas.
Mader, Elke 2011: Kino oder die Kunst, aus Mythen Blockbuster zu drehen. In: Erna Lackner (Hg.): Neue
Mythen in Kultur und Wirtschaft. Innsbruck u.a.: StudienVerlag: 89-100.
(EM)
3.8 Medienanthropologie
Die Medienanthropologie oder Anthropologie der Medien kann zu jenen Forschungszweigen der Kulturund Sozialanthropologie[1] gezählt werden, die im 21. Jahrhundert massiv an Bedeutung und Relevanz
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gewonnen haben. Indikator für diesen Aufschwung ist die steigende Zahl an fachrelevanten Publikation (z.B.
Bräuchler und Postill 2010), Veranstaltungen, Organisationen, Netzwerken (z.B. www.mediaanthropology.net[2]) sowie Studiengängen und - schwerpunkten. (z.B. Masterstudiengang zu Visual and
Media Anthropology der FU Berlin[3]).
Motivation für die Kultur- und Sozialanthropologie, sich an den interdisziplinär geführten medientheoretischen
Debatten zu beteiligen, scheint einerseits die Ignoranz anderer Disziplinen gegenüber "nicht-westlichen"
Medientechnologien und -nutzungsformen zu sein (vgl. Ginsburg et al. 2002). Die in der Kultur- und
Sozialanthropologie übliche Einbeziehung einer kulturvergleichenden Perspektive erscheint jedoch sinnvoll, um
etwa Fragen nach der Produktion von individueller und kollektiver Identität, der Konstruktion von
Gemeinschaften oder der Verschiebung von Machtverhältnissen im Kontext von Medien befriedigend
beantworten zu können.
Andererseits ist es einer Sozialwissenschaft wie der Kultur- und Sozialanthropologie im 21. Jahrhundert
unmöglich Massenmedien und neue Medien- und Kommunikationstechnologien zu "übersehen". Zu
sehr sind diese Medientechnologien mit dem Alltagsleben eines jeden Menschen verknüpft (vgl. Askew 2002).
Ob das nun digitale Technologien sind, die Menschen individuell vernetzen und unterschiedliche Arten von
Interaktion ermöglichen, oder Massenmedien, die ganze Nationalstaaten informieren und dabei nationale
Identitäten beeinflussen.
In der Kultur- und Sozialanthropologie lässt sich die Forschung zu Medientechnologien grundsätzlich als
Forschung zu menschlicher Kommunikation[4], die von Technologien mediatisiert wird, verstehen. Diese
Mediatisierung - oder Medialisierung - von Kommunikation ist für die Kultur- und Sozialanthropologie besonders
hinsichtlich ihrer Einbettung in soziokulturelle und historische Prozesse und Kontexte interessant: "The
key questions for the anthropologist are how these technologies operate to mediate human communication, and
how such mediation is embedded in broader social and historical processes" (Peterson 2003: 5).
In der Medienanthropologie geht es um die Mediatisierung von Kommunikation in unterschiedlichen
soziokulturellen Kontexten und unter spezifischen historischen, politischen und ökonomischen
Bedingungen.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1
[2] http://www.media-anthropology.net
[3] http://www.master.fu-berlin.de/visual-anthropology/index.html?p=
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunikation
3.8.1 Medientechnologien aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
Auch in der Kultur- und Sozialanthropologie werden Versuche unternommen Medien zu definieren und in
Kategorien einzuteilen. Diese Arbeitsdefinitionen sollen in erster Linie das wissenschaftliche Arbeiten mit
Medientechnologien erleichtern. Grob lassen sich (Massen)Medien in folgende Kategorien einteilen:
1. "traditionelle" Medien, wie beispielsweise Theater;
2. Druckmedien, wie Zeitung und Buch;
3. elektronische Medien, wie TV und Radio, die mittlerweile auch digitale Medien wie
Internettechnologien[1] beinhalten (vgl. z.B. Salzman 1996, Dracklé 1999).
Mark A. Peterson[2] (2003) konzipiert eine Typologie von Medien nach deren Eigenschaften. Dabei
unterscheidet er:
1.
2.
3.
4.
ausstrahlende und sendende Medien, wie TV und Radio;
zirkulierende Medien, wie Zeitung und Buch;
dargestellte Medien, wie Poster und Plakat;
interaktive Medien, wie Internet oder World Wide Web Applikationen und Services.
Grundsätzlich sind Medien Kommunikationsmittel, die es Menschen erlauben auf unterschiedliche Art
und Weise miteinander in Kontakt zu treten. Das kann sowohl verbal (sprachlich) oder non-verbal
(körpersprachlich) als auch individuell und kollektiv geschehen.
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Abbildung: Unterschiedliche Medientechnologien, Ph. Budka
In der Kultur- und Sozialanthropologie werden Medien nicht auf ihre Inhalte oder Botschaften reduziert. Im
Versuch ein möglichst ganzheitliches Bild von Medienphänomenen zu erlangen, werden Kontexte und
Bedingungen unter denen Medien produziert, verteilt und genutzt werden ebenso analysiert wie die
technischen Aspekte von Medien. Medien beinhalten immer auch Technologien, die die Mediatisierung
von Kommunikation erst ermöglichen. Es macht also Sinn nicht nur von Medien sondern von
Medientechnologien zu sprechen.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8.6.4
[2] http://connectedincairo.com/mark-allen-peterson/
3.8.2 Medienethnographie
Wichtigste methodische Herangehensweise, um Medienphänomene zu erfassen, ist für die
Medienanthropologie, wie für die Kultur- und Sozialanthropologie im Allgemeinen, die ethnographische
Feldforschung[1]. Diese methodische Strategie zur empirischen Datenerhebung passt sich dabei sowohl dem
Feld als auch den soziokulturellen Handlungsräumen der Menschen an (vgl. z.B. Kremser 1998, Marcus 1998)
und kann sich also nicht allein auf Inhalte und deren Rezeption beschränken. Sie muss auch die physischen
und sensorischen Dimensionen von Medientechnologien miteinbeziehen, weil über diese soziale Beziehungen
hergestellt werden können.
Mark A. Peterson (2003: 8-9) identifiziert drei wichtige Aspekte in der ethnographischen Forschung zu
Medientechnologien, die auch für ethnographische Feldforschung im Allgemeinen gelten:
137 of 168
1. (Medien)Ethnographie[2] beinhaltet eine dichte, kontextualisierte und detaillierte Beschreibung, in
der Beobachtungen und Informationen kontinuierlich dokumentiert und reflexiv aufgearbeitet werden.
2. Ethnographische Medienforschung versucht, so genau wie möglich das Alltagsleben von Menschen
festzuhalten.
3. Die ständige Anwesenheit des Ethnographen bzw. der Ethnographin im alltäglichen Leben von
ForschungspartnerInnen bedeutet ein kontinuierlich reflexives Zusammentreffen zwischen
Menschen, das nicht immer konfliktfrei ist. Medienethnographie ist eine sehr intime Forschungsstrategie
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Daten zu erheben und Wissen zu gewinnen, die Forschende mitten in das private und berufliche
Alltagsleben von Menschen platziert.
Faye Ginsburg[3] und KollegInnen (2002: 19) verstehen Medienethnographie als eine Kategorie der
Medienforschung, die den textuellen Inhalt von Medientechnologien zugunsten der Analyse der sozialen
Kontexte ihrer Rezeption dezentralisiert. Anders ausgedrückt: Medieninhalte treten in einer
Medienethnographie in den Hintergrund, während die soziokulturellen Kontexte, in denen Medien(inhalte)
produziert und konsumiert werden, in den Vordergrund rücken. Weiters ist es ihrer Ansicht nach notwendig
diese Definition um die physikalischen und sensorischen Eigenschaften von Medientechnologien zu
erweitern. Es geht in einer Medienethnographie und damit allgemein in einem medienanthropologischen
Forschungsprojekt also auch darum die Materialität von Kommunikation zu untersuchen.
Das bedeutet Medien (auch) als Technologien[4] zu begreifen. Über Medientechnologien entwickeln
Menschen neue Beziehungen zu Zeit und Raum sowie zu Körper und Wahrnehmung. Und diese Verhältnisse
verändern sich aufgrund medientechnologischer Entwicklungen permanent. Die "greifbare" Materialität von
Medientechnologien und die damit verbundenen phänomenologischen Erfahrungen sind also wesentlicher
Gegenstand medienethnographischer und medienanthropologischer Forschung (vgl. Ginsburg et al. 2002: 21).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-25.html
[3] http://anthropology.as.nyu.edu/object/fayeginsburg.html
[4] Siehe Kapitel 3.8.5
3.8.3 Historische Entwicklung
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts befassten sich einige wenige SozialwissenschafterInnen[1] zumeist im Rahmen größerer Forschungsprojekte - auch mit Medien und deren gesellschaftlicher und
kultureller Relevanz. Dabei versuchten sie Fragen zu beantworten und bedienten sich methodischer
Instrumente, die durchaus der Kultur- und Sozialanthropologie[2] zugerechnet werden können (vgl. Peterson
2003).
In der historischen Entwicklung der Medienanthropologie lassen sich zwei Stränge unterscheiden:
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1. Frühe medienanthropologische bzw. mediensoziologische Studien, die von
SozialwissenschafterInnen durchgeführt wurden, die nicht ausgebildete Kultur- und
SozialanthropologInnen waren, sich allerdings kultur- und sozialanthropologischer Fragestellungen und
Forschungsmethoden bedienten.
2. Medienethnographische Forschungsprojekte, die von ausgebildeten Kultur- und
SozialanthropologInnen durchgeführt wurden und die einerseits Medienphänomene konkret in den Fokus
der Forschung stellten und andererseits Medientechnologien zumindest als Teil des ethnographischen
Feldes behandelten.
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Foto: Printmedien, Toronto, Ph. Budka
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/methodologiesowi/methodologiesowi-47.html
[2] Siehe Kapitel 1.1
3.8.3.1 Frühe medienanthropologische Studien
Zu den frühen medienanthropologischen Studien kann Middletown[1] von Robert und Helen Lynd[2] (1929)
gezählt werden. In dieser Arbeit analysieren die beiden AutorInnen unter anderem Massenmedien und
Massenkommunikation in einer "typischen" US-amerikanischen Kleinstadt und fragen, welche Funktionen diese
für die "Gemeinschaft" erfüllen. Dabei konzentrierten sie sich vor allem auf die Aspekte der
Informationsbeschaffung sowie der Freizeitgestaltung. Die Lynds verstanden und untersuchten Medien als
"Institutionen" im gesellschaftlichen Kontext. Als Datenerhebungsinstrumente dienten ihnen dabei
teilnehmende Beobachtung im Feld und Interviews.
