10 bewegen GESUNDHEIT Lesen Sie hier … ■ ■ ■ wie die Vernetzung aller Prozessbeteiligten die Kosten der Gesundheitswirtschaft reduziert, Wie ICT-Lösungen die Lebensqualität chronisch kranker Patienten erhöhen, warum die elektronische Patientenkarte die Versorgung effizienter machen wird. 263 Milliarden Euro Summe aller Gesundheitskosten in Deutschland 2008 Quelle: Zahlen zum Gesundheitswesen, Bundesministerium für Gesundheit, August 2010 Lokale Pilotprojekte, regionale Lösungen und vereinzelt auch flächendeckende nationale Infrastrukturen machen deutlich: Integrierte Gesundheitsnetze auf Basis sicherer, digitaler Lösungen können dazu beitragen, dass an einer hochwertigen Patientenversorgung trotz knapper Budgets nicht gespart werden muss. Best Practice 04 l 2010 BP042010D_10_10 10 22.11.2010 16:42:56 Uhr 11 Milliarden Euro Milliarden Euro Anteil der Gesundheitskosten, der 2008 auf die gesetzliche Krankenversicherung entfiel Geschätztes Volumen der Gesundheitswirtschaft in Deutschland 2030 Best Practice 04 l 2010 BP042010D_11_10 11 Fotos: Bernd Vogel/Corbis, iStockphoto.com 160 345 Quelle: Roland Berger Quelle: Zahlen zum Gesundheitswesen, Bundesministerium für Gesundheit, August 2010 Wer schultert die Kosten? 22.11.2010 16:43:24 Uhr 12 bewegen GESUNDHEIT Eine elektronisch vernetzte Gesundheitswirtschaft ermöglicht es, Patientendaten unabhängig von deren Aufenthaltsort zu erheben. Fotos: Tim Pannell/Corbis, PR (2) D er Befund ist schlecht, ob am Uniklinikum rechts der Isar, dem Royal London Hospital oder im Centre Hospitalier in Paris. In nahezu allen Ländern Westeuropas hängen die Gesundheitssysteme am Tropf. Allein in Deutschland beliefen sich 2008 die Gesundheitskosten auf 263 Milliarden Euro. 160 Milliarden davon entfielen auf die gesetzliche Krankenversicherung. Einer Studie von Roland Berger zufolge wird im Jahr 2030 das Gesamtvolumen der Gesundheitswirtschaft allein in Deutschland auf 345 Milliarden Euro ansteigen. Bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erwarten Beobachter eine einschneidende Konsolidierung, die die Zahl der aktuell 160 Kassen in Deutschland auf etwa 50 reduzieren könnte. Zugleich ist Kostendämpfung auf politischem Wege nur eine Antwort auf ein Gesundheitssystem im Wandel. Die steigende Zahl der Menschen mit chronischen Leiden, die Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, rheumatischen Erkrankungen, Krebserkrankungen und Schmerzsyndromen, das sind Indikatoren, die Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler zumindest für das deutsche Versorgungssystem bereits befürchten lassen: „Gesundheit kann nicht billiger werden.“ Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Kliniken, Krankenkassen und Patienten, die Verlagerung medizinischer Leistungen in den ambulanten Bereich und auch mehr Wettbewerb können jedoch dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung effizienter zu machen, ohne ihre Qualität abzusenken. Denn das Leistungsniveau in Deutschland beizubehalten, ist ein erklärtes Ziel im politischen Berlin. Zeitgewinn für Arzt und Patient Eine elektronisch vernetzte Gesundheitswirtschaft, die mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnik (ICT) Kommunikationswege abkürzt, Behandlungsprozesse beschleunigt und mit kontrollierten, sicheren Datenzugängen zum Beispiel Doppeluntersuchungen vermeidet, hat nicht nur die Chance, dem absehbaren (Fach-)Ärztemangel, besonders auf