i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 1 — #1 i i Technische Mechanik Band 1: Statik i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 2 — #2 i i i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 3 — #3 i i Technische Mechanik Band 1: Statik von Peter Hagedorn Jörg Wallaschek 6., vollständig überarbeitete Auflage VERLAG EUROPA-LEHRMITTEL · Nourney, Vollmer GmbH & Co. KG Düsselberger Straße 23 · 42781 Haan-Gruiten Europa-Nr.: 56887 i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 4 — #4 i i Autoren: Prof. Dr. Peter Hagedorn vertritt an der Technischen Universität Darmstadt das Fach Technische Mechanik in Lehre und Forschung. Er hat jahrzehntelang Vorlesungen über Technische Mechanik und über Technische Schwingungslehre für Hörer unterschiedlicher Fachrichtungen gehalten. Professor Dr.-Ing. Jörg Wallaschek ist Direktor des Institutes für Dynamik und Schwingungen an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover und vertritt die Fächer Technische Mechanik und Maschinendynamik in der Fakultät für Maschinenbau. 6., vollständig überarbeitete Auflage 2014 Druck 5 4 3 2 1 ISBN 978-3-8085-5689-4 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. © 2014 by Verlag Europa-Lehrmittel, Nourney, Vollmer GmbH & Co. KG, 42781 Haan-Gruiten http://www.europa-lehrmittel.de Umschlaggestaltung: braunwerbeagentur, 42477 Radevormwald Druck: Medienhaus Plump GmbH, 53619 Rheinbreitbach i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 5 — #5 i i Vorwort zur fünften Auflage Die drei Bände zur Technischen Mechanik von Peter Hagedorn haben inzwischen große Verbreitung als Lehrbücher an Universitäten und Fachhochschulen gefunden. Mit der vorliegenden 5. Auflage ist Jörg Wallaschek als Ko-Autor dazu gekommen. Ein wesentlicher Teil der Überarbeitung der neuen Auflage durch den Erstautor erfolgte während Gastaufenthalten am Department of Mechanical Engineering der University of Canterbury, Christchurch, Neuseeland. Der Erstautor dankt dem Department für die freundliche Aufnahme und dafür, dass das Department die Infrastruktur zur Verfügung gestellt hat. Das bewährte Konzept zur Einführung der Grundbegriffe und mathematischen Hilfsmittel wurde beibehalten. Text, Abbildungen und Aufgaben wurden behutsam überarbeitet und an einigen Stellen ergänzt, um das Buch noch besser auf die Anforderungen der Ingenieur-Ausbildung abzustimmen. Die Abbildungen wurden farbig gestaltet, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Bei der Erstellung der Zeichnungen und des druckfertigen Manuskripts wurden wir von Herrn M. Sc. Henrik Westermann und Herrn Dipl. Ing. Martin Zimmermann sowie Frau Parsamanesh, Frau Wiechens und Herrn Ohrdes tatkräftig unterstützt, wofür wir herzlich Dank sagen. Dem Verlag Europa-Lehrmittel, der die Bände in der „Edition Harri Deutsch“ weiterführt, danken wir für die gute Zusammenarbeit. Darmstadt / Hannover, im August 2014 Peter Hagedorn [email protected] Jörg Wallaschek [email protected] i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 6 — #6 i i Vorwort zur vierten Auflage Dieser Band entspricht dem ersten Teil einer dreisemestrigen Vorlesung, die ich seit zirka 30 Jahren für Hörer verschiedener Fachrichtungen an der Technischen Universität Darmstadt halte; zwei weitere Bände behandeln die Festigkeitslehre und die Dynamik. Niveau und Aufbau der drei Bücher orientieren sich an den Lehrveranstaltungen, wie sie besonders für Ingenieur-Studenten an praktisch allen Hochschulen angeboten werden. Die unterschiedliche Vorbildung, die unsere Studenten von der Schule mitbringen, hat zur Folge, dass in den Vorlesungen für die Erstsemester Grundbegriffe und mathematische Hilfsmittel sehr elementar eingeführt werden müssen. Ich war in dem vorliegenden Buch bemüht, das Gebäude der Mechanik auf dem soliden Fundament dieser Grundlagen systematisch aufzubauen. Die freundliche Aufnahme des Buches, die sehr schnell Neuauflagen notwendig machte, zeigt mir, dass dies zumindest teilweise gelungen ist. Dank des Einsatzes der Herren Dipl.