Keupp, Heiner Prof. Dr. - Grenzüberschreitende Normalitäten

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Heiner Keupp
Grenzüberschreitende Normalitäten. Ein sozialpsychologischer Blick
auf Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Vortrag bei dem SPZ-Symposion am
24. November 2016 in Winterthur
Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
„Ewig wahr bleibt aber der Satz,
dass die vergangenen Epochen die
Ahnen der Gegenwart sind. Wehe
dem, der aus ihnen nichts lernt!“
P. Rudolf Hundsdorfer, 104. Jahresbericht des
Stiftsgymnasiums Kremsmünster, Schuljahr 1961
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Teil 1
2 Studien und
ihr Auftrag
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Die Studien suchten Antworten
auf folgende Fragen:
1. Wie waren diese Missbrauchs- und Misshandlungsvorfälle überhaupt möglich?
2. Warum konnten die Taten nicht verhindert werden?
3. Warum hat es so lange gedauert bis diese ans Licht der
Öffentlichkeit kamen?
4. Warum existieren so viele unterschiedliche Wahrnehmungen an die gleiche Zeit im Internat?
5. Lassen sich diese Fragen aus dem Gesamtzusammenhang der Klöster beantworten?
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Wie kam es zu den Studien?
1. Die Veröffentlichung des Missbrauchs am Canisiuskolleg 2010 initiierte in
beiden Klosterinternaten einen Prozess der Aufdeckung.
2. Es waren ehemalige Schüler, die ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Misshandlungen veröffentlichten.
3. Der Zusammenschluss von ehemaligen Schülern in Selbsthilfegruppen
und in Internetforen hat einen Empowermentprozess ermöglicht, aus
dem handlungsfähige Gruppen entstanden, die die Klöster mit ihren
Forderungen nach Aufarbeitung unter Druck setzen konnten.
4. Eine Forderung war die Beauftragung eines unabhängigen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts mit einer qualitativen Studie.
5. Die Klöster selbst hätten diese Aufträge von selbst nie erteilt. Insofern
waren die ehemaligen Schüler unser Auftraggeber.
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Die Studien basieren auf
 qualitativen Interviews mit ehemaligen Schülern, von denen ein
Großteil Erfahrungen mit physischer, psychischer und sexualisierter
Gewalt hatten
 Klosterangehörige (darunter Äbte, Internatsdirektoren, Präfekten),
von denen eine Reihe Täter waren
 ExpertInneninterviews (Ombudsleute, Mediatoren)
 Internetforen der ehemaligen Schüler
 Archivmaterialien
 Polizei-, Gerichts- und Psychiatriedokumente
 Auswertung von Medien
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Berichte beziehen sich auf…
(selbst erfahren
Anteil
der
Gewaltformen
in
Kremsmünster
- in% Anteil)
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Wann hat die Gewalt stattgefunden?
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Methodische Einschränkungen dieser Studien
• Befragt konnten nur die ehemaligen Schüler, die sich freiwillig bei uns gemeldet haben.
• Die Gewinnung von Interviewpartnern erfolgte über die
Internetforen und über die Klassensprecher der Altkremsmünsterer.
• Es ist kaum gelungen, ehemalige Schüler zu erreichen, die
das Internat vor der Matura verlassen haben.
• Gemeldet haben sich vermutlich Personen, die besonders
negative Erfahrungen gemacht haben, aber auch solche, die
ihre positiven Internatserfahrungen mitteilen wollten.
