Heiner Keupp Grenzüberschreitende Normalitäten. Ein sozialpsychologischer Blick auf Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Vortrag bei dem SPZ-Symposion am 24. November 2016 in Winterthur Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten „Ewig wahr bleibt aber der Satz, dass die vergangenen Epochen die Ahnen der Gegenwart sind. Wehe dem, der aus ihnen nichts lernt!“ P. Rudolf Hundsdorfer, 104. Jahresbericht des Stiftsgymnasiums Kremsmünster, Schuljahr 1961 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Teil 1 2 Studien und ihr Auftrag Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Studien suchten Antworten auf folgende Fragen: 1. Wie waren diese Missbrauchs- und Misshandlungsvorfälle überhaupt möglich? 2. Warum konnten die Taten nicht verhindert werden? 3. Warum hat es so lange gedauert bis diese ans Licht der Öffentlichkeit kamen? 4. Warum existieren so viele unterschiedliche Wahrnehmungen an die gleiche Zeit im Internat? 5. Lassen sich diese Fragen aus dem Gesamtzusammenhang der Klöster beantworten? Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Wie kam es zu den Studien? 1. Die Veröffentlichung des Missbrauchs am Canisiuskolleg 2010 initiierte in beiden Klosterinternaten einen Prozess der Aufdeckung. 2. Es waren ehemalige Schüler, die ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Misshandlungen veröffentlichten. 3. Der Zusammenschluss von ehemaligen Schülern in Selbsthilfegruppen und in Internetforen hat einen Empowermentprozess ermöglicht, aus dem handlungsfähige Gruppen entstanden, die die Klöster mit ihren Forderungen nach Aufarbeitung unter Druck setzen konnten. 4. Eine Forderung war die Beauftragung eines unabhängigen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts mit einer qualitativen Studie. 5. Die Klöster selbst hätten diese Aufträge von selbst nie erteilt. Insofern waren die ehemaligen Schüler unser Auftraggeber. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Studien basieren auf qualitativen Interviews mit ehemaligen Schülern, von denen ein Großteil Erfahrungen mit physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt hatten Klosterangehörige (darunter Äbte, Internatsdirektoren, Präfekten), von denen eine Reihe Täter waren ExpertInneninterviews (Ombudsleute, Mediatoren) Internetforen der ehemaligen Schüler Archivmaterialien Polizei-, Gerichts- und Psychiatriedokumente Auswertung von Medien Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Berichte beziehen sich auf… (selbst erfahren Anteil der Gewaltformen in Kremsmünster - in% Anteil) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Wann hat die Gewalt stattgefunden? Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Methodische Einschränkungen dieser Studien • Befragt konnten nur die ehemaligen Schüler, die sich freiwillig bei uns gemeldet haben. • Die Gewinnung von Interviewpartnern erfolgte über die Internetforen und über die Klassensprecher der Altkremsmünsterer. • Es ist kaum gelungen, ehemalige Schüler zu erreichen, die das Internat vor der Matura verlassen haben. • Gemeldet haben sich vermutlich Personen, die besonders negative Erfahrungen gemacht haben, aber auch solche, die ihre positiven Internatserfahrungen mitteilen wollten. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Teil 2 Es gibt „viele Ettals/Kremsmünsters“ zur Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen und Erinnerungen Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Es gibt viele Kremsmünsters Mein Kremsmünster – Mein Kremsmünster – positive Erinnerungen negative Erinnerungen „Ich hab‘ das sehr positiv in Erinnerung, weil ich war schon als Kind auf Pfadfinderlagern, wurde oft schon verschickt für eine Woche oder zwei mit anderen Kindern in so einem Setting.“ „Der Tag meiner Matura war sozusagen der größte Tag meines Lebens; aber nicht, weil ich die Matura geschafft hab’, sondern weil ich endlich diesen Wahnsinn da los wurde.“ „.. da musst du positiv zugeben, das war eine Erziehung, ein Anschauungsunterricht, wie er einfach nicht mehr wo geboten werden kann.