Klärungsorientierte Psychotherapie der

Werbung
Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Rainer Sachse · Janine Breil
Meike Sachse · Jana Fasbender
Klärungsorientierte
Psychotherapie
der dependenten
Persönlichkeitsstörung
Klärungsorientierte Psychotherapie der dependenten Persönlichkeitsstörung
Titelei_Sachse_Bd.4.indd 1
14.05.2013 12:01:16
Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Band 4
Klärungsorientierte Psychotherapie
der dependenten Persönlichkeitsstörung
von Prof. Dr. Rainer Sachse, Dr. Janine Breil,
Dipl.-Psych. Meike Sachse und Dipl.-Psych. Jana Fasbender
Herausgeber der Reihe:
Prof. Dr. Rainer Sachse, Prof. Dr. Philipp Hammelstein
und PD Dr. Thomas Langens
Titelei_Sachse_Bd.4.indd 2
14.05.2013 12:01:16
Klärungsorientierte
Psychotherapie
der dependenten
Persönlichkeitsstörung
von
Rainer Sachse, Janine Breil,
Meike Sachse und Jana Fasbender
Göttingen · Bern · Wien · Paris · Oxford
PRAG · TORONTO · BOSTON · Amsterdam
Kopenhagen · STOCKHOLM · FLORENZ
Titelei_Sachse_Bd.4.indd 3
14.05.2013 12:01:17
Prof. Dr. Rainer Sachse, geb. 1948. 1969 –1978 Studium der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ab 1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum. 1985
Promotion. 1991 Habilitation. Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1998 außerplanmäßiger Professor. Leiter des Institutes für Psychologische Psychotherapie (IPP), Bochum.
Arbeitsschwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Klärungsorientierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie.
Dr. Dipl.-Psych. Janine Breil, geb. 1976. 1995–2000 Studium der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. 2001–2004 Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin. 2002–2004
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum. 2004–2007 Wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg. 2007 Promotion. Seit 2005 Dozentin am Institut für
Psychologische Psychotherapie (IPP) Bochum und Psychologische Psychotherapeutin.
Dipl.-Psych. Meike Sachse, geb. 1983. 2002–2008 Studium der Psychologie an der Technischen
Universität Chemnitz. Seit 2009 Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Seit 2009 Mitarbeiterin am Institut für Psychologische Psychotherapie (IPP), Bochum.
Arbeitsschwerpunkte: Klärungsorientierte Psychotherapie, Persönlichkeitsstörungen.
Dipl.-Psych. Jana Fasbender, geb. 1976. 1996 –2001 Studium der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. 2005 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. Seit 2005 psychotherapeutische Tätigkeit in privatpsychologischer Praxis in Bochum. Ausbildungskoordinatorin,
Dozentin und stellvertretende Leiterin des Instituts für Psychologische Psychotherapie (IPP), Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Klärungsorientierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2013 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto • Boston
Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm • Florenz
Merkelstraße 3, 37085 Göttingen
http://www.hogrefe.de
Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlagabbildung: © Sandor Jackal – Fotolia.com
Druck: Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn
Printed in Germany
Auf säurefreiem Papier gedruckt
ISBN 978-3-8017-2515-0
Titelei_Sachse_Bd.4.indd 4
14.05.2013 12:01:17
Inhalt
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2
Die dependente Persönlichkeitsstörung:
Beschreibung und Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Beschreibung der Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
DSM- und ICD-Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.2.1 DSM-IV-TR-Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.2.2 ICD-Kriterien (Forschungskriterien; F60.7) . . . . . . . . . . . . 12
2.2.3 Empirisch validierte Charakteristika dependenter Störungen . . . 12
2.1
2.2
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
4
4.1
4.2
Störungstheorie der dependenten Störung . . . . . . . . . . .
Motivebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schemata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 Selbst-Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Beziehungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Spielebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Kompensatorische Schemata . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1.1 Normative Schemata . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1.2 Regel-Schemata. . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2 Manipulatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2.1 Unterscheidung zwischen passiven und
aktiven Strategien . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2.2 Überblick über die manipulativen Strategien. .
3.3.2.3 Images, Appelle und Interaktionsspiele . . . .
3.3.2.4 Beziehungstests . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.3 Kosten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Modell der doppelten Handlungsregulation im Überblick . .
Weitere Aspekte der dependenten Persönlichkeitsstörung . . . .
3.5.1 Nähe und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.2 Ich-Syntonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.3 Externale Perspektive, Alienation und Lageorientierung
3.5.4 Selbst-Ideologisierung und Vermeidung . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
16
16
17
17
18
19
19
20
20
21
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
21
22
25
27
27
28
28
28
29
30
31
Differentialdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Abgrenzung der dependenten Störung von der psychosomatischen
Verarbeitungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Abgrenzung der dependenten von der histrionischen
Persönlichkeitsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
6
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
6.8
6.9
6.10
Inhalt
Die Therapie mit dependenten Klienten . . . . . . . . . . . . . . .