Eine weitere frühe medienanthropologische Studie ist jene von William Lloyd Warner[3], der im Gegensatz zu
den Lynds ein ausgebildeter Kultur- und Sozialanthropologe war. Die Ergebnisse seiner Arbeit wurden in
insgesamt fünf Büchern zwischen 1941 und 1959 unter dem Titel Yankee City[4] veröffentlicht. Auch hier liegt
der Schwerpunkt der Fragestellung auf den Funktionsweisen, die Massenmedien und Massenkommunikation
innerhalb einer Gemeinschaft in den USA erfüllen. Warner legte seinen Forschungsfokus allerdings auf
Medienkonsumption als "symbolisches Verhalten" in Zusammenhang mit "sozialer Klasse". Er beschäftigte sich
also damit, wie sich die Konsumption von Medien zwischen sozialen Klassen unterscheidet. Neben
teilnehmender Beobachtung[5] und Interviews griff er methodisch auch auf das Instrumentarium der
Inhaltsanalyse[6] zurück.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Middletown_studies
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Staughton_Lynd
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/W._Lloyd_Warner
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Yankee_City
[5] Siehe Kapitel 1.3.2
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[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Inhaltsanalyse
3.8.3.2 Frühe medienethnographische Projekte
Die wohl erste ausgebildete Kultur- und Sozialanthropologin, die sich schwerpunktmäßig mit Medien
auseinandersetzte, war Hortense Powdermaker[1]. Zwischen 1946 und 1947 forschte sie zur Kulturindustrie
Hollywoods. Die Ergebnisse dieser medienethnographischen Feldforschung wurden in dem Buch Hollywood The Dream Factory[2] (1950) publiziert. Diese Studie ist die erste Ethnographie[3] über die
Filmproduktionsindustrie und behandelt diese in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Powdermaker geht
es in erster Linie um die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen Filme damals produziert wurden.
Für sie ist die ethnographische Analyse von Medienphänomenen wichtig, um moderne Gesellschaften und vor
allem sozialen Wandel zu verstehen.
Kultur- und SozialanthropologInnen setzten sich auch in der sogenannten "culture at a distance"
Forschungsrichtung mit Medienphänomen auseinander. Während des Zweiten Weltkrieges in den 1940er
Jahren vom Office of Naval Research gegründet, zielte diese "Schule" der Kultur- und Sozialanthropologie vor
allem auf ein besseres Verständnis von "nationalen Kulturen" ab. Die systematische Analyse von Medientexten
und Medienprodukten sollte helfen die militärischen Feinde der USA besser verstehen zu lernen. Nach dem
Krieg wurde dieser Forschungsschwerpunkt als Projekt "Columbia University Research in Contemporary
Cultures" weitergeführt: "This project was designed to investigate the cultures of the modern nations with whom
we were allied and with whom we were fighting, including Germany, Britain, Russia, France and Japan. Not the
least of these was the United States itself." (Beeman[4] 2000)
An diesem Projekt beteiligten sich Kultur- und SozialanthropologInnen, die zu den renommiertesten des Faches
zählen und deren Arbeit bis heute einflussreich bleibt: z.B. Ruth Benedict[5], Margaret Mead[6], Gregory
Bateson[7] und Eric Wolf[8].
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Hortense_Powdermaker
[2] http://astro.temple.edu/~ruby/wava/powder/table.html
[3] Siehe Kapitel 1.3.1
[4] http://www.brown.edu/Departments/Anthropology/publications/Mead.htm
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Ruth_Benedict
[6] http://www.interculturalstudies.org/Mead/beeman.html
[7] http://en.wikipedia.org/wiki/Gregory_Bateson
[8] http://en.wikipedia.org/wiki/Eric_Wolf
3.8.3.3 Medienanthropologie und die Sozial- und Kulturwissenschaften
Abgesehen von Ausnahmen, wie der ethnographischen Untersuchung von Hortense Powdermaker zur
Filmindustrie in Hollywood in den 1940er Jahren oder den zeitgleichen Filmdokumentanalysen von Margaret
Mead[1] und Gregory Bateson, wurden Medien erst ab Ende der 1980er Jahre systematisch von Kultur- und
SozialanthropologInnen untersucht (vgl. z.B. Ginsburg et al. 2002). Da dies zumeist im Rahmen eines nicht
medienspezifischen Feldforschungkontextes geschah, schrieb Debra Spitulnik[2] noch 1993: "there is yet no
"anthropology of mass media"." (Spitulnik 1993: 293)
Warum befasste sich die Kultur- und Sozialanthropologie[3] so lange kaum oder gar nicht mit
Medientechnologien? Gründe für das Desinteresse vieler Kultur- und SozialanthropologInnen - besonders an
den "Massenmedien" - waren einerseits die Fokussierung des Faches auf "soziokulturell einfache" und
"regional abgelegene" Gemeinschaften, die zumeist nicht von modernen Medientechnologien erreicht wurden.
Andererseits lässt sich eine allgemeine kulturpessimistische Sichtweise bezüglich Massenmedien und deren
Wirkungsweisen feststellen, die lange vor allem in den Sozial- Geistes- und Kulturwissenschaften vorherrschte.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden etwa von den in die USA emigrierten Vertretern der Frankfurter
Schule[4], Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, elektronischen Massenmedien vor allem gefährliche
Eigenschaften wie die "Totalisierung" der Gesellschaft und die "Massifizierung" des Individuums zugeschrieben
(vgl. Dracklé 1999). Diese Annahmen mündeten letztlich in einen Kulturpessimismus, der sich erst durch den
Wechsel des analytischen Fokus von der bloßen Wirkung von Medien auf deren Rezeption abschwächte.
Eine entscheidende Rolle bei diesem Paradigmenwechsel spielten die Cultural Studies[5], die sich in den
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frühen 1970er Jahren in Großbritannien zu etablieren begannen. Theoretiker wie Karl Marx, Antonio Gramsci
und Louis Althusser, die sich mit Macht, dominanten Ideologien und Strukturen befassten, beeinflussten
Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall[6] und David Morley[7] (z.B. 1986) und trugen wesentlich dazu
bei, dass Menschen nicht mehr ausschließlich als passive MedienkonsumentInnen gesehen wurden, sondern
vielmehr als aktive RezipientInnen, die die Medien und deren Botschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen
versehen und so auch in der Lage sind "Widerstand gegen dominante Ideologien" zu leisten (Dracklé 1999:
266; vgl. auch Askew 2002). Diese optimistischere Darstellung von sich frei entscheidenden
MedienrezipientInnen wurde später vor allem nach Einbeziehung von empirischem Forschungsmaterial dafür
kritisiert, dass sie den tatsächlichen Machtverhältnissen zwischen MedienproduzentInnen und
-konsumentInnen zu wenig Bedeutung beimessen würde (vgl. z.B. Rojek 2003).
Der Einfluss der "modernen" Cultural Studies auf die Kultur- und Sozialanthropologie resultierte in einer
verstärkten Beachtung von Massenmedien bzw. "Populärkulturen" und deren Inhalten als
Forschungsfelder (vgl. Dracklé 1999). Die Gründe für das historisch gewachsene Interesse der Kultur- und
Sozialanthropologie an Medien können also mit einem Wechsel sowohl des theoretischen als auch des
geographischen Fokus innerhalb der Disziplin erklärt werden. Die theoretischen und methodischen
Umwälzungen in den 1980er und 1990er Jahren (Postmodernismus und Repräsentationsproblematik) sowie die
Verlagerung von ethnographischen Forschungsfeldern von abgelegenen Dorfgemeinschaften in den
"Entwicklungsländern" in die urbanen Räume der Industriestaaten, die wesentlich stärker von Massenmedien
durchdrungen sind, trugen maßgeblich zur Etablierung einer Medienanthropologie bei (vgl. Ginsburg et al.
2002).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Margaret_Mead
[2] http://anthropology.emory.edu/home/people/faculty/vidali.html
[3] Siehe Kapitel 1.1
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Schule
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_studies
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_%28cultural_theorist%29
[7] http://www.gold.ac.uk/media-communications/staff/morley/
3.8.4 Ausgewählte theoretische Konzepte und Zugänge
Die Medienanthropologie ist einerseits eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen[1] verwoben und
übernimmt von diesen theoretische Konzepte und theoretische Vorgehensweisen (vgl. z.B. Bräuchler und
Postill 2010). Andererseits trägt die Kultur- und Sozialanthropologie[2] mit ihren speziellen Konzepten und
Methoden selbst zum Verständnis von Medienpraktiken bei (vgl. Rothenbuhler und Coman 2005).
Prominente theoretische Konzepte, die in der Medienanthropologie Verwendung finden, jedoch nicht der Kulturund Sozialanthropologie entstammen, sind etwa:
1. Benedict Andersons[3] (1983) Konzept der "vorgestellten Gemeinschaft", das das Potential von
Massenmedien zur Bildung von imaginierten Vergesellschaftungen - z.B. Nationalstaaten - aufzeigt.
2. Jürgen Habermas (1990 [1962]) theoretischer Abriss zur "Öffentlichkeit" und deren strukturellem
Wandel[4].
3. Die Akteur-Netzwerk-Theorie[5], entwickelt unter anderem von Bruno Latour (2005) und John Law, die
besonders geeignet scheint, Prozesse in technologisierten "Netzwerkgesellschaften" zu verstehen.
Altgediente Konzepte der Kultur- und Sozialanthropologie werden wiederum auch von
MedienwissenschafterInnen, in ihren Versuchen moderne Medienphänomene theoretisch und analytisch
fassbar zu machen, verwendet. Zu nennen wären hier etwa:
1.
2.
3.
4.