“ „Also mein größter Vorwurf an Kremsmünster ist sicher, dass man‘s nicht geschafft hat, die Kinder zu beschützen.“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Bewertungen? Selektionsprozesse prägen unsere Erfahrungen Selektionen in der Wahrnehmung einer Situation Selektion, in dem was man abspeichert und erinnert Selektion als Abwehr unerträglicher Erinnerungen !! Selektion ist Normal: „Die Fähigkeit zur Selektion ist eine der wichtigsten Leistungen des menschlichen Gehirns“ (D.Kahneman) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Selektivität der Wahrnehmung (1) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Selektivität der Wahrnehmung (2) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Selektivität der Wahrnehmung (3) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten „Fragmentierte Erinnerungen“ als Normalfall Es ist die Aufgabe der Forschung, die selektiven und widersprüchlichen Erinnerungen zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Teil 3 Die erfahrene Gewalt und ihre Folgen Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Gewaltformen Psychische Gewalt Körperliche Gewalt Sexualisierte Gewalt Zeugenschaft von Gewalt Kombinierte Gewaltformen Sexualisierte Gewalt Mönche/Erzieher Zuschauer/Dulder Mitschüler Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Auswirkungen der Gewalt Initial: chronisch: Heimweh Unspezifische Folgen Entfremdung Selbstschädigung Sprachlosigkeit Somatische Reaktionen Schuldverschiebung / Schuldumkehr Schuldproblematik Angst /Wachsamkeit Angst / Wachsamkeit Emotionale Taubheit Probleme bei der Lebensbewältigung Soziale u. Beziehungsprobleme Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Auswirkungen der Gewalt Gewalt in Kremsmünster stellte für viele Schüler ein hohes Entwicklungsrisiko mit Langzeitfolgen dar. Und weite Teile dieser Erfahrungen erfüllen alle Kriterien von traumatischen Erlebnissen: Initial und chronisch: • Ausweglosigkeit/Anpassung/Unterwerfung • Emotionale Taubheit • Hypervigilanz/ständige Wachsamkeit • Unwillkürliche Wiedererinnerungen • Habituation • Vermeidung/Einschränkung v. Entfaltungsmöglichkeiten • Traumatische Amnesien • Traumatische Bindungen Diagnosekriterien der traumabezogenen Entwicklungsstörung A1: Multiple oder chronische interpersonelle Traumatisierung (direkt oder indirekt). A2: Verlust protektiver Bezugspersonen Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Auswirkungen auch bei den Angehörigen – bis heute Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Gefühl von Ohnmacht Aus dem Interview mit der Partnerin eines Opfers „… Und ich hab‘ auch gemerkt bei mir selber, dieser Schmerz über das was meinem Mann passiert ist löst auch aus, dass man irgendwann mal wütend wird. Und durch das gibt’s dann viel mehr Konflikte, weil man kommt kaum noch zum Sprechen, weil etwas anderes ansteht bei ihm, weil er schwerer zugänglich ist, ja? Und gleichzeitig ich emotional viel verletzlicher bin. Und wir haben dann immer wieder auch sehr offen drüber gesprochen, dass halt jetzt die Zeit ist, wo er das Gefühl hat, jetzt muss er, jetzt muss er das machen. Und das ist in so Wellen verlaufen.“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Gefühl von Ohnmacht Aus dem Interview mit der Partnerin eines Opfers Also wo ich gemerkt hab‘, dass ich das Vertrauen zu meiner Kraft alles zu bewältigen verlieren, vor allem durch diese Ohnmachtgefühle, durch dieses Gefühl nichts tun können, gegen einen übermächtigen Gegner zu kämpfen, gleichzeitig gedemütigt zu werden, den Schmerz auszuhalten, der hochkommt, wenn ich meinen Mann sehe … (weint) wo ganz viel schlechtes Gewissen auch meinerseits da ist, weil ich g’merkt hab‘, ich kann nicht mehr, und mach‘ ihn dann dafür verantwortlich oder zweifel‘ seinen Weg an oder stell‘ ihn infrage … Was dann ein paar Tage später überhaupt nicht mehr so war wo ich mir denk‘, das sind Steine, die ich ihm wahrscheinlich zusätzlich in den Weg gelegt hab‘ dadurch, dass ich nicht sagen konnte: Ich trag‘ das einfach, ohne dass …(weint) … ohne dass es wehtut. (weint) I: Haben Sie sich da gewünscht, dass er damit aufhört, sich damit so aktiv zu beschäftigen? A: Nein. … Ich hab‘ mir g’wünscht, wie ein kleines Kind, dass unser Alltag wieder ist so ist wie er früher war…. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Der Zorn, den ich in mir hab‘, ist, dass das System so versagt hat. „Der Zorn, den ich in mir hab‘, ist, dass das System so versagt hat.“ (ehemaliger Schüler mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Teil 4 Binnen- und Außenverhältnis eine systematsierte Erklärung der Ursachen der Misshandlungen, ihrer Nicht Verhinderung und des Jahrzehnte währenden Schweigens Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Katholische Kirche Kloster Binnenstruktur des Internats Folgen der Klosteranbindung Tradition Herrschende/ akzeptierte (Elite) Internat Pädagogik Pädagogische Profil Begleitrolle der Eltern Lebenswelt Internat Internatskontext Elternhaus Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Internat im Kontext von katholischer Kirche und ihrer Eigenwelt Eine Institution, die ihre eigene Rechtsordnung entwickelt hat und die älter ist als alle staatlichen Rechtsordnungen, tendiert dazu, sich in ihrer Eigenwelt abzuschotten und sich die Reaktion auf Verfehlungen selbst vorzubehalten. Diese Haltung verhindert einen transparenten und offenen Umgang mit Missbrauch und Misshandlungen und wird von der Zivilgesellschaft als Vertuschung oder Verharmlosung wahrgenommen. “Ich glaub‘, dass wir damals, ich mit eingeschlossen, noch ganz stark in diesem kirchlichen Denken waren, dass das ein Problem ist, was man vielleicht intern lösen muss und hoffentlich kann, aber was die Außenwelt sozusagen nichts angeht. Es war ja sogar im Kirchenrecht so drinnen, dass man nichts nach außen verbreiten darf. Ich glaub‘, dass wir das alle in uns gehabt haben.“ (ehemaliger Schüler und Pater) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Internat im Kontext von katholischer Kirche und ihrem „institutionellen Narzissmus“ Eine lange Tradition der institutionellen Selbstinszenierung, die das positive Bild von sich selber nach außen wie auch nach innen pflegt und verteidigt und Fehlentwicklungen und Fehlhandlungen der eigenen Institution zu verdecken und zu vertuschen versucht. Die Folge davon ist eine mangelnde Empathie für die Menschen, die zu Opfern geworden sind. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Internat im Kontext von katholischer Kirche und ihrer Sexualfeindlichkeit Sexualität ist ein Ort der Gefahren und ist bis heute von Tabus umgeben, die einen offenen und reflektierten Umgang verhindern. Eine „Entgiftung des Eros“ (so der Titel eines Buches des Theologen Prof. Dr. Martin Lintner) hat bislang nicht stattgefunden. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Internat im Kontext des Klosters mit seinem monastischen Lebensprinzip, das den Mangel an Kommunikation in der Klostergemeinschaft erklärt. „Und es gibt auch im Kloster, auch wenn Sie auf engem Raum zusammenleben, schon auch das – man kann das jetzt fromm verbrämen: das Monastische. Ich bin also ein Einzelkämpfer! Alleine. Ja? Ich bin der Monast, ich bin alleine, ich lebe als Mönch, und deswegen ist das – man hat zwar gemeinsame Gebetszeiten, gemeinsame Essenszeiten, aber ansonsten bin ich der Mönch, ja, für mich alleine.“ (ein Pater) „Das Wesentliche ist aus meiner Sicht dieser Kommunikationsmangel, die Angst, mit einem anderen über irgendetwas Persönliches oder so zu reden. Das ist ganz weit verbreitet und führt halt dann zu dieser auch Vereinsamung.“ (ein Pater) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das Internat im Kontext von katholischer Kirche Der Ausweg ohne institutionelle Folgen: Die Beichte Anstelle der kollektiven Arbeit an Problemen, Fehlverhalten oder Grenzüberschreitungen besteht für die Täter die Chance, sich in der individuellen Beichte von Schuldgefühlen zu entlasten, ohne dass das im Klostersystem Konsequenzen erzwungen hätte. „… die Mechanik des Beichtstuhls ist was ganz Grausliges! Weil die haben da überhaupt kein Problem: Das ist gebeichtet, das ist fertig, ich bin mit dem lieben Gott wieder eins. (…) Es ist quasi so eine Art Ablasshandel bis heute, und dieses fehlende Verständnis, dass es Formen von Taten gibt, die man eben nicht beichten kann und mit der Beichte erledigen kann.