Deutschlandradio Kultur Evolution im Zeitraffer Beschleunigt der

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Deutschlandradio Kultur
Forschung und Gesellschaft am 1. November 2007
Redaktion: Peter Kirsten
Evolution im Zeitraffer
Beschleunigt der Klimawandel die Bildung neuer Arten?
Von Kurt Darsow
REGIE: Musik
SPRECHERIN (lebhaft): Die fünfzehn Meter lange und sechs Meter
hohe Schauwand nimmt fast die ganze Breite des Raumes ein. Hinter
Glas und im Halbdunkel subtil ausgeleuchtet, versammelt sie an die
dreitausend Tierpräparate unterschiedlichster Arten: Schneckenhaus
reiht sich an Schneckenhaus, Schmetterling an Schmetterling,
Wirbeltier an Wirbeltier – wenig angesichts der Millionen, die es auf
der Erde gibt, aber viel auf einen Blick.
SPRECHER (ruhig): Die „Biodiversitätswand“, wie sie offiziell
genannt wird, ist das neue Highlight des Berliner Museum für
Naturkunde. Während die von Schulklassen umlagerte Saurierhalle
mit den Giganten des Mesozoikums lediglich einen monströsen
Sonderweg der Natur beschreibt, ist ein paar Schritte weiter, im Saal
„Evolution in Aktion“, buchstäblich „des Lebens ganze Fülle“ zu
besichtigen.
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SPRECHERIN: Das Gewimmel ist nach Tiergruppen unterteilt und
hebt in der Vielfalt der Formen und Farben bestimmte
Zusammengehörigkeiten hervor. Was aber der knorrige Nashornvogel
im einzelnen mit der zart gefiederten Rotbrust-Krontraube zu schaffen
hat oder wie der geschmeidige Nebelparder sich zu einem Winzling
namens Rötelmaus verhält, muss der Besucher schon selbst
herausfinden. Die angrenzenden Vitrinen enthalten dazu nützliche
Hinweise und Erläuterungen.
SPRECHER: Dass hier nicht nur das „Überleben der Tüchtigsten“
demonstriert werden soll, ist offenkundig. Dazu sind die gezeigten
Objekte ästhetisch viel zu ansprechend. Sie würden als Aufsehen
erregende „Installation“ genauso in ein heutiges Kunstmuseum
passen, wie in ein Naturkundemuseum: Tiere überleben eben nicht
nur, weil sie „fitter“, sondern auch weil sie „schöner“ sind. Wie sollte
das Pfauenmännchen sonst wohl zu seinen pompösen Schwanzfedern
gekommen sein?
3
SPRECHERIN: Was dieser Rückgriff auf die Tradition der
Wunderkammern und Kuriositätenkabinette lediglich andeutet,
untermauert die Evolutionsforschung gegenwärtig mit harten Fakten:
Biodiversität wird nicht länger als das Ergebnis eines starren
Entwicklungsschemas betrachtet. Statt passiv auf vorgefundene
Bedingungen zu reagieren, suchen die Arten aktiv nach evolutionären
Auswegen, entwickeln sie individuelle Überlebensstrategien,
betätigen sie sich als findige Netzwerker.
REGIE: Musik
SPRECHER: Biosystematiker hatten den Victoria-See, das größte
Binnengewässer Afrikas, wegen seiner überquellenden BuntbarschPopulationen schon lange im Blick. Doch seit Thomas C. Johnson im
Jahr 1996 durch die Untersuchung von Sedimenten nachweisen
konnte, dass der riesige See vor 14.000 Jahren vollkommen trocken
lag, haben ihn auch die Evolutionsforscher entdeckt. Nach solchen
Hot spots, an denen sie der Evolution „über die Schulter sehen“
konnten, hatten sie schließlich immer gesucht.
SPRECHERIN: Wie konnten sich die mehreren hundert Arten der
Gattung Haplochromis, die heute den Victoria-See bevölkern, in der
kurzen Zeit herausbilden, in der er sich wieder mit Wasser füllte? War
man nicht immer von Fristen ausgegangen, die um mehrere
Zehnerpotenzen darüber lagen und eher der geologischen als der
biologischen Zeitskala angehörten?