Diverse Theorien zu Ritual[6] und Ritualisierung (z.B. Couldry 2003);
Theorien zu Geben[7] und Tauschen (z.B. Bergquist 2003),
Überlegungen zur materiellen Kultur[8] (z.B. Horst und Miller 2012);
Theorien zur kulturellen, geschlechtlichen und ethnischen Identitätskonstruktion[9] (z.B. Bräuchler
2005);
5. Konzepte zu Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen[10] (z.B. Mader und Budka 2009).
Ein prominentes Beispiel für die konkrete Verschmelzung von medienanthropologisch-relevanten Theorien
liefert Arjun Appadurai[11] (1996). Er verwendet sowohl Andersons "vorgestellte Gemeinschaften", um in
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seinen theoretischen Konzepten die Bedeutung von Imaginationen für die Bildung von transnationalen
Medienlandschaften herauszuarbeiten, als auch Habermas’ Verständnis von Öffentlichkeit, um eine
"hypothetische Arena" (public culture) zu umreißen, die sich von Unterscheidungen in "erste", "zweite" und
"dritte" Welt distanziert und eine "kulturelle Hierarchisierung"ablehnt (Kreff 2003: 130). In dieser public culture
spielen Massenmedien wiederum eine bedeutende Rolle.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8.3.3
[2] Siehe Kapitel 1
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Benedict_Anderson
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Strukturwandel_der_%C3%96ffentlichkeit
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Akteur-Netzwerk-Theorie
[6] Siehe Kapitel 3.2.5
[7] Siehe Kapitel 3.6.2.1
[8] Siehe Kapitel 3.8.6.4.1
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Identit%C3%A4t
[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Vergesellschaftung_%28Soziologie%29
[11] Siehe Kapitel 3.4.6.7
3.8.4.1 Theorie der Praxis
Obwohl es keine einheitliche Theorie der Praxis oder allgemein gültige Definitionen für Handlungstheorien
gibt, lassen sich in einem praxistheoretischen Umfeld sehr wohl ähnliche Ansätze feststellen. Hier können
Arbeiten, erkenntnistheoretische Ansätze und Forschungsstrategien von einflussreichen Sozial- und
Geisteswissenschaftlern wie Pierre Bourdieu[1], Michel Foucault[2], Michel de Certeau[3] oder Anthony
Giddens[4] angeführt werden. So erweisen sich Bourdieus Handlungstheorie[5] (Bourdieu 1976), die darauf
abzielt zwischen subjektivistischen und objektivistischen Erkenntnistheorien zu vermitteln, sowie die von ihm
entwickelten Konzepte als besonders einflussreich; etwa als Strategie, Stellungen und Positionen in einer
Sozialhierarchie zu deuten (vgl. Zips und Rest 2010).
Geschichte spielt bei praxistheoretischen Überlegungen eine wichtige Rolle. So betont etwa Sherry
Ortner (2006: 9), bezugnehmend auf Marshall Sahlins[6], dass eine Theorie der Praxis immer eine zentrale
historische Komponente hat: "A theory of practice is a theory of history". Vergangene Ereignisse und
(persönliche) Geschichte sind für Handlungstheorien also von großer Bedeutung. So umschreibt etwa auch
Bourdieu den Habitus als "zu Natur gewordene Geschichte", die einen wesentlichen Teil des unbewussten
Selbst ausmacht (vgl. z.B. Zips und Rest[7] 2010).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Pierre_Bourdieu
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Michel_Foucault
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Michel_de_Certeau
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Anthony_Giddens
[5] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/denkenksa/denkenksa-9.html
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Marshall_Sahlins
[7] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/denkenksa/denkenksa-23.html
3.8.4.1.1 Medientechnologien in einer Theorie der Praxis
Betrachtet man Medientechnologien aus Sicht einer Theorie der Praxis, verschiebt sich der analytische
Schwerpunkt von Strukturen, Systemen, Individuen oder Interaktionen hin zu Medienpraktiken. Für die
Analyse von Medienpraktiken ist wiederum die ethnographische Forschung zentral. Und so lässt sich eine
enge Verbindung zwischen kultur- und sozialanthropologischen/ethnographischen Forschungsprojekten und
praxistheoretischen Ansätzen erkennen (vgl. Bräuchler und Postill 2010).
Nach John Postill[1] (2010) trägt eine Theorie der Praxis in der Medienforschung vor allem in drei
Bereichen zu einem Erkenntnisgewinn bei:
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1. Medien im Alltagsleben verstehen: beispielsweise die Bedeutung von Medien für zeitliche Ordnung,
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Orientierung und Struktur.
2. Medien in Bezug zum menschlichen Körper analysieren: z.B. der Einfluss von Medien auf den Körper
bzw. das Körperbild oder die Verbreitung und Popularisierung von sportlichen/körperlichen Aktivitäten
mittels Medientechnologien (z.B. Base Jumping), was auch einen aktivistischen Charakter hat.
3. Phänomene der Medienproduktion untersuchen: beispielsweise Journalismus als soziales Feld im
Bourdieuschen Sinn[2], als "Spielfeld" mit Regeln, Wettbewerb, etc.
Foto: "Wawatay" Redaktion, Sioux Lookout, Ontario, Kanada, Ph. Budka
Ein "Theorie der Praxis"-Ansatz in der Medienforschung versucht zu verstehen, wie Menschen Medien
verwenden, um (ontologische) Sicherheit in einer "modernen" Welt[3] zu erlangen. Eine Handlungstheorie
ist also in erster Linie als theoretisches Instrument zu verstehen. Dabei stehen Medienpraktiken in engem
Zusammenhang mit Ritualen und performativen Praktiken, die sich wechselseitig beeinflussen. Insgesamt
erlaubt eine Theorie der Praxis, Medienforschung in einen breiteren Kontext zu stellen, was zur Etablierung
einer Soziologie oder Kultur- und Sozialanthropologie des Handels und Wissens beitragen kann.
Medien-orientierte Praktiken
Nick Couldry[4] (2010) ist der Ansicht, dass der Fokus in der Medienforschung auf Medienpraktiken gerichtet
werden sollte, anstatt auf Medientexte, -inhalte oder die politische Ökonomie der Medien(produktion). Dabei
versteht er Medien als Praxis und sieht Praxis in diesem Fall als ein offenes Set an Praktiken, das direkt
oder indirekt in Verbindung zu Medien steht und an diesen orientiert ist. Couldry spricht deswegen auch
von Medien-orientierten Praktiken, media-oriented practices. Von besonderem Interesse ist hier die Frage, wie
sich unterschiedliche Praktiken in soziokulturellen Feldern durch Medienpraktiken verankern lassen. Oder
anders ausgedrückt: Wie beeinflussen Medienpraktiken andere soziale Praktiken?
Medien-verbundene Praktiken
Mark Hobart[5] (2010) versteht Praktiken als soziale Aktivitäten beziehungsweise als Artikulationen, durch die
sich Akteure erhalten und/oder verändern. Eine einheitliche Definition ist hier seiner Ansicht nach wenig
sinnvoll, da eine solche zwangsweise eine eurozentristische Sichtweise implizieren würde. Wichtig hingegen sei
es, die hierarchischen Verhältnisse von Praktiken mitzudenken. Im Gegensatz zu Couldry versteht Hobart
Medienpraktiken nicht als an Medien orientierte Praktiken, sondern als Medien-verbundene Praktiken
oder Praktiken, die in Bezug zu Medien stehen, media-related practices. Diese offene und erweiterbare
Konzeptualisierung erlaubt etwa das Kochen von Essen, während man fernsieht, als Medien-verbundene
Praktik zu verstehen. Medienpraktiken lassen sich so eng mit anderen sozialen Praktiken des Alltagslebens
verknüpfen und in diesem Zusammenhang analysieren.
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(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://johnpostill.com/
[2] Siehe Kapitel 3.8.4.1
[3] Siehe Kapitel 3.4.5.8
[4] http://www.lse.ac.uk/researchandexpertise/experts/[email protected]
[5] http://www.soas.ac.uk/staff/staff31118.php
3.8.4.2 Ritualtheorien
Die kultur- und sozialanthropologische Bearbeitung des Verhältnisses von Ritualen und Medien[1]
thematisiert und reflektiert die zunehmende Bedeutung von Medien in der gegenwärtigen globalisierten Welt
sowie Veränderungen des Ritualbegriffs und der Ritualforschung in Bezug auf Medienpraktiken (vgl.
Ritualdynamik[2] oder Ritualtransfer[3]).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.2.5
[2] Siehe Kapitel 3.2.1.3
[3] Siehe Kapitel 3.2.1.4
3.8.5 Technologie im soziokulturellen Kontext
Seit den 1950er Jahren untersuchen Kultur- und SozialanthropologInnen neue und "moderne" Technologien
und wie diese vor allem in "nicht-westlichen" Gemeinschaften verwendet und angeeignet werden (vgl. z.B.
Godelier 1971, Pfaffenberger 1992, Sharp 1952). Doch wie unter anderem Arturo Escobar[1] (1994) meint, ist
es schwierig diese Forschungsansätze und -befunde auf hochkomplexe technische Umgebungen in
"modernen" Gesellschaften zu übertragen. Aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive bedeutet diese
Transferschwierigkeit weder eine Hierarchisierung von soziotechnischen Systemen und damit verbunden von
Gesellschaften, noch bedeutet dies eine Abwertung "nicht-moderner" oder "traditioneller" soziotechnischer
Systeme. All diese Systeme - vom Töpfern in Indien bis zum Programmieren von Software in Kalifornien
- sind hochkomplex und heterogen.
Es besteht allerdings dringender Bedarf an theoretischen Zugängen und weiteren empirischen Befunden, die
zum Verständnis soziotechnischer Systeme in "modernen" Gesellschaften beitragen. Dieser Umstand wird
beispielsweise von Bryan Pfaffenberger[2] (1992) in seiner Diskussion von soziotechnischen Systemen für
eine Anthropologie der Technologie und Materiellen Kultur hervorgehoben.
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Foto: Satellitenschüsseln, Fort Severn, Ontario, Kanada, Ph. Budka
Die Kultur- und Sozialanthropologie befasst sich zunehmend mit soziotechnischen Systemen in
zeitgenössischen Gesellschaften (vgl. z.B. Rabinow 2008, Rabinow und Markus 2008) - vor allem auch, weil
immer wieder Fragen auftauchen, die scheinbar nur von der Kultur- und Sozialanthropologie beantwortet
werden können, etwa nach der soziokulturellen und soziokulturell unterschiedlichen Bedeutung von
Technologien (vgl. Pfaffenberger 1988, 1992). Schon Ende der 1980er Jahre wandte sich Pfaffenberger (1988:
23) sowohl gegen das, was er als "technologischen Somnambulismus" bezeichnete als auch gegen einen
technologischen Determinismus - beides Beispiele für Extreme im Verständnis von Technologie im
gesellschaftlichen Zusammenhang.