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Teil 2
Es gibt
„viele Ettals/Kremsmünsters“
zur Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen
und Erinnerungen
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Es gibt viele Kremsmünsters
Mein Kremsmünster –
Mein Kremsmünster –
positive Erinnerungen
negative Erinnerungen
„Ich hab‘ das sehr positiv in Erinnerung, weil ich war schon als Kind
auf Pfadfinderlagern, wurde oft
schon verschickt für eine Woche
oder zwei mit anderen Kindern in
so einem Setting.“
„Der Tag meiner Matura war
sozusagen der größte Tag meines
Lebens; aber nicht, weil ich die
Matura geschafft hab’, sondern
weil ich endlich diesen Wahnsinn
da los wurde.“
„.. da musst du positiv zugeben,
das war eine Erziehung, ein
Anschauungsunterricht, wie er
einfach nicht mehr wo geboten
werden kann.“
„Also mein größter Vorwurf an
Kremsmünster ist sicher, dass
man‘s nicht geschafft hat, die
Kinder zu beschützen.“
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Wie kommt es zu diesen
unterschiedlichen Bewertungen?
 Selektionsprozesse prägen unsere Erfahrungen
 Selektionen in der Wahrnehmung einer Situation
 Selektion, in dem was man abspeichert und erinnert
 Selektion als Abwehr unerträglicher Erinnerungen
!! Selektion ist Normal: „Die Fähigkeit zur Selektion ist
eine der wichtigsten Leistungen des menschlichen
Gehirns“ (D.Kahneman)
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Selektivität der Wahrnehmung (1)
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Selektivität der Wahrnehmung (2)
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Selektivität der Wahrnehmung (3)
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
„Fragmentierte Erinnerungen“
als Normalfall
Es ist die Aufgabe der Forschung, die
selektiven und widersprüchlichen
Erinnerungen zu einem Gesamtbild
zusammenzuführen.
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Teil 3
Die erfahrene Gewalt
und ihre Folgen
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Gewaltformen
Psychische Gewalt
Körperliche Gewalt
Sexualisierte Gewalt
Zeugenschaft von Gewalt
Kombinierte Gewaltformen
Sexualisierte Gewalt
Mönche/Erzieher
Zuschauer/Dulder
Mitschüler
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Auswirkungen der Gewalt
Initial:
chronisch:
Heimweh
Unspezifische Folgen
Entfremdung
Selbstschädigung
Sprachlosigkeit
Somatische Reaktionen
Schuldverschiebung / Schuldumkehr
Schuldproblematik
Angst /Wachsamkeit
Angst / Wachsamkeit
Emotionale Taubheit
Probleme bei der
Lebensbewältigung
Soziale u. Beziehungsprobleme
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Auswirkungen der Gewalt
Gewalt in Kremsmünster stellte für viele Schüler ein hohes Entwicklungsrisiko mit Langzeitfolgen dar. Und weite Teile dieser Erfahrungen erfüllen alle Kriterien von traumatischen Erlebnissen:
Initial und chronisch:
• Ausweglosigkeit/Anpassung/Unterwerfung
• Emotionale Taubheit
• Hypervigilanz/ständige Wachsamkeit
• Unwillkürliche Wiedererinnerungen
• Habituation
• Vermeidung/Einschränkung v.
Entfaltungsmöglichkeiten
• Traumatische Amnesien
• Traumatische Bindungen
Diagnosekriterien der
traumabezogenen
Entwicklungsstörung
A1: Multiple oder chronische
interpersonelle Traumatisierung (direkt oder indirekt).
A2: Verlust protektiver Bezugspersonen
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Auswirkungen auch
bei den Angehörigen
– bis heute
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Gefühl von Ohnmacht
Aus dem Interview mit der Partnerin eines Opfers
„… Und ich hab‘ auch gemerkt bei mir selber, dieser Schmerz über das was
meinem Mann passiert ist löst auch aus, dass man irgendwann mal wütend wird.
Und durch das gibt’s dann viel mehr Konflikte, weil man kommt kaum noch zum
Sprechen, weil etwas anderes ansteht bei ihm, weil er schwerer zugänglich ist, ja?