-Ing. Daniel Hochlenert und Dipl.-Ing. Florian Fischer war es möglich, in den vergangenen Monaten die gesamte Reihe von Grund auf zu überarbeiten, sodass die drei Bände jetzt zeitgleich in einem neuen Layout erscheinen, wobei die Bände 1 und 2 nun in der 4. Auflage und der dritte Band in der 3. Auflage vorliegen. Dabei wurden in allen drei Bänden zahlreiche Verbesserungen, neue Beispiele und – bei der numerischen Behandlung von Aufgaben mittels Matlab, insbesondere in den Bänden 1 und 3 – eine Reihe von Ergänzungen vorgenommen. Viele dieser Änderungen gehen direkt auf Anregungen der Herren Hochlenert und Fischer zurück, die auch die Erstellung der reproduktionsfähigen Vorlagen überwacht haben. Ich danke beiden für den unermüdlichen Einsatz, ohne sie wäre die Überarbeitung in dieser kurzen Zeit überhaupt nicht möglich gewesen. Manche Kollegen und viele Studenten haben mich in der Vergangenheit auf mögliche Verbesserungen hingewiesen, die hier eingearbeitet wurden. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Dem Verlag Harri Deutsch danke ich für die bewährt gute Zusammenarbeit. Peter Hagedorn i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page I — #7 i i Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 1.1. Was ist Technische Mechanik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2. Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3. Elemente der Vektorrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Statik des starren Körpers 2.1. Äquivalenz von Kräftegruppen am starren Körper . . . . . . . . . . . 2.2. Kräfte mit gemeinsamem Angriffspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Ebene Kräftegruppe am starren Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Kräfte mit verschiedenen Angriffspunkten . . . . . . . . . . . 2.3.2. Statik des starren Körpers (zeichnerisch) . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Moment einer Kraft bezüglich eines Punktes . . . . . . . . . 2.3.4. Moment eines Kräftepaares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5. Gleichgewichtsbedingungen, rechnerisch . . . . . . . . . . . . 2.4. Das Erstarrungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Räumliche Kräftegruppe am starren Körper . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Reduktion einer räumlichen Kräftegruppe, Gleichgewichtsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2. Moment einer Kraft bezüglich einer Achse . . . . . . . . . . . 2.5.3. Zentralachse, Kraftschraube∗ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 19 19 29 29 34 40 42 44 53 68 68 70 80 83 3. Schwerpunkt 87 3.1. Schwerpunktbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2. PAPPUS-GULDINsche Regeln∗ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Haftung und Reibung 105 4.1. Reibung zwischen starren Körpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2. Seilreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5. Fachwerke 123 5.1. Ebene und räumliche Fachwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6. Balken und Rahmen 6.1. Schnittgrößen am Balken . . . 6.2. Ebene Rahmen und Bögen . . . 