Technologischer Somnambulismus, umgangssprachlich als Schlafwandeln bekannt, weigert sich mehr
oder weniger eine Verbindung oder einen kausalen Zusammenhang zwischen Technologie, Gesellschaft
und Kultur zu erkennen. Für VertreterInnen dieser Sichtweise ist Technologie folglich neutral und
losgelöst von - beispielsweise - körperlichen Produktions- und Fertigungspraktiken und deren
soziokulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.
Technologischer Determinismusauf der anderen Seite versteht Technologie als die alles dominierende
und diktierende Kraft, auch des sozialen Lebens. Für VertreterInnen dieses Technologieverständnisses
besteht immer eine Verbindung zwischen Technologie und Gesellschaft. Technologie entwickelt hier eine
handlungsmächtige Autonomie, die eng mit Produktionsweisen im kapitalistischen System in
Zusammenhang steht und etwa zur Fetischisierung von technischen Artefakten führt.
Die Kultur- und Sozialanthropologie versucht zu verstehen, wie Technologie - beispielsweise in Form
materieller Kultur oder als soziotechnisches System - (kulturell[3]) konstruiert und (sozial[4]) verwendet,
genutzt und angeeignet wird. Ähnliche Ziele verfolgen auch Wissenschaftsforschung, Science and
Technology Studies und sozialwissenschaftliche Technikforschung (vgl. z.B. Eglash 2006). Die Entwicklung
und der Aufschwung digitaler (Medien)Technologien führen zu einer weiteren Differenzierung dieses
Forschungsbereichs und zur Etablierung neuer Schwerpunkte.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.8.6.2
[2] http://www.stswiki.org/index.php?title=User:Bryan
[3] Siehe Kapitel 1.1.8
[4] Siehe Kapitel 1.1.9
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3.8.6 Digitale Medientechnologien als Forschungsfelder der Kultur- und
Sozialanthropologie
In der Analyse von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wird im sozial- und
kulturanthropologischen Kontext gerne von "Cyberanthropology", "Anthropologie des Cyberspace" oder
"Anthropologie der Cyberkultur" gesprochen (Budka und Kremser 2004, Knorr 2011). In letzter Zeit werden
diese Begriffe allerdings zunehmend von der Bezeichnung "Digitale Anthropologie" abgelöst (Horst und
Miller 2012).
Digitale Medientechnologien sind heute allgegenwärtig und Teil unserer sozialen und kulturellen
Lebenswelten. Es ist also kein Wunder, dass auch die Kultur- und Sozialanthropologie[1] sich nun immer
aktiver diesen Phänomenen zuwendet. Schließlich ist sie mit ihren elaborierten Methoden und Konzepten
hervorragend geeignet digitale Medientechnologien und deren soziokulturelle Konstruktion, Bedeutung und
Konsequenzen zu untersuchen (vgl. z.B. Escobar 1994, Horst und Miller 2012, Miller 2011, Pfaffenberger 1988,
1992).
Schon Ende der 1980er Jahre drängte z.B. Pfaffenberger (1988: 243) die Kultur- und Sozialanthropologie und
generell die Sozialwissenschaften sich auf das menschliche Verhalten zu konzentrieren "in which people
engage when they create or use a technology". Genau das versuchen die Forschungsrichtungen der
Cyberanthropologie und der Digitale Anthropologie in ihrem Anspruch, komplexe soziotechnische Systeme und
Phänomene in zeitgenössischen Gesellschaften zu verstehen. Dabei befassen sich Kultur- und
SozialanthropologInnen in ihrer Analyse von neuen digitalen Medientechnologien mit soziokulturellen
Phänomen, die traditionell intensiv in der Disziplin bearbeitet werden, z.B. Gender, Ethnizität,
Religion[2], Mystifizierung[3] oder Tausch[4] (vgl. z.B. Budka und Kremser 2004, Horst und Miller 2012).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1
[3] Siehe Kapitel 3.7
[4] Siehe Kapitel 3.6
3.8.6.1 Cyberanthropologie: Kybernetik und Cyberspace
Die Bezeichnung "Cyberanthropologie" oder "Cyberanthropology"[1] lehnt sich an Wortschöpfungen wie
"Cyberspace"[2], "Cyberculture" und "Cyberpunk" an, die der Science Fiction Literatur und damit der
Populärkultur entstammen (Knorr 2011). Der Begriff "Cyberspace" beispielsweise wurde das erste Mal vom
Science Fiction-Autor William Gibson[3] im Text Burning Chrome (1982) verwendet.
Das Präfix "Cyber" hat eine längere Geschichte und wurde durch den Mathematiker Norbert Wiener[4] Ende
der 1940er Jahre populär. Er verwendete den Begriff "Cybernetics" - Kybernetik -, um einen
Wissenschaftskomplex zu beschreiben, der sich mit Kommunikation und Kontrolle in künstlichen Systemen, wie
Mensch-Maschine-Kommunikation oder Mensch-Computer-Interaktion, befasst (Wiener 1948). Das
interdisziplinäre Forschungsprojekt der Kybernetik hatte auch Einfluss auf die Kultur- und Sozialanthropologie,
indem Kommunikation und Technologie stärker in den Mittelpunkt anthropologischer Forschungsprojekte
gestellt wurden, so beispielsweise in den Arbeiten von Claude Lévi- Strauss[5], Margaret Mead, Clifford Geertz
und Gregory Bateson[6] (Axel 2006). Für Bateson (1972), beispielsweise, ist ein kybernetischer Ansatz
wesentlich, um komplexe Systeme, menschliche und nicht-menschliche Interaktion, Kommunikation in
und mit größeren Umgebungen und Ökologien und auch den menschlichen Geist zu verstehen (zu
lernen).
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In einer Cyberanthropologie wird der "Cyberspace" als soziokultureller Raum menschlicher Interaktionen
verstanden, der durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien wie das Internet konstruiert und
erhalten wird. Dieser Raum und die kulturellen Phänomene und sozialen Prozesse, die mit diesem verknüpft
sind, scheinen wie geschaffen dafür, ethnographisch untersucht zu werden - um letztlich, wie David Hakken[7]
(1999: 10) schreibt, diese neue Art und Weise Mensch zu sein zu verstehen. Denn trotz der großen Menge an
Daten und neuen Methoden des Datensammelns sowie Formen der Sichtbarmachung, die durch digitale
Medien ermöglicht und unterstützt werden, bleiben viele der "digitalen Welten" versteckt, verhüllt und schwierig
zu entziffern (Coleman 2010). Ethnographische Langzeitforschung[8] ist deswegen notwendig, um
Praktiken des alltäglichen digitalen Lebens zu erkennen und zu verstehen.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www2.fiu.edu/~mizrachs/CyberAnthropology.html
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Cyberspace
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/William_Gibson
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Wiener
[5] Siehe Kapitel 2.5
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Gregory_Bateson
[7] http://www.soic.indiana.edu/people/profiles/hakken-david.shtml
[8] Siehe Kapitel 1.3.1
3.8.6.2 Anthropologie der Cyberkultur
Arturo Escobar[1] (1994) entwickelte das Konzept einer "Anthropologie der Cyberkultur", das die
strukturellen Veränderungen, die neue IKT sowie Biotechnologien in den "modernen" Gesellschaften
hervorrufen, analysieren soll: "As a new domain of anthropological practice, the study of cyberculture is
particularly concerned with the cultural construction and reconstruction on which the new technologies are
based and which they in turn help to shape" (Escobar 1994: 211). Während digitale
Kommunikationstechnologien neue Formen von "Techno-Sozietät" hervorbringen, sind es Biotechnologien,
wie Gentechnik, die in "Bio-Sozietät" resultieren, was letztlich eine neue Ordnung in der Produktion von
Leben, Natur und Körper bedeutet (Escobar 1994, 1995). In beiden Sozietäten werden Natur und Kultur
unter spezifischen politischen und ökonomischen Bedingungen neu definiert, neu gedacht und auch
neu erfunden.
Für die Kultur- und Sozialanthropologie eröffnen sich nach Escobar (1994) drei große potentielle
Forschungsprojekte, die zwar eng miteinander verknüpft sind, sich in ihrem Forschungsfokus aber
unterscheiden:
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1. Die soziale Produktion von "virtuellen" Technologien, die zu einer "post- körperlichen" Stufe in der
menschlichen Entwicklung führen kann (vgl. Thomas 1991).
2. Eine Cyborg[2] Anthropologie kann sich den zusehends verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch
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und Maschine widmen (vgl. Downey et al. 1995).
3. Im Rahmen einer Anthropologie der Cyberkultur[3] können kulturelle Diagnosen zu den
Transformationen und Veränderungen erstellt werden, die durch die Entwicklung neuer Technologien in
den Gesellschaften ausgelöst werden. Escobar (1994) sieht hier die Kultur- und Sozialanthropologie in
der Pflicht kulturelle Diagnosen bezüglich biotechnischer und wissenschaftlicher Entwicklungen
vorzunehmen.
Eine Anthropologie der Cyberkultur umfasst nach Escobar (1994, 1995) folgende ethnographischen
Forschungsfelder[4], wobei sich die genannten Beispiele bewusst auf digitale Medientechnologien
konzentrieren und Biotechnologien ausblenden (vgl. auch Hakken 1999):
1. Felder der Technologieproduktion wie etwa Computerlaboratorien, die Telekommunikationsindustrie
und Softwarefirmen sowie Felder der Technologiekonsumption, beispielsweise Schulen, Büros,
Privathaushalte.
2. Felder, die durch die Nutzung von IKT entstehen; soziale Online- Netzwerke, virtuelle Gemeinschaften
sowie die unterschiedlichen Verhältnisse, die sich innerhalb dieser sozialen Umgebungen zwischen
Sprachen, sozialen Strukturen und kulturellen Identitäten manifestieren.
3. Im Feld der politischen Ökonomie der Cyberkultur befassen sich Forschende mit dem Verhältnis von
Information und Kapital sowie den damit verbundenen kulturellen Dynamiken. Hier können etwa die sich
wandelnden politischen und ökonomischen Verhältnisse zwischen Industriestaaten und
"Entwicklungsländern" untersucht werden.