Und gleichzeitig ich emotional viel verletzlicher bin. Und wir haben dann immer
wieder auch sehr offen drüber gesprochen, dass halt jetzt die Zeit ist, wo er das
Gefühl hat, jetzt muss er, jetzt muss er das machen. Und das ist in so Wellen
verlaufen.“
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Gefühl von Ohnmacht
Aus dem Interview mit der Partnerin eines Opfers
Also wo ich gemerkt hab‘, dass ich das Vertrauen zu meiner Kraft alles zu bewältigen verlieren, vor allem durch diese Ohnmachtgefühle, durch dieses Gefühl nichts tun können,
gegen einen übermächtigen Gegner zu kämpfen, gleichzeitig gedemütigt zu werden, den
Schmerz auszuhalten, der hochkommt, wenn ich meinen Mann sehe … (weint)
wo ganz viel schlechtes Gewissen auch meinerseits da ist, weil ich g’merkt hab‘, ich kann
nicht mehr, und mach‘ ihn dann dafür verantwortlich oder zweifel‘ seinen Weg an oder stell‘
ihn infrage … Was dann ein paar Tage später überhaupt nicht mehr so war wo ich mir
denk‘, das sind Steine, die ich ihm wahrscheinlich zusätzlich in den Weg gelegt hab‘ dadurch,
dass ich nicht sagen konnte: Ich trag‘ das einfach, ohne dass …(weint) … ohne dass es wehtut.
(weint)
I: Haben Sie sich da gewünscht, dass er damit aufhört, sich damit so aktiv zu beschäftigen?
A: Nein. … Ich hab‘ mir g’wünscht, wie ein kleines Kind, dass unser Alltag wieder ist so ist wie
er früher war….
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Der Zorn, den ich in mir hab‘, ist, dass das System so versagt hat.
„Der Zorn, den ich in mir
hab‘, ist, dass das
System so versagt hat.“
(ehemaliger Schüler mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt)
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Teil 4
Binnen- und Außenverhältnis
eine systematsierte Erklärung der Ursachen der
Misshandlungen, ihrer Nicht Verhinderung und
des Jahrzehnte währenden Schweigens
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Katholische
Kirche
Kloster
Binnenstruktur des Internats
Folgen der
Klosteranbindung
Tradition
Herrschende/
akzeptierte
(Elite)
Internat
Pädagogik
Pädagogische
Profil
Begleitrolle der
Eltern
Lebenswelt
Internat
Internatskontext
Elternhaus
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Internat im Kontext
 von katholischer Kirche
 und ihrer Eigenwelt
Eine Institution, die ihre eigene Rechtsordnung entwickelt hat und die älter ist
als alle staatlichen Rechtsordnungen, tendiert dazu, sich in ihrer Eigenwelt
abzuschotten und sich die Reaktion auf Verfehlungen selbst vorzubehalten.
Diese Haltung verhindert einen transparenten und offenen Umgang mit
Missbrauch und Misshandlungen und wird von der Zivilgesellschaft als Vertuschung oder Verharmlosung wahrgenommen.
“Ich glaub‘, dass wir damals, ich mit eingeschlossen, noch ganz stark in diesem
kirchlichen Denken waren, dass das ein Problem ist, was man vielleicht
intern lösen muss und hoffentlich kann, aber was die Außenwelt sozusagen
nichts angeht. Es war ja sogar im Kirchenrecht so drinnen, dass man nichts
nach außen verbreiten darf. Ich glaub‘, dass wir das alle in uns gehabt
haben.“ (ehemaliger Schüler und Pater)
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Das Internat im Kontext
 von katholischer Kirche
 und ihrem „institutionellen Narzissmus“
Eine lange Tradition der institutionellen Selbstinszenierung, die
das positive Bild von sich selber nach außen wie auch nach
innen pflegt und verteidigt und Fehlentwicklungen und
Fehlhandlungen der eigenen Institution zu verdecken und
zu vertuschen versucht. Die Folge davon ist eine mangelnde
Empathie für die Menschen, die zu Opfern geworden sind.
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Internat im Kontext
 von katholischer Kirche
 und ihrer Sexualfeindlichkeit
Sexualität ist ein Ort der Gefahren und ist bis heute von Tabus umgeben, die einen offenen und reflektierten Umgang verhindern.
Eine „Entgiftung des Eros“ (so der Titel eines Buches des Theologen
Prof. Dr. Martin Lintner) hat bislang nicht stattgefunden.
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Internat im Kontext
 des Klosters
 mit seinem monastischen Lebensprinzip, das den Mangel an
Kommunikation in der Klostergemeinschaft erklärt.
„Und es gibt auch im Kloster, auch wenn Sie auf engem Raum zusammenleben, schon auch das – man kann das jetzt fromm verbrämen:
das Monastische. Ich bin also ein Einzelkämpfer! Alleine. Ja? Ich bin der
Monast, ich bin alleine, ich lebe als Mönch, und deswegen ist das – man
hat zwar gemeinsame Gebetszeiten, gemeinsame Essenszeiten, aber
ansonsten bin ich der Mönch, ja, für mich alleine.“ (ein Pater)
„Das Wesentliche ist aus meiner Sicht dieser Kommunikationsmangel,
die Angst, mit einem anderen über irgendetwas Persönliches oder so zu
reden. Das ist ganz weit verbreitet und führt halt dann zu dieser auch
Vereinsamung.“ (ein Pater)
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Das Internat im Kontext
 von katholischer Kirche
Der Ausweg ohne institutionelle Folgen: Die Beichte
Anstelle der kollektiven Arbeit an Problemen, Fehlverhalten oder
Grenzüberschreitungen besteht für die Täter die Chance, sich in der
individuellen Beichte von Schuldgefühlen zu entlasten, ohne dass das
im Klostersystem Konsequenzen erzwungen hätte.
„… die Mechanik des Beichtstuhls ist was ganz Grausliges! Weil die haben
da überhaupt kein Problem: Das ist gebeichtet, das ist fertig, ich bin
mit dem lieben Gott wieder eins. (…) Es ist quasi so eine Art
Ablasshandel bis heute, und dieses fehlende Verständnis, dass es
Formen von Taten gibt, die man eben nicht beichten kann und mit
der Beichte erledigen kann.“ (Ehemaliger Schüler)
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Die Internate im Kontext
 der historischen Tradition
Ettaler Elitebewusstsein: Die 1710 gegründete Ritterakademie war
eine der bedeutendsten höheren Schulen dieser Zeit und damit
begann die schulische Tradition von Ettal. Es wurde eine bevorzugte Bildungsanstalt für die Söhne adeliger Familien.
„Kremsmünsterer Selbstbewusstsein: Mia san mia. (…) Wir haben, ab
dem Herzog Tassilo, wir haben eine große Tradition, wir sind geborgen in der Tradition, und uns kann deswegen nichts passieren.
Und das ist auch heut‘ bei denen noch so. Die checken das gar
nicht, unsere Situation“. (Ein Pater)
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Die Internate im Kontext
 der Elternerwartungen
 die ihre Kinder auf ihr „eigenes Internat“ schicken
 die eine gewaltgeprägte Erziehungsvorstellung teilen
 die ihre Kinder „los haben wollen“
 Hoffnung auf sozialen Aufstieg
 geben ihre Kinder „in Gottes Hand“
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Die Binnenstruktur des Internats
Folgen der
Klosteranbindung
Pädagogisches
Profil
Lebenswelt
der Schüler
Begleitrolle der
Eltern
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
 Das pädagogische Profil

Das autoritäre und NS-Erbe
Auch wenn sich das Stift als Opfer des Nationalsozialismus sah – am 7. September 1938 hat der Staat das Internat übernommen – waren Sprache und
Denkmuster vieler Patres und Lehrer noch immer NS-imprägniert.
„der hat ja ständig Sprüche gehoben: Bei der HJ, da waren wir noch was; wenn ich den
Hitler ausgraben könnte, würd‘ ich es machen; ich erschieß euch alle, ihr dreckigen
Juden; oder irgend so was. Das war Standardprogramm mittags, in der Essenszeit.
Also wirklich, das war seine Wortwahl..“ (ehem. Schüler)
„Das Einzige, was elitären Anspruch hatte oder eine Art Elitenbildungdrill, war ein ganz,
ganz stark wahrzunehmender Nazi-Mief. Und in diesem Sinne hat man sich vielleicht
als Elite verstanden, um da hier jetzt die neue zukünftige – unter Anführungszeichen
– ‚Jugend-SS‘ heranzuziehen. Also das war, faktisch hatte nichts mit Elite zu tun.“
(ehem. Schüler)
„Also ich hab’s selber erlebt, wie der P. dann bei Hitler-Geburtstag in die Küche gerannt
ist und „Heil Hitler“ rumgeschrien hat und so herumgelaufen ist“ (ehem. Schüler und
Pater).
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
 Das pädagogische Profil
Das autoritäre Erbe
„Es ging immer darum, verwöhnte Bürgerskinder
… abzurichten für das harte Leben draußen. (…)
wir sind wie abgerichtet für unseren Lebenslauf
geworden da drin, und wir möchten es nicht
missen, auch die schlimmen Dinge nicht. So
kommt´s dann am Ende raus, nicht wahr.“
(ehemaliger Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Das pädagogische Profil
Der Eliteanspruch
„… da hat’s so diesen Stehsatz gegeben: das beste Gymnasium
Europas, es war ein herrlicher Satz, und ich glaub‘, dass wir das
damals auch mehr oder weniger geglaubt haben. Ich hab‘ ja
keine Vergleichsmöglichkeit g’habt. ( …) Aber für uns war das
irgendwie akzeptabel, und wir haben damit auch, glaub‘ ich,
sehr viel von den gewissen Härten akzeptieren können nach
dem Motto: Man muss halt sich am Riemen reißen, damit da
was Gescheites rauskommt.“ (ehem. Schüler und Pater)
„Die Welt ist groß, Kremsmünster ist größer. Und der Spruch ist
schon Programm, in jeder Hinsicht. Weil damit sich dieses unglaubliche Selbstbewusstsein dieses Hauses sehr gut ausdrückt.
Und das haben die bis heute nicht losbekommen. “ (ehemaliger
Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Das pädagogische Profil

Der Mangel an einer gemeinsam geteilten pädagogischen
Handlungskonzept
Die Schule sah sich in der Tradition einer klassisch-humanistischen Bildung und
orientiert an christlichen Werten, aber diese wurden nicht in der Erziehungsalltag als Handlungskonzept konkretisiert.
„Wasser predigen und Wein trinken. Vor allem, wenn man dann eben diese
ganzen Prozessionen miterlebt hat in der Kirche und immer wieder bestimmte Patres vorgetragen haben – und man hat aber dann im Kopf:
Okay, gut, das und das, dann passt das einfach nicht zusammen. Und dann
ist die Glaubwürdigkeit auch einfach komplett dahin. Und dann hat’s
eigentlich überhaupt keinen Grund mehr gegeben, dass ich da irgendwie in
die Richtung tendiere.“ (ehem. Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Das pädagogische Profil

Präfekten ohne pädagogische Qualifikation und
überfordert
„Die Leut‘ waren hoffnungslos überfordert. Sie hatten uns als Präfekt von
der Früh, in der Schule, bei der Nachmittagsbeaufsichtigung und einzeln in
der Freizeit, und damals waren wir nur Allerheiligen, Weihnachten, Oster
und Pfingsten und große Ferien zu Hause. Also … In Wirklichkeit, muss ich
sagen, hat so ein Präfekt praktisch keinerlei Rückzugsmöglichkeiten und
keinerlei Freizeit g’habt. Und das mehr oder weniger in dieser Zeit, rund
um die Uhr. Und das hält meiner Meinung nach keiner aus. Das muss man
ehrlicherweise sagen.“ (ehem. Schüler)
„Das wär für mich – das wär‘ für mich die Hölle gewesen. Ich hab‘ eh gewusst, wie schwierig das ist. Und ich war schon immer – ich war vor allem
immer der Meinung, dass ein Präfekt, ein Erzieher, eine fach- und sachgemäße psychologische Ausbildung braucht.“ (Pater)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Mönche als „asexuelle Wesen“ konfrontiert mit Jugendlichen,
deren Sexualität erwacht
Die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche verhindert einen reflexiven Umgang mit der eigenen Sexualität. Die Reflexion mit dem eigenen sexuellen Begehren wird in einem Milieu der Sexualabstinenz nicht gefördert und das Kloster zieht wohl auch Männer an, die sich in einem Zustand unreifer Sexualität
befinden. Sexualität ist ein Ort der Gefahren und ist bis heute von Tabus umgeben, die einen offenen und reflektierten Umgang verhindern.
„Also wie Mönche mit ihren verschiedenen Formen von Sexualität
umgehen, hätt‘ ich mir auch im Kloster dann in meiner Erfahrungszeit nie gedacht, dass das was ist, wo – ich hätt‘ auch nicht
drüber reden können.“ (ehemaliger Pater)
„Man ist da eigentlich vollkommen sich selbst überlassen. Und ich
muss sagen, Sexualität – ich seh‘ das auch erst im Nachhinein –
ist eine Lebensaufgabe. (…) … über Sexualität reden geht gar
nicht. Hätten wir auch nicht getan.“ (ehemaliger Pater)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Ein Ort traditioneller Männlichkeitsvorstellungen
In den untersuchten Klosterinternaten wurden Jungen von Männern
erzogen. Der ideologische Bezugsrahmen ihrer Interaktionen ist die
katholische Kirche mit ihren Vorstellungen und Praxen einer traditionellen Männlichkeit
Hier entwickelt sich die prototypische Figur des Einzelkämpfers, der
sich hart macht, um das, womit er konfrontiert wird, irgendwie
auszuhalten. Seine Bewältigungsstrategie kann auch darin bestehen, sich mit dem Aggressor zu identifizieren und selbst aktiv
Gewalt auszuüben.
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Die Binnenstruktur des Internats
 Die Lebenswelt der Schüler
 Einige kommen aus überforderten und zerfallenden Familien
 Schüler suchen unter den Patres Ersatzväter und Nähe
Die Kinder und Jugendlichen, die aus schwierigen Elternhäusern kamen, Vaterlosigkeit und einen Mangel an emotionaler Beziehung
und Geborgenheit erlebt haben, hatten nicht selten den Wunsch,
im Internat Ersatzväter und Nähe zu einem Erwachsenen zu finden. Das ist sicher für einige auch möglich gewesen, für andere
hat es eine spezifische Risikolage für Missbrauch bedeutet.
„… so als zehnjähriger Bub sucht man natürlich auch nach Väterfiguren, einfach Leute, die einen gern haben ganz einfach.“
(ehem. Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Die Lebenswelt der Schüler
 Schüler sind latent oder manifest vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt (Gewalt, Leistungsdruck, Selektion)
„Ohne dass wir sozusagen wussten: Werden wir beobachtet oder nicht?
Und dass halt viele Präfekten – also sie haben immer versucht… So
ein Terror in der mindesten Form war einfach, überraschen, überraschend aufzutreten, ja? Und das war wirklich unberechenbar. Und
da haben sie wirklich viel Mühe darauf verwendet, unberechenbar
zu bleiben.“ (ehemaliger Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Die Lebenswelt der Schüler

Gewalt unter Schülern
 In den Internatsgruppen bilden sich Machtverhältnisse aus und es kommt zu
Inklusions- und Exklusionserfahrungen. In der Schülersubkultur sind Revierkämpfe und Rivalitäten normal und dazu gehört auch Gewalt. Es bilden
sich Hierarchien und es werden Sündenböcke benötigt.
„Mobbing hat’s früher auch gegeben, und das – „Außibeißen“ hat’s früher geheißen, der
wird außibiss’n. Natürlich auch so, dass möglichst viel Spaß für die Stärkeren dabei
entsteht.“ (Pater und ehemaliger Schüler)
Das pädagogische Personal hat teilweise diese Gewalt in der Schülerbinnenwelt gefördert und – z.B. Schüler für vogelfrei erklären - als Sanktionsmittel
missbraucht.
„Bei mir, in meiner Abteilung war es so, dass die Gewalt für Schüler gegen Schüler
unterstützt wurde dadurch, dass man nicht hingesehen hat. Und wenn der dann
gekommen ist, dem was passiert ist, haben sie gesagt: Bist selber schuld, dass du das
machst. Also es wurde nicht konkret gesagt: So, ihr müsst den jetzt wassern.“ (Schüler)
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Die Binnenstruktur des Internats
 Die Lebenswelt der Schüler
 Die an die Leistungsorientierung gekoppelte Disziplinierung
wird von vielen Schülern verinnerlicht
Die Ideologie vom „survival of the fittest“ ist von vielen Schülern
übernommen worden. Die Leistungsorientierung und die damit
gekoppelte Disziplinierung wird verinnerlicht. Diejenigen die damit Probleme haben bzw. Opfer der Disziplinierung werden erleben dies als doppelte Ausgrenzung (es nicht geschafft zu haben
und den Augen der anderen auch zu Recht dafür bestraft zu
werden).
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Die Binnenstruktur des Internats
 Die Lebenswelt der Schüler
 Missbrauchserfahrungen erzeugen Schamgefühle und
verhindern die Kommunikation und die Bearbeitung
von Traumata
„Ich denk‘ schon, dass die Männer, die ja die Opferrolle sozusagen nicht so
passend an den Leib geschnitten haben, dass da die Scham, sich als
solches Opfer zu bekennen, eine große Rolle spielt. Also es ist was Unmännliches, nicht?“ (ehemaliger Schüler)
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Teil 5
Zusammenfassung
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Warum hat es so lange gedauert bis diese ans Licht
der Öffentlichkeit kamen?
Ringe des Schweigens 1
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Warum hat es so lange gedauert bis diese ans
Licht der Öffentlichkeit kamen?
Ringe des Schweigens 2
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Ein zusammenfassender Blick auf die Klosterinternate
 Sie bildeten keine „einbettende Kultur“, in der Achtsamkeit und Selbstsorge
gefördert werden. Das erlebte ein Großteil der befragten Schüler so, aber
auch einige Patres.
 Ein gemeinsam geteilter authentischer christlicher Geist wird immer wieder
vermisst.
 Das Stift besteht aus multiplen Subwelten, die durch keine innere Kohärenz
zu einem Ganzen werden.
 Trotz einer hierarchischen benediktinischen Grundordnung vermisst man
eine glaubwürdige und gelebte Autorität, deshalb existieren fragmentierte
Teilsysteme mit unkontrollierten Machtpotentialen.
 Fragmentierte Erinnerungen werden kaum kommunikativ zu einer gemeinsamen Geschichte verknüpft.
 Vielfältige Hinweise auf Missbrauch wurden Einzeltätern zugeordnet und
nicht als Chance zur Aufarbeitung genutzt.
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Abschließende Empfehlungen
1. Ein gelebtes Präventionskonzept
2. Die Sicherung einer professionellen Pädagogik im Internat
3. Ein gemeinsam getragenes Leitbild für Schule und Internat
4. Personalentwicklung zur Förderung tragfähiger Teamstrukturen
5. Ein fehlerfreundliches Kommunikationsklima
6. Glaubwürdige Verständigung zwischen Kloster und Opfern
7. Eine öffentlich sichtbare Form der Erinnerung
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Grenzüberschreitende Normalitäten. Missbrauch und Misshandlungen in katholischen Eliteinternaten
Herzlichen Dank für
ihre Aufmerksamkeit
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