Therapeutische Grundhaltungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Therapie-Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Phase 1: Beziehungsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Komplementarität zur Motivebene . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2 Keine Komplementarität zur Spielebene . . . . . . . . . . . .
5.3.3 Ressourcen-Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.4 Explizieren der Beziehungsmotive und Problem-Definition . .
Phase 2: Erarbeitung eines Arbeitsauftrages durch Transparentmachen
der Spielebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.1 Transparentmachen der Spielebene . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.1.1 Konfrontation mit Intentionen . . . . . . . . . . . .
5.4.1.2 Konfrontation mit Spielen und Manipulation . . . .
5.4.1.3 Konfrontation mit Kosten. . . . . . . . . . . . . . .
5.4.1.4 Biographische Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.2 Vermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.2.1 Therapeutischer Umgang mit Vermeidung . . . . . .
5.4.2.2 Vermeidung durch Images und Umgang damit. . . .
Phase 3: Schemaklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Phase 4: Bearbeitung der Schemata und Transfer in den Alltag . . . .
5.6.1 Bearbeitung dysfunktionaler Schemata. . . . . . . . . . . . .
5.6.2 Verhaltensänderungen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . .
5.6.3 Bearbeitung der Alienation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
40
40
41
42
42
43
45
46
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
47
47
48
49
49
51
51
53
56
58
59
59
60
60
Demonstrationen therapeutischer Vorgehensweisen bei
dependenten Klienten anhand von Transkripten . . . . . . . . . . . . 63
Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Umgang mit Vermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Umgang mit sehr starker Vermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Konfrontationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Herausarbeitung von Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
1
Einleitung
Die dependente Persönlichkeitsstörung kommt in der ambulanten, psychotherapeutischen Arbeit seltener vor als die narzisstische oder histrionische Störung, und die
Klienten erscheinen den Therapeuten aufgrund der Art ihrer Störung – sie wirken kooperativ und um Mitarbeit bemüht, sie befolgen Ratschläge des Therapeuten und zeigen vordergründig wenig Interaktionsprobleme und wenig Interaktionsspiele – auf den
ersten Blick oft eher „pflegeleicht“.
Doch nach einiger Zeit wird deutlich, dass sie die Interaktionsspiele nur besser tarnen als andere Klienten: Sie sind nicht weniger, sondern nur anders manipulativ. Zudem fällt es ihnen schwer, sich selbst als Teil des Problems wahrzunehmen und zu erkennen, dass ihre Handlungen zu ihren Schwierigkeiten beitragen. Deshalb haben sie
häufig nur eine geringe Änderungsmotivation. Darüber hinaus weisen sie auch große
Probleme auf, ihre Perspektive zu internalisieren und haben nur einen schlechten Zugang zu ihrem Motivsystem. Damit erscheinen sie auf den zweiten Blick als „schwierige Klienten“, die dem Therapeuten ein hohes Maß an Verantwortung für den Prozess
und für eigene Veränderungen übergeben und die ein großes „Beharrungsvermögen“
aufweisen.
Die Klienten mit dependenter Störung stellen damit spezielle Anforderungen an den
Therapeuten. Sie sind häufig keineswegs leicht zu therapieren und Therapeuten benötigen für einen konstruktiven Umgang mit dependenten Klienten ein hohes Ausmaß an
Expertise.
Dieses Buch stellt die Wissensgrundlage für einen konstruktiven Umgang mit dependenten Klienten bereit, in dem es Informationen zur Diagnose der Störung, zu ihrem
psychologischen Funktionieren, zur komplementären Beziehungsgestaltung, zur
Schaffung von Änderungsmotivation und zur Bearbeitung von Schemata liefert. Ein
Schwerpunkt wird darauf liegen, wie Therapeuten konstruktiv mit Spielen und der hohen Ich-Syntonie umgehen können.
Dieses Buch ist, wie die vorigen dieser Reihe, ein „Konzept-Buch“, in dem wir das
Therapiekonzept der „Klärungsorientierten Psychotherapie“ bei dependenter Persönlichkeitsstörung vorstellen wollen. Für Informationen über andere Ansätze seien Derksen (1995), Fiedler (2007), Millon (1996), Magnavita (2004), Trautmann (2004) und
für eine Darstellung der Entwicklung des Konzeptes der dependenten Persönlichkeitsstörung Bornstein (2007) empfohlen. Zur Darstellung der Konzepte der dependenten
Störung siehe Beitz und Bornstein (1997, 2006), Bornstein (1993, 2007), Livesley et al.
(1995), Perry (2005), Vogelsang (2001, 2005). Zur Information von Klienten eignen
sich LeLord und André (2009) und Oldham und Morris (2010).
2
Die dependente Persönlichkeitsstörung:
Beschreibung und Diagnostik
In diesem Kapitel werden die Charakteristika der dependenten Persönlichkeitsstörung beschrieben sowie „klassische“ Diagnose-Ansätze vorgestellt.