Die Anthropologie der Cyberkultur - wie auch die Digitale Anthropologie - kann zur Dekonstruktion und zum
kritischen Hinterfragen von Kategorien und Abgrenzungen beitragen, die oft als fest und unzerstörbaren gelten,
z.B. Natur/Kultur oder Mensch/Maschine (Escobar 1995). Darüber hinaus kann nach Escobar (1994, 1995) das
Konzept der Cyberkultur zur Erneuerung der Kultur- und Sozialanthropologie beitragen, ohne sich dabei wieder
in Diskussionen über "das Andere" und "das Selbst" zu verfahren. Die Anthropologie der Cyberkultur scheint in
der Lage die künstliche Dichotomie zwischen dem "modernen Selbst" und dem "primitiven Anderen" zu
überwinden.
Aus der Anthropologie der Cyberkultur oder Cyberanthropologie entwickelte sich in den letzten Jahren ein
neuer Forschungsbereich, der als "Digitale Anthropologie"[5] bezeichnet wird und der sich intensiv mit
mittlerweile ubiquitären digitalen Medientechnologien und Internetservices auseinandersetzt (vgl. z.B. Horst und
Miller 2012). Escobars Verdienst bleibt es, schon früh den Versuch unternommen zu haben, potentielle
Forschungsprojekte und -felder zu identifizieren, zu klassifizieren und zur Diskussion zu stellen (Budka und
Kremser 2004).
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Arturo_Escobar_%28anthropologist%29
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Cyborg
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Cyberculture
[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] Siehe Kapitel 3.8.6.3
3.8.6.3 Digitale Anthropologie
Die Digitale Anthropologie[1] zielt, wie die Kultur- und Sozialanthropologie an sich, darauf ab zu verstehen,
was es bedeutet Mensch zu sein (Miller und Horst 2012). Daniel Miller[2] und Heather Horst[3] (2012: 3f.)
identifizieren insgesamt sechs Prinzipien, die ihrer Ansicht nach die Grundlagen einer Digitalen Anthropologie
als kultur- und sozialanthropologische Subdisziplin bilden:
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1. Das "Digitale" intensiviert die dialektische Natur
von Kultur. Dabei definieren Miller und Horst (2012:
3) "digital" als alles was sich auf einen binären Code
reduzieren lässt, dabei aber weitere
Differenzierungen und Besonderheiten zulässt und
verbreitet.
2. Das Menschsein wird durch den Aufstieg des
Digitalen nicht stärker mediatisiert. Das
vor-digitale Zeitalter war keineswegs "realer" oder
"authentischer" als das digitale Zeitalter.
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Foto: "Internet", Wien, Ph. Budka
3. Die Verpflichtung zu einer holistischen, also
ganzheitlichen, Sichtweise ist ein weiteres Prinzip
der Digitalen Anthropologie. Zu beachten ist hier, dass die ganzheitliche Erfassung einer "Kultur" oder
eines soziokulturellen Phänomens ein Ideal ist, nach dem lediglich gestrebt werden kann (vgl. Markus
1998).
4. Kultureller Relativismus und eine globale, kulturvergleichende Perspektive auf das Digitale sind
essentiell. Hypothesen bezüglich der homogenisierenden Wirkung des Digitalen auf soziokultureller
Ebene können so relativiert und widerlegt werden.
5. Digitale Kultur[4] ist doppel- oder mehrdeutig. Einerseits eröffnen sich neue Möglichkeiten,
beispielsweise in der partizipativen Politik, andererseits verschließen sich auch Möglichkeiten,
beispielsweise in der Privatsphäre.
6. Digitale Anthropologie (an)erkennt die Materialität digitaler Welten. Diese sind weder mehr noch
weniger materiell als vor-digitale Lebenswelten. Das Digitale, wie jede Form materieller Kultur, wird zu
einem konstitutiven Teil dessen, was uns zu Menschen macht. "Not only are we just as human within the
digital world, the digital also provides many new opportunities for anthropology to help us understand
what it means to be human" (Miller und Horst 2012: 4).
Die normative Materialität digitaler Welten bzw. die digitale Materialität lässt sich wiederum in drei Kategorien
unterteilen:
1. Digitale Infrastruktur, Technologien und Objekte, die Nutzung und Anwendung erst ermöglichen. Das
Internet beispielsweise besteht aus einem physikalisch fassbaren Netzwerk an Computern, das
beschädigt und repariert werden kann.
2. Digitale Inhalte, die von digitalen Technologien kreiert, reproduziert, übertragen und verbreitet werden.
3. Digitale Kontexte, die für die Produktion, Nutzung und Anwendung digitaler Technologien relevant sind
und diese beeinflussen, z.B. aufgrund von Veränderungen und Neuinterpretationen von Raum und
Lokalität.
Erstaunlich ist für Miller und Horst (2012: 28) weniger die Geschwindigkeit, mit der digitale Technologien
entwickelt werden, sondern vielmehr die Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der diese
technologischen Entwicklungen in die Gesellschaft integriert werden. Dabei werden auch gesellschaftliche
Regeln und Normen für deren Gebrauch festgelegt und angewendet. Normativität zeichnet sich in diesem
Zusammenhang weniger durch eine allgemeine, gesellschaftliche Akzeptanz - beispielsweise einer neuen
Technologie gegenüber - aus, sondern vielmehr durch die moralische Eingliederung einer solchen in die
jeweilige Gesellschaft.
Für die Digitale Anthropologie ist es nach Miller und Horst (2012) also wesentlich zu untersuchen, wie
Dinge, Objekte und Artefakte so schnell alltäglich und banal werden. Die Materialität dieser Dinge ist dabei
nicht getrennt von kulturellen Aspekten zu betrachten; beide sind von normativen Vorgaben innerhalb eines
"genre of usage" beeinflusst (Miller und Horst, 2012: 29). Aus diesem Blickwinkel erscheint es daher
zielführend, digitale Medientechnologien als materielle Kultur zu verstehen.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Digital_anthropology
[2] http://www.ucl.ac.uk/anthropology/people/academic_staff/d_miller
[3] http://heatherhorst.com/
[4] Siehe Kapitel 1.1.4
3.8.6.4 Kultur- und sozialanthropologische Internetforschung
Die Medientechnologie, die synonym für das digitale Zeitalter steht, ist das Internet[1] als weltweit größtes
Computernetzwerk. Das "Internet" wird innerhalb der Sozialwissenschaften unterschiedlich verstanden:
beispielsweise als "eigenständige Kultur" oder "Kulturen", welche sich durch diverse Formen von Interaktion
innerhalb von Computernetzwerken konstituiert, oder auch als kulturelles Artefakt, das untersucht werden kann
(vgl. z.B. Hine 2000).
Für die Anthropologen Daniel Miller und Don Slater[2] (2000: 14) ist das Internet kein monolithisches "Ding"
sondern vielmehr eine ganze Reihe von Praktiken, Technologien sowie Repräsentations- und
Interaktionsformen: "... a range of practices, software and hardware technologies, modes of representation
and interaction that may or may not be interrelated by participants, machines and programs ...".
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Das Internet[3], wie andere digitale Medientechnologien auch, ist nicht nur ein technisches Phänomen,
sondern hat zweifelsohne soziokulturellen Charakter. Es verbindet Menschen (und Maschinen), es
ermöglicht Kommunikation, Interaktion und Repräsentation usw. Internet Nutzungs-, Anwendungs- und
Aneignungspraktiken in unterschiedlichsten soziokulturellen Kontexten sind daher Forschungsfelder, denen
sich die Kultur- und Sozialanthropologie[4] unbedingt widmen muss.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.livinginternet.com/
[2] http://www.lse.ac.uk/researchAndExpertise/Experts/[email protected]
[3] http://www.internetsociety.org/internet
[4] Siehe Kapitel 1.1
3.8.6.4.1 Internet als materielle Kultur
Die erste holistische ethnographische Studie[1] über das Internet wurde von Daniel Miller und Don Slater
(2000) Ende der 1990er Jahre auf der Karibikinsel Trinidad[2] durchgeführt. In dieser Untersuchung
analysieren sie, wie Menschen einer bestimmten Kultur sich die neue kommunikative Umgebung Internet
persönlich aneignen: "... how members of a specific culture attempt to make themselves a(t) home in a
transforming communicative environment" (Miller und Slater 2000: 1). Unter anderem standen Fragen nach der
Nutzung des Internet für spezifische lokale Bedürfnisse im Fokus sowie Fragen nach dem menschlichen
Zurechtfinden mit dieser neuen Technologie und nach dem aktiven Formen derselben auf Basis konkreter
Bedürfnisse und Vorstellungen.
Miller und Slater (2000: 193) kommen zu dem Schluss, dass das Internet im Fall von Trinidad eher als
materielle Kultur zu verstehen ist als als Technologie, weil die Internettechnologien in unterschiedliche
Formen alltäglicher Praktiken eingebettet sind. Zu diesen Alltagspraktiken zählen ökonomische Praktiken wie
das Etablieren von webbasierten Geschäftsmodellen oder das Arbeiten mittels Internetservices, soziale
Praktiken der Identitätskonstruktion, des Netzwerkens und Kommunizierens, beispielsweise mit
Familienmitgliedern in der Diaspora, sowie religiöse Praktiken[3], wie das Unterstützen einer Kirche Online.
Materielle Kultur steht hier in engem Zusammenhang mit Konsumption[4] und deren soziokulturellen
Implikationen. Der erste Schritt in einem Prozess der Konsumption ist die Transformation eines Objekts von
einer unpersönlichen Ware zu einer Sache mit bestimmter (persönlicher) Bedeutung für KonsumentInnen und
deren Lebenswelt (vgl. z.B. Appadurai 1986, Carrier 1998). Genau das ist nach Miller und Slater (2000, 2003)
mit dem Internet in Trinidad geschehen. Das globale Computernetzwerk Internet[5] wurde im Prozess
alltäglicher Nutzung und kontinuierlicher Aneignung von einem unpersönlichen Ding zu einer Sache mit
persönlicher Bedeutung für die Menschen auf Trinidad.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Trinidad_%28Insel%29
[3] Siehe Kapitel 3.1.6
[4] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/konsum/konsum-titel.html
[5] http://www.internetsociety.org/internet/how-internet-evolving
3.8.6.4.2 Facebook aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive
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Zehn Jahre nach der Ethnographie über das Internet kehrte
Daniel Miller[1] (2011) nach Trinidad zurück, um ein anderes
digitales Medienphänomen zu untersuchen: Facebook. Mit
weltweit fast einer Milliarde NutzerInnen ist Facebook[2] das
größte und dominierende soziale Online-Netzwerk (vgl. z.B.
