Wenn Ihr Schüler stottert… Ein Leitfaden aus schulpsychologischer Sicht WAS IST STOTTERN? Stottern ist eine Störung des Redeflusses. Diese kann sich auf unterschiedliche Arten äußern: • • nicht steuerbare Wiederholungen von Lauten, Silben und Wörtern stilles oder hörbares Pressen am Beginn oder in der Mitte eines Wortes oder eines Satzes. Wie sich diese Unterbrechungen im Redefluss des einzelnen Kindes darstellen, ist individuell unterschiedlich und reicht von kaum wahrnehmbarer Symptomatik bis zu Mitbewegungen des ganzen Körpers. WAS STOTTERN NICHT IST • • • Stottern ist keine „schlechte Angewohnheit“, die man mit Ermahnungen ausmerzen kann. Es ist willentlich nicht zu beeinflussen! Stottern ist kein Zeichen von Dummheit. Stottern ist kein Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit. URSACHEN FÜR STOTTERN Es gibt nicht DIE Ursache für Stottern, sondern es sind mehrere Ursachen möglich, die zusammenwirken können. Mehrere Faktoren sollten aber berücksichtigt werden: • • • • genetische Faktoren organische Faktoren psychosoziale Faktoren psycholinguistische Faktoren PROBLEME VON STOTTERNDEN SCHÜLERINNEN www.ilef.ch Der Wunsch, etwas sagen zu wollen und es nicht zu können, das Gefühl des Versagens und negative Umweltreaktionen wie Spott, Ablehnung und Mitleid, führen bei vielen stotternden Schülern und Schülerinnen zu einem Vermeidungsverhalten. Da ihr Stottern mit Gefühlen der Scham und der Peinlichkeit verbunden ist, schweigen sie oft lieber, als sich stotternd mitzuteilen. 1 labbe.de Sie als Lehrer oder Lehrerin können dazu beitragen, dass dem nicht so ist. Ein erster Schritt ist zu akzeptieren, dass Menschen, die stottern, sich in einer anderen Art und Weise sprachlich äußern als Menschen, die nicht stottern. Stottern ist eine individuelle Art und Weise des Sprechens. Wichtig: Es hängt nicht vom Stottern ab, ob man erfolgreich ist, ob man jemanden mag oder Freundschaften schließen kann. Stottern kommt auch bei berühmten Schauspielern, Musikern, Wissenschaftlern und Politikern vor, z.B.: Prinz Albert von Monaco, Rowan Atkinson alias Mr. Bean, Andreas Brucker, Winston Churchill, Charles Darwin, Der Graf (Unheilig), Gareth Gates, Gottfried John, Ben Johnson, John Larkin alias Scatman John, Marilyn Monroe, Isaac Newton, Julia Roberts, Bruce Willis, ... DER UMGANG MIT DEM STOTTERNDEN KIND Mögliche Verhaltensweisen von stotternden SchülerInnen • • Max meldet sich selten oder gar nicht, Peter denkt bei mündlichen Beiträgen scheinbar viel nach und „druckst herum“, • Anna zögert Antworten mit vielen Füllwörtern und Floskeln hinaus, • Stefan antwortet nur mit einzelnen Es kann also sein, dass Wörtern statt in ganzen Sätzen. Sie als LehrerIn ein stotterndes Kind als Beispiele für Vermeidungsverhalten: solches gar nicht so ohne • Sandro verwendet in einer Antwort weiteres erkennen. Ausdrücke, die den Kern der Sache nicht Stotternde können sehr treffen (weil er spürt, dass der eigentlich treffende Ausdruck nur stotternd unterschiedliche „Tricks“ hervorzubringen wäre), entwickeln um das Stottern • Martina behauptet, die möglichst wenig Hausaufgabe nicht gemacht zu haben, offensichtlich werden zu nur um sie nicht vorlesen zu müssen, lassen. • Andreas gibt wissentlich Dieses Vermeidungsverhalten ist ein enger Begleiter des eigentlichen Stotterns und charakterisiert das Verhalten des Kindes oftmals mehr als das Stottern selbst. eine falsche Antwort, weil die richtige vielleicht mit einem schwierigen (stottergefährdeten) Wort einhergeht, • Manuel muss immer gerade dann zur Toilette, wenn reihum vorgelesen werden soll, • Marianne wird genau an dem Tag krank, an dem sie ein Referat halten soll, 2 Durch diese Verhaltensweisen kann es zu Fehleinschätzungen des Kindes kommen – Sie laufen als Lehrkraft Gefahr, den Schüler/die Schülerin als schlecht vorbereitet, verträumt, unkonzentriert, faul, schüchtern, inkompetent, leistungsschwach, ignorant o.