2.1
Beschreibung der Störung
Die dependente Persönlichkeitsstörung (DEP) ist eine Nähe-Störung: Die DEP suchen
in hohem Maße nach Nähe und nach Beziehungen; sie tun sehr viel dafür, Beziehungen
einzugehen und aufrechtzuerhalten.
Millon (1996) charakterisiert Klienten mit dependenter Störung wie folgt. Die Personen seien unfähig, allein zu sein und allein zu handeln und zeigten einen starken Ausdruck von Inkompetenz und Hilfsbedürftigkeit und ein hohes Ausmaß an Freundlichkeit, Kooperation, Großzügigkeit und Liebenswürdigkeit. Zudem würden sie sich stark
anklammernd und unterwürfig verhalten, es vermeiden, Verantwortung zu übernehmen, und die Verantwortung an andere ab geben. Gleichzeitig gäben sie ihren Partnern
das Gefühl, überlegen, stark, nützlich, sympathisch und kompetent zu sein. Weiterhin
würden dependente Personen Konflikte vermeiden und keinerlei Feindseligkeit und
nur wenig Ärger zeigen. Sie seien in ihrem Verhalten „soft“, warm und reden leise und
gedämpft. Es falle ein hohes Maß an unkritischem Denken, eine naiv-positive Einschätzungen von Partnerschaften und eine naive Haltung von „alles ist in Ordnung, alles ist bestens, es gibt keine Probleme“ auf. Auftretende Schwierigkeiten würden auf
externe Umstände, physische Krankheiten u.ä. attribuiert. Tatsächlich wiesen Dependente jedoch starke Gefühle von Unfähigkeit, von Enttäuschung, von Unsicherheit und
Pessimismus auf. Die Introspektionsfähigkeit sei gering.
In unseren eigenen Supervisionen sticht hervor, dass Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung versuchen, es zu vermeiden, bei Interaktionspartnern negative Gefühle auszulösen, andere zu verletzen oder ihnen zur Last fallen.
Die Klienten erkennen oft nicht, dass sie einen Anteil an dem Problem haben und
dass ihr Handeln überhaupt zu dem Problem beitragen könnte. Teilweise erkennen sie
auch nicht, dass sie Interaktionsprobleme haben oder dass Beziehungspartner mit ihnen
Probleme haben.
Die dependente Persönlichkeitsstörung: Beschreibung und Diagnostik
9
Insgesamt neigen sie dazu, Probleme zu bagatellisieren, zu relativieren und zu normalisieren und sich Kosten schön zu rechnen, diese nicht wahrzunehmen oder sie als minimal einzuschätzen. Im Therapieprozess tendieren die Klienten dazu, bedrohliche Fragen des Therapeuten zu ignorieren und zur Vermeidungsstrategie „Fragen beantworten, die man nicht gestellt hat“.
Dependente Personen wollen Erwartungen anderer nicht enttäuschen, sie sind stark
erwartungsorientiert, validieren aber dabei häufig nicht, was der Interaktionspartner
tatsächlich erwartet. Zudem neigen sie dazu, Verantwortung (für das Wohlergehen anderer) zu übernehmen, selbst dann, wenn sie (nach allen Analysen) gar keine
Verantwortung haben.
Die Klienten lassen sich in Beziehungen leicht ausnutzen und sich zu lange eine
schlechte Behandlung gefallen, in extremen Fällen sogar eine sehr schlechte
Behandlung.
Die Klienten denken intensiv und lange über eigene Fehler nach bzw. darüber, was
sie noch besser machen könnten (hohe Lageorientierung). Personen mit dependenter
Störung weisen eine stark externale Perspektive auf, sie schauen stark auf andere und
wenig auf sich selbst. Sie nehmen oft an, dass andere Personen sich auch solidarisch
verhalten, wenn sie selbst solidarisch sind (eine Art quid pro quo), sind dann aber
enttäuscht und traurig, wenn dies nicht so ist.
Teilweise sind dependente Personen eifersüchtig und befürchten, dass ihre Partner
fremdgehen könnten. Dann kontrollieren sie manchmal ihren Partner (Handys kontrollieren, Mails lesen u.ä.), aber so, dass diese es nicht bemerken.
Im Folgenden werden einige zentrale Aspekte der Störung ausführlicher dargestellt.
Wunsch nach Verlässlichkeit
Das Hauptproblem der Personen mit dependenter Persönlichkeitsstörung ist, dass sie
ein starkes Bedürfnis nach verlässlichen Beziehungen haben, dass sie aber aufgrund ihrer Schemata Beziehungen nicht für verlässlich halten. Sie befürchten ständig, dass sie
von wichtigen Interaktionspartnern ohne Vorwarnung verlassen werden könnten. Aus
dieser Befürchtung resultiert ein (starker bis extrem starker) Wunsch, Beziehungen
verlässlich zu machen. Hierzu machen sie sich für den Partner besonders wichtig, sie
versuchen, besonders „pflegeleicht“ zu sein, keine Konflikte zu erzeugen, sich dem
Partner weitgehend unterzuordnen und ihm möglichst alle Wünsche zu erfüllen. Dadurch erscheinen sie in hohem Maße abhängig und erwecken den Eindruck, ohne den
Partner nicht lebensfähig zu sein.