dem Lande, entgegenzuwirken. Sie ermöglicht es auch, Gesundheitsdaten unabhängig vom Aufenthaltsort des Patienten zu erheben und damit rascher zu handeln, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Sie hilft, vernetzte Versorgungsstrukturen zu administrieren, und unterstützt Krankenkassen dabei, effizienter zu wirtschaften. Und sie schafft die Grundlage für eine Versorgung schwerkranker oder gebrechlicher Patienten in den eigenen vier Wänden. Ein Beispiel für ICT-Lösungen, die die Patientensicherheit verbessern und die Versorgung effizienter machen, ist der CardioMessenger von Biotronik. Das Berliner Unternehmen ist auf Herzschrittmacher und implantierbare Defibrillatoren für schwer herzkranke Patienten spezialisiert. Bisher müssen Patienten mit solchen Implantaten alle drei bis sechs Monate zur Kontrolle. Das ist in vieler Hinsicht unbefriedigend: Die Patienten haben oft lange Anreisewege, obwohl mit dem Gerät meist alles in Ordnung ist. Und für den Spezialisten kosten die Routinekontrollen unnötig viel Zeit. Der CardioMessenger (siehe Grafik S. 18/19) ändert das von Grund auf: „Die Implantate senden selbständig relevante Daten per Funk an eine Übermittlungsstation auf dem Nachttisch. Von dort gelangen die Daten über das Mobilfunknetz zu einem gesicherten Internetportal. Wenn etwas nicht stimmt, werden wir Ärzte per Fax, E-Mail oder SMS informiert und können dann mit dem Patienten sofort in Kontakt treten“, betont Dr. Axel Müller vom Klinikum Chemnitz. Durch das Home Monitoring kann die Zahl der persönlichen Nachsorgekonsultationen reduziert werden. Für seine Klinik ist der CardioMessenger ein Segen: Sowohl Patienten als auch Ärzte profitieren von der neuen Technik. „Früher konnten die Daten nur abgefragt werden, wenn die Patienten zur Kontrolle kamen. Heute erfahren wir sofort, wenn zum Beispiel eine Elektrode defekt ist.“ Neue Geräte nutzen sogar schon Biosensoren, die Daten zum Flüssigkeitsgehalt in der Lunge erheben. „Dadurch gewinnen wir lebensrettende Zeit, können früher reagieren, wenn sich der Zustand des Patienten verschlechtert, und ihm damit sogar Klinikaufenthalte ersparen“, sagt Professor Jörg O. Schwab vom Universitätsklinikum Bonn. Wie relevant dies sein kann, zeigt die Auswertung einer Patientendatenbank mit über 11 000 Patienten aus 23 Ländern Best Practice 04 l 2010 BP042010D_12_10 12 22.11.2010 16:43:47 Uhr 13 „Patienten können praktisch den ganzen Globus bereisen, ohne auf ihr Sicherheitsnetz verzichten zu müssen.“ Interview „Entscheidend ist der Nutzen für die Versicherten“ Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland, kann sich ein modernes Gesundheitswesen ohne IT-Unterstützung kaum mehr vorstellen. Prof. Dr. Jörg O. Schwab, Universitätsklinik Bonn (AWARE-Studie). Hier dauerte es nach der Entlassung aus dem Krankenhaus im Mittel 26 Tage bis zu einem mit dem Implantat assoziierten Ereignis. Bei einem „normalen“ Nachsorgeschema mit Dreimonatsintervallen würde der Arzt das erst 65 Tage später erfahren. Mit den entsprechenden SIM-Karten versorgt die Deutsche Telekom GmbH mehrere tausend Geräte des CardioMessengers. Internationale Roaming-Verträge wurden geschlossen. „Die Patienten können praktisch den gesamten Globus bereisen, ohne auf ihr Sicherheitsnetz verzichten zu müssen“, so Schwab. Zusatzkosten entstehen dem Patienten dadurch nicht: Die Abrechnung erfolgt zwischen Biotronik und der Deutschen Telekom, wobei