Sprachliche und kognitive Probleme der Textverständlichkeit Norbert Groeben 9.7.2014 Sprachliche und kognitive Probleme der Textverständlichkeit: Überblick N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 2 Textverständlichkeit: Dimensionen/Merkmale • Sprachliche Einfachheit – – – – Kurze, geläufige Wörter Konkret anschauliche Wörter Keine Satzschachtelungen/eingebettete Relativsätze Keine Nominalisierungen N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 3 Textverständlichkeit: Dimensionen/Merkmale • (Kürze)/Redundanz – Konzeptgewichtungen – Wiederholung wichtiger Konzepte, Zusammenfassungen – Text-Bild-Integration • Kognitive Gliederung/Ordnung – – – – Lokale und globale Kohärenz Sequenzielles Arrangieren (von generell nach spezifisch) Vorstrukturierungen (‚advance organizer‘) Argumentquantität und -qualität N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 4 Vorschau • Ich gebe im Folgenden Positiv- und Negativ-Beispiele (aus verständlichkeitsorientierten Patienteninformationen) für die wichtigsten Merkmale der (Dimensionen von) Textverständlichkeit (Problembereich: Prostatakrebs). • Für die Positiv- oder Negativ-Bewertung bilden die Rezeptionsprozesse die Grundlage. • Besonders bei der Dimension ‚Kognitive Gliederung/Ordnung‘ spielen auch die Rezeptionswirkungen als unterstelltes PatientenModell eine Rolle. N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 5 Sprachliche Einfachheit: kurze, geläufige Wörter • Was ist ein Prostatakarzinom? • Das Prostatakarzinom ist die bösartige Neubildung des Prostatadrüsengewebes. Es entsteht meist in der äußeren Region der Drüse… (Negativ-Beispiel: Fachausdruck ‚Karzinom‘) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 6 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter • Verdacht auf Prostata-Krebs – und nun? • Lieber Patient, Die Diagnose Krebs ist für die meisten Betroffenen nach wie vor ein schwerer Schock… (Positiv-Beispiel: ‚Krebs‘) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 7 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter • Tastuntersuchung: … Diese Untersuchung wird auch als digital-rektale Untersuchung bezeichnet (vom lateinischen „digitus“ = Finger)… • PSA-Test: … PSA steht für „Prostata-spezifisches Antigen“. Dabei handelt es sich um ein Eiweiß, das in der Prostata gebildet wird und in geringen Mengen in das Blut übertritt. (Positiv-Beispiel mit Erklärung des lateinischen Fachausdrucks) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 8 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter (gleich: keine Fremdwörter) • Während gutartige Tumoren anderes Gewebe durch Wachstum verdrängen, wachsen bösartige oder maligne Tumoren invasiv in benachbarte Organe und Strukturen ein und zerstören sie. (Problem: Soll man die lateinischen Fachausdrücke mit nennen? Hier bei ‚maligne‘ ja, bei ‚benigne‘ nein) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 9 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter • Die Bezeichnung „Prostata“ leitet sich vom griechischen Begriff für Vorsteher ab: Wenn man die Harnröhre von außen in Richtung Harnblase betrachtet, steht die Prostata wie ein „Türsteher“ vor ihr. (Positiv-Beispiel: Konkrete Vorstellung) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 10 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter • Bösartiger Tumor: Er kann seine zerstörerischen Zellen über die Blutbahn und das Lymphgewebe in andere Körperteile verschicken und so schließlich den ganzen Körper mit neuen Tumoren durchsetzen. Diesen Prozess nennt man Metastasierung. (Problem: Welche Übersetzung nimmt man für lateinische Fachausdrücke? Hier: Metastasierung) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 11 Sprachliche Einfachheit: konkret-anschauliche Wörter • Zwischen der Höhe des PSA-Wertes, der Größe des Tumors und eventuellen Metastasen besteht ein Zusammenhang: … In diesen Fällen ist das Risiko für Tochtergeschwulste erhöht. • Ein Röntgenbild der Lunge gibt Auskunft über mögliche Absiedelungen dort. (Problem: Uneinheitlichkeit der Übersetzungen) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 12 Sprachliche Einfachheit: keine Satzschachtelungen • Man versucht bei der Behandlung die spezifische Abhängigkeit der Vorsteherdrüse von den männlichen Geschlechtshormonen zu nutzen, indem man die Hoden als Entstehungsort für diese Hormone entfernt oder unter Vermeidung einer Operation medikamentös die Bildung des männlichen Geschlechtshormons unterbindet. (Negativ-Beispiel: Satzschachtelung und Nominalisierung) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 13 Sprachliche Einfachheit: keine eingebetteten Relativsätze • Mit jeder Zellteilung, die zur Erneuerung und Regeneration gesunden Gewebes im Laufe des Lebens notwendig ist, steigt rein statistisch auch die Wahrscheinlichkeit, dass dabei Fehler auftreten. (Negativ-Beispiel; besser in zwei Sätze auflösbar) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 14 Sprachliche Einfachheit: keine Nominalisierungen • Wird in den Gewebeproben ein Prostatakarzinom festgestellt, folgen weiterführende Untersuchungen, die der Abklärung der Ausbreitung des Prostatakarzinoms dienen…. (Negativ-Beispiel: Genetiv-Reihungen sind immer ein Anzeichen für Nominalisierung) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 15 Kürze/Redundanz: Konzeptgewichtungen • • • • Leben mit Prostatakrebs Die Erkrankung (….) Entscheidungen (….) Die Behandlung (….) (Positiv-Beispiel: Es werden zentrale Unterkapitel gemäß der praktischen Wichtigkeit unterschieden) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 16 Kürze/Redundanz: Konzeptgewichtungen • Die Untersuchungen sollen klären: – – – – Wie groß ist der Tumor? Ist er schon in das umliegende Gewebe gewachsen? Sind Lymphknoten oder andere Organe befallen? Wie aggressiv ist der Tumor? (Positiv-Beispiel: Die Fragen enthalten die medizinisch wichtigsten Krankheitsaspekte) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 17 Kürze/Redundanz: Wiederholung wichtiger Konzepte • Vorteile der Früherkennung: – Der Tumor kann unter Umständen so früh erkannt werden, dass eine Heilung möglich ist. – Der früh erkannte Tumor kann so klein sein, dass eine Behandlung zunächst nicht erforderlich ist. • Nachteile der Früherkennung: – Es werden Tumore entdeckt und möglicherweise behandelt, die Ihnen nie Beschwerden bereitet hätten. Folgen dieser Überbehandlung können Impotenz und Inkontinenz sein. – Das Testergebnis kann zunächst auf einen Tumor hinweisen, obwohl keiner vorliegt. – Der Test kann einen Tumor übersehen. (Positiv-Beispiel: Pro- und Contra-Wiederholung) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 18 Kürze/Redundanz: Wiederholung wichtiger Konzepte • Was Sie wissen sollten Die Experten der ärztlichen Leitlinie äußern sich zum Thema Früherkennung von Prostatakrebs wie folgt: – Sie sprechen sich weder für noch gegen eine Früherkennung aus. Es gibt Hinweise, dass die PSA-gestützte Früherkennung die Sterblichkeit an Prostatakrebs verringert. Gleichzeitig besteht aber das sehr viel höhere Risiko einer Überbehandlung. – (….) (Positiv-Beispiel: s. vorherige Folie) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 19 Text-Bild-Integration • Wo immer es möglich ist, sollte die anschauliche Vorstellung durch Bilder (z.B. vom erkrankten Organ) bzw. dem Krankheitsbild gestärkt werden. • Entscheidend ist dabei, dass Text- und BildInformation übereinstimmen; ist das nicht gegeben, wird das Verständnis erheblich gestört. N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 20 Kognitive Gliederung/Ordnung Lokale Kohärenz: Given-New-Strategie • Prostatakrebs-Diagnose • Treten Symptome auf, die auf eine Prostataerkrankung schließen lassen, leitet der Arzt die notwendigen Untersuchungen ein. Mit ihrer Hilfe kann er klären, ob es sich wirklich um einen bösartigen Tumor handelt. • Transrektale Ultraschalluntersuchung: Als weitere Diagnosemethode wird eine transrektale Ultraschalluntersuchung (TRUS) vorgenommen. (Negativ-Beispiel: Die Basis-Untersuchungen, auf die sich das ‚weitere‘ bezieht, sind nicht benannt) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 21 Kognitive Gliederung/Ordnung Globale Kohärenz: Widerspruchsfreiheit • Die Biopsie ist ein ungefährliches Untersuchungsverfahren. Eine Gefahr der Streuung von Tumorzellen besteht dabei nicht. (….) • Vor der Durchführung der Prostatabiopsie muss der Patient eingehend über den Nutzen, die Risiken und Konsequenzen der Untersuchung aufgeklärt werden. (…) (Negativ-Beispiel: Inkohärenz zwischen ‚ungefährlich‘ und ‚Risiken‘) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 22 Kognitive Gliederung/Ordnung Globale Kohärenz: Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge • Voraussetzung für das Einbringen von Strahlungsquellen in den Tumor ist eine nicht zu große, aber auch nicht extrem kleine Prostata. Männer, die wegen einer gutartigen Prostataerkrankung oder aus anderen Gründen voroperiert sind, können meist nicht mit einer Brachytherapie behandelt werden. … (Positiv-Beispiel: Die Ursache-WirkungsZusammenhänge werden in praxisrelevanter Aufarbeitung genannt) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 23 Kognitive Gliederung/Ordnung Sequenzielles Arrangieren • gesundheitsinformation.de: Thema Prostatakrebs Einleitung Symptome Ursachen