Erfüllung der Wünsche des Partners, Zurückstellen eigener Bedürfnisse
und Entscheidungsprobleme
Personen mit dependenter Persönlichkeitsstörung versuchen, in einer Art von „vorauseilendem Gehorsam“ Partnern Wünsche zu erfüllen. Gleichzeitig stellen Personen mit
dependenter Persönlichkeitsstörung eigene Wünsche und Motive weitgehend zurück
und berücksichtigen sie nicht mehr. Dadurch erzeugen sie einen zunehmend schlechten
Zugang zu ihrem eigenen Motiv-System und damit eine hohe Alienation (eine Entfremdung vom eigenen Motiv-System). Entsprechend fällt es ihnen schwer zu spüren,
10
Kapitel 2
was sie möchten, und sie haben Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Dies
erzeugt eine innere Notwendigkeit, andere für sich entscheiden zu lassen.
Im Alltag wird die Alienation vielfach deutlich: Die Klienten wissen nicht, was ihnen gefällt, was sie essen möchten, was sie anziehen sollen, wohin sie in Urlaub fahren
wollen usw.
Besonders deutlich wird die Entscheidungsproblematik bei einem Vergleich von
Dependenten und Narzissten im Umgang mit Speisekarten. Während die Narzissten
stark handlungsorientiert eine Speisekarte nur kurz und bis zu dem Punkt lesen, an dem
sie wissen, was sie wollen, lesen Dependente die Speisekarte mehrmals, ohne eine Ahnung davon zu bekommen, was sie möchten. Geht ein Paar mit Dependenter/Narzisstischer Struktur in ein Restaurant, ist ein Konflikt vorprogrammiert: Während der narzisstische Partner sehr schnell weiß, was er will und bestellen möchte, ist der dependente Partner lange unentschlossen und nachdem man den Ober zum dritten Mal weggeschickt hat, fängt der narzisstische Teil des Paares an, leicht zu köcheln. Der Druck verschlimmert aber die Entscheidungsprobleme des dependenten Teils nur und so kann
sich die Situation schnell aufschaukeln.
Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung haben also keinen Zugang zu ihren Präferenz-Strukturen. Damit stehen ihnen keine internalen Standards als Grundlagen für Entscheidungen zur Verfügung. Aufgrund des schlechten Zugangs zum Motivsystem spüren die Klienten nicht, was sie im Augenblick wollen. Damit stehen sie oft
auch einfachen Entscheidungsaufgaben paralysiert gegenüber.
Neben der Alienation gibt es einen weiteren Grund für die Entscheidungsprobleme
und dafür, den Partner Entscheidungen für einen treffen zu lassen. Dieser liegt in der
Angst der Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung, durch Entscheidungen Positionen zu beziehen, die Interaktionspartnern nicht gefallen. und dadurch Konflikte zu
erzeugen, welche die Beziehung bedrohen. Daher betrachten sie es oft als sicherer, keine Entscheidung zu treffen als eine falsche Entscheidung, bzw. den Partner Entscheidungen treffen zu lassen.
Auf diese Weise werden die Klienten auch faktisch vom Partner abhängig, was dann
ihre Angst, verlassen zu werden, stärkt, indem es die Annahme fördert, nicht mehr alleine leben zu können. So geraten die Personen in einen Teufelskreislauf.
Konfliktscheue
Damit wurde bereits ein zweites Problem von Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung deutlich: Sie sind hochgradig konfliktscheu. Sie vermeiden Konflikte (vgl.
auch Millon, 1996), gehen Auseinandersetzungen aus dem Weg, trauen sich kaum, nein
zu sagen und sind kaum in der Lage, andere Personen zu kritisieren und ihnen negatives
Feedback zu geben.
Diese Probleme beeinträchtigen die Klienten oft im beruflichen Kontext. Wenn sie
in einer Untergebenen-Position arbeiten, sind sie einigermaßen konfliktfrei. Sobald sie
aber in (relative) Führungspositionen aufsteigen, beginnen die Schwierigkeiten. Es
fällt den Dependenten dann (extrem) schwer, anderen Anweisungen zu geben, Mitarbeiter zu überwachen, zu beurteilen, ihnen negatives Feedback zu geben und Konflikte
mit ihnen auszutragen. Damit stehen sie sich selbst aber karrieremäßig oft (massiv) im
Weg.
Die dependente Persönlichkeitsstörung: Beschreibung und Diagnostik
11
Und schon in subalterner Stellung können sie Probleme haben, wenn andere Kollegen
dazu neigen, sie auszunutzen: Dagegen können sie sich oft dann so gut wie gar nicht
wehren und neigen stark dazu, sich ausnutzen und manipulieren zu lassen.