die tatsächliche Inanspruchnahme des Roamings zugrunde gelegt wird. Mobil trotz Diabetes Auch bei zuckerkranken Menschen ist eine engmaschige Überwachung von Gesundheitsdaten Pflicht. Nach OECD-Angaben wird die Zahl der Diabetiker europaweit bis 2030 um 37 Prozent steigen. Vor allem der Blutzucker muss optimal eingestellt sein. Denn das vermeidet Komplikationen. Um auf der sicheren Seite zu sein, nutzt Julia Golfinger aus Friedrichshafen ein Blutzuckermessgerät des Unternehmens BodyTel. Das Messgerät kommuniziert komplett drahtlos mit zahlreichen handelsüblichen Handys. Diese wiederum über- Wo sehen Sie Berührungspunkte zwischen Krankenkassen und digital vernetzter Medizin? Im Fokus der Krankenkassen stehen der Versicherte und seine Versorgung. Das Augenmerk muss auf Dienste oder Anwendungen gelegt werden, die speziell für die Versicherten von Nutzen sind. Dies können medizinische Daten sein, die zwischen den Leistungserbringern ausgetauscht werden, aber auch Daten, die der Versicherte selbst pflegt oder die die Krankenkassen mit dem Versicherten oder den Leistungserbringern austauschen. In diesem Zusammenhang ist es auch denkbar, dass Kassen den Versicherten über Portale Leistungen wie einen elektronischen Impfausweis oder ein elektronisches Patiententagebuch anbieten. In einem weiteren Sinne nutzen Krankenkassen moderne IT-Lösungen natürlich auch für interne Zwecke, ähnlich wie andere Unternehmen. Das geht von IP-Plattformen über Software fürs Customer Relationship Management bis hin zu Business-Intelligence-Lösungen. Die derzeitige Krankenversicherungskarte wird demnächst durch die elektronische Gesundheitskarte ersetzt, bei der Versichertendaten elektronisch aktualisiert werden können. Wie wird das ablaufen? Es gibt nun die gesetzliche Verpflichtung, eine Online-Aktualisierung der Versichertendaten bei jedem ersten Arztkontakt eines Patienten in einem Quartal durchzuführen. Wichtig ist, dass es zunächst nur um die Aktualisierung der administrativen Daten geht. Am bisherigen Ablauf in der Praxis wird sich nichts ändern. Da Prüfung und Aktualisierung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) komplett über die neue Telematik-Infrastruktur laufen, sind alle Sicherheits- und Datenschutzanforderungen erfüllt. Denn alle Betreiber und Komponenten müssen einen komplexen Zulassungsvorgang durchlaufen. Viele Versicherte haben bereits Fotos für die neue Karte eingereicht. Wann kommt sie denn nun? Bevor die Karten ausgegeben werden, sind zunächst die Ärzte und Zahnärzte mit den neuen Lesegeräten flächendeckend auszustatten. Dazu müssen die Verhandlungen über die Erstattung abgeschlossen werden. Es wird also noch ein wenig dauern, bis alle Bundesbürger eine elektronische Gesundheitskarte haben. Tatsächlich wird durch dieses Vorgehen aber vermieden, dass Versicherte mit der neuen Karte bei Ärzten erscheinen, die noch nicht dafür ausgestattet sind. Die Telemedizin ist ein weiterer Berührungspunkt zwischen Krankenkassen und Gesundheits-IT. Wird diese digitale Überwachung für Patienten, die davon profitieren, künftig auch regulär erstattet? Telemedizinische Interventionen müssen im Vergleich zu bewährten Vorgehensweisen untersucht werden. Annahmen oder Erwartungen reichen da nicht aus. Nötig sind klare Fragestellungen und vergleichende Studien. Alle neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der ambulanten Versorgung müssen laut Gesetz vom