SPRECHER: Ein Widerspruch schien sich am Victoria-See
aufzutun, der das darwinistische Denkgebäude nicht nur aus der Sicht
bibelgläubiger Kreationisten in Frage stellte. Von
ZITATOR: „genetisch polyvalenten Stammformen, die über ein
verborgenes Verhaltenspotential verfügen, das bei Bedarf auf noch
unbekannte Weise aktiviert werden kann“,
SPRECHER: wurde in einem Fachaufsatz über die „Explosive
Artbildung bei ostafrikanischen Buntbarschen“ geraunt.
O-TON 1: (Glaubrecht): Das Überraschende ist, dass solche
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Änderungen innerhalb von wenigen Jahren passieren. Wir denken als
Evolutionsbiologen in viel längeren Abständen. Die Natur ist da
offensichtlich wesentlich flexibler, und es werden solche Dinge jetzt
neu beobachtet. Die Wissenschaftler sind auch sehr viel sensibler
geworden und suchen regelrecht nach Beispielen schneller
genetischer
Veränderungen,
die
das
Evolutionsgeschehen
widerspiegeln.
SPRECHERIN: Reichen solche Beobachtungen schon aus, um von
einem „Paradigmenwechsel“ zu sprechen? Matthias Glaubrecht,
Evolutionsbiologe und Leiter der Abteilung Forschung am Berliner
Museum für Naturkunde, stimmt es jedenfalls nachdenklich, dass
neben gemächlichen Phasen, in denen die biologische Entwicklung
fast auf der Stelle tritt, neuerdings immer mehr „Artenexplosionen“
entdeckt werden:
O-TON 2 (Glaubrecht): Die „Evolution in Aktion“ ist also wirklich
etwas, worauf die Evolutionsbiologen jetzt erst aufmerksam werden:
Wenn man sich gerade einen roten Golf gekauft hat, dann fahren
überall rote Golfs; die Aufmerksamkeit ist einfach größer. Dann hängt
es sicherlich damit zusammen, dass wir solche Veränderungen sehen
durch die sehr dramatischen und drastischen Veränderungen in
unserem Klimageschehen. Wir tragen sozusagen dazu bei, dass wir
jetzt auf der Erde ein Riesenexperiment durchführen, und deswegen
mehren sich auch die Beispiele, wo wir sehen, wie flexibel die Tierund Pflanzenwelt darauf reagiert.
SPRECHER: Ein Paradebeispiel für das Tempo, mit dem Tiere und
Pflanzen sich auf den gegenwärtigen Klimawandel einstellen, liefert
ein kleiner graubrauner Vogel mit schwarzer „Tonsur“, der er seinen
Namen verdankt.
SPRECHERIN: Die Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) ist als
Zugvogel in ganz Europa von Finnland bis Spanien zu Hause. Seit der
Frühling in nördlichen Breiten immer früher ausbricht, hat der kleine
Sänger sein Einzugsgebiet allerdings deutlich reduziert. Sogar in den
Genen schlägt sich sein geändertes Zugverhalten bereits nieder, wie
durch Kreuzungsexperimente nachgewiesen werden konnte:
O-TON 3 (Glaubrecht): Die Mönchsgrasmücke ist ein wunderbares
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Beispiel für eine genetisch verankerte Veränderung im VerhaltensProgramm. Die Mönchsgrasmücken sind vor allem im nördlichen
Mitteleuropa immer Zugvögel gewesen, und Vogelkundler haben
beobachtet, dass sie ihr Zugverhalten ändern. Sie gehen also zu einem
Teilzieher-Verhalten über, das heißt, Teile der Populationen bleiben
im dem Sommergebiet, überwintern dort. Man hat beobachtet, dass
die Zugrichtung sich leicht ändert. Sehr viele Tiere weichen jetzt in
den Süden von England aus. Dort ist das Klima milder; dort werden
sie auch im Winter von den vogelbegeisterten Briten gefüttert.
Dadurch ziehen sie also nicht mehr in dem Maße ins Mittelmeergebiet
wie das vorher der Fall war. Die Vogelkundler vermuten hier einen
Zusammenhang mit dem Klimageschehen.
SPRECHER: Was William Bradshaw und Christina Holzapfel von
der University of Oregon am Beispiel der Mönchsgrasmücke
herausgefunden haben, lässt sich in ähnlicher Form auch bei vielen
anderen Tier- und Pflanzenarten feststellen: ein Wandel des
Migrations-, Entwicklungs- und Reproduktionsverhaltens, der nicht
nur Ausdruck von artspezifischer Variabilität ist, sondern bereits zu
genetischen Veränderungen geführt hat:
SPRECHERIN: Korallen tun sich angesichts des „Hitzeschocks“
mit wärmetoleranteren Algen zusammen.
SPRECHER: Der Ackersenf, eine auf der ganzen Nordhalbkugel
vorkommende Pflanze, reagiert auf den Klimawandel mit früheren
Blütezeiten.
SPRECHERIN: Nordamerikanische Moskitos stellen
Lebenszyklus auf die veränderten Jahrestemperaturen ein.
ihren
SPRECHER: Bei Taufliegen aus nördlichen Breiten setzen sich
Erbanlagen durch, die bislang charakteristisch für Tiere mit südlichem
Verbreitungsgebiet waren.
SPRECHERIN: Der Kabeljau pflanzt sich im wärmer werdenden
Wasser früher fort.
SPRECHER: Seeadler, die dichte Wälder als Brutplätze
bevorzugten, nisten neuerdings am Stadtrand von Wismar oder in der
Nähe des Hamburger Hafens.
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SPRECHERIN: Kapuzineraffen im brasilianischen Regenwald
nehmen bei der Nahrungssuche Steine und Stöcke zur Hilfe.
SPRECHER: Ähnliche Verhaltensweisen werden derzeit auch bei
Rabenvögeln beobachtet.
O-TON 4 (Glaubrecht): Wir beobachten das also bei Wirbeltieren,
wir beobachten das bei Schmetterlingen, wir beobachten das bei
Vögeln. In der Regel werden Evolutions-Beobachtungen immer an
solchen Tieren gemacht, die sich relativ leicht beobachten lassen. Das
sind eben die auffälligen Vogelarten, das sind aber auch alle
Wanderfalter, das sind Reptilien und dann gibt es durchaus
Evolutionsbiologen, die schon seit vielen Jahren an ausgewählten,
sogenannten Modell-Organismen arbeiten gerade in natürlichen
Laboratorien wie den Galapagos-Inseln, aber auch in großen Seen.
REGIE: Musik
ZITATOR: „Neue Arten sind im Wasser wie auf dem Lande nur
sehr allmählich, eine nach der anderen aufgetreten.“
SPRECHER: Was Charles Darwin in seinem 1859 erschienen
Hauptwerk über den Zeitmodus der Evolution schrieb, hängt seinen
Anhängern bis heute wie ein Klotz am Bein. Während der
Schöpfungsbericht der Bibel für die Entstehung der Arten nur zwei
Tage brauchte, räumte er der Evolution mindestens hunderttausend
Jahre ein. Ob es da einen Zusammenhang gibt?
SPRECHERIN: Den empirischen Befunden hielt der zur Norm
erhobener „Gradualismus“ jedenfalls immer weniger stand. Zwar
wurde er durch „lebende Fossilien“ wie den Quastenflosser oder den
Pfeilschwanzkrebs bestätigt; aber schon die rasante Entstehung von
Antibiotika-Resistenz oder die rätselhafte Widerstandsfähigkeit von
landwirtschaftlichen Schädlingen gegenüber Pestiziden war mit dem
gemächlichen Zeitmaß nicht mehr zu vereinbaren.
SPRECHER: Auch die Erdgeschichte sorgte für theoretischen
Verdruss. Die „Kambrische Explosion“ vor 540 Millionen Jahren, die
neue Arten wie am Fließband hervorbrachte, verlangte nach einer
anderen Erklärung. Der Paläontologe und Evolutionsforscher Stephen
7
Jay Gould zog ketzerische Schlüsse aus fossilen Zeugnissen ähnlicher
Art, die er im Burgess Shale, einer Felsformation in den Rocky
Mountains fand:
ZITATOR: „Die moderne Theorie der Evolution setzt keine
allmählichen
Veränderungen
voraus.
Die
Funktionsweise
darwinistischer Evolutionsprozesse kommt vielmehr zu eben dem
Ergebnis, das wir in den Fossilfunden vor uns haben. Wir müssen
zwar die Theorie von der allmählichen Veränderung, nicht aber den
Darwinismus zurückweisen.“
SPRECHERIN: Trat da etwa jemand aus Darwins Schatten? Auch
Stephen Jay Gould war sein ganzes Forscherleben lang den
Geheimnissen der Evolution auf der Spur. Nur weil die endlose
Ahnenprozession in den heutigen Arten zum Stillstand zu kommen
scheint, kann nach seiner Ansicht der Gedanke entstehen, sie seien vor
sechstausend Jahren fertig auf die Welt gekommen.
ZITATOR: „Betritt man die Welt in einem zufällig ausgewählten
Augenblick, wird mit überwältigend großer Wahrscheinlichkeit
gerade nicht viel Wandel im Gange sein. Betrachtet man aber die
Gesamtheit der Jahrmillionen, so stellen diese Unterbrechungsphasen
die Handschrift des historischen Wandels dar, auch wenn sie vielleicht
nur ein oder zwei Prozent der Gesamtzeit ausmachen. Das
Entscheidende in Erdgeschichte und Geologie ist der Maßstab.“
O-TON 5 (Kießling): Wir sind ja immer auf der Suche nach
allgemeinen Regeln in der Evolution. Allgemeine Regeln im
Zusammenhang mit Klima zum Beispiel können wir also durchaus
aufstellen. Wir können insgesamt beobachten, dass die Evolution
rascher abläuft, wenn es wärmer ist. Nicht nur die Aussterbe-Raten
nehmen generell zu, wenn es wärmer ist, sondern auch die
Neuentstehungs-Raten von Arten.
SPRECHER: Wolfgang Kießling, Professor für Evolutionäre
Paläoökologie am Berliner Museum für Naturkunde, ist für große
Zusammenhänge zuständig. Nach seiner Kenntnis hat die
Erderwärmung dem Leben auch schon in früheren geologischen
Zeitaltern eingeheizt. Doch nicht alle Arten fanden beim Umstieg aus
dem Bummelzug in den Evolutionsexpress einen geeigneten Platz.
8
Viele waren den veränderten Bedingungen nicht gewachsen und
blieben auf der Strecke:
O-TON 6 (Kießling): Die Verlierer sind normalerweise in
Bereichen, die kühler sind. Gerade in unseren Breiten werden sich
viele Verlierer abzeichnen. Wenn die tropischen Arten die Chance
nutzen, durch Erwärmung in höhere Breiten zu migrieren, werden
unsere heimischen Arten zunehmend Schwierigkeiten bekommen.
Auch in der Erdgeschichte kann man das immer wieder sehen:
Migration findet immer wieder von den hochdiversen zu den
niedrigdiversen Gebieten statt. Und da es nun einmal so ist, dass am
Äquator die höchste Diversität ist, geht eben die Migration immer
vom Äquator weg in die höheren Breiten und zwar immer dann, wenn
es wärmer wird.
REGIE: Musik
SPRECHERIN: Die Luft zwischen den schwarzen Vulkankegeln
flimmerte. Der junge Naturforscher wischte sich den Schweiß von der
Stirn. Eine Schwirren, ein Flügelschlagen im sonnenverbrannten
Buschwerk: da waren sie wieder, die seltsamen kleinen Vögel. In
Farbe und Größe sahen sie alle gleich aus. Doch von Insel zu Insel
wiesen sie auch gewisse Besonderheiten auf. Wie kam es zu dieser
verwirrenden Vielfalt? Was war die biologische Absicht des
Gestaltwandels?
ZITATOR: „Die Landvögel bilden eine ganz eigentümliche Gruppe
Finken, die durch die Form des Schnabels, des kurzen Schwanzes
sowie Köper und Gefieder miteinander verwandt sind. Das
Merkwürdige ist die vollkommene Abstufung der Schnabelgröße von
einem, der groß ist wie der des Kernbeißers, bis zu dem des
Buchfinken, selbst dem der Grasmücke. Wenn man diese Abstufung
und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten
Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, dass von einer
ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art
ausgewählt und zu verschiedenen Zwecken modifiziert wurde.“
SPRECHER: In seinem 1839 erschienenem Journal Die Reise mit
der Beagle formuliert Charles Darwin erstmals einen Gedanken, an
dem sich auch im 21. Jahrhundert noch die Geister scheiden. Die
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einen betrachten ihn als den Stein der Weisen und die anderen halten
ihn für Teufelszeug. Eine Woche auf den pazifischen GalapagosInseln reichte aus, und tausendjährige Gewissheiten gerieten ins
Wanken:
ZITATOR: „Dass manches von manchem herrührt,/um das zu
verstehen, brauchen wir/kein Kalkül und keinerlei Theorien.//Dass im
unendlichen Netz der Veränderungen/ Wesen existieren, die von
anderen Wesen abstammen,/liegt derart auf der Hand, dass man sich
fragt:/Wie ist es möglich, dass es Leute gibt, die an der Theorie der
Evolution zweifeln?//„Der Mensch“, sagt Shakespeare,/und Milton
wiederholt es, „ist ein Meisterwerk“.// Aber wenn wir sehen, wie sich
die Wolke/in Regen, der Regen in Hagelschlag/ und der Hagel in
Schlamm verwandelt,/beginnen wir ernstlich, an allem zu zweifeln“,
SPRECHER: schreibt der mexikanische Dichter Alberto Blanco.
SPRECHERIN: Charles Darwin hat die Auswirkungen von „Regen
und Hagelschlag“ offenkundig unterschätzt. Er glaubte, jede Insel des
Galapagos-Archipels habe eine den dortigen Bedingungen genau
entsprechende Unterart der nach ihm benannten Finken
hervorgebracht. Doch was geschieht, wenn die Bedingungen auf den
einzelnen Inseln sich ändern? Was fangen die Vögel an, wenn
eingeübten Anpassungen versagen?
SPRECHER: Auch den Darwin-Finken blieb der Klimawandel nicht
erspart: Als nach einer Dürreperiode auf der Galapagos-Insel Santa
Cruz nur noch hartschalige Sämereien als Nahrung zur Verfügung
standen, ließen sich die Wandlungsfähigsten unter ihnen in kürzester
Zeit einen kräftigeren Schnabel wachsen, mit dem sie Körner mühelos
zerbeißen konnten.
O-TON 7 (Glaubrecht): Ich denke, dass wir diese Phänomene durch
das ganze Tierreich beobachten. Wir wissen das nicht nur von den
Mönchsgrasmücken, sondern schnelle Veränderungen hat man auch
bei den Darwin-Finken exemplarisch beobachtet. Da hat sich
innerhalb von wenigen Generationen durch das Abwechseln von
Trockenperioden und Regenperioden auf Galapagos ganz erheblich
der Durchschnittswert zum Beispiel der Schnabellänge verändert: Je
trockener die Inseln waren, desto kürzer sind die Schnäbel geworden,
weil kleine Samen plötzlich sehr viel häufiger waren und diejenigen
Vögel, die kurze Schnäbel hatten, konnten besser überleben.
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SPRECHER: Als es zwei Jahre später nach ausgiebigen Regenfällen
wieder genügend kleine, weiche Samenkörner gab, kehrten die Finken
von Santa Cruz zur ursprünglichen Schnabelgröße zurück – ein
Lehrstück in Sachen Evolution, das alle Regeln der Orthodoxie über
den Haufen wirft. Natürlich hat es auch in diesem von den
amerikanischen Biologen Sarah Huber und Jeffrey Podos
beobachteten Fall nicht an Kommentatoren gefehlt, die den
körperlichen Umbau auf genetische Präformation zurückführten, aber
viele Finken auf der Galapagos-Insel brachten ihn in der Kürze der
Zeit nicht zustande und verhungerten. Wolfgang Kießling:
O-TON 8 (Kiessling): Dass der Evolutionsverlauf tatsächlich
sprunghaft ist, da sind wir auch erst in den letzten Jahren darauf
gekommen. Früher war immer die Frage, sind das nur Lücken im
Fossilbericht, die wir sehen oder ist das tatsächlich ein biologisches
Signal. Wir können von einem biologischen Signal sprechen: sie ist
tatsächlich explosionshaft teilweise verlaufen, die Evolution, die
Artneubildung. Aber warum das stattfinden kann, ob jetzt tatsächlich
die genetischen Veränderungen stärker sind als zu anderen Zeiten,
das ist und noch nicht so ganz klar.
REGIE: Musik
SPRECHERIN: Vor sechs Jahren wäre die Schmetterlingsart
Hypolimnas bolina auf zwei Inseln des Samoa-Archipels um ein Haar
ausgestorben, wie Sylvain Charlat in der Zeitschrift Science berichtet.
Die Große Eierfliege, wie der Falter auch genannt wird, hatte sich mit
dem Bakterium Wolbachia infiziert, das nur für die Männchen eine
tödliche Gefahr darstellte. Sie starben, noch bevor sie aus dem Ei
geschlüpft waren. Den Weibchen dagegen konnte der Erreger
seltsamerweise nichts anhaben. Sie entwickelten sich normal und
entfalteten nach dem Raupenstadium wie selbstverständlich ihre
samtschwarzen Flügel. Matthias Glaubrecht:
O-TON 9 (Glaubrecht): Das ist ein tolles Beispiel, das die Kollegen
auf Samoa, auf dieser Südseeinsel, entdeckt haben. Der Hintergrund
ist, die Infektion eines Bakteriums führt dazu, dass die Männchen
nicht überleben. Das führt zu einem völlig verschobenen
Geschlechter-Verhältnis. In der Regel ist es etwa fünfzig zu fünfzig,
und bis zum Jahre 2001 gab es also kaum Männchen, sondern nur
11
Weibchen, die gegen diese Infektion mit diesem Bakterium resistent
gewesen sind. Die Forscher haben jetzt beobachtet, dass sich das bis
zum Jahre 2006 durch eine Genmutation verändert hat, das heißt die
Männchen haben plötzlich auch diese Resistenz erworben und
überleben und dann hat sich das Geschlechterverhältnis wieder an
das Verhältnis von 50 zu 50 angenähert.
ZITATOR: „Soweit ich weiß, ist das die schnellste evolutionäre
Anpassung, die jemals beobachtet wurde, normalerweise dauern
solche Prozesse Hunderte oder Tausende von Jahren“,
SPRECHERIN: kommentiert Sylvain Charlat ihre Entdeckung.
SPRECHER: Ist das Suppressor-Gen, das die Männchen der Großen
Eierfliege gegen den Bakterienbefall immunisiert hat, etwa vom
Himmel gefallen? Tatsächlich scheint es durch Schmetterlinge aus
Ostasien eingeschleppt worden zu sein, die irgendwie auf die
Tausende von Kilometern entfernten Südsee-Inseln gelangt sind und
ihre Immunität auf die einheimische Population übertragen haben.
Doch der Samoa-Falter könnte genauso gut durch eine jener
„Mutationen“ gerettet worden sein, die angeblich nur dem
Zufallsprinzip unterworfen sind, die sich aber merkwürdigerweise
immer gerade dann einstellen, wenn sie zum Überleben dringend
gebraucht werden.
O-TON 10 (Glaubrecht): Wir wissen aus der Evolutionsbiologie,
dass schneller evolutionärer Wandel vor allem in kleinen, isolierten
Populationen stattfindet, und das ist auch einfach zu erklären: hier
sind viel schneller alle Mitglieder einer Population zu erreichen,
sodass sich dann eine bestimmte Mutation auch ausbreiten kann.
Wenn also Krankheiten sich ausbreiten, dann gibt es immer einige
randliche Populationen, die diese Mutationen haben. Sehr häufig sind
das nur sehr wenige, die dann aber diese Resistenz weitergeben
können, sodass sich die Bestände langsam wieder aufbauen.
SPRECHER: Matthias Glaubrecht spielt auf die „allopatrische
Artbildung“ an, deren Konzept auf den Evolutionsbiologen Ernst
Mayr zurückgeht. Nicht alle Populationen einer Art stehen demnach
in ständigem Kontakt zueinander und tauschen ihre Gene durch
Paarung aus. Es kommt immer wieder vor, dass Teilpopulation von
der Hauptgruppe durch Wasser, Gebirge, Wüsten oder andere
12
unüberwindliche Hindernisse getrennt werden. Die geografischen
Barrieren führen dazu, daß die isolierte Population eine
Sonderentwicklung nehmen kann: Mutationen breiten sich schneller
aus und können sich unter Umständen sogar potenzieren. Auf kurz
oder lang entstehen so neue Arten. Aber was sind überhaupt neue
Arten? Ernst Mayr definiert sie als
ZITATOR: „Gruppen natürlicher Populationen, die sich
untereinander kreuzen und von anderen derartigen Gruppen
reproduktiv getrennt sind.“
SPRECHER: Mayrs Artkonzept bezieht sich offenbar nur auf den
Sonderfall der von ihm erforschten und beschriebenen „allopatrischen
Artbildung“. Was sich zum Beispiel unter den Buntbarschen des
Victoria-See zugetragen hat, scheint diesem Modell zu widersprechen.
Sie haben ihre schillernden Farben in engstem Kontakt zueinander
entwickelt. So verhält es sich auch bei der Mehrzahl der
Sonderentwicklungen, die Pflanzen und Tieren gegenwärtig durch den
Klimawandel abverlangt werden. Auch sie sind nicht das Ergebnis
geographischer Isolation, sondern sind sozusagen „Schulter an
Schulter“ entstanden.
O-TON 11 (Kießling): Es ist wohl eher so, dass die Möglichkeit,
diese neuen Arten entstehen zu lassen, schon vorher in den Genen da
war. Früher hat man Präadaptation dazu gesagt. Diesen Begriff
vermeidet man heute, um dieses Vorherschauende in der Evolution
nicht so auszudrücken, aber im Prinzip ist es das. Es ist schon alles in
den Genen da, man hat die Möglichkeit dazu, zu radiieren aber man
hat praktisch nicht die Chance, das auch zu tun, sondern erst, wenn
die Lebensräume frei sind.
O-TON 12 (Glaubrecht): Das sind graduelle Veränderungen, von
denen wir ja immer schon wussten. Das Überraschende ist die Kürze,
in der das passiert. Wir sehen eben gerade keine Sprünge bei all
diesen ganzen Veränderungen, sondern wir können das inzwischen
auf allmähliche Anpassung zurückführen, also kleine Schritte, die hier
diesen Wandel einläuten.
SPRECHERIN: Neue Arten oder graduelle Veränderungen? Die
beiden Experten des Berliner Museums für Naturkunde sind sich nicht
13
ganz einig darüber, was das „Treibhaus Erde“ gegenwärtig mit seinen
Bewohnern macht: Führt es lediglich zu genetischen
Differenzierungen innerhalb der Arten oder zeichnen sich bereits neue
Arten mit besseren Überlebenschancen ab? Die eingangs erwähnte
„Biodiversitätswand“ scheint eine Antwort auf diese schicksalhafte
Frage zu geben.
SPRECHER: Die Vielfalt des Lebens hätte sich zweifellos auch
ganz anders darstellen lassen, als es dort geschieht. Statt Arten
unterschiedlichster Herkunft aufmarschieren zu lassen, hätten die
Kustoden sich auf einen regional begrenzten Ausschnitt des Lebens
beschränken können. Das Museum of Natural History in New York
hat sich für diese eher ökologische Herangehensweise entschieden,
indem es in der entsprechenden Vitrine eine auf engstem Raum
kooperierende Lebensgemeinschaft – einen Ausschnitt aus dem
tropischen Regenwald – aufmarschieren lässt.
SPRECHERIN: Die „Berliner Lösung“ betont dem gegenüber auf
faszinierende Weise gerade die Schauseite des Lebens, ihren Prunkund Prachtaspekt. Auch Charles Darwin hatte die Evolution bereits als
ästhetische Veranstaltung verstanden und in diesem Zusammenhang
den Begriff der „sexuellen Selektion“ eingeführt. Dass Hirsche ein
riesiges Geweih ausbilden oder Paradiesvögel ein leuchtend buntes
Federkleid, geht demnach auf bestimmte optische Vorlieben der
Weibchen bei der Partnerwahl zurück.
SPRECHER: Die „sympatrische Artbildung“, wie dieses
Gegenmodell zur „allopatrischen Artbildung“ auch genannt wird, ist
nicht auf eher seltene und äußerst langsam verlaufende Ereignisse wie
das Auftauchen von vulkanischen Inseln, die Entstehung von
Gebirgen oder die Bildung von Wüsten angewiesen. Sie kann schnell
und kreativ auf ökologische Umbrüche wie den Klimawandel
reagieren, indem sie das bestehende Artenspektrum durch attraktive
und zukunftsfähige Newcomer erweitert. Wolfgang Kießling:
O-TON 13 (Kießling): Es ist tatsächlich so, dass wir verschiedene
Evolutionsraten bei verschiedenen Tiergruppen generell beobachten.
Notorisch für langsame Evolution sind zum Beispiel die Muscheln.
Mittlere Lebensdauern der Arten reichen da in die zehner Millionen
Jahre, während andere Arten wie zum Beispiel die Säugetiere sehr
14
rasch evolvieren und sich tatsächlich immer sehr schnell etwas Neues
einfallen lassen.