Da Personen mit dependenter Persönlichkeitsstörung (besonders) auch in engen Beziehungen konfliktscheu sind, ersparen sie Interaktionspartnern tatsächlich oft Auseinandersetzungen und wirken „pflegeleicht“. Manchmal haben Partner aber auch den
Eindruck, „kein Gegenüber“ zu haben, niemanden, „mit dem man sich auseinandersetzen kann“, wodurch sie, trotz ihres Engagements für die Beziehung, für einen Partner
langweilig und uninteressant werden können.
Zudem darf man auch nicht dem Irrtum verfallen, dass Personen, die konfliktscheu
sind, nie aggressiv werden. Die Konfliktscheu wirkt wie eine Art von „Aggressionsbremse“ und aber diese kann, wie jede Bremse, überlastet werden. Werden Dependente
sehr stark frustriert, dann ist die Aggressionstendenz u.U. (für kurze Zeit) stärker als
die Hemmung und die Klienten können „ausrasten“. Die Hemmung verhindert dann
vielleicht, dass sie an der Stelle ausrasten, an der sie frustriert sind (weil sie diese Inhalte doch als „zu gefährlich“ betrachten). Sie „zicken“ den Partner dann bei relativ irrelevanten Problemen an. Dadurch reduziert sich der Ärger schnell und die Hemmung gewinnt wieder die Oberhand, die eigentlichen Problembereiche werden aber weiterhin
nicht thematisiert und damit auch nicht gelöst.
Manipulation
Personen mit dependenter Störung sind meist manipulativ, jedoch auf eine sehr subtile
und nicht leicht zu erkennende Weise: Ihre Manipulation bezieht sich meist darauf, eine
Beziehung stabil und „gut“ zu halten. Die Klienten empfinden ihr Handeln in aller Regel selbst auch überhaupt nicht als manipulativ, sondern sehen sich als altruistisch („Ich
tue das alles doch nur für meinen Mann.“).
Tatsächlich sind jedoch die Unterordnung, die Abgabe von Entscheidung, das Kümmern usw. manipulative Strategien, die das Ziel verfolgen, die Person möglichst positiv
erscheinen zu lassen und den Partner zu binden. Die Strategien dienen damit dem eigenen Zweck und sind nicht altruistisch. Da die Person auf den ersten Blick viel für andere tut, wirken die Strategien selbstlos, was sie sehr gut getarnt, aber nicht weniger manipulativ macht.
Diese Tarnung führt dazu, dass eine dependente Störung Therapeuten in der Therapie oft erst gar nicht auffällt. Die Klienten machen nämlich zuerst einen unauffälligen
und sehr kooperativen Eindruck: Sie tun, was der Therapeut sagt, loben den Therapeuten, sind nett und freundlich und wirken wenig problembelastet. Diese Kooperationsbereitschaft wirkt auf Therapeuten nicht manipulativ, sodass sie dann nicht mehr darauf
achten, was sich tatsächlich auf der Beziehungsebene abspielt. In der Regel beginnen
die manipulativen Strategien, die zunächst recht harmlos wirken, aber schon recht früh
in der Therapie, meist durch eine Übergabe von Verantwortung. Der Therapeut soll
Ratschläge geben, Entscheidungen für die Klienten treffen, als Vermittler fungieren
u.a.
12
Kapitel 2
2.2
DSM- und ICD-Kriterien
2.2.1
DSM-IV-TR-Kriterien
Ein tiefgreifendes und überstarkes Bedürfnis, versorgt zu werden, das zu unterwürfigem und anklammerndem Verhalten und Trennungsängsten führt (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003). Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. hat Schwierigkeiten, alltägliche Entscheidungen zu treffen, ohne ausgiebig den
Rat und die Bestätigung anderer einzuholen,
2. benötigt andere, damit diese die Verantwortung für seine/ihre wichtigsten Lebensbereiche übernehmen,
3. hat Schwierigkeiten, anderen Menschen gegenüber eine andere Meinung zu vertreten, aus Angst, Unterstützung und Zustimmung zu verlieren. Beachte: hier bleiben realistische Ängste vor Bestrafung unberücksichtigt,
4. hat Schwierigkeiten, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig
durchzuführen (eher aufgrund von mangelndem Vertrauen in die eigene Urteilskraft oder die eigenen Fähigkeiten als aus mangelnder Motivation oder Tatkraft),
5. tut alles Erdenkliche, um die Versorgung und Zuwendung anderer zu erhalten bis
hin zur freiwilligen Übernahme unangenehmer Tätigkeiten,
6. fühlt sich alleine unwohl oder hilflos aus übertriebener Angst, nicht für sich selbst
sorgen zu können,
7. sucht dringend eine andere Beziehung als Quelle der Fürsorge und Unterstützung,
wenn eine enge Beziehung endet,
8. ist in unrealistischer Weise von Ängsten eingenommen, verlassen zu werden und
für sich selbst sorgen zu müssen.
2.2.2
1.
2.
3.