Gemeinsamen Bundesausschuss bewertet werden. Wenn ein (Zusatz-)Nutzen belegt ist, kann das Verfahren in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden. Das gilt auch für telemedizinische Angebote. Link: www.gkv-spitzenverband.de Best Practice 04 l 2010 BP042010D_13_10 13 22.11.2010 16:44:06 Uhr 14 bewegen GESUNDHEIT Interview „Riesenchance für das gesamte Gesundheitswesen“ Interview mit Dr. Axel Wehmeier, Leiter des Konzerngeschäftsfelds „Gesundheit“ und damit verantwortlich für die Entwicklung dieses strategischen Zukunftsmarkts der Deutschen Telekom. Herr Dr. Wehmeier, die Deutsche Telekom setzt auf die vier Wachstumsmärkte Energie, Auto, Medien und Gesundheitswesen. Was soll ein Telekommunikationsunternehmen in diesen Märkten verändern? In allen vier Geschäftsfeldern geht es künftig um das Thema Vernetzung. Im Gesundheitswesen fängt das Vernetzen der Teilnehmer gerade erst an. Es gibt ein großes Potenzial, Kosten zu sparen, Qualität zu erhöhen und Abläufe zu beschleunigen. Die Telekom will mit aufeinander abgestimmter Informations- und Telekommunikationstechnik dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen. Wir möchten ein hochangesehener Servicepartner der Branche werden – für niedergelassene Ärzte, Kliniken, Krankenkassen und last but not least die Patienten. Die Telekom bietet seit einigen Jahren Lösungen für den Gesundheitsmarkt an. Verändert sich dieses Angebot? In der Vergangenheit hat uns der Gesundheitsmarkt vornehmlich als klassischen Provider gesehen, der Festnetztelefonie, Datenanschlüsse oder Telefonanlagen verkauft. Das ist heute noch der weitaus größte Teil unserer Umsätze in dem Bereich. Softwareanwendungen oder Daten wurden lokal genutzt und gespeichert, Mobilfunk spielte eine nachgelagerte Rolle. Hier gibt es noch viel Potenzial für unsere Services. In Zukunft wollen wir deshalb alle Kompetenzen des Konzerns einbinden. Was qualifiziert gerade die Deutsche Telekom zum wichtigen Partner des Gesundheitswesens? ICT kann die finanziellen Probleme unseres Gesundheitssystems nicht allein lösen. Aber sie ist ganz sicher ein wichtiger Teil der Antwort auf die drängenden Herausforderungen wie sinkende Budgets oder Wettbewerbsdruck unter den Kliniken. Zudem bietet unsere Technologie die Chance, die Folgen des demografischen Wandels zu mildern, indem die steigende Anzahl chronisch kranker und pflegebedürftiger Menschen besser betreut werden kann. E-Health kann das Leben von Menschen sicherer und mobiler machen. Die Telekom investiert daher Zeit und Geld in dieses strategische Geschäftsfeld und ist in vielen Pilotversuchen engagiert. Via Handy übermitteln Diabetespatienten von zu Hause aus ihre Blutzuckerwerte. mitteln die Zuckerwerte automatisch und in Echtzeit an ein geschütztes Internetportal (siehe Grafik S. 18/19). Bei auffälligen Blutzuckerverläufen erfährt so nicht nur der Arzt frühzeitig davon. Auch Angehörige oder Betreuungspersonen können per SMS oder E-Mail informiert werden, wenn die Zuckereinstellung aus dem Ruder läuft. Teenager Julia hat ihre Mutter Natalia Golfinger eingebunden, die darüber sehr froh ist: „Es gibt mir ein gutes und sicheres Gefühl, weil ich Julias Werte jederzeit überprüfen kann und weil nichts verloren geht.