Internet World Stats[3] 2012). Menschen erstellen in Facebook
persönliche Profile, sie teilen mit Freunden und Familie
Geschichten und Fotos, sie netzwerken, sie bilden Gruppen zu
bestimmten Themen und Zwecken, sie unterstützen Ideen und
Aktivitäten anderer NutzerInnen und sie kommunizieren mittels
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Foto: "Social Media Menü", Amsterdam, Ph.
Budka
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Chat und Text-Nachrichten.
Mittels einer ethnographischer Fallstudie und einer Methode, die
Miller (2010, 2011) "extreme reading"[4] von Facebook nennt,
entwickelt er eine anthropologische Theorie von Facebook. Wie in seiner ersten Studie zu Internet in
Trinidad[5] und seinem Ansatz, Technologie als materielle Kultur zu verstehen, treu bleibend, konzentriert
sich Miller wieder auf die lokale Interpretation dieses Medienphänomens.
Auch das soziale Online-Netzwerk Facebook erweist sich im ethnographischen Fall Trinidad als eine
Ansammlung regionaler und lokaler Nutzungsformen und Praktiken. So wird etwa auf Trinidad aus "Facebook"
"Fasbook". Diese Umbenennung im lokalen englischen Dialekt spiegelt wider, dass Facebook vor allem als
lokales Phänomen wahrgenommen wird. Diese "Erfindung aus Trinidad" scheint perfekt in den
(kommunikativen) Alltag der Menschen zu passen. Es ist deshalb nur schwer vorstellbar, dass es sich hier um
ein importiertes Service handelt (Miller 2011: 159).
Als Ergebnisse dieser ethnographischen Facebook-Analyse lassen sich folgende Erkenntnisse aufzählen (Miller
2011):
1. Facebook[6] ist lediglich eine Anhäufung regionaler und lokaler Nutzungspraktiken.
2. Kulturelle Differenz und Diversität haben daher große Bedeutung.
3. Facebook ermöglicht den NutzerInnen Gemeinschaften zu erweitern, was in einer traditionell stark von
Diaspora und Migration geprägten Gesellschaft von großer Bedeutung ist.
4. Facebook ist ein Medium zur Sichtbarmachung und zur öffentlichen Teilhabe, nicht für alle und nicht
notwendigerweise.
5. Facebook internationalisiert lokale Ereignisse und trägt daher zum "Schrumpfen" der sozialen Welt bei.
6. Facebook und die soziokulturellen Praktiken, die mit diesem Service verbunden sind, bedeuten einen
Wechsel von soziologischen zu kultur- und sozialanthropologischen Perspektiven und
Forschungsansätzen. Denn Facebook ist letztlich nichts anderes als ein soziales Netzwerk, das in der
Lage ist soziale Beziehungen - etwa zwischen Freunden und Familienmitgliedern - zu rekonstruieren. Hier
tauchen Fragen nach Verwandtschaft und deren Strukturen sowie engen sozialen Beziehungen und
Verhältnissen auf, die von einer Digitalen Anthropologie[7] durch ethnographische Forschung[8]
beantwortet werden können.
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Daniel_Miller_%28anthropologist%29
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook
[3] http://www.internetworldstats.com/facebook.htm
[4] http://openanthcoop.net/press/2010/10/22/an-extreme-reading-of-facebook/
[5] Siehe Kapitel 3.8.6.4.1
[6] http://www.facebook.com/
[7] Siehe Kapitel 3.8.6.3
[8] Siehe Kapitel 3.4.6.3
3.8.7 Literatur
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MA: Technology Press.
Zips, Werner und Matthäus Rest 2010: Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen.[4] [Zugriff:
30.03.1013].
(PB)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.brown.edu/Departments/Anthropology/publications/Mead.htm
[2] http://www.internetworldstats.com/facebook.htm
[3] http://openanthcoop.net/press/2010/10/22/an-extreme-reading-of-facebook/
[4] http://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/denkenksa/denkenksa-titel.html
3.9 Gender-Anthropologie
Die Gender-Anthropologie ist eine relativ junge Forschungsrichtung, wenngleich etliche ihrer Fragestellungen
in klassischen Themenfeldern der Kultur- und Sozialanthropologie[1] verwurzelt sind (z.B. Verwandtschaft,
soziale Organisationsformen oder Ökonomische Anthropologie[2]). Sie formierte sich gemeinsam mit den
interdisziplinären Gender-Studies seit circa 1970. In der Folge wird eine Reihe von ausgewählten
Forschungsfeldern, theoretischen Perspektiven und Konzepten dargelegt.
Foto: St. Roch Shrine, New Orleans, Quelle: wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 3.6
3.9.1 Anthropologie der Frauen
"Die feministische Kritik innerhalb der Sozialanthropologie erwuchs, wie in anderen Sozialwissenschaften, aus
der spezifischen Sorge darüber, dass Frauen von der Disziplin nicht genug berücksichtigt werden." (Moore
1993: 88)
Henrietta Moore[1] bezeichnet die "Anthropologie der Frauen" bzw. die "ethnologische
Frauenforschung" als Basis der Gender-Anthropologie. Sie markiert den Anfang der Entwicklung dieser
Forschungsrichtung und stellt in vieler Hinsicht eine Wissenschaft von Frauen für Frauen dar. Besonders
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intensiv betrieben wurde sie in den 1970er- und 1980er-Jahren, in der Folge wurden ihre Schwerpunkte durch
andere theoretische Ansätze ergänzt bzw. abgelöst (vgl. Hauser-Schäublin und Röttger-Rössler 1998: 11).
Ein Ziel der Frauenforschung ist eine Korrektur der männlichen Sichtweise - des male bias. Dies betrifft
zum einen die kritische Auseinandersetzung mit vorliegenden ethnographischen Arbeiten[2] in Bezug auf ihre
Aussagen zu und über Frauen. Zum anderen entstand auch die Forderung nach einer "weiblichen
Ethnographie", womit eine Konzentration der Forschungstätigkeit von Frauen auf Frauen gemeint ist. Solche
Studien können den Aussagen von Männern (Ethnographen und lokalen Gesprächspartnern) entgegengesetzt
werden (vgl. Moore 1993: 90).
In diesem Kontext steht etwa das Buch von Carolyn Niethammer[3] Daughters of the Earth. The Lives and
Legends of American Indian Woman (1977). Die Autorin verbindet Mythen, historische Prozesse, weibliche
Lebenswelten und Lebensgeschichten der Native Americans[4]. Sie zeigt dabei einerseits die enge
Verbindung von Weiblichkeit mit Spiritualität und Ritual, andererseits thematisiert sie generell die bislang oft
wenig beachtete Welt der Frauen im indigenen Nordamerika.
Foto: Warm Springs Indian Reservation, Wasco County, Oregon, USA (ca. 1902), Quelle:
wikimedia.org
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.henriettalmoore.com/
[2] Siehe Kapitel 1.3.1
[3] http://www.cniethammer.com/
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Native_Americans_in_the_United_States
3.9.2 Sex vs. Gender
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Foto: Delhi Queer Pride Parade (2010), Quelle: flickr.com
Die Unterscheidung zwischen sex, dem
biologischen Geschlecht, und gender, dem
kulturell/sozial konstruierten Geschlecht beeinflusste nachhaltig die Theoriebildung der GenderAnthropologie. Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre wiesen verschiedene Studien immer stärker
darauf hin, dass Geschlecht keine biologische, sondern primär eine soziale[1] und kulturelle[2] Kategorie ist.
Was Geschlecht, was Mann- und Frau-Sein bedeutet und welcher Art die Beziehungen zwischen den
Geschlechtern in verschiedenen Kulturen sind, stellt das Ergebnis kultureller und sozialer Prozesse dar.
Das Ziel der Analyse liegt in diesem Zusammenhang darin, den Symbolgehalt, die kulturspezifischen
Bedeutungen von Geschlecht aufzudecken. Diese Herangehensweise fasst Geschlecht bzw. Gender als
kulturelles Bedeutungssystem auf, das einer symbolischen Analyse und Interpretation unterzogen wird (vgl.
Hauser-Schäublin und Röttger-Rössler 1998: 14 f.).
Dieser Forschungsansatz lenkt die Aufmerksamkeit verstärkt auf gender meanings (Bedeutungen und
Repräsentationen von Gender), vor allem auf die kulturelle Dimension von Geschlechteridentitäten,
Geschlechterideologien und Beziehungen zwischen den Geschlechtern, und beeinflusst eine große Bandbreite
von Studien zur Konstruktion und Bedeutung von Geschlecht.
Foto: Koranschule, Akra, Ghana, U. Davis-Sulikowski
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.9
[2] Siehe Kapitel 1.1.8
3.9.3 Geschlechtliche Arbeitsteilung
Seit den 1970er-Jahren bilden Fragen nach der genderspezifischen Zuordnung von verschiedenen Tätigkeiten
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und Handlungsräumen in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten einen wichtigen Bereich der
Gender-Anthropologie.
Diese Thematik, die an der Schnittstelle von Arbeit, Gesellschaft und Geschlecht angesiedelt ist, ist eng mit
der Ökonomischen Anthropologie[1] und der Untersuchung verschiedener Subsistenzformen[2] verbunden.
So zeigt zum Beispiel die Studie von Anja Fischer zu den Imuhar- NomadInnen[3] die Bedeutung von
weiblichen und männlichen Handlungsräumen im Kontext der pastoralen Ökonomie in der Sahara (vgl. Fischer
2008).
Abbildung: Genderspezifische Handlungsräume der Imuhar-NomadInnen, A.