4.
5.
6.
ICD-Kriterien (Forschungskriterien; F60.7)
Ermunterung oder Erlaubnis an andere, die meisten wichtigen Entscheidungen für
das eigene Leben zu treffen.
Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber deren
Wünschen.
Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung selbst angemessener Ansprüche gegenüber
Personen, von denen man abhängt.
Unbehagliches Gefühl, wenn die Betroffenen alleine sind, aus übertriebener
Angst, nicht für sich alleine sorgen zu können.
Häufiges Beschäftigtsein mit der Furcht, verlassen zu werden und auf sich selber
angewiesen zu sein.
Eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidungen zu treffen, ohne zahlreiche Ratschläge und Bestätigungen von anderen.
2.2.3
Empirisch validierte Charakteristika dependenter Störung
Die dependente Störung kann wie die anderen Persönlichkeitsstörungen auch als ein
Kontinuum gesehen werden, das von einem leichten Stil bis hin zu einer schweren Stö-
Die dependente Persönlichkeitsstörung: Beschreibung und Diagnostik
13
rung rangiert (vgl. Livesley, 1987; Widiger & Frances, 1987; Widiger & Sanderson,
1987, 1995; Witgins & Pincus, 1989).
Die Störung beinhaltet einen Aspekt, der Kosten verursacht, und einen Aspekt, der
Ressourcen impliziert (vgl. Bornstein, 1998; Sachse et al., 2010).
1. Kriterien der Störung
Auf der einen Seite wurden die Aspekte, die im DSM spezifiziert werden, empirisch
nachgewiesen (Agrawal & Rai, 1988; Beck et al., 2001; Beitz & Bornstein, 2006; Berg,
1974; Birtchnell & Kennard, 1983; Bornstein et al., 1986, 1987, 1996a, 1996b; Emery
& Lesher, 1982; Goldberg et al., 1989; Gude et al., 2004; Hirschfeld et al., 1977, 1991,
1995; Jackson et al., 1991; Keinan & Hobfoll, 1989; Masling et al., 1981; Perry, 2005;
Reich, 1996; Rossman, 1984; Sinha & Watson, 2004; Tribich & Messer, 1974; Weiss,
1969).
Auf der anderen Seite zeigt Bornstein (1993, 1997) auf, dass Dependente sich durch
mehr Charakteristika auszeichnen, als das DSM-IV aufzeigt.
Chen, Nettles und Chen (2009) machen deutlich, dass die Charakteristika einer dependenten Störung stark kulturabhängig sind und dass die DSM-Charakteristika typisch sind für westliche Industriegesellschaften (vgl. auch Chen, 2006).
2. Geschlechter-Bias
• Frauen erhalten im Durchschnitt höhere Werte für Dependenz als Männer (Banu &
Puhan, 1983; Bornstein, 1997; Conley, 1980; Evans, 1984; Hedayat & Kelly, 1991;
Jackson et al., 1991; Kass et al., 1983; Lao, 1980; Loranger, 1996; Oldham et al.,
1995; Overholser et al., 1989; Selvey, 1973; Steele, 1978; Vats, 1986).
• Frauen erhalten signifikant häufiger die Diagnose dependente Störung als Männer:
ca. 70% weiblich zu 30% männlich (Alnaes & Torgerson, 1988; Bornstein, 1996;
Jackson et al., 1991; Kass et al., 1983; Loranger, 1996; Oldham et al., 1995; Reich,
1987; Sharp, 1998).
• Das Ausmaß von Dependenz korreliert hoch mit westlichen Geschlechtsstereotypen
(Anderson, 1986; Cherniss, 1972; Chevron et al., 1975; McClain, 1978; Watson et
al., 1989; Zuroff et al., 1983).
3. Hilflosigkeit und Interaktionshandeln
• Dependente haben ein Konzept von eigener Hilflosigkeit und die Annahme, von anderen Unterstützung erhalten zu müssen (Bornstein, 1995b, 1996, 1997; Overholser,
1996).
• Dependente zeigen ein verstärktes Ausmaß von tatsächlich hilfesuchendem Verhalten (Bernardin & Jessor, 1957; Fisker & Greenberg, 1985; Flanders et al., 1961; Shilkret & Masling, 1981; Sroufe et al., 1983).
• Dependente nehmen an, es sei besser, sich den Wünschen und Bedürfnissen jener anzuschließen, die Unterstützung vermitteln (Main et al., 1985; Sroufe et al., 1983).
• Dependenten dient Passivität als Strategie, um hilflos zu erscheinen und auf diesem
Wege Hilfe zu erhalten (Bornstein et al., 1996a; Caspi et al., 1989).
14
Kapitel 2
• Dependente richten ihr Verhalten darauf aus, Beziehungen aufrechtzuerhalten und
beschützt zu werden (Bornstein et al., 1996a; Simpson & Gangestad, 1991).