“ Innovativ ist die Lösung von BodyTel auch wegen des Geschäftsmodells. Die Refinanzierung der telemedizinischen Dienstleistung erfolgt über die Blutzuckerteststreifen, die das Unternehmen für seine Messgeräte vertreibt. Mittlerweile kann die Plattform auch zur telemedizinischen Überwachung des Körpergewichts und des Blutdrucks eingesetzt werden. Hier laufen erste Verhandlungen mit Krankenversicherungen. Die Diabetespatienten nutzen bei der BodyTelLösung ein Webportal, um ihre Werte einzusehen. Solche Patientenportale können auch zu umfassenden Kommunikationsplattformen ausgebaut werden, bei denen sich Patienten untereinander oder mit Experten austauschen. Vielen Betreibern solcher Plattformen stellt sich dabei die Frage, wie die Portale technisch sauber und vor allem sicher umgesetzt werden können. So kann etwa die Unified-Communications-Lösung MyCommsuite in Funktionsumfang und Design komplett nach den Wünschen der Kunden gestaltet werden. Eine Patientenorganisation könnte diese Technologie zum Beispiel nutzen, um in Internetcommunitys einen Chatroom, eine Expertensprechstunde oder Datenarchive zu organisieren – ohne dass dazu in eigene Hardware, Software oder Infrastruktur investiert werden müsste. Auch Internettelefonie, Konferenzschaltungen oder Filesharing-Szenarien sind möglich. Dabei ist die Lösung komplett webbasiert. Beim Nutzer muss keinerlei Software installiert werden, und sie funktioniert unabhängig von Hardware oder Betriebssystem. Sensible Gesundheitsdaten Steht bei einem medizinischen Versorgungsnetz der gemeinsame Zugriff auf Patientendaten im Vordergrund, reicht eine reine Kommunikationslösung allerdings nicht aus. Nötig sind dann professionelle elektronische Patientenakten, in denen sensible Gesundheitsdaten sicher verwahrt werden, sodass nur berechtigte Personen Zugriff Best Practice 04 l 2010 BP042010D_14_8 14 23.11.2010 14:06:21 Uhr 15 Wenn ICT die Administration vereinfacht, gewinnen Ärzte mehr Zeit für ihre Kernaufgaben und können so die medizinische Versorgung ihrer Patienten verbessern. mit der elektronischen Akte die sektorübergreifende Zusammenarbeit in den Netzen weiter vertiefen“, so Bauer. Für die Knappschaft ist die digitale Kommunikation ein wichtiger Schritt hin zu einer konsequent zu Ende gedachten integrierten Patientenversorgung. Setzen auf nationale Lösung In den Niederlanden hat der Anbieter Portavita bereits eine nationale elektronische Patientenakte umgesetzt, die von mehr als 164 000 Patienten genutzt wird. T-Systems führt die adaptierte elektronische Akte derzeit in Deutschland ein. Die Basisarchitektur wird dabei an unterschiedliche Versorgungsszenarien angepasst. Ein Beispiel ist der Aufbau einer webbasierten elektronischen Patientenakte für die spezialisierte ambulante palliativmedizinische Versorgung (SAPV). Im Rahmen des gesetzlich initiierten SAPV-Programms werden bundesweit ambulante palliativmedizinische Versorgungsteams aufgebaut. Im konkreten Fall geht es darum, dass schwerstkranke Patienten ihre letzten Monate wenn möglich nicht im Krankenhaus verbringen müssen. Das übergeordnete Ziel einer digitalen Vernetzung der Arbeitsabläufe von Kliniken, niedergelassenen Ärzten, Reha- und Pflegeeinrichtungen (siehe Grafik) ist es, in jedem Fall die Therapiequalität und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. „Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn Ärzte, Pflege, Hospizdienste, Seelsorger, Hilfsmittelhersteller und Case Manager eng verzahnt arbeiten“, sagt Dr. Norbert Köneke, Medizinischer Direktor der Lahn-Dill-Kliniken. Er ist verantwortlich für den Aufbau des SAPV-Teams