Fischer, Quelle: univie.ac.at
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.6
[2] Siehe Kapitel 3.5.1
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/oeku/imuhar/imuhar-titel.html
3.9.3.1 Geschlechtliche Arbeitsteilung und Cross-Cultural Studies
"A division of labour by the sexes has long been recognized by economists, sociologists, and behavioural
scientists as (1) the original and most basic form of economic specialisation and exchange, and as (2) the most
fundamental basis of marriage and the family and hence the ultimate source of all forms of kinship
organization." (Murdock und Provost 1973: 203)
Frühe Impulse zur Analyse von geschlechtlicher Arbeitsteilung gingen von vergleichenden Studien aus, die
generalisierte Schemata der Zuordnung von bestimmten Tätigkeiten zu Männern bzw. Frauen erstellten. Im
Mittelpunkt des Interesses stand der Stellenwert der geschlechtlichen Arbeitsteilung für die
Gesellschaftsorganisation. George Peter Murdock[1] und Caterina Provost (1973) ordneten die diversen
Tätigkeiten und Handlungsfelder fünf Kategorien zu: exklusiv oder vorwiegend männlich, exklusiv oder
vorwiegend weiblich und "swing" (wird von Männern oder Frauen oder von Beiden durchgeführt).
Auf der Basis von ethnographischen Datenbanken, den Human Relation Area Files[2], wurden in der Folge
vergleichende und generalisierende Untersuchungen angestellt. So charakterisierte Murdock zum Beispiel die
geschlechtliche Arbeitsteilung bei Gemeinschaften von Jäger- und SammlerInnen[3] auf Basis von Daten
von 175 untersuchten Gesellschaften folgendermaßen:
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Bei 97% ist die Jagd auf die Männer beschränkt, bei den restlichen 3% ist sie hauptsächlich eine
männliche Beschäftigung (aber nicht ausschließlich);
Fischen ist in 93% der Fälle vorwiegend oder hauptsächlich Männerarbeit;
Der Kampf wird von Männern monopolisiert, zwischen den Gruppen ist Kriegführung selten;
Sammeln ist Frauenarbeit: bei 60% der Fallbeispiele ist das Sammeln ausschließlich auf die Frauen
beschränkt und bei 32% ist Sammeln eine hauptsächlich weibliche Tätigkeit. Frauen betreuen die Kinder
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und die temporären Wohnstätten und die Vor- und Zubereitung der Nahrung gehört zu ihren Aufgaben.
Sie produzieren Körbe, Bekleidung und vereinzelt werden Tongefäße hergestellt. (vgl. Andrej[4] 1998).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/George_Murdock
[2] http://www.yale.edu/hraf/
[3] Siehe Kapitel 3.5.1
[4] http://elaine.ihs.ac.at/~isa/diplom/node12.html
3.9.3.2 Geschlechtliche Arbeitsteilung, Mythen und Rituale
Die genderspezifische Zuordnung von Arbeiten und Handlungsräumen ist Teil einer größeren
gesellschaftlichen Gender-Ordnung und steht in Zusammenhang mit Status und Macht[1] sowie mit
Religion und Weltbild[2].
So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung häufig in Mythen[3] festgeschrieben, dabei werden auch Werte und
Normen für die Arbeitsbereiche von Frauen und Männern dargelegt. Über eine Reflexion der Arbeitspraxis
hinaus erzählen die Mythen oft von der Genese von geschlechtsspezifischen Kenntnissen (skills). Hier wird
eine enge Verbindung zwischen diversen Handlungsfeldern, Gottheiten, spirituellen Kräften und Gender
etabliert, die auf performativer Ebene in Ritualen[4] ihren Ausdruck findet (vgl. z.B. Puchegger-Ebner 2001 für
die Tarahumara in Mexiko oder Mader 2008 für die Shuar in Ecuador).
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Foto: Töpferei ist bei den Jivaro-SprecherInnen eng mit Weiblichkeit
verknüpft, und mit einem komplexen Gefüge von Mythen und Ritualen
verbunden, E. Mader
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Foto: Feldarbeit bei Jivaro-SprecherInnen, E. Mader
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-1208.html
[2] Siehe Kapitel 3.1.4
[3] Siehe Kapitel 3.7
[4] http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/mythen/mythen-1365.html
3.9.4 Gender und Macht
In den 1970er-Jahren bildete die These von der universalen Dominanz des männlichen Geschlechts ein
Leitthema der Gender-Anthropologie. Im Mittelpunkt vieler Untersuchungen standen universale Determinanten
für die Geschlechter-Asymmetrie: Zur Diskussion stand die Frage, ob bzw. warum Frauen in allen
Gesellschaften Männern untergeordnet sind.
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Foto: "Macho Man", Quelle: flickr.com
Viele Studien suchten kulturvergleichend nach Kriterien für eine universale Geschlechter-Asymmetrie: Dabei
wurden folgende strukturelle Gegebenheiten hervorgehoben:
die produktive und reproduktive Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern
eine stärkere Zuordnung der Frau zur Natur[1], des Mannes zur Kultur[2]
die Zuordnung von Frauen zur häuslichen/privaten Sphäre, des Mannes zum politischen/öffentlichen
Raum
Generelle Fragen nach Frauenmacht oder Männerherrschaft in einer Gesellschaft oder als universelle
Kategorien werden mittlerweile nicht mehr gestellt. Vielmehr geht es zumeist um die Verortung von
Machtfeldern von Männern und Frauen in einem kulturellen, sozialen und politischen Gefüge und um
ihre komplexen Beziehungen zu anderen Gender-Fragen, etwa nach den Verflechtungen von Race, Class,
Gender, nach pluralen Identitäten, spirituellen Kräften oder Konzeptionen von Körper und Geschlecht.
Diese Forschungsrichtung basiert unter anderem auf Arbeiten von Eleanor Leacock[3]. Sie analysierte zum
Beispiel die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen bei geschlechtsegalitären indianischen
Gemeinschaften in Kanada (Naskapi) und ihre Veränderungen im Zuge des Kolonialismus[4]. Sie zeigt, dass
hier Macht generell nicht auf eine zentrale Instanz - zum Beispiel einen Häuptling - konzentriert, sondern
vielmehr auf mehrere Felder und Personen, auf Männer wie auch Frauen verteilt war (multifokale Macht).
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Foto: Häuptling Innu (Naskapi) (1912), Quelle: flickr.com
Ilse Lenz[5] und Ute Luig[6] (1990) erweiterten diesen Ansatz und sprechen von geschlechtsspezifischen
Machtfeldern. Solche Machtfelder gehen oft Hand in Hand mit Handlungsräumen, strukturellen Positionen im
sozialen und politischen Gefüge oder strukturellen Positionen in Weltbild[7] und Ritual[8]. Auf diesen
Machtkonzeptionen aufbauend prägte Lenz und Luig (1990) auch den Begriff der Geschlechtersymmetrie (vgl.
auch Grubner u.a. 2003).
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.5
[2] Siehe Kapitel 1.1.4
[3] http://www.indiana.edu/~wanthro/theory_pages/Leacock.htm
[4] Siehe Kapitel 3.3
[5] http://www.sowi.rub.de/femsoz/forschung/profil.html.de
[6] http://www.polsoz.fu-berlin.de/ethnologie/mitarbeiter/professorInnen_im_ruhestand/luig/index.html
[7] Siehe Kapitel 3.1.4
[8] Siehe Kapitel 3.2
3.9.4.1 Komplementarität
Geschlechterbeziehungen werden häufig mit Begriffen assoziiert, die mit grundlegenden Prinzipien der
sozialen Organisation verbunden sind (vgl. Grubner u.a. 2003). Dazu zählt die Komplementarität, die sich
wechselseitig ausschließende aber einander ergänzende Aufgaben und Wirkungsfelder von Männern und
Frauen bezeichnet. Komplementarität prägt in vielen Gemeinschaften das ökonomische Handeln und basiert
auf einer komplexen geschlechtlichen Arbeitsteilung, zum Beispiel bei indigenen Kulturen in den Anden[1].
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Foto: Bauernfamilie im Andenhochland, Peru, Quelle: flickr.com
Komplementarität impliziert nicht automatisch eine Geschlechter-Egalität oder eine ausgewogene
Bewertung von männlichen bzw. weiblichen Tätigkeitsbereichen; sie kann auch mit Hierarchie und
asymmetrischen Geschlechter-Beziehungen einhergehen. In jüngerer Zeit gewinnt der Begriff der
"Geschlechter-Parallelität" an Bedeutung, der getrennte, parallele Handlungsfelder bezeichnet.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Anden
3.9.5 Gender und Differenz
Im Rahmen der Gender-Anthropologie nimmt die
Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von
Differenz(en) seit den 1980er-Jahren immer größeren
Raum ein. Der Differenz-Ansatz besagt grundsätzlich,
dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede bzw.
Verschiedenheiten nicht nur zwischen den
Geschlechtern bestehen, sondern auch innerhalb von
Geschlechtergruppen. Henrietta Moore fordert in
diesem Sinne, Differenzen nicht ausschließlich
zwischen Kategorien (differences between), sondern
auch innerhalb von Kategorien (differences within) zu
untersuchen (vgl. Moore 1993).
In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht steht der
Differenz-Ansatz generell in Zusammenhang mit dem
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Aufbrechen von Einheiten und Verallgemeinerungen
Foto: Mutter, Großmutter und Urgroßmutter bei der
und dem Abschied von homogenisierenden Theorien.
Taufe, Texas, USA, Quelle: wikimedia.org
Er richtet sich dementsprechend gegen verschiedene
universale Modelle von Geschlechterbeziehungen, etwa gegen die These einer universellen Unterordnung der
Frau.
Foto: "Nackte Männer": Überklebtes Ausstellungsplakat
nach "Vive la France" von Pierre & Gilles, Quelle:
wien.orf.at
Die Beschäftigung mit verschiedenen Formen von
Differenz(en) - etwa aufgrund von Lebenszyklus,
sozialem Status, ökonomischen Ressourcen oder
Zugehörigkeiten zu beruflichen oder ethnischen
Gruppen - erlaubt zum Beispiel ein Verständnis der
konkreten Vielfalt von Geschlechteridentitäten. Jeder
Mensch verfügt über unterschiedliche Identitäten,
die sich im Lauf des Lebens eines Individuums
formieren, die es aber auch gleichzeitig in sich
vereinigt. Als Kind, unverheiratetes Mädchen,
Schwester, junge oder alte Mutter nimmt eine Frau im
Lauf ihres Lebens verschiedene Geschlechterrollen
ein. Solche Identitäten sind nicht starr oder
unveränderlich, sondern werden mit der Zeit
modifiziert (vgl. Arbeitsgruppe Ethnologie Wien 1989:
18 f., Hauser-Schäublin und Röttger-Rössler 1998:
17).
Brigitta Hauser-Schäublin[1] und Birgitt RöttgerRössler[2] (1998: 18) sprechen von drei
Dimensionen von Differenz: zwischen den
Geschlechtern, innerhalb der Geschlechter sowie innerhalb von Individuen. Der Differenz-Ansatz wurde im
Rahmen der Gender-Anthropologie auf verschiedene Themenfelder angewandt; dazu zählen unter anderem
Differenzen zwischen Männern und/oder Frauen, die unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen
Gruppen angehören.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://www.uni-goettingen.de/de/29496.html
[2] http://www.polsoz.fu-berlin.de/ethnologie/mitarbeiter/professorinnen/roettger-roessler/index.html
3.9.5.1 Intersektionalität
Im Mittelpunkt dieser Forschungsrichtung stehen "Überkreuzungen" (Intersektionen) - ein Ansatz, der Fragen
nach Differenzen und multipIen Identitäten mit Fragen nach Machtverhältnissen[1] verbindet: Letztere
betreffen sowohl die Geschlechterbeziehungen als auch diverse sonstige Formen von Macht in sozialen und
politischen Gefügen.
Intersektionale Studien beschäftigen sich mit Verflechtungen von verschiedenen Ebenen von Ungleichheit:
Dabei kommt dem Race, Class, Gender-Ansatz besondere Bedeutung zu. Dieses Konzept reflektierte zu
Beginn vor allem die Perspektiven der "farbigen Frauen" (women of color) in den USA, und wurde in der Folge
auf unterschiedliche kulturelle, historische und politische Verhältnisse angewandt.
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Foto: Intersektionen: Geschichte, Kultur, "Race" und Gender in
der Chicano Kunst, Ausstellung: Mapping Another L.A. : The
Chicano Art Movement, Fowler Museum at UCLA (2011/12),
Quelle: flickr.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.9.4
3.9.6 "Doing Gender" und Gender Performance
"Gender is more what we do than what we are." (Judith Butler)
Im Sinne von Judith Butler[1] ist "…Geschlechtszugehörigkeit keineswegs stabile Identität eines
Handlungsortes, von dem dann verschiedene Akte ausgehen; vielmehr ist sie eine Identität, die stets
zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist - eine Identität, die durch eine stilisierte Wiederholung von Akten
zustande kommt. … Zudem wird die Geschlechtszugehörigkeit durch Stilisierung des Körpers instituiert und ist
also als die sachliche Art und Weise zu verstehen, in der verschiedenartige körperliche Gesten; Bewegungen,
Inszenierungen die Illusion eines beständigen, geschlechtlich bestimmten Sein erzeugen." (Butler 2002)
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Foto: Fußball, Mexiko vs Regionalauswahl Göttingen,
(3.6.2006), Quelle: flickr.com
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Foto: Tänzerinnen, Bolivien, "Danza y sensualidad",
Quelle: flickr.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Judith_Butler
3.9.7 Gender in Mythen und Kino
Die Konstruktion von Männlichkeit und/oder Weiblichkeit, die Begründung
sozialer und moralischer Normen für Männer und Frauen sowie ihre
Liebesgeschichten und Machtverhältnisse[1] durchziehen alle
Erzähltraditionen. Mythen und Spielfilme[2] beinhalten auf verschiedenen
Ebenen signifikante Aussagen über Geschlechterbeziehungen. Die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Themen liegt an der
Schnittstelle zwischen der Anthropologie der Mythen[3], der Visuellen
Anthropologie, der Filmwissenschaft und der Gender-Forschung.
Spielfilme können u.a. im Sinne der Konstruktion von Gender sowie als eine
Form von "Doing Gender"[4] analysiert werden. Dabei kommt Stars als Ikonen
von Männlichkeit oder Weiblichkeit besondere Bedeutung zu.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.9.4
[2] Siehe Kapitel 3.7.2
[3] Siehe Kapitel 3.7
[4] Siehe Kapitel 3.9.6
Foto: Marilyn Monroe, Quelle:
wikimedia.org
3.9.7.1 Gender Images
"...if gender is a social construction then constructions of gender in film are not absolute and therefore are far
more complex." (Nelmes 2003: 264)
Bilder bzw. Repräsentationen von Gender sind durchwegs mit anderen Elementen von (kulturspezifischen)
Bedeutungssystemen verflochten. Sie stellen keine einheitlichen Vorstellungsbilder dar, sondern bringen
verschiedene und oft auch widersprüchliche Bedeutungen und Bewertungen zum Ausdruck. Sie verweisen auf
die Vieldeutigkeit (Polysemie) von Texten/Bildern/Filmen und unterliegen darüber hinaus verschiedenen
Interpretationen/Leseweisen durch die LeserInnen oder BetrachterInnen.
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Foto: Jack Sparrow clone, Quelle:
wikimedia.org
Mythen und Spielfilme[1] skizzieren oft Entwürfe für geschlechtsspezifische Lebenswege und Lebenswelten,
bilden das Verhältnis zwischen Männern und Frauen im Alltag jedoch keineswegs immer direkt ab. Vielmehr
erzählen sie auch von einer verkehrten Welt, in der die normale (Geschlechter-)Ordnung auf dem Kopf steht
oder überschreiten Grenzen und Regeln. In anderen Fällen bestärken Mythen oder Filme Geschlechterrollen
und/oder Machtfelder.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.7.2
3.9.7.2 Mythen, Liebe und Sexualität
Viele Ursprungsmythen berichten nicht nur von der Entstehung bzw. Erschaffung der Welt, sondern handeln
auch vom Wirken von Gottheiten im Rahmen von gendered cosmologies: Darunter versteht man Weltbilder[1]
bzw. Kosmologien, die bestimmte Gender-Verhältnisse festschreiben oder repräsentieren; sie sind durch enge
Verflechtungen von Geschlecht, Landschaft[2] und Spiritualität gekennzeichnet.
Ursprungsmythen erzählen oft auch von der Genese von Sexualität (zum Beispiel bei Adam und Eva im
Paradies) und vermitteln eine Reihe von Regeln, wie Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu
gestalten sind.
Die Liebe zwischen göttlichen bzw. mythischen Gestalten bildet oft das Vorbild für Konzepte von Liebe und Ehe
im Alltagsleben der Gegenwart. Bekannte Beispiele hierfür sind im europäischen kulturellen Gefüge die
mittelalterlichen Rittersagen oder im asiatischen Kontext die indischen Götter- und Heldenepen. So bildet etwa
im Rāmāyana[3] die Beziehung zwischen Sita und Rama ein Modell für Liebesbeziehungen, auf das sowohl im
Alltag als auch in verschiedenen Bereichen der zeitgenössischen Populärkultur - etwa im Kino - immer wieder
Bezug genommen wird.
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Abbildung: Rama und Sita in "Sita Sings the Blues" (2009),
Quelle: sitasingstheblues.com
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 3.1.4
[2] Siehe Kapitel 3.5.9.1
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Ramayana
3.9.8 Literatur
Andrej, Isabella 1998: Matrilineare Gesellschaften.[1] Eine Untersuchung aus ethnologischer und historischer
Sicht. Diplomarbeit. Universität Wien. [Zugriff: 19.04.2013]
Butler, Judith 2002: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz:
Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 301-320.
Fischer, Anja 2008: Nomaden der Sahara. Handeln in Extremen. Berlin: Reimer Verlag.
Grubner, Bärbel et al 2003: Einleitung. Egalität, Komplementarität, Parallelität und Hierarchie: Neues aus der
Geschlechterforschung Lateinamerikas. In: Zuckerhut, Patricia, Bärbel Grubner und Eva Kalny (Hg.): Pop-Korn
und Blut-Manio. Lokale und wissenschaftliche Imaginationen der Geschlechterbeziehungen in Lateinamerika.
Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang: 11-49.
Hauser-Schäublin, Brigitta und Birgitt Röttger-Rössler (Hg.) 1998: Differenz und Geschlecht. Neue Ansätze in
der ethnologischen Forschung. Berlin: Reimer.
Kraus, Florian 2007: Männerbilder im Bollywood-Film: Konstruktionen von Männlichkeit im Hindi-Kino. Berlin:
wvb Wissenschaftlicher Verlag.
Leacock, Eleanor 1989: Der Status der Frauen in egalitären Gesellschaften: Implikationen für die soziale
Evolution. In: Arbeitsgruppe Ethnologie Wien (Hg.): Von fremden Frauen. Frausein und
Geschlechterbeziehungen in nichtindustriellen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp: 29-67.
Lenz, Ilse und Ute Luig 1990 (Hg.): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. Berlin: Orlanda.
Mader, Elke 2008: Anthropologie der Mythen. Wien: WUV/Facultas.
Meigs, Anna 1990: Multiple Gender Ideologies and Statuses. In: Sanday, Peggy R. und R. G. Goodenough
(Hg.): Beyond the Second Sex. New Directions in the Anthropology of Gender. Philadelphia: University of
Pennsylvania Press: 101-112.
Moore, Henrietta 1993: Feminismus und Anthropologie: Geschichte einer Beziehung. In: Rippl, Gabriele (Hg.):
Unbeschreiblich weiblich. Texte zur feministischen Anthropologie. Frankfurt/M.: Fischer: 88-103.
Murdock, George P. und Caterina Provost 1973: Factors in the Division of Labor by Sex: A Cross-Cultural
Analysis. In: Ethnology, Vol. 12, No. 2: 203-225.
Niethammer, Carolyn 1977: Daughters of the Earth. The Lives and Legends of American Indian Woman. New
York: Collier Books.
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Nelmes, Jill 2003: An Introduction to Film Studies. London, New York: Routledge.
Overing, Joanna und Alan Passes (Hg.) 2000: The Anthropology of Love and Anger. The Aesthetics of
Conviviality in Native Amazonia. London, New York: Routlegde.
Puchegger-Ebner, Evelyne 2001: Kultische Nutzung von Mais. Die Tesgüinada der Tarahumara und ihre
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Geschichte und Nutzung einer Kulturpflanze. Frankfurt/M., Wien: Brandes & Apsel/Südwind: 161-182.
Rippl, Gabriele 1993: Feministische Anthropologie - Eine Einleitung. In: dies.(Hg.): Unbeschreiblich weiblich.
Texte zur feministischen Anthropologie. Frankfurt/M.: Fischer: 9-26.
(EM)
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://elaine.ihs.ac.at/~isa/diplom/diplom.html
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