• Dependente zeigen eine starke Erwartungsorientierung: Sie versuchen, den Wünschen und Erwartungen von Interaktionspartnern in hohem Maße zu entsprechen
(Agrawal & Rai, 1988; Biaggio et al., 1984; Bornstein & Masling, 1985; Gorton,
1975; Griffith, 1991; Levitt et al., 1962; Masling et al., 1981; Weiss, 1969).
4. Partner-Reaktionen
• Personen mit dependenter Störung erzeugen öfter negative Reaktionen bei Ehepartnern und mehr Unzufriedenheit bei Partnern als Personen mit anderen Persönlichkeitsstörungen (ausgenommen Borderline; South et al., 2008).
• Dependente haben den Eindruck, dass sie zu wenig Zuwendung von Partnern erhalten (Birtchnell & Kennard, 1983; Zuroff & DeLorimier, 1989).
• Personen mit dependenter Störung werden häufiger das Opfer ehelicher Vergewaltigungen als Personen ohne dependente Störung oder Personen mit anderen Persönlichkeitsstörungen (ausgenommen Borderline; Bornstein, 2006; Loas, Carmier &
Perez-Diaz, 2011).
5. Emotionen
• Personen mit dependenter Störung neigen dazu, die Emotion „Scham“ in stärkerem
Ausmaß zu erleben als Personen mit anderer Persönlichkeitsstörung (mit Ausnahme
selbst-unsichere Persönlichkeitsstörung; Schoenleber & Berenbaum, 2011).
• Personen mit dependenter Störung zeigen auch mehr Schuldgefühle als Personen mit
anderen oder ohne Persönlichkeitsstörungen (Sinha & Watson, 2006).
• Personen mit dependenter Störung zeigen besonders starke Ausprägungen von Alexithymie (was u.U. als Hinweise auf Alienation gewertet werden kann; Loas &
Carmier, 2008).
• Familien von dependenten Personen weisen eine geringere Expressivität und höhere
Kontrolle auf als Familien anderer Störungsgruppen (Head et al., 1991).
6. Komorbiditäten
• Dependente zeigen eine erhöhte Neigung zu Depression (Andrews & Brown, 1988;
Blatt et al., 1982; Chevron et al., 1978; Coyne & Whiffen, 1995; Hohanson & Butler,
1992; Johnson et al., 2005; Klein et al., 1988; Loranger, 1996; Nietzel & Harris,
1990; O’Neill & Bornstein, 1990; Overholser, 1996; Robins, 1990).
• Dependente zeigen mit höherer Wahrscheinlichkeit Essstörungen (Jacobson & Robins, 1989; Lenihan & Kirk, 1990; Tisdale et al., 1990; Wonderlich et al., 1990).
• Dependente entwickeln mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Somatisierungsstörungen (Hayward & King, 1990; Rost et al., 1992).
• Klienten mit dependenter Störung weisen Komorbiditäten mit sozialer Ängstlichkeit, Agoraphobie und Panikstörungen auf und zeigen auch eine Tendenz zu
Zwangsstörungen (Alnaes & Torgerson, 1988; Barzega et al., 2001; Bienvenu et al.,
2009; Bornstein, 1995; Chambless et al., 1992; Jansen et al., 1994; Lilienfeld & Pen-
Die dependente Persönlichkeitsstörung: Beschreibung und Diagnostik
15
na, 1994; Loas et al., 2002; McLaughlin & Mennin, 2005; Modestin et al., 1997; Ng
& Bornstein, 2005; Reich, 1996; Skodol et al., 1995; Torres & Del Porto, 1995).
• Dependente weisen eine verstärkte Neigung zu Alkoholismus auf (Bertrand & Masling, 1969; Evans, 1984; Greenberg & Bornstein, 1988; O’Neill et al., 1984; Overholser, 1992; Vogelsang, 1999).
7. Weitere Aspekte
• Dependente weisen eine erhöhte Suggestibilität auf (Jakubczak & Walters, 1959;
Ojha, 1972; Tribich & Messer, 1974; Zuckerman & Grosz, 1958).
• Dependente zeigen ein höheres Ausmaß an Bewertungsangst (Devito & Kubis,
1983; Goldberg et al. 1989; Schlenker & Weigold, 1990; Singh, 1981).
• Dependente zeigen häufiger Angststörungen und eine erhöhte Passivität in Bezug
auf die eigene Lebensgestaltung, verglichen mit nicht-dependenten Personen
(Greenberg & Bornstein, 1988).
• Dependente Störungen treten besonders häufig bei Unterschicht-Personen auf
(Reich, 1996).
• Dependente Interaktionsformen können bereits in kurzen Interaktionssequenzen
wahrgenommen werden (Leising et al., 2006).
• Dependente Kinder waren häufig in der Schule unbeliebter als nicht-dependente
Kinder (Gordon & Tegtemeyer, 1983).