6.3. Räumliche Rahmen und Bögen 6.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 141 164 170 173 i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page II — #8 i i II Inhaltsverzeichnis 7. Statik der Seile∗ 175 7.1. Seil bei vorgegebener Streckenlast q(x) . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 7.2. Seil unter Eigengewicht q(s) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 7.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 8. Prinzip der virtuellen Verrückungen 8.1. Arbeit einer Kraft . . . . . . . . . . . . . 8.2. Virtuelle Verrückungen . . . . . . . . . . . 8.3. Arbeit und potenzielle Energie, Stabilität 8.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 185 186 193 207 9. Aufgaben mit Lösungen 9.1. Ebene und räumliche Tragwerke . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1. Ebenes Fachwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2. Räumlicher Ausleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.3. Tetraederförmiges Fachwerk . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.4. Räumlich belasteter abgewinkelter Balken . . . . . . . 9.1.5. Viertelkreisbogen unter Streckenlast und Einzellasten 9.1.6. Räumlich abgewinkelter Balken . . . . . . . . . . . . . 9.1.7. Rückstauklappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.8. Gekippter Quader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2. Haftung und Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1. Klemmende Schublade . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2. Bremsvorrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3. Schubkarre auf schiefer Ebene . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4. Walzen mit Treibriemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.5. Hebevorrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.6. Sperre mit Drehfeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.7. Seilklemmvorrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.8. Freilauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.9. Rohrhebemechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3. Schnittgrößen an Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1. Balken mit Seil und Streckenlast . . . . . . . . . . . . 9.3.2. Balken mit Unterzug und Spannschloss . . . . . . . . 9.3.3. Dreigelenkbogen mit Seil . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4. Dreigelenkbogen mit Fachwerk . . . . . . . . . . . . . 9.3.5. Tragwerk in Form einer Stehleiter . . . . . . . . . . . 9.3.6. Gerber-Träger mit parabelförmiger Belastung . . . . 9.3.7. Bogen und Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.8. Rahmentragwerk mit Parallelführung . . . . . . . . . 9.3.9. Rahmen mit Strecken- und Einzellast . . . . . . . . . 9.3.10. Halbkreisträger mit Streckenlast . . . . . . . . . . . . 9.3.11. Quer belasteter ebener Rahmen . . . . . . . . . . . . . 9.3.12. Kurbelmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 211 211 212 215 216 219 222 227 229 232 232 235 236 238 240 242 244 247 248 252 252 254 256 258 261 264 267 269 272 274 276 278 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page III — #9 i i Inhaltsverzeichnis III 9.4. Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1. Abrollende Scheibe mit Feder . . . . . . . . . . . . 9.4.2. Kritische Last eines Balkensystems mit Drehfeder 9.4.3. Stabwerk mit Drehfeder, Umlenkrolle und Gewicht 9.4.4. Hebelmechanismus mit Feder . . . . . . . . . . . . 9.4.5. Gefederter Hebel mit Gewichten . . . . . . . . . . 9.4.6. Kurbelgetriebe mit Feder . . . . . . . . . . . . . . 