“ (Ehemaliger Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Internate im Kontext der historischen Tradition Ettaler Elitebewusstsein: Die 1710 gegründete Ritterakademie war eine der bedeutendsten höheren Schulen dieser Zeit und damit begann die schulische Tradition von Ettal. Es wurde eine bevorzugte Bildungsanstalt für die Söhne adeliger Familien. „Kremsmünsterer Selbstbewusstsein: Mia san mia. (…) Wir haben, ab dem Herzog Tassilo, wir haben eine große Tradition, wir sind geborgen in der Tradition, und uns kann deswegen nichts passieren. Und das ist auch heut‘ bei denen noch so. Die checken das gar nicht, unsere Situation“. (Ein Pater) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Internate im Kontext der Elternerwartungen die ihre Kinder auf ihr „eigenes Internat“ schicken die eine gewaltgeprägte Erziehungsvorstellung teilen die ihre Kinder „los haben wollen“ Hoffnung auf sozialen Aufstieg geben ihre Kinder „in Gottes Hand“ Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Folgen der Klosteranbindung Pädagogisches Profil Lebenswelt der Schüler Begleitrolle der Eltern Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das pädagogische Profil Das autoritäre und NS-Erbe Auch wenn sich das Stift als Opfer des Nationalsozialismus sah – am 7. September 1938 hat der Staat das Internat übernommen – waren Sprache und Denkmuster vieler Patres und Lehrer noch immer NS-imprägniert. „der hat ja ständig Sprüche gehoben: Bei der HJ, da waren wir noch was; wenn ich den Hitler ausgraben könnte, würd‘ ich es machen; ich erschieß euch alle, ihr dreckigen Juden; oder irgend so was. Das war Standardprogramm mittags, in der Essenszeit. Also wirklich, das war seine Wortwahl..“ (ehem. Schüler) „Das Einzige, was elitären Anspruch hatte oder eine Art Elitenbildungdrill, war ein ganz, ganz stark wahrzunehmender Nazi-Mief. Und in diesem Sinne hat man sich vielleicht als Elite verstanden, um da hier jetzt die neue zukünftige – unter Anführungszeichen – ‚Jugend-SS‘ heranzuziehen. Also das war, faktisch hatte nichts mit Elite zu tun.“ (ehem. Schüler) „Also ich hab’s selber erlebt, wie der P. dann bei Hitler-Geburtstag in die Küche gerannt ist und „Heil Hitler“ rumgeschrien hat und so herumgelaufen ist“ (ehem. Schüler und Pater). Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Das pädagogische Profil Das autoritäre Erbe „Es ging immer darum, verwöhnte Bürgerskinder … abzurichten für das harte Leben draußen. (…) wir sind wie abgerichtet für unseren Lebenslauf geworden da drin, und wir möchten es nicht missen, auch die schlimmen Dinge nicht. So kommt´s dann am Ende raus, nicht wahr.“ (ehemaliger Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Das pädagogische Profil Der Eliteanspruch „… da hat’s so diesen Stehsatz gegeben: das beste Gymnasium Europas, es war ein herrlicher Satz, und ich glaub‘, dass wir das damals auch mehr oder weniger geglaubt haben. Ich hab‘ ja keine Vergleichsmöglichkeit g’habt. ( …) Aber für uns war das irgendwie akzeptabel, und wir haben damit auch, glaub‘ ich, sehr viel von den gewissen Härten akzeptieren können nach dem Motto: Man muss halt sich am Riemen reißen, damit da was Gescheites rauskommt.“ (ehem. Schüler und Pater) „Die Welt ist groß, Kremsmünster ist größer. Und der Spruch ist schon Programm, in jeder Hinsicht. Weil damit sich dieses unglaubliche Selbstbewusstsein dieses Hauses sehr gut ausdrückt. Und das haben die bis heute nicht losbekommen. “ (ehemaliger Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Das pädagogische Profil Der Mangel an einer gemeinsam geteilten pädagogischen Handlungskonzept Die Schule sah sich in der Tradition einer klassisch-humanistischen Bildung und orientiert an christlichen Werten, aber diese wurden nicht in der Erziehungsalltag als Handlungskonzept konkretisiert. „Wasser predigen und Wein trinken. Vor allem, wenn man dann eben diese ganzen Prozessionen miterlebt hat in der Kirche und immer wieder bestimmte Patres vorgetragen haben – und man hat aber dann im Kopf: Okay, gut, das und das, dann passt das einfach nicht zusammen. Und dann ist die Glaubwürdigkeit auch einfach komplett dahin. Und dann hat’s eigentlich überhaupt keinen Grund mehr gegeben, dass ich da irgendwie in die Richtung tendiere.