• Bornstein (1995a, 1997, 2007; Bornstein et al., 1996a) geht davon aus, dass Dependente strategisches Handeln realisieren, um ihre Interaktionsziele zu erreichen. Er
nimmt an, dass Dependente dann stark passive, submissive Strategien anwenden,
wenn diese ihren Zielen dienlich sind, dass manche Dependente aber auch aktive, assertive Handlungen ausführen können, wenn das zielführend erscheint. Somit ist die
„aktive Dependenz“ nur eine Verhaltensstrategie zur Erreichung interaktioneller
Ziele (Bornstein et al., 1996b).
8. Die therapeutische Arbeit
• Dependente Personen nehmen schneller Psychotherapie in Anspruch als andere Personen (Greenberg & Fisher, 1977; Poldrogo & Forti, 1988).
• Dependente Klienten halten sich strenger an therapeutische Regeln als andere Klienten (Poldrugo & Forti, 1988).
• Klienten mit dependenter Störung neigen dazu, ihre Therapeuten als kontrollierender zu erleben (Trouw, 1997).
• Dependente Klienten brauchen mehr „Notfall-Sitzungen“ (Emery & Lesher, 1982).
• Dependente Klienten haben mehr Schwierigkeiten mit der Beendigung von Psychotherapie (Greenberg & Bornstein, 1989).
• Therapien, die auf dem Rational der Kognitiven oder Interaktionellen Therapie basieren, reduzieren Merkmale der dependenten Störung in signifikanter Weise (Borge
et al., 2010).
3
Störungstheorie der dependenten Störung
In diesem Kapitel wird ein psychologisches Funktionsmodell für die dependente
Störung auf der Grundlage des „Modells der Doppelten Handlungsregulation“
vorgestellt.
Im ersten Band dieser Reihe (Sachse, Sachse & Fasbender, 2010) wurde das Modell der
Doppelten Handlungsregulation als allgemeines „Funktionsmodell“ für Persönlichkeitsstörungen dargestellt, das zentrale psychologische Variablen definiert wie:
• Motivebene: Zentrale Beziehungsmotive
• Schemaebene: Dysfunktionale Selbst-Schemata und Beziehungsschemata
• Spielebene: Kompensatorische Schemata, manipulative Strategien und Kosten
Es wurde ausgeführt, dass diese Variablen für jede einzelne Störung spezifisch definiert
werden müssen (vgl. Sachse, 1999, 2001a, 2001b, 2004, 2005, 2006). Dies wollen wir
im Folgenden für die dependente Persönlichkeitsstörung tun.
3.1
Motivebene
Im Modell der doppelten Handlungsregulation wird davon ausgegangen, dass Personen zentrale Beziehungsmotive aufweisen, also zentrale Motive im Hinblick auf relevante Beziehungsaspekte, wobei sich verschiedene Persönlichkeitsstörungen darin unterscheiden, welche Motive zentral sind (vgl. Sachse, 1999, 2001b, 2004, 2006a).
Das zentrale Beziehungsmotiv der dependenten Persönlichkeitsstörung ist Verlässlichkeit: Personen mit dependenter Persönlichkeitsstörung weisen ein starkes Bedürfnis danach auf, Beziehungen als beständig, haltbar, überdauernd, zuverlässig einschätzen zu können. Eine Beziehung, so ist der Wunsch, soll eigentlich ewig halten, soll Belastungen und Konflikte überdauern, standfest sein; ein Partner soll in der Beziehung
bleiben und die Beziehung nicht infrage stellen. Er soll auch nicht mit Abbruch der Beziehung drohen, sondern deutlich machen, dass er die Beziehung aufrecht erhält, egal,
was auch immer passiert.
Ein weiteres wichtiges Beziehungsmotiv ist Solidarität: Es ist das Bedürfnis danach, dass der Partner fest an meiner Seite steht, wenn ich ihn brauche, dass er mir jederzeit Hilfe, Unterstützung und Schutz gewährt, dass ich mich an ihn anlehnen kann,
F
ür Therapeutinnen und Therapeuten sind Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung auf den ersten Blick kooperativ
und „pflegeleicht“; jedoch wird schnell deutlich, dass die Störung
hoch ich-synton ist, die Klienten keine Änderungsmotivation zeigen
und auf eine sehr spezielle Art manipulativ sind. Daher erweist sich die
Initiierung von Änderungsprozessen als äußerst schwierig.
Das Buch analysiert die relevanten Schemata und „Spielstrukturen“
von Klienten mit dependenter Persönlichkeitsstörung und das schwierige inner-therapeutische Interaktionsverhalten und stellt therapeutische Strategien zum konstruktiven Umgang damit bereit. In ausführlich kommentierten Transkripten werden die therapeutischen
Strategien illustriert, so dass diese gut nachvollziehbar und umsetzbar
sind. Spezifische schwierige Interaktionen im Therapieprozess werden
ebenfalls eingehend behandelt.
Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
herausgegeben von
Prof. Dr. Rainer Sachse, Prof. Dr. Philipp Hammelstein
und PD Dr. Thomas Langens
ISBN 978-3-8017-2515-0
9 783801 725150
Herunterladen