SPRECHERIN: Nach einer konservativen „Nischenexistenz“
jedenfalls scheint es die „Freibeuter“ unter den Pflanzen und Tieren
nicht gerade zu verlangen. Das haben sie bewiesen, als sie schon vor
dreißig Millionen Jahren in alle möglichen Lebensräume
ausschwärmten. Obwohl immer wieder behauptet wird, die Säugetiere
hätten sich erst nach dem Verschwinden der Dinosaurier entfaltet,
bevölkerten sie schon in der Kreidezeit einen großen Teil der Erde.
Vielleicht hängt ja die globale Ausbreitung des Menschen, deren
ökologische Kehrseite wir zur Zeit erleben, mit dieser risikofreudigen
Ahnenreihe zusammen.
SPRECHER: Bewegte Zeiten rufen bewegte Theorien hervor.
Insofern ist es natürlich kein Zufall, dass das Zeitmodell der „langen
Dauer“ gerade jetzt evolutionstheoretisch in Frage gestellt wird:
Während Traditionalisten an einer für alle Arten verbindlichen
„Einheitszeit“ festhalten, scheint es in der biologischen Welt
tatsächlich eine große Vielfalt an individuellen „Eigenzeiten“ zu
geben. Quastenflosser und Pfeilschwänze finden dort genauso ihren
Platz wie Mönchsgrasmücken und Samoa-Schmetterlinge:
ZITATOR: „Die Zeit ist der Stoff, aus dem ich gemacht bin. Die
Zeit ist der Fluss, der mich fortreißt, doch ich bin der Fluss; sie ist der
Tiger, der mich zerreist, doch ich bin der Tiger; sie ist ein Feuer, das
mich vernichtet, doch ich bin das Feuer.“
SPRECHER: Der Schriftsteller Jorge Luis Borges fasst mit
poetischen Worten zusammen, was der Zeitfaktor für die Evolution
bedeutet: Er ist kein Grand seigneur, der alle Fäden in der Hand hält
und die Entwicklung bestimmt, sondern nur das Medium, in dem
Werden und Vergehen sich vollziehen. Was die Arten an kreativen
Möglichkeiten besitzen, ist ganz allein ihre Sache, auch wenn viele
Zeitgenossen die Welt lieber in den Händen eines allmächtigen
Schöpfers sähen:
ZITATOR: „In Wirklichkeit ist Evolution kein Übergang von
einer Form zur anderen, wobei das Alte durch den Triumph des Neuen
verschwindet, sondern ihr Ablauf ähnelt der Verzweigung eines
15
Busches. Außerdem entstehen die meisten Neuerungen zumindest am
Anfang als winzige, zusätzliche Zweige an bereits vorhandenen,
lebensfähigen Büschen – sie sind keine höhere Inkarnation von
Vorfahren, die alles in eine Verwandlung ihres früheren,
unscheinbaren Ich gesteckt hätten.“
SPRECHER: Stephen Jay Gould ist zwar kein orthodoxer
Darwinist, aber an den Essentials der reinen Lehre hält er gleichwohl
fest: Dass alle biologischen Arten einen gemeinsamen Ursprung
haben und durch unzählige Zwischenformen miteinander verbunden
sind, ist nach seiner Ansicht zweifelsfrei erwiesen. Dass ein
Intelligent design daran mitgewirkt hat, schließt er aus. Gerade die
unterschiedlichen Gangarten der Evolution, ihr langsameres oder
schnelleres Reagieren auf unterschiedliche äußere Gegebenheiten, ist
ein deutlicher Hinweis auf ihre Eigengesetzlichkeit. Matthias
Glaubrecht:
O-TON 14 (Glaubrecht): Die Evolution hat kein Ziel, sondern sie
sucht sich - wie beim Herabfließen von einem Berg - immer neue
Wege. Da gibt es nicht ein einziges Bachbett, wo das Wasser
herabläuft, sondern es gibt sehr viele verschiedene und die ändern
sich auch immer wieder. Das ist ein Aberwitz, an einen intelligenten
Designer zu denken, denn wenn Sie sich die Baukonstruktion vom
Menschen bis zu vielen anderen Tieren hin ansehen, dann muss man
feststellen: da ist überhaupt nichts intelligent, sondern das ist also
wirklich zusammengeschustert und das erklärt einfach viel mehr
diesen etwas irrlichternden Weg der Evolution.
REGIE: Musik
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