im hessischen Lahn-Dill- Christian Bauer, prosper-Projektmanager, Knappschaft-Bahn-See Fotos: plainpicture/fancy, T-Systems (2), PR darauf haben (siehe Grafik). Seit 2009 erfolgreich im Echtbetrieb ist beispielsweise eine Akte, die T-Systems im Rahmen des prospeGKT-Projekts als Generalunternehmer für die Knappschaft-BahnSee im prosper-Netz in Bottrop eingeführt hat. ProspeGKT ist eines von zahlreichen IT-Projekten, die in Deutschland in den letzten Jahren von Krankenkassen angestoßen oder mit angestoßen wurden (siehe dazu auch unser Interview auf Seite 13). So ermöglichen IT-Lösungen heute Krankenkassen nicht nur den Aufbau kooperativer Versorgungsnetze. Vielmehr ist die für Klinikbetreiber, Krankenkassen und Ärzte wichtige Zusammenführung von medizinischen, administrativen und Finanzdaten ohne nach Möglichkeit standardisierte IT-Plattformen kaum mehr denkbar. Die Knappschaft-Bahn-See hat mit der prospeGKT-Akte einen Weg gefunden, wie Ärzte im niedergelassenen und stationären Bereich ihre Arztbriefe, Befunde oder Röntgenbilder medizinisch strukturiert ablegen und sie so den Kollegen ohne Zeitverzug zugänglich machen können. „Die Akte verfügt über eine umfassende Sicherheits-Infrastruktur und lehnt sich dabei an die medizinische Telematik-Infrastruktur an, die demnächst deutschlandweit ausgerollt werden soll“, betont Christian Bauer, Projektmanager bei der Knappschaft. Patienten mit elektronischer Gesundheitskarte, Ärzte mit elektronischem Arztausweis – ohne seine Identifikation und die Autorisierung durch den Patienten bekommt keiner der 36 Ärzte in den bislang 23 projektbeteiligten Praxen Zugriff auf die abgelegten Daten. Schon 10 000 elektronische Gesundheitskarten wurden in Bottrop ausgegeben. „Wir können mit unseren prosper-Netzen Effizienz und Versorgung nachweislich steigern und wollen „Wir wollen mit der Karte die sektorübergreifende Zusammenarbeit weiter vertiefen.“ Best Practice 04 l 2010 BP042010D_15_12 15 24.11.2010 16:11:22 Uhr 16 bewegen GESUNDHEIT Mit telemedizinischen Infrastrukturen überwachen Ärzte der Berliner Charité die Vitaldaten mehrerer hundert Herzinsuffizienzpatienten. Kreis, der Pilotregion für die palliativmedizinische Version der Patientenakte. „Das Ziel ist eine elektronische Patientenakte, die sowohl in den beteiligten Einrichtungen als auch unterwegs und beim Patienten zu Hause zugänglich ist. Nur so ist gewährleistet, dass alle beteiligten Fachkräfte ständig auf dem aktuellen Stand sind“, so Köneke. Wie nötig das ist, zeigt der Status quo: „Im Moment arbeiten wir mit mehreren Aktenordnern. Um sie abzugleichen, nutzen wir Durchschlagpapier. Das ist schon ziemlich umständlich.“ Fotos: PR (2) Wenn der Teppich Hilfe ruft Unter ganz anderen Vorzeichen ist die dringend nötige Versorgung in den eigenen vier Wänden auch bei alten und gebrechlichen Menschen ein Thema. Zunehmend mehr Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause, im gewohnten Umfeld, leben. Nicht zuletzt dadurch hat sich der Altersdurchschnitt in stationären Pflegeeinrichtungen deutlich nach oben verschoben. Verlegten noch Mitte der 90er Jahre bereits viele 75-Jährige ihren Lebensmittelpunkt von den häuslichen vier Wänden in eine Pflegeeinrichtung, stehen Menschen heute oft erst im Alter von 85 Jahren vor dieser Entscheidung. So haben Befürchtungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, wonach der Bedarf an Pflegeheimplätzen sich bis 2050 auf dann 2 000 000 annähernd verdreifachen könnte, durchaus die Aussicht, Fiktion zu bleiben. Dazu beitragen werden technische Assistenzsysteme des sogenannten AAL, „Ambient Assisted Living“. So wären mit technischer Unterstützung nicht wenige der aktuell allein in deutschen Pflegeeinrichtungen versorgten 670 000 Menschen heute „Mit der elektronischen Patientenkarte sind alle Beteiligten ständig auf dem aktuellen Stand.“ Dr. Norbert Köneke, Medizinischer Direktor der Lahn-Dill-Kliniken schon zu einem Leben daheim in der Lage, beispielsweise mithilfe intelligenter Sensortechnik, die das Leben in der häuslichen Umgebung für Senioren sicherer macht. So registrieren etwa SensFloor-Teppiche des Herstellers Futureshape, wenn ein Mensch stürzt, und fordern in Verbindung mit mobiler Kommunikation per SMS oder E-Mail an die IP-Adresse eines professionellen Pflegedienstes oder etwa eines Nachbarn Hilfe an. Das Problem bei solchen Hilfsszenarien ist nicht die Technologie, sondern der Preis. Werden für jede Sensorlösung eigene Prozesse entwickelt, wird der Einsatz von AAL in den eigenen vier Wänden sehr teuer. Mithilfe von Cloud-ComputingTechnologien lassen sich alle in AAL-Szenarien häufig genutzten Prozesse – zum Beispiel auch die Abrechnung – zentral bereitstellen, sodass nahezu beliebig viele unterschiedliche Sensoren unkompliziert und kostengünstig gemeinsam genutzt werden können. Als Betreiber der fachlichen Lösungen sind je nach Versorgungsszenario Pflegedienste, Kommunen, aber auch die Wohnungswirtschaft denkbar. T-Systems als technischer Partner unterstützt durch eine „AAL-Cloud“ die Kommunikation der jeweiligen Community in einem geschützten Datenraum. Bleibt die Frage, ob die Medizin durch all die Informationstechnik in unterschiedlichsten Lebenslagen menschlicher wird. Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Wenn Technik dazu eingesetzt wird, reale Arzt-Patienten-Kontakte aus Effizienzgründen zu ersetzen, geht ohne Zweifel Menschlichkeit verloren. Wenn sie allerdings – wie bei telemedizinisch überwachten Herzimplantaten oder beim Diabetes-Handy – zu einem engeren Kontakt zwischen Patient und medizinischen Betreuern führt, kann die Bewertung schon anders aussehen. Und wenn IT es ermöglicht, dass alte Menschen länger zu Hause bleiben können, oder wenn sie dazu beiträgt, dass schwerkranke Patienten im Kreis der Familie und nicht im Krankenhaus sterben, dann ist der Gewinn an Menschlichkeit mit Händen greifbar. PHILIPP GRÄTZEL VON GRÄTZ Kontakt: [email protected] Links: www.bodytel.com www.knappschaft.de www.ukb.uni-bonn.de www.aal-deutschland.de www.lahn-dill-kliniken.de www.klinikumchemnitz.de www.t-systems.de/leitthemen www.t-systems.de/gesundheit www.t-systems.de/megatrends www.t-systems.de/whitepaper/gesundheitswesen www.t-systems.de/kundenstories/gesundheitswesen Videos: www.t-systems.de/video/gesundheit www.t-systems.de/video/gesund-vernetzt Best Practice 04 l 2010 BP042010D_16_9 16 23.11.2010 14:06:34 Uhr 17 Studie Telemedizin mit Mehrwert Dr. Friedrich Köhler, Leiter des Zentrums für kardiovaskuläre Telemedizin an der Berliner Charité, über den Erfolg der wissenschaftlichen Studie „Partnership for the Heart“ zur Betreuung von Herzinsuffizienzpatienten. T elemedizin in der „Doc-to-Doc“-Kommunikation nutzen wir Ärzte vielerorts auf der Welt schon sehr erfolgreich. Zur Übermittlung von Patientendaten, zum Einholen von Zweitmeinungen oder zum Wissensaustausch. Der 16. November dieses Jahres war ein entscheidender Tag, um auch in der „Doc-to-Patient“-Telemedizin einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Auf dem Kongress der American Heart Association in Chicago stellten die Berliner Charité und die Robert Bosch Health GmbH gemeinsam mit mehreren Partnern die Ergebnisse ihrer grundlegenden Telemedizin-Studie „Telemedical Interventional Monitoring in Heart Failure“ des Projekts „Partnership for the Heart“ vor. Ein Projekt zur Entwicklung und Erprobung einer mobilen Monitorplattform, in der wir 710 Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz ein Jahr lang mittels eines IT-basierten Therapiemanagements in deren häuslichem Umfeld durch zwei Telemedizin-Zentren mitbetreut haben. Pumpschwäche des Herzens ist eine Krankheit, die auch im 21. Jahrhundert von hoher Relevanz ist. Allein in Deutschland leiden 1,3 Millionen Menschen an der Herzinsuffizienz. Jährlich kommen 200 000 Neuerkrankungen hinzu. Mit zirka 350 000 Hospitalisierungen pro Jahr ist die Herzschwäche hierzulande der häufigste Grund für stationäre Behandlungen, die bis zu 85 Prozent der Therapiekosten von drei Milliarden Euro pro Jahr in Anspruch nehmen. Die Zahlen waren ein Grund für das Bundeswirtschaftsministerium, unser Projekt in die Technologieinitiative des Bundes „next generation media“ aufzunehmen und mit knapp acht Millionen Euro zu fördern. Erstmals konnten so die ergänzenden Effekte von Telemedizin auf klassische Therapieformen der Präsenzmedizin einer wissenschaftlichen Prüfung unterzogen werden. Insgesamt wurden im Studienverlauf 250 000 erfolg- reiche Übertragungen der Messwerte durchgeführt und in 500 Fällen mobile EKG-Übertragungen vorgenommen. Auf dieser Basis belegen die jetzt vorliegenden Ergebnisse von „Partnership for the Heart“ wissenschaftlich fundiert, dass telemedizinische Betreuungssysteme im Vergleich zu bisherigen Therapiestandards einen echten Mehrwert haben – für Patienten, Ärzte und Kliniken. Besonderer Nutzen zeigte sich dabei für die Hochrisikopatienten, die an gefährlichen Wasseransammlungen im Körper leiden und in den vorangegangenen zwei Jahren deswegen stationär behandelt werden mussten. So konnte ■ die Mortalitätsziffer dieser Patientengruppe im Projektzeitraum um rund die Hälfte gesenkt ■ und die Zahl der nötigen Krankenhausaufenthalte dieser Patienten im Studienzeitraum um durchschnittlich 20 Prozent reduziert werden. Fast alle Patienten gaben an, dass sich ihre körperliche Leistungsfähigkeit und ihre Lebensqualität durch die telemedizinische Betreuung erhöht haben. Neben dem hohen Gefühl der Sicherheit konnten die Patienten dadurch länger in ihrem Zuhause und damit in ihrem sozialen Umfeld bleiben. Durch diese Studie ist es nun erstmals möglich, eine genaue Definition jener Patientengruppen mit chronischer Herzinsuffizienz zu erhalten, die am stärksten von telemedizinischer Betreuung profitieren werden. Ein telemedizinisches Therapiemanagement könnte sich für diese Patientengruppe als „Bridge to Stability“ erweisen. Diese signifikanten Ergebnisse und ihre Präsentation auf dem Kardiologenkongress Mitte vergangenen Monats waren ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Telemedizin von der wissenschaftlichen Studie zur Telemedizin auf Rezept in der Regelversorgung. Link: www.partnership-for-the-heart.de Best Practice 04 l 2010 BP042010D_17_10 17 22.11.2010 16:45:20 Uhr