9.4.7. Auf Parabel geführtes Federende . . . . . . . . . . 9.4.8. Auf Sinuslinie geführter Körper . . . . . . . . . . . 9.4.9. Hebevorrichtung mit Kniegelenk . . . . . . . . . . A. MATLAB-Aufgaben A.1. Lineare Gleichungssysteme in Matrixschreibweise . . . . A.2. Gleichgewicht von Kräftegruppen am räumlichen starren A.3. Schwerpunktberechnung für Massenpunktsysteme . . . . A.4. Schwerpunktberechnung symbolisch . . . . . . . . . . . A.5. Räumliche Fachwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.6. Schwerpunkt einer axialsymmetrischen Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 280 282 283 284 286 287 289 291 292 . . . . . Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 295 298 300 301 305 309 B. Schwerpunktkoordinaten 313 Index 317 Die mit ∗ gekennzeichneten Abschnitte können bei einer ersten Lektüre weggelassen werden. i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 53 — #63 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip 53 sind aber nicht mehr ausreichend, um die vier unbekannten Kräfte AH , AV , B, D zu errechnen. Gleichwohl ist es aber möglich, die Lagerkräfte zu berechnen, wenn Informationen über die Vorspannung des Systems gegeben sind. Falls z. B. bekannt ist, dass die Federn in der unverformten Lage des Systems entspannt sind können die Federkräfte mithilfe der geometrischen Beziehungen (2.83), (2.84) als AV = cA fA = c (2f1 − f2 ), (2.90) B = cB f1 = 2c f1 , (2.91) D = cD fD = 3c (2f2 − f1 ). (2.92) in Abhängigkeit der gesuchten Verschiebungen ausgedrückt werden, womit uns drei weitere Gleichungen zur Verfügung stehen in denen aber nur zwei weitere Unbekannte, nämlich die Verschiebung f1 und f2 , auftreten. Mit (2.87) bis (2.92) stehen uns jetzt sechs Gleichungen zur Berechnung der sechs Unbekannten (AH , AV , B, D, f1 , f2 ) zur Verfügung. Das Auflösen ergibt schließlich AH = 0, AV = 18F1 + 7F2 , 53 9F1 + 30F2 , 53 26F1 + 16F2 B= , 53 D= 13F1 + 8F2 , 53c 8F1 + 9F2 f2 = . 53c f1 = (2.93) (2.94) Im Gegensatz zu dem statisch bestimmten Fall konnte hier die Berechnung der Lagerkräfte und Verschiebungen nicht nacheinander erfolgen, sondern musste gleichzeitig durchgeführt werden. 2.4 Systeme starrer Körper in der Ebene, das Erstarrungsprinzip Bisher haben wir uns lediglich mit dem Gleichgewicht einzelner starrer Körper befasst; in diesem Abschnitt behandeln wir Systeme, die aus mehreren starren Körpern bestehen. Wir sagen, dass eine gegebene Kräftegruppe an einem System starrer Körper im Gleichgewicht steht, wenn sich jeder einzelne der Körper im Gleichgewicht befindet. Will man daher Gleichgewichtsbedingungen für das System angeben, so schneidet man zunächst die einzelnen starren Körper frei, wobei die Schnittkräfte freigelegt werden. Wir betrachten das System der Abb. 2.36a, das eine Hinterachse eines PKW darstellt. Es besteht aus einem starren Körper K, vier als starr angenommenen Balken B1 , B2 , B3 , B4 , von denen je zwei als Parallellenker angeordnet sind, den beiden Schraubenfedern S1 , S2 , sowie den beiden jeweils als starr angenommenen Radeinheiten R1 und R2 . Auch die Räder mit den Reifen werden an dieser Stelle vorläufig als starr angenommen. Abb. 2.36b zeigt das Freikörperbild dazu. Die einzelnen starren Körper sowie i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 54 — #64 i i 54 2. Statik des starren Körpers F1 M F2 F3 K R1 R2 (a) System S1 S2 B1 B3 B2 B4 (b) Freikörperbild 2.36.: Hinterachse eines PKW die Schraubenfedern sind mit den auf sie wirkenden eingeprägten Kräften und den Schnittkräften dargestellt. Dabei treten die Schnittkräfte zweimal auf und wirken jeweils als actio und reactio auf unterschiedliche Körper (Schnittprinzip). Für jeden der starren Körper der Abb. 2.36b können nun die drei Gleichgewichtsbedingungen der Statik formuliert werden. i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 55 — #65 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip 55 Für das Gesamtsystem gilt das Erstarrungsprinzip: Damit ein System unter der Wirkung von gegebenen Kräften im Gleichgewicht ist, ist es notwendig und hinreichend, dass jedes Teilsystem sich im Gleichgewicht befindet. Das Erstarrungsprinzip gilt nicht nur für Systeme aus starren Körpern, sondern für beliebige, auch für verformbare Körper, ja sogar für Flüssigkeiten und Gase. Wir erklären es anhand des Beispiels der Abb. 2.37. Das System dieser Abbildung besteht F1 F2 F3 F4 R1 R2 G A B 2.38.: Allgemeine Struktur des Dreigelenkbogens 2.37.: Beispiel eines Dreigelenkbogens aus zwei starren Körpern, die über ein (zweiwertiges) Gelenk miteinander verbunden sind und außerdem jeweils für sich zweiwertig in den Auflagerpunkten A, B gelagert sind. Man bezeichnet ein System dieser Art als Dreigelenkbogen. In Abb. 2.38 ist die allgemeine Struktur des Dreigelenkbogens dargestellt, wobei die auf die beiden Körper wirkenden eingeprägten Kräfte schon jeweils zu ihrer Resultierenden zusammengefasst sind. Abb. 2.39 zeigt das Freikörperbild des Dreigelenkbogens der Abb. 2.37. Es sind sechs Zwangskräfte AH , AV , BH , BV , GH und GV vorhanden und zu ihrer Bestimmung stehen sechs Gleichungen zur Verfügung, nämlich jeweils drei unabhängige Gleichgewichtsbedingungen für jeden der beiden starren Körper. Für den Körper I können z. B. die Gleichgewichtsbedingungen X X X (P ) Fix = 0, Fiy = 0, Mi = 0, (2.95) I I I und für den Körper II die Gleichungen X X X (P ) Fix = 0, Fiy = 0, Mi = 0 II II (2.96) II formuliert werden. Dabei ist der Bezugspunkt P in den Momentengleichungen beliebig zu wählen und die Summen erstrecken sich jeweils über die auf den Körper I bzw. Körper II wirkenden Kräfte. Durch Addition der jeweiligen Gleichungen (2.95) und (2.96) folgt auch X X X (P ) Fix = 0, Fiy = 0, Mi = 0, I+II I+II (2.97) I+II i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 56 — #66 i i 56 2. Statik des starren Körpers wobei in den Summen jetzt alle an dem Gesamtsystem wirkenden Kräfte berücksichtigt werden. Es gelten also nicht nur die Kräfte- und Momentengleichungen für die einzelnen starren Körper, sondern auch vollkommen analoge Gleichgewichtsbedingungen für das Gesamtsystem, wobei das Lager in G als starr angesehen werden kann. Da die inneren Kräfte GH , GV dabei zweimal, nämlich als actio und als reactio auftreten, sind sie in (2.97) nicht mehr enthalten. F1 F2 GV F3 F4 F1 F2 F3 F4 GH I II starr GV y AH AV x 2.39.: Freikörperbild zum System der Abb. 2.37 BH BV AH BH AV BV 2.40.: Zum Erstarrungsprinzip Für das System der Abb. 2.40 gelten also die drei Gleichungen (2.97) mit den vier Unbekannten AH , AV , BH und BV . Diese Gleichungen reichen nicht zur Bestimmung dieser Auflagerkräfte aus. Dazu ist vielmehr zusätzlich noch eine Gleichgewichtsbedingung für einen der Einzelkörper notwendig. Will man jedoch alle sechs Zwangskräfte der Abb. 2.39 berechnen, so sind zwei weitere Gleichungen nötig. Ein System wie das der Abb. 2.40 bezeichnet man als äußerlich statisch unbestimmt. Insgesamt gesehen ist ein Dreigelenkbogen natürlich immer statisch bestimmt. Wir führen die Berechnungen an dem etwas einfacheren Dreigelenkbogen aus zwei Balken der Abb. 2.41a durch. Das Freikörperbild zu diesem System ist in Abb. 2.41b angegeben. Wir könnten nun die je 3 Gleichgewichtsbedingungen für Körper I und Körper II in beliebiger Reihenfolge anschreiben und würden so ein lineares Gleichungssystem von 6 Gleichungen für genau so viele Unbekannte erhalten. Dieses könnte dann mit den Standardmethoden der Mathematik gelöst werden. Es ist jedoch zweckmäßig, die Gleichgewichtsbedingungen von vornherein im Hinblick auf die Lösbarkeit aufzustellen. Bei dem von uns hier untersuchten System beginnen wir mit einer Momentenbedingung für den Körper I: X (A) Mi = 0 : 2 a GH − 2 a GV − a F = 0 1 I =⇒ GH − GV = F (2.98) 2 und schreiben als zweites eine analoge Momentengleichung für das System II, die ebenfalls nur die beiden Unbekannten GH , GV enthält X (B) Mi = 0 : −2 a GH − 2 a GV + a F = 0 1 II =⇒ GH + GV = F. (2.99) 2 i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 57 — #67 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip 57 GV GH G F F a A a a II GV F y B a GH I 2a F AH AV x a BH BV (a) System (b) Freikörperbild 2.41.: Dreigelenkbogen Aus (2.98) und (2.99) folgt GV = 0, GH = 1 F. 2 (2.100) Weiter gelten für den Körper I die beiden Kräftegleichungen X Fix = 0 : AH − GH = 0 Fiy = 0 : AV − F − GV = 0 =⇒ 1 F, 2 (2.101) =⇒ AV = F. (2.102) =⇒ 1 BH = − F, 2 (2.103) AH = I X I Für den Körper II schreiben wir ebenfalls X Fix = 0 : GH − F − BH = 0 Fiy = 0 : GV + BV = 0 II X =⇒ BV = 0. (2.104) II Damit sind die Auflagerkräfte in A und B sowie die Gelenkkräfte in G eindeutig bestimmt. y F x AH AV F BH BV 2.42.: Dreigelenkbogen der Abb. 2.41a, Gesamtsystem freigeschnitten i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 58 — #68 i i 58 2. Statik des starren Körpers Zur Probe stellen wir die Gleichgewichtsbedingungen für das Gesamtsystem der Abb. 2.42 auf und erkennen, dass X X X (A) Fix = 0, Fiy = 0, Mi = 0 (2.105) I+II I+II I+II gilt. Der Vollständigkeit halber lösen wir das gleiche Problem auch zeichnerisch. Dabei bemerken wir zunächst, dass alle bisher formulierten Gleichgewichtsbedingungen linear in den Kräften sind; dies gilt sowohl für die Kräftegleichungen als auch für die Momentengleichungen. Aus der Linearität folgt eine wichtige Eigenschaft, die wir zuerst formelmäßig untersuchen und dann bei der zeichnerischen Lösung verwenden. In Matrixschreibweise kann ein lineares Gleichungssystem in der Form Ax = f (2.106) geschrieben werden. Hierbei ist A = (aij ) (2.107) die n × n–Matrix der Koeffizienten des Gleichungssystems, f = (f1 , f2 , . . . , fn ) T (2.108) die Spaltenmatrix der rechten Seite und T x = (x1 , x2 , . . . , xn ) (2.109) die Spaltenmatrix der Unbekannten. Die einfache Unterstreichung kennzeichnet x als Spaltenmatrix und die doppelte Unterstreichung kennzeichnet A als zweifach indizierte Matrix. Bei den hier vorliegenden Problemen der Statik beinhaltet f die eingeprägten Kräfte sowie deren Momente und x die zu bestimmenden Zwangskräfte. Es ist leicht zu überprüfen, dass A x1 = f 1 , A x2 = f 2 =⇒ Ax = f (2.110) gilt mit x = x1 + x2 , f = f 1 + f 2. (2.111) Sind also Lösungen x1 , x2 von (2.106) für die rechten Seiten f = f 1 und f = f 2 bekannt, so kann man die Lösung für die rechte Seite f = f 1 + f 2 einfach aus der Summe (Überlagerung) dieser beiden Lösungen gewinnen. Diese Eigenschaften (Superposition) kann man sich sowohl bei der rechnerischen, als auch bei der zeichnerischen Lösung von Statikaufgaben zunutze machen. Wir verwenden sie hier zunächst bei der zeichnerischen Bestimmung der Auflager- und Gelenkkräfte des Dreigelenkbogens der Abb. 2.41a. i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 59 — #69 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip 59 F F A B A Lastfall 1 B Lastfall 2 2.43.: Bestimmung der Auflagerkräfte durch Überlagerung In Abb. 2.43 ist der Dreigelenkbogen mit zwei verschiedenen Belastungen dargestellt, deren Überlagerung gerade wieder dem ursprünglichen Problem entspricht. In jedem dieser beiden Fälle wirkt nur jeweils auf einen der beiden Körper eine Last. Der andere starre Körper ist unbelastet und wirkt somit als Pendelstütze, d. h. er überträgt nur Kräfte längs der Verbindungslinie seiner Gelenke (wie der Balken der Abb. 2.29). In jedem der beiden Teilprobleme der Abb. 2.43 ist daher eine sehr einfache Aufgabe zu lösen: Es sind lediglich die Auflagerkräfte eines starren Körpers zu bestimmen, der an einem Punkt zweiwertig gelagert ist und noch über eine Pendelstütze abgestützt wird. Die zeichnerischen Lösungen für die Lastfälle 1 und 2 sind in Abb. 2.44 und Abb. 2.45 angegeben. Nach dem Superpositionsprinzip, das formelmäßig durch (2.110), (2.111) ausgedrückt wurde, ergeben sich die Auflagerkräfte aus der Summe der beiden Anteile (s. Abb. 2.46). Auch die Gelenkkraft kann so durch Überlagerung leicht bestimmt werden. A1 F F B2 A2 B1 2.44.: Lage- und Kraftplan, Lastfall 1 F F 2.45.: Lage- und Kraftplan, Lastfall 2 Im Lastfall 1 ist B1 , mit der im Kraftplan eingezeichneten Richtung, auch gleichzeitig die Gelenkkraft, die auf den linken Körper wirkt. Im Lastfall 2 ist A2 , mit der im Kraftplan eingezeichneten Richtung, auch gleichzeitig die Gelenkkraft, die auf den rechten Körper wirkt. Die im Lastfall 2 auf den linken Körper wirkende Gelenkkraft ist gleich groß und entgegengesetzt gerichtet, d. h. −A2 . Dementsprechend ergibt die Superposition der beiden Lastfälle als Gelenkkraft, die auf den linken Körper wirkt G = B1 − A2 . Die Gelenkkraft, die auf den rechten Körper wirkt ist gleich groß und entgegengesetzt gerichtet. i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 60 — #70 i i 60 2. Statik des starren Körpers A2 A1 B2 A A2 B1 G B (a) zur Bestimmung der Lagerkräfte B 1 A2 B1 G (b) zur Bestimmung der Gelenkkraft 2.46.: Überlagerung der beiden Lastfälle Am Beispiel des Dreigelenkbogens der Abb. 2.47 führen wir nun noch den Begriff des eingeprägten Momentes ein. Dazu betrachten wir den Dreigelenkbogen mit der Belastung durch ein Kräftepaar. In Abb. 2.47a wird das Kräftepaar durch die Kräfte P und −P gebildet, die beide auf den starren Körper GB wirken. Der Hebelarm ist b und das Moment des Kräftepaares P b. Auch in den beiden Lastfällen der Abb. 2.47b und Abb. 2.47c wirken Kräftepaare auf den starren Körper GB, die das gleiche Moment P b erzeugen und demnach zueinander äquivalent sind. In allen Lastfällen ergeben sich die gleichen Auflager- und Gelenkkräfte für das System. Es ist daher üblich, nicht das spezielle Kräftepaar als Belastung anzugeben, sondern lediglich dessen Moment. Dementsprechend ist in den Abb. 2.47d und Abb. 2.47e ein runder Pfeil eingetragen, der dem „eingeprägten Moment“ ME = P b entspricht. Der Ort, an dem das eingeprägte Moment (das wir uns immer durch ein Kräftepaar mit sehr kleinem Hebelarm erzeugt vorstellen können) auf den Körper GB wirkt, ist bezüglich der Lagerkräfte irrelevant und lediglich von Bedeutung, wenn man sich für die Verteilung der inneren Kräfte interessiert. Also sind bei der Berechnung der Lagerkräfte alle Lastfälle der Abb. 2.47 gleichwertig. In Abb. 2.48 ist der gleiche Dreigelenkbogen ebenfalls durch ein Kräftepaar mit dem Moment P b belastet, wobei jedoch die beiden Kräfte P und −P auf unterschiedliche Körper wirken. In diesem Lastfall ergeben sich andere Auflager- und Gelenkkräfte als im Fall der Abb. 2.47: Die Lastfälle der Abb. 2.47 und der Abb. 2.48 sind nicht zueinander äquivalent! Nur an ein und demselben starren Körper darf ein Kräftepaar durch ein beliebiges anderes gleichen Moments ersetzt werden! Wir wollen nun die Auflager- und Gelenkkräfte für den durch zwei Kräfte und ein eingeprägtes Moment belasteten Dreigelenkbogen der Abb. 2.49a berechnen. Das entsprechende Freikörperbild ist in Abb. 2.49b angegeben. Die Gleichgewichtsbedingungen für den Körper I sind so, wie im Fall der Abb. 2.41b, d. h. (2.98) gilt unverändert. In der Momentengleichung (2.99) für den Körper II ist jetzt zusätzlich das eingeprägte Moment zu berücksichtigen, so dass diese Gleichung durch X (B) Mi =0: −2 a GH − 2 a GV + ME + a F = 0 II =⇒ GH + GV = 1 ME F+ 2 2a (2.112) i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 61 — #71 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip P G 61 b b/2 G 2P (a) (b) P 2P B A A B b/10 G G 10P (c) ME (d) A 10P B A B G (e) ME A 2.47.: Durch eingeprägtes Moment (Kräftepaar) belasteter Dreigelenkbogen B b P G P A B 2.48.: Dreigelenkbogen, Belastung nicht äquivalent zu Abb. 2.47 zu ersetzen ist. Mit (2.98) folgt daraus GH = 1 ME F+ , 2 4a GV = ME , 4a und auch die Auflagerkräfte ME 1 F+ , 2 4a 1 ME , BH = − F + 2 4a sind leicht zu berechnen. AH = AV = F + BV = − ME , 4a ME 4a i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 62 — #72 i i 62 2. Statik des starren Körpers GV GH F F ME A GH GV 2a F AH ME F B AV a a a BH y x a BV (b) Freikörperbild (a) System 2.49.: Dreigelenkbogen, durch Kräfte und eingeprägtes Moment belastet Im folgenden behandeln wir noch drei weitere Beispiele ebener Systeme starrer Körper. Im ersten Beispiel untersuchen wir den idealisierten Sägebock der Abb. 2.50. g glatt m a b l α α glatt Seil 2.50.: Sägebock Alle Auflagerkräfte sowie die zwischen den einzelnen Körpern auftretenden Zwangskräfte sollen berechnet werden. In Abb. 2.51 ist das Freikörperbild angegeben. Die Gelenkkraft zwischen den Körpern II und III ist durch die Komponenten C, D dargestellt und S ist die Seilkraft. Die Berührflächen zwischen Körper I und den beiden Balken II und III sowie zwischen den Balken und dem Boden seien glatt, sodass insgesamt 7 Zwangskräfte zu bestimmen sind, wofür uns je 3 Gleichgewichtsbedingungen für jeden Balken und 2 Gleichgewichtsbedingungen für Körper I zur Verfügung stehen. Das System ist beweglich, es kann keine Kräfte in horizontaler Richtung aufnehmen. Die lotrechten Auflagerkräfte bestimmt man im vorliegenden Fall am einfachsten durch Gleichgewichtsbedingungen am Gesamtsystem (Abb. 2.52). i i i i i i “tm1buch” — 2014/9/10 — 17:07 — page 63 — #73 i i 2.4. Das Erstarrungsprinzip 63 Hier gilt (E) X Mi X Fiy = 0 : Bl sin α − Al sin α = 0 =0: =⇒ A = B, A + B − mg = 0, (2.113a) (2.113b) und daraus folgt A = B = mg/2. (2.114) Dieses Ergebnis hätte man auch unmittelbar anschaulich anhand der Symmetrie des Systems erkennen können. mg I mg N1 N2 D α α C H II H C III l D α α S S y α B x E A α A 2.51.: Freikörperbild B 2.52.: Gesamtsystem nach außen freigeschnitten Zur Bestimmung der restlichen Zwangskräfte werden Gleichgewichtsbedingungen für die einzelnen Körper benötigt. Für den Körper I schreiben wir zunächst X Fix = 0 : N1 cos α − N2 cos α = 0 =⇒ N1 = N2 , (2.115a) I X Fiy = 0 : N1 sin α + N2 sin α − mg = 0, (2.115b) I und daraus folgt N1 = N2 = mg . 2 sin α (2.116) Bezeichnen wir das Gelenk zwischen den Körpern II und III mit H, so gilt für den Körper II X (H) Mi = 0 : N1 a − Sb cos α + Bl sin α = 0 , (2.117) II i i i i