“ (ehem. Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Das pädagogische Profil Präfekten ohne pädagogische Qualifikation und überfordert „Die Leut‘ waren hoffnungslos überfordert. Sie hatten uns als Präfekt von der Früh, in der Schule, bei der Nachmittagsbeaufsichtigung und einzeln in der Freizeit, und damals waren wir nur Allerheiligen, Weihnachten, Oster und Pfingsten und große Ferien zu Hause. Also … In Wirklichkeit, muss ich sagen, hat so ein Präfekt praktisch keinerlei Rückzugsmöglichkeiten und keinerlei Freizeit g’habt. Und das mehr oder weniger in dieser Zeit, rund um die Uhr. Und das hält meiner Meinung nach keiner aus. Das muss man ehrlicherweise sagen.“ (ehem. Schüler) „Das wär für mich – das wär‘ für mich die Hölle gewesen. Ich hab‘ eh gewusst, wie schwierig das ist. Und ich war schon immer – ich war vor allem immer der Meinung, dass ein Präfekt, ein Erzieher, eine fach- und sachgemäße psychologische Ausbildung braucht.“ (Pater) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Mönche als „asexuelle Wesen“ konfrontiert mit Jugendlichen, deren Sexualität erwacht Die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche verhindert einen reflexiven Umgang mit der eigenen Sexualität. Die Reflexion mit dem eigenen sexuellen Begehren wird in einem Milieu der Sexualabstinenz nicht gefördert und das Kloster zieht wohl auch Männer an, die sich in einem Zustand unreifer Sexualität befinden. Sexualität ist ein Ort der Gefahren und ist bis heute von Tabus umgeben, die einen offenen und reflektierten Umgang verhindern. „Also wie Mönche mit ihren verschiedenen Formen von Sexualität umgehen, hätt‘ ich mir auch im Kloster dann in meiner Erfahrungszeit nie gedacht, dass das was ist, wo – ich hätt‘ auch nicht drüber reden können.“ (ehemaliger Pater) „Man ist da eigentlich vollkommen sich selbst überlassen. Und ich muss sagen, Sexualität – ich seh‘ das auch erst im Nachhinein – ist eine Lebensaufgabe. (…) … über Sexualität reden geht gar nicht. Hätten wir auch nicht getan.“ (ehemaliger Pater) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Ein Ort traditioneller Männlichkeitsvorstellungen In den untersuchten Klosterinternaten wurden Jungen von Männern erzogen. Der ideologische Bezugsrahmen ihrer Interaktionen ist die katholische Kirche mit ihren Vorstellungen und Praxen einer traditionellen Männlichkeit Hier entwickelt sich die prototypische Figur des Einzelkämpfers, der sich hart macht, um das, womit er konfrontiert wird, irgendwie auszuhalten. Seine Bewältigungsstrategie kann auch darin bestehen, sich mit dem Aggressor zu identifizieren und selbst aktiv Gewalt auszuüben. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Die Lebenswelt der Schüler Einige kommen aus überforderten und zerfallenden Familien Schüler suchen unter den Patres Ersatzväter und Nähe Die Kinder und Jugendlichen, die aus schwierigen Elternhäusern kamen, Vaterlosigkeit und einen Mangel an emotionaler Beziehung und Geborgenheit erlebt haben, hatten nicht selten den Wunsch, im Internat Ersatzväter und Nähe zu einem Erwachsenen zu finden. Das ist sicher für einige auch möglich gewesen, für andere hat es eine spezifische Risikolage für Missbrauch bedeutet. „… so als zehnjähriger Bub sucht man natürlich auch nach Väterfiguren, einfach Leute, die einen gern haben ganz einfach.“ (ehem. Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Die Lebenswelt der Schüler Schüler sind latent oder manifest vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt (Gewalt, Leistungsdruck, Selektion) „Ohne dass wir sozusagen wussten: Werden wir beobachtet oder nicht? Und dass halt viele Präfekten – also sie haben immer versucht… So ein Terror in der mindesten Form war einfach, überraschen, überraschend aufzutreten, ja? Und das war wirklich unberechenbar. Und da haben sie wirklich viel Mühe darauf verwendet, unberechenbar zu bleiben.