ä. einzuschätzen. Dazu kommt, dass Stottern eine dynamische, d.h. von Situationen und Personen abhängige Störung ist und je nach Situation und Personen in unterschiedlichen Stärken und Ausprägungsgraden auftritt. tagebuchannefrank.wordpress.com Es ist einem Stotternden durchaus möglich, situativ fließend zu sprechen, einzelne Wörter symptomfrei herauszubringen und sich ankündigende Stottersymptome im Voraus zu erspüren. Mit Hilfe dieser Fähigkeiten entwickelt er sein Vermeidungsverhalten. Er tut dies aus dem Reflex heraus, sich gegen die kränkende Erfahrung des sprechmotorischen Kontrollverlustes schützen zu wollen. Wenn Sie also das stotternde Kind z.B. auf dem Schulhof fließend sprechen sehen, so ist dieses Kind durchaus kein Simulant, der sich nur vor der Mitarbeit im Unterricht drücken will, indem er eine Sprechbehinderung vortäuscht. Manche stotternden Kinder haben auch keine Probleme bei Vorträgen, Gedichten oder beim Singen. Stottern tritt also situativ auf, ist abhängig von Anspannung und Erwartungshaltung, vom Setting, vom Gesprächspartner, von der kommunikativen Bedeutung des Sprechens, von bestimmten Laut- und Wortängsten u.ä. Günstiges Lehrerverhalten Im Sinne eines Kommunikationsmodells (Sender und Empfänger) können Sie als LehrerIn zur Erleichterung der Gesprächssituationen in der Schule durch folgende Maßnahmen beitragen: • in Absprache und mit Einverständnis des Kindes die Klasse offen über das Stottern informieren – das reduziert Druck, Scham und Peinlichkeit und entlastet den Stotternden; das Kind ist der Experte, eventuell LogopädInnen einladen • selbst vorbildhaft sprechen, das Sprechtempo reduzieren, Sprechpausen einfügen • mit dem Kind klären, ob es bei Bankfragen aufgerufen werden oder lieber sich selber melden möchte 3 • • alphabetisches oder „der Reihe nach Drannehmen“ vermeiden – es verstärkt den Erwartungsdruck und erhöht die Stotterwahrscheinlichkeit • mündliche Leistungen durch zusätzliche schriftliche Arbeiten ersetzen oder ergänzen lassen • mündliche Beiträge an die Tafel schreiben lassen Fragen stellen, die das Kind mit „ja“ oder „nein“ beantworten kann oder Alternativfragen anbieten • schriftliche Beiträge vom Sitznachbarn vorlesen lassen • Referate zu Hause auf Bildoder Tonformat aufnehmen (Video, MP3…..) und diese in der Schule präsentieren lassen • vorlesen lassen in Kleingruppen oder zu zweit – dies bewirkt bei vielen Stotternden eine Steigerung der Sprechflüssigkeit • wenn das Kind in einer Stottertherapie bestimmte Sprechtechniken erlernt hat, diese zulassen – da diese oft merkwürdig klingen, die ganze Klasse darüber informieren • Blickkontakt halten, auch wenn das Kind stottert • dem Kind zuhören, bis es zu Ende gesprochen hat • dem Kind genügend Zeit lassen zum Sprechen • klären, ob das Kind vom Platz aus oder frontal vor der Klasse sprechen möchte (stehend oder sitzend) Ungünstiges Lehrerverhalten • dem Kind gegenüber eine defizitorientierte, fordernde Haltung einnehmen, die dieses unter Druck setzt • das Stottern tabuisieren • das stotternde Kind beim Sprechen unterbrechen oder für das Kind den Satz fertigsprechen • gut gemeinte Ratschläge wie „sprich langsamer“, „hol zuerst tief Luft“, „versuch einmal deine Antwort flüssig zu wiederholen“ geben – sie helfen dem Kind nicht weiter. tolle.buttons.de 4 DAS STOTTERNDE KIND IN DER KLASSENSITUATION Einige Impulse: - Wie unterscheiden wir uns in der Größe, Haarfarbe, Augen,...? - Was kann ich besonders gut, was unterscheidet mich deshalb von den anderen? - Sprechen wir alle gleich (Dialekt, Stimme, reden wir alle gleich viel und lang)? - Warum lachen wir über andere? - Wie fühle ich mich, wenn andere über eine Eigenschaft von mir lachen? • Thematisieren Sie „Anderssein jeder hat Stärken und Schwächen"! Anderssein darstellen: „Schließlich ist Stottern nur ein einziger Teil deiner Persönlichkeit. Konzentriere dich auch auf die Dinge, die du besonders gut kannst, die du an dir magst. Wenn du den Kopf hoch nimmst und dich nicht duckst, verdirbst du Sprücheklopfern ganz nebenbei gehörig den Spaß….“ Mögliche Themenfelder, die diskutiert werden können, sind die Besonderheiten einzelner Kinder, also die Frage, weshalb wir uns unterscheiden und weshalb es gut ist, nicht gleich zu sein. Die Besonderheiten sollten wertneutral und nicht defizitorientiert dargestellt werden. • Zeigen Sie dem Kind Techniken zur Selbstbehauptung: Eine schlagfertige Antwort geben: „Ja, ich stottere, hast du etwa ein Problem damit? „ oder „Erzähl doch mal was Neues, allmählich wirst du langweilig“ Bringe Humor ins Spiel: z.B. wenn dich jemand nachäfft: Ha-ha hab ich dich etwa angesteckt? • Fördern Sie positive Selbstbilder: Oftmals hilft es dem Schüler/der Schülerin und der gesamten Klasse, wenn ein offener und lockerer Umgang demonstriert wird. Z.B. „Das war ein guter Beitrag. Ich finde es mutig, dass du dich so gut beteiligst, auch wenn dein Stottern manchmal stärker ist.“ • Heben Sie sprachliche Stärken hervor: o z.B. mündliche Beteiligung verstärken- „Genau ein wichtiger Hinweis. Toll, dass du so mutig warst, uns das mitzuteilen.“ o „Ein guter Beitrag, danke. Ich freue mich, dass du dich gemeldet hast“ • Das MOTTO: Stottern akzeptieren! Stottern vermeiden wollen heißt, Stottern festigen! Deshalb einfach und probat: akzeptieren Sie das Stottern des Schülers/der Schülerin, so wie es ist. 5 INFORMATION, BERATUNG, THERAPIE kompetente Ansprechpartnerinnen an der Schule sind die Sprachheillehrerinnen http://www.sprachheil.salzburg.at/ Österreichische Gesellschaft für Sprachheilpädagogik http://www.sprachheilpaedagogik.at/ Österreichische Selbsthilfe-Initiative Stottern (ÖSIS) Brixner Str. 3, 6020 INNSBRUCK Tel. 0512/584869 [email protected] www.oesis.at Selbsthilfegruppe für Stotternde Salzburg Kontakt: Daniela GROH Tel. 0676/82543312 logopaedie-hammelburg.de [email protected] Logopädinnen: www.logopaeden.at LITERATUR UND LINKS DENGG Günther: Stottern in der Schule (Infoblatt) www.oesis.at KUCKENBERG Sabine: FAQ zum Stottern für Schulkinder und Tipps zum Umgang mit Hänseln; Natke Verlag 2011 Diese Informationen wurden zusammengestellt von THUM Georg: Stottern in der Schule; Demosthenes Verlag 2011 Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V.: Umgang mit Stottern in der Schule www.bvss.de Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen Innsbruck: WIESER Ev: Informationen und Orientierungshilfen im Umgang mit stotternden Kindern für Erzieher/innen (Kindergarten, Schule) www.hssinnsbruck.at März 2013 6