Zürich 2010 09 17 Außerparlamentarische Mobilisierungen als demokratische Chance Roland Roth Thesen für die Tagung „Energiekrise als Chance“ der Schweizerischen Energie-Stiftung Zürich, 17.09.2010 I. Mehr Demokratie wagen – ein uneingelöstes Versprechen 1. Soziale Bewegungen und Proteste sind in den letzten Jahrzehnten zu einem selbstverständlichen Element in der politischen Kultur der westlichen Demokratien geworden. In ihre Initiativen und Praxisformen sind das Gros jener Beteiligungsenergien geflossen, die durch den Zuwachs an Bildung und freier Zeit entstanden sind. Parteien, Gewerkschaften und Verbände haben als klassische Organisationen der Interessenvermittlung zumeist deutlich an Einfluss und Mitgliedern verloren. Mit Blick auf die Verschiebungen in den bevorzugten Formen der politischen Beteiligung (von „konventionellen“ zu „unkonventionellen“ Praktiken) ist es berechtigt, heute von Bewegungsgesellschaften zu sprechen. 2. Auch wenn nicht alle Bewegungen und Proteste Demokratie und Menschenrechte zu ihren Leitideen zählen und anti-demokratische Mobilisierungen in den letzten beiden Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben (z.B. durch rechtsextreme und fremdenfeindliche Mobilisierungen), lässt sich dennoch die These vertreten, dass die Mehrzahl sozialen Bewegungen seit Mitte der 1960er Jahre, die „neuen sozialen Bewegungen“ zumal, demokratische Impulse freigesetzt hat. Die Sozialforscherin Pippa Norris hat sie als „demokratischen Phönix“ charakterisiert. 3. Die sozial bewegt vorgebrachten „Partizipationsbegehren“ haben im repräsentativen politischen System unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Es dominieren bis heute Abwehrreaktionen gegen den „Druck der Straße“, aber es haben sich auch neue Parteien gebildet (Die Grünen) und es kam zu vereinzelten Reformen (Förderung regenerativer Energien etc.). Generell lässt sich jedoch von einem wachsenden demokratischen Defizit bzw. einer Strukturkrise repräsentativer Demokratien sprechen, die durch den Begriff der „Postdemokratie“ gekennzeichnet wird. Ihre Symptome sind ein schwindender Glaube an die Leistungsfähigkeit von Regierung und ihre repräsentative Legitimation, die durch einen überbordenden Lobbyismus und gestiegene Korruptionsanfälligkeit zusätzlich gelitten hat. 4. Eine den gewachsenen Beteiligungsansprüchen aus der Bevölkerung angemessene Vertiefung bzw. Vitalisierung demokratischer Strukturen durch den Ausbau von deliberativen, assoziativen und direkt-demokratischen ist bislang weitgehend ausgeblieben. Gegenwärtig werden weltweit 60 – 100 Formen der demokratischen Beteiligung erprobt (von den weltweit zu findenden lokalen Bürgerhaushalten bis zu konsultativen BürgerInnen-Räten wie im österreichischen Vorarlberg), die zumeist im Kontext sozialer Bewegungen erfunden und entwickelt wurden. 5. Die Vielfalt demokratischer Beteiligungsformen findet zwar zunehmend öffentliche Wertschätzung und wird zunehmend – überwiegend - auf der kommunalen Ebene genutzt, aber es zeichnen sich bislang keine demokratischen Strukturreformen ab, die den 1 gewachsenen Gestaltungsansprüchen der Bürgerschaft gerecht würden. Auch die für die neuen sozialen Bewegungen gilt: mission unfulfilled, hoffentlich nicht impossible! II. Impulse der Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung 6. Auch wenn die demokratischen Ansprüche der neuen sozialen Bewegungen zuweilen auch paradoxe Effekte gezeitigt haben und noch immer zeitigen (Postdemokratie), geben sie anhaltende Impulse für die Energie- und Gesellschaftsdebatte, die Anspruchshorizonte und Konturen einer tiefgreifenden Alternative zum Fossilismus/Fordismus deutlicher hervortreten lassen und Wege kenntlich machen. Dazu gehören u.a.: 7. Die Kraft des Neinsagens. Negative Folgen für die Lebensqualität und die regionalen Produktionsstrukturen stehen häufig am Anfang von Protestbewegungen (Lehrstück Wyhl). Solche Widerstände hatten in der Geschichte der Atomenergiepolitik häufig Erfolg und setzten ein Standortkarussell (Kalkar, Wackersdorf etc.) in Bewegung, das den geplanten Ausbau von Atomanlagen zuweilen als „politisch nicht durchsetzbar“ erscheinen ließ oder die Kosten so in die Höhe trieben, dass sich die Betreiber zurückzogen. An vielen Orten ist eine regionale Widerstandskultur entstanden, die bis heute auf neue Zumutungen reagiert. 8. Der Stand der Technik. Wer sich öffentlich exponiert und Nein sagt, setzt sich Begründungszwängen aus. Legitim werden Blockaden gegen technologische Großprojekte dann, wenn es gelingt, den technologischen Sachszwang zu entzaubern und die Entscheidung über technologische Entwicklungslinien aus der subpolitischen Sphäre von Ingenieurbüros und den Entwicklungsabteilungen der Konzerne zu holen. Die Entzauberung des Sachzwangs und das Denken in technologischen Alternativen, über die es demokratisch zu entscheiden gilt, gehört zu den großen Leistungen ökologischer Bewegungen. Dies hat erheblich zur Überwindung des Verdachts beigetragen, die Protestierenden seien von einer neoromantischen Technikfeindschaft getrieben, die sich – wie noch in den 1970er Jahren versucht - durch die Gegenparole „Zurück in die Steinzeit“ marginalisieren ließe. In seiner Technikgeschichte der USA sieht Thomas P. Hughes die Idee der (demokratischen) Gestaltbarkeit von Technik als das eigentliche Novum und Verdienst der neueren sozialen Bewegungen. 9. Das Selbstvertrauen in unseren Ängsten. Früh ist von interessierter Seite kritisiert worden, dass in der Auseinandersetzung mit neuen Technologien und vor allem der Atomenergie „irrationale“ Ängste im Spiel sind. Niklas Luhmann hat in diesem Zusammenhang eher abfällig von Angstkommunikation gesprochen. Aus sozialen Bewegungen heraus ist dagegen immer wieder der „Mut zur Angst“ (Günther Anders) gefordert worden. Gemeint ist die Mobilisierung von Phantasie und Vorstellungskraft über die möglichen sozialen und ökologischen Folgen von Risikotechnologien. Spätestens seit der Havarie von Tschernobyl ist der Mythos eines allenfalls statistisch relevanten Restrisikos zerfallen und die Befürchtung rehabilitiert, dass stets mit „normal accidents“ (Charles Perrow) zu rechnen ist. Der Forderung nach einer Risikofolgenabschätzung können sich heute neue Technologien nur schwer entziehen. Im Falle der Atomenergie führen solche Risikoabwägungen mit Blick auf den größten anzunehmenden Unfall zu negativen Konsequenzen. 10. Die Suche nach Alternativen. Wer öffentlich Nein sagt, muss sich auch die Frage nach Alternativen gefallen lassen. In das „Atomkraft, nein danke!“ war deshalb ein Lernzwang eingebaut. Er hat durchaus funktioniert, wie z.B. die erfolgreiche Suche nach regenerativen Energien verdeutlicht. Die Suche hält an und hat in Ostdeutschland regenerative Energien zu 2 einem wichtigen Wirtschaftszweig werden lassen. Dass Alternativen, wie z.B. der großflächige Einsatz von Windparks, selbst wieder ökologische Proteste auslösen, gehört zu den Problemen zweiter Ordnung, mit denen auch Alternativen zu rechnen haben. 11. Demokratieverträgliche Technologien. In der Atomenergiedebatte ist früh die Frage nach der Demokratieverträglichkeit dieser Technologie gestellt worden. Von einer demokratieverträglichen Technik können wir nur dann sprechen, wenn zumindest folgende Voraussetzungen erfüllt sind: a. Zukünftige Gesetzgeber und nächste Generationen müssen unsere Entscheidungen prinzipiell revidieren können (dies ist angesichts der ungelösten Entsorgungsprobleme mit dem Atommüll nicht gegeben) und b. darf der Normalbetrieb keine Sicherheitsvorkehrungen erfordern, die fundamentale Bürgerrechte aushebeln („Atomstaat“Argumentation von Robert Jungk); Kosten und Nutzen müssen so transparent sein, dass eine rationale Technikwahl möglich ist. 12. Das Paradigma „Lebensweise“. Neue soziale Bewegungen haben von Anbeginn nicht ausschließlich versucht, staatliches Handeln zu beeinflussen, sondern sie haben in hohem Maße kulturorientiert neue Lebens- und Arbeitsweisen zu entwickeln. Die Suche nach „altri codici“ (Alberto Melucci), nach anderen Lebensstilen und selbstbestimmten Formen der Existenz wird häufig als die eigentliche Botschaft der neuen Bewegungen hervorgehoben. Bereits Herbert Marcuse hat mit Blick auf die Revolten der 1960er Jahre betont, dass es darauf ankommt, das Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Gesellschaftsveränderung, zwischen einer präfigurativen Praxis im Kleinen und der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen aufrechtzuerhalten. 13. Lokale und regionale Zugänge. Bekräftigt und verstärkt u.a. durch die lokale Agenda 21 haben kleinräumige, subnationale Veränderungsansätze durch die neuen sozialen Bewegungen eine enorme Aufwertung erfahren und ein verändertes Verständnis von Reformstrategien herausgefordert. Die Suche nach lokalen Alternativen setzt eine Stärkung dieser politischen Ebene voraus (Kommunalismus), die aktuell nur durch die Zurückdrängung nationaler und transnationaler Imperative denkbar ist. Dies bedeutet nicht, einem bornierten Parochialismus das Wort zu reden. Seit der Rio-Formel „Global denken, lokal handeln“ (und umgekehrt) haben transnationale und kosmopolitische Orientierungen an Boden gewonnen. Sie benötigen jedoch Bodenhaftung. III. Wege aus der Energiekrise 14. Diese demokratische Ansprüche und Impulse sind weiterhin uneingelöst und dennoch wirksam. Ohne auf sie zurückzugreifen und sie zu berücksichtigen, wird es keine progressiven Wege aus der Energiekrise geben. Dies bedeutet, dass Energiealternativen nur eine Chance haben, wenn sie sich den Regeln ökologischer Demokratie (U.K. Preuss) unterwerfen. Menschen wollen überzeugt und gewonnen werden, zur Veränderung ihres Lebensstils sind sie nur bereit, wenn sie dies wollen. Jede Hoffnung auf eine ausschließlich oder vorrangig technologische Lösung wäre ebenso zum Scheitern verurteilt, wie das Setzen auf staatliche Zwangsmittel. Nur mehr demokratische Beteiligung verspricht – angesichts einer mobilisierten und mobilisierungsfähigen Bevölkerung – neue Wege aus der Energiekrise. Hier liegt das strukturkonservative Versagen der staatlichen Rettungspakete und üppigen Konjunkturprogramme (z.B. Abwrackprämie), selbst wenn sie vorübergehende konjunkturelle Stabilisierungen bewirkt haben. 3 15. Dezentrale Produktions- und Versorgungsstrukturen sind die einzig demokratisch angemessene Antwort auf die enormen Veränderungsanforderungen, die ein Weg aus dem Fossilismus erfordert. Sie brauchen angepasste politische Strukturen, die an lokale Selbstverwaltungstraditionen anknüpfen können, wie das Beispiel der lokalen Stromrebellen zeigt. Die Vorbildfunktion gelebter lokaler Alternativen sollte dabei nicht unterschätzt werden, wie z.B. Sozialforen und Bürgerhaushalte zeigen. 16. Dass auf einem alternativen Entwicklungspfad mit heftigen Blockaden zu rechnen ist, lässt sich in der Bundesrepublik gegenwärtig am bislang erfolgreichen „Ausstieg aus dem Ausstieg“ in Sachen Atomwirtschaft beobachten. Die Aufkündigung des „Atomkonsenses“ macht deutlich, wie zentral eine mobilisierte Öffentlichkeit und bürgerschaftliches Engagement sind, um den Weg für gesellschaftliche Alternativen offen zu halten. Letztlich wird auf den Straßen und Plätzen entschieden werden, ob der geplante roll-back verhindert werden kann. Die erstaunliche Mobilisierungskraft einer wiedererstarkten Anti-AKWBewegung verweist auf Fortschritte, die auf der Suche nach Alternativen, in der Aufklärung der Bevölkerung und ihrer Bereitschaft zum Engagement erzielt wurden. Ob all dies ausreicht, um der geballten Macht von Atomlobby, den Bestandsinteressen der EVUs, ihren Verflechtungen im politischen Raum und ihrer „state capture“ zu widerstehen, ist freilich offen. 17. Auch wenn die Veränderungsdimensionen riesig sind, können wir heute von weitaus besseren Voraussetzungen ausgehen, wenn es um die öffentliche Unterstützung und die Offenheit für Alternativen angeht: - die demokratischen Selbstgestaltungsansprüche sind gestiegen, mit bürgerschaftlichem Engagement ist stets zu rechnen, auch mit entsprechendem Eigensinn auf alternativen Pfaden, - mit dem nachlassenden Glauben an die Handlungs- und Lösungsfähigkeiten der etablierten Politik wird eigenes Engagement zu einer wichtigen Größe. Dies gilt für das breiter gewordene Aktionsrepertoire einer engagierten Bürgerschaft, aber auch für das wachsende Vertrauen auf die „Weisheit der Vielen“, die entsprechende Entfaltungsräume benötigt, - die Chance, Großprojekte und Risikotechnologien gegen einen Mehrheitswillen polizeilich-militärisch durchzudrücken, ist geringer geworden, wie insgesamt die Duldsamkeit der Bürgerschaft, - die Technikfaszination, vor allem die für große Infrastrukturprojekte (s. Stuttgart 21) ist erheblich zurückgegangen (jenseits der „prometheischen Scham“), - Unternehmen sind selbst zunehmend zur Zielscheibe von neuen Protestformen geworden (politischer Konsum, Boykott), d.h. Politik kann ihnen immer weniger „den Rücken freihalten“, - die Existenz von alternativen Wegen kann nicht geleugnet mehr werden, also kommt es darauf an, über ihren Nutzen und ihre Kosten zu debattieren, - die ökonomische Wachstumsfixierung hat deutlich abgenommen; entsprechende Zuwächse werden zunehmend am Zugewinn an Lebensqualität gemessen, - mit den neuen Kommunikationstechnologien sind intensive Formen transnationaler Kooperation und (Selbst-)Aufklärung möglich geworden. 18. Ob diese politischen Gelegenheitsstrukturen genutzt werden können und zu entsprechenden Politikergebnissen führen, hängt nicht zuletzt davon ab, dass es zu einer Vertiefung und Intensivierung demokratischer Gestaltungsrechte kommt. An Modellen und Experimenten mangelt es nicht. 4