“ (ehemaliger Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Die Lebenswelt der Schüler Gewalt unter Schülern In den Internatsgruppen bilden sich Machtverhältnisse aus und es kommt zu Inklusions- und Exklusionserfahrungen. In der Schülersubkultur sind Revierkämpfe und Rivalitäten normal und dazu gehört auch Gewalt. Es bilden sich Hierarchien und es werden Sündenböcke benötigt. „Mobbing hat’s früher auch gegeben, und das – „Außibeißen“ hat’s früher geheißen, der wird außibiss’n. Natürlich auch so, dass möglichst viel Spaß für die Stärkeren dabei entsteht.“ (Pater und ehemaliger Schüler) Das pädagogische Personal hat teilweise diese Gewalt in der Schülerbinnenwelt gefördert und – z.B. Schüler für vogelfrei erklären - als Sanktionsmittel missbraucht. „Bei mir, in meiner Abteilung war es so, dass die Gewalt für Schüler gegen Schüler unterstützt wurde dadurch, dass man nicht hingesehen hat. Und wenn der dann gekommen ist, dem was passiert ist, haben sie gesagt: Bist selber schuld, dass du das machst. Also es wurde nicht konkret gesagt: So, ihr müsst den jetzt wassern.“ (Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Die Lebenswelt der Schüler Die an die Leistungsorientierung gekoppelte Disziplinierung wird von vielen Schülern verinnerlicht Die Ideologie vom „survival of the fittest“ ist von vielen Schülern übernommen worden. Die Leistungsorientierung und die damit gekoppelte Disziplinierung wird verinnerlicht. Diejenigen die damit Probleme haben bzw. Opfer der Disziplinierung werden erleben dies als doppelte Ausgrenzung (es nicht geschafft zu haben und den Augen der anderen auch zu Recht dafür bestraft zu werden). Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Die Binnenstruktur des Internats Die Lebenswelt der Schüler Missbrauchserfahrungen erzeugen Schamgefühle und verhindern die Kommunikation und die Bearbeitung von Traumata „Ich denk‘ schon, dass die Männer, die ja die Opferrolle sozusagen nicht so passend an den Leib geschnitten haben, dass da die Scham, sich als solches Opfer zu bekennen, eine große Rolle spielt. Also es ist was Unmännliches, nicht?“ (ehemaliger Schüler) Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Teil 5 Zusammenfassung Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Warum hat es so lange gedauert bis diese ans Licht der Öffentlichkeit kamen? Ringe des Schweigens 1 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Warum hat es so lange gedauert bis diese ans Licht der Öffentlichkeit kamen? Ringe des Schweigens 2 Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Ein zusammenfassender Blick auf die Klosterinternate Sie bildeten keine „einbettende Kultur“, in der Achtsamkeit und Selbstsorge gefördert werden. Das erlebte ein Großteil der befragten Schüler so, aber auch einige Patres. Ein gemeinsam geteilter authentischer christlicher Geist wird immer wieder vermisst. Das Stift besteht aus multiplen Subwelten, die durch keine innere Kohärenz zu einem Ganzen werden. Trotz einer hierarchischen benediktinischen Grundordnung vermisst man eine glaubwürdige und gelebte Autorität, deshalb existieren fragmentierte Teilsysteme mit unkontrollierten Machtpotentialen. Fragmentierte Erinnerungen werden kaum kommunikativ zu einer gemeinsamen Geschichte verknüpft. Vielfältige Hinweise auf Missbrauch wurden Einzeltätern zugeordnet und nicht als Chance zur Aufarbeitung genutzt. Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Abschließende Empfehlungen 1. Ein gelebtes Präventionskonzept 2. Die Sicherung einer professionellen Pädagogik im Internat 3. Ein gemeinsam getragenes Leitbild für Schule und Internat 4. Personalentwicklung zur Förderung tragfähiger Teamstrukturen 5. Ein fehlerfreundliches Kommunikationsklima 6. Glaubwürdige Verständigung zwischen Kloster und Opfern 7. Eine öffentlich sichtbare Form der Erinnerung Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «