Online-Aktualisierung der 10. Auflage [www.lexikon-der-politik.de] Drechsler / Hilligen / Neumann GESELLSCHAFT UND STAAT Lexikon der Politik G Gesellschaft http://www.lexikon-der-politik.de/stichwort/g/gesellschaft.pdf Stand der Information: 29.03.2005 / © Lexikon der Politik Gesellschaft bezieht sich auf die Gesamtheit der ökonomischsozialen, politischen und kulturellen Lebensverhältnisse der Menschen (eines Landes). Als überaus komplexer sozialwissenschaftlicher Begriff verlangt er nach Ausdifferenzierungen, um handhabbar zu sein. Konstitutiv bleiben dabei jedoch sozial übergreifende Strukturen (*Sozialstruktur) und Mechanismen (*Marktwirtschaft) sowie Herrschaftsverhältnisse (*Macht und Herrschaft). Sie stellen sich zugleich als historisch vermittelte heraus – was auch für den Begriff ‚Gesellschaft’ selbst gilt: Er hat zwar eine lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte, mit seinem Bezug auf ein Ganzes, das nicht mehr durch beengende territoriale und strikte soziale Grenzziehungen bestimmt ist, verweist er jedoch auf die bürgerliche Gesellschaft. Das macht auch seine Nähe zum Begriff der *Nation aus. 1. Das *Bürgertum, das sich mit den europäischen Städtebildungen und der Ausweitung des Handels im Übergang zur Neuzeit neben *Adel und Geistlichkeit als eigener *Stand herausgebildet hatte, rieb sich zunehmend an den Benachteiligungen und Beengungen der ständisch organisierten Ordnung (*Ständegesellschaft). Obwohl seine wirtschaftlichen Aktivitäten im (späteren) Absolutismus Unterstützung fanden, konnte die überkommene Ordnung nur begrenzt oder gar nicht seinen Bestrebungen nach Rechtssicherheit, wirtschaftlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz entsprechen. Die Eroberung der politischen Macht gelang dem Bürgertum im 18. und 19. Jh. (*Französische Revolution) – mit charakteristischen Ausnahmen wie dem kleinstaatlerischen Deutschland, wo es nach halbherzigen Revolutionsversuchen (*Frankfurter Nationalversammlung, *Märzrevolution) bis zum Ende des 1.Weltkrieges nur begrenzt politischen Einfluss gewinnen konnte. Verknüpft waren diese Bestrebungen mit der politischen Strömung des *Liberalismus, der seinerseits wichtige Impulse von der *Aufklärung bekommen hatte. So wurde Obrigkeit nicht mehr als etwas Gottgewolltes hin- genommen, vielmehr bedurfte (auch) Herrschaft einer vernünftigen Begründung, die durch einen entsprechenden Vertrag zu institutionalisieren war (*Verfassung). Vor allem sollte er die Individuen vor staatlicher Willkür schützen und dem Einzelnen einen möglichst großen Freiheitsspielraum garantieren (*Freiheit). Nicht über *Privilegien sollte sich die Gesellschaft konstituieren, sondern über erarbeiteten Besitz. Damit war die Vorstellung verbunden, dass im 'freien Spiel der Kräfte' zwar jeder seinen eigenen Nutzen im Auge habe, eben dies aber letztendlich gesellschaftliche Harmonie verbürge, weil – im Rahmen rechtlich gesicherter Verhältnisse – alle an diesem 'Spiel' beteiligt seien und damit größtmöglicher wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand erzielt würden. Tatsächlich führte die neue, kapitalistische Produktionsweise (*Kapitalismus) zu einer enormen Produktivitätssteigerung. Deren soziale Kehrseite zeigte sich in den elenden Lebensbedingungen des Proletariats, das mit der Industrialisierung als eigene *Klasse entstand. Viele Arbeiter, persönlich frei, aber besitzlos und vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig, organisierten sich und kämpften um mehr Teilhabe am gesellschaftlich produzierten Reichtum (Arbeiterbewegung), in der Tendenz schließlich um die Herstellung materieller Gleichheit. Deren Verwirklichung wurde von der sozialistischen *Arbeiterbewegung als revolutionärer, die bürgerliche Gesellschaft überwindender Prozess vorgestellt (*Revolution, Marxismus), faktisch aber auf evolutionärem Weg versucht (*Evolution, *Reform). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit durch die periodisch wiederkehrenden Wirtschaftskrisen mit ihren ökonomischen und sozialen Folgeerscheinungen (*Arbeitslosigkeit). In der Folgezeit griff der *Staat in stärkerem Maße in die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse regulierend ein, um die unerwünschten sozialen Folgen der 'freien' Konkurrenzwirtschaft zu begrenzen und die Lebenschancen der benachteiligten Schichten zu verbessern – z. B. durch den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme (*Sozialstaat, *Soziale Marktwirtschaft) und eine Ver- Seite 1/3 besserung der *Bildungschancen. Ausmaß und Zielrichtung staatlicher Interventionen blieben jedoch politisch umstritten.2. Die Entwicklungsdynamik der bürgerlichen Gesellschaft hat zu gewissen sozial-strukturellen Veränderungen geführt, die auch politisch von Bedeutung sind. So hat die soziale Ungleichheit zwar noch zugenommen (*Einkommen, *Reichtum, *Vermögen), aber auf der Grundlage eines Niveaus, das in der BRD für breite Bevölkerungsschichten einen bislang unbekannten materiellen Wohlstand einschließt. Allerdings macht die Rede von der 'Zweidrittel-Gesellschaft' darauf aufmerksam, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gewissermaßen nicht mehr 'dazugehört' (*Arbeitslosigkeit, *Armut). Zu den Umstrukturierungsprozessen gehört, dass der Anteil der Arbeiter zugunsten der Angestellten deutlich zurückgegangen ist und der Dienstleistungssektor sich auf Kosten des güterproduzierenden Bereichs erheblich vergrößert hat (*Erwerbstätigkeit, *Dienstleistungsgesellschaft). Damit sind, zusammen mit der Erhöhung des Lebensstandards, Veränderungen in den Bewusstseinslagen und Verhaltensgewohnheiten verbunden. Untersuchungen haben gezeigt, dass in Bevölkerungsgruppen mit vergleichbarem sozialen Status recht unterschiedliche Wertorientierungen, politische Grundüberzeugungen und *Lebensstile existieren und diese subjektiven Neigungen als Gemeinsamkeiten z. T. schichtübergreifend wirksam sind (*Soziale Schichtung, *Soziale Milieus). Danach lassen objektive Schichtkriterien (Beruf, Einkommen, Bildungsabschluss) für sich genommen nur noch eingeschränkt Rückschlüsse auf Wertorientierungen, politische Überzeugungen und Verhaltensgewohnheiten zu. Als Bestandteil dieser Entwicklungen wird ein allgemeiner Wertewandel konstatiert, zu dem eine Pluralisierung der *Werte gehört. Allgemein gilt wohl, dass die vormals eher 'materialistischen', an Pflicht und Leistung orientierten Werte der älteren Generation zurückgetreten sind zugunsten von stärker individuell bestimmten‚ auf Selbstentfaltung und Genuss gerichtete Orientierungen, aber auch zugunsten von Wertsetzungen, die aus der Erschütterung des alten *Fortschritts-Glaubens resultieren und z. B. auf den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen gerichtet sind (*Postmaterialismus, *Neue soziale Bewegungen). Vor allem mit dem ersteren korrespondiert die bekannte *Individualisierungs-These: Die Entscheidungen über die eigene Lebensperspektive würden zwar nach wie vor nicht unabhängig von der (jeweiligen) sozialen Ausgangslage und den sozialen Rah- menbedingungen getroffen (z. B. dem Arbeitsmarkt), gleichwohl sei der Einzelne tendenziell zum "Bastler" seiner eigenen Biographie geworden. So stünden dem Verlust an sozialen Bindungen und möglichen Überforderungen angesichts des gesellschaftlichen Komplexitätszuwachses die Ausweitung individuellerer Entscheidungs- und Handlungsspielräume gegenüber. 3. In den letzten Jahrzehnten haben die ökonomisch angestoßenen Modernisierungsschübe der bürgerlichen Gesellschaft eine Eigendynamik angenommen, die den proklamierten 'Gleichklang von Vernunft und technischem Fortschritt' endgültig zur *Ideologie werden ließ. Das zeigt sich nicht nur in den neuartigen Risiken (*Kernenergie, *Ökologie, *Klimakatastrophe), die womöglich global irreparable Auswirkungen haben (*Risikogesellschaft); vielmehr ist die neuere wissenschaftlich-technische Entwicklung (*Automation, *Mikroelektronik) auch mit einer zunehmenden Beschäftigungs-‚Freistellung’ verbunden (*Arbeitslosigkeit), und zwar bei gleichzeitig steigender Arbeitsproduktivität. Dazu gehören spezifische Selektionsprozesse: die ‚Schwächeren’ werden zugunsten von ‚Starken’ aussortiert, deren Arbeitsbelastung in der Regel ansteigt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass insbesondere im Angestelltenbereich die Arbeitsbelastung stark zugenommen hat. Damit sind erhebliche psychisch-soziale 'Kosten' verbunden (*Psychoanalyse). Im Zusammenhang der Technikentwicklung sind die neuen Formen der Informationsgewinnung und -verarbeitung von besonderer Bedeutung (*Neue Medien, *Informatik). Sie lassen einen nahezu unbegrenzten und schnellen Zugriff auf verfügbares Wissen und einen ebenso raschen Austausch von Informationen zu (*Informationsgesellschaft). Diese Vorteile sind freilich mit Problemen verbunden. Abgesehen davon, dass die abrufbare Datenflut keine Garantie für die Qualität ihrer Verarbeitung gibt, gibt es Risiken, die sich z. B. auf den *Datenschutz und die enorme Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsabläufe beziehen (*Rationalisierung). Die neue Technik enthält auch die Möglichkeit, in das mediale Geschehen selber einzugreifen – ohne Rücksicht auf reale räumlich-zeitliche und soziale Kontexte und ohne einen direkten personalen Kontakt. Was solcherart ‚Schaffung von Ersatzwelten’ für die realen sozialen Interaktionen bedeutet, ist noch wenig erforscht. Der medialen Vernetzung im globalen Maßstab entspricht die beschleunigte Entgrenzung insbesondere der wirtschaftlichen Aktivitäten (*Globalisierung). Damit sind erhebliche Rückwirkungen auf Seite 2/3 die politischen Handlungsspielräume der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften verbunden: In dem Maße, in dem ihre Regierungen an Einfluss auf 'ihre' Volkswirtschaften verlieren (der ohnehin begrenzt ist), reduzieren sich auch die (finanz-) politischen Steuerungsmöglichkeiten. Das gilt insbesondere im Blick auf sozialstaatlich begründete Regularien. Im Zeichen der 'internationalen Wettbewerbsfähigkeit' werden deshalb die Regierungen gedrängt, den Sozialstaat nicht nur um-, sondern auch abzubauen. Entsprechende Forderungen gehen vor allem vom *Neoliberalismus aus. Zu seinen Vertretern gehören die Wirtschaftseliten, die die Arbeitsmärkte wie auch die sozialen Sicherungssysteme durchgreifend deregulieren möchten in Richtung einer stärkeren Inanspruchnahme des Einzelnen. Bestrebungen, parallel zur ökonomischen Denationalisierung übernationale politische Institutionen mit umfangreichen Steuerungsfunktionen auszustatten (*Europäische Union), stellen allein wegen der damit verbundenen Einschränkung nationaler Souveränitätsrechte und Interessen ein schwieriges Unterfangen dar (z. B. im Blick auf Arbeitsgenehmigungen und *Subventions-Praktiken).Druck auf den * Sozialstaat entsteht auch durch die neuen *Migrations-Bewegungen: Während nicht wenig investives Kapital in die sog. Billiglohnländer strömt, wandern von dort aus Arbeitskräfte (mit ihren Familien) ein. Sie werden von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung nicht nur als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen; für nicht ganz wenige gelten Zuwanderer auch als sozialer Belastungsfaktor (*Sozialhilfe) und als kulturelle Bedrohung (*Ausländer, *Ausländische Arbeitnehmer, *Asylbewerber). Auch das sorgt – insbesondere bei einer unzureichenden Integrationspolitik – für sozialen Zündstoff, der dazu für nationalistische Strömungen leicht zur politischen Münze wird (*Nationalismus, *Rechtsextremismus). Jedenfalls ist die *Multikulturelle Gesellschaft, die insbesondere mit dem ‚Bau des europäischen Hauses’ in Verbindung gebracht wird, von der gesellschaftlichen Realität noch weit entfernt. 4. Zweifellos gehört zu den wirkungsmächtigsten Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft, dass sich die Zwänge der globalisierten Konkurrenzwirtschaft mit Druck auf die Arbeitsmärkte und die sozialen Sicherungssysteme verbinden. Zu dieser Tendenz gehört, das marktförmiges, an Gewinnerwartungen/ Rentabilitätsberechnungen orientiertes Verhalten auf nahezu alle Institutionen und Lebensbereiche übergreift. Mit dieser Ökonomisie- rung ist eine Auszehrung lebensweltlich bestimmter Traditionen verbunden, zu denen Fragen nach dem Sinn des scheinbar alles entscheidenden Wirtschaftswachstums (*Leistungsgesellschaft, *Konsumgesellschaft) und Fragen nach dem Wohin der gesellschaftlichen Entwicklung gehören (*Emanzipation). Das äußert sich zugleich in einem deutlichen Verlust an utopischen Denken (*Utopie). Allerdings lassen sich hierfür noch andere Ursachen ausmachen. Zu ihnen gehört der Niedergang der staatssozialistischen Systeme (*DDR), der den *Kapitalismus als alternativlos erscheinen lässt, aber auch die Modernisierungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftens. Z. B. werden vom ‚modernisierten’ Markt Qualifikationen gefordert und Leitbilder erzeugt, die in manchem mit denen übereinstimmen, die gegen den *Kapitalismus entwickelt worden sind. Das bezeugt ein Blick auf gängige Anforderungsprofile: Neben Belastungsfähigkeit und Einsatz werden Individualität und Kreativität, Kooperationsfähigkeit und Spaß an der Arbeit gefordert. Umgekehrt gilt, dass sich Politisches mit Ausdrucksformen des Marktes verbindet. Das gilt insbesondere für die medial präsentierte Politik. Aber auch in der politischen Alltagskultur finden sich entsprechende 'Erlebnis'-Muster, z. B. wenn eine Demonstration als 'event' angekündigt wird, bei dem es "auch Spaß" geben werde. Dabei ist oft schwer zu entscheiden, was die (Markt-)Realität nur verdoppelt und was über sie hinausweist. Von dieser *Ambivalenz und Unübersichtlichkeit zehrt die sog. Spaßgesellschaft, die allerdings in weiten Bereichen einen sehr klaren Maßstab hat: bleibt der materielle/kommerzielle Erfolg aus, hört der Spaß auf. kc Lit.: Barlösius, E. u. a. (Hg.): Gesellschaftsbilder im Umbruch, Opladen 2001; Beck, U.: Risikogesellschaft. Frankfurt/M. 1996; ders.: Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/M. 1999; Birnbaum, N.: Nach dem Fortschritt. Vorletzte Bemerkungen zum Sozialismus, München 2003; Elias, N.: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1977; Huhn, H.: Ende der Spaßgesellschaft, Frankfurt/M. 2002; Kofler, L.: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. 2 Bde., Darmstadt 1979; Loch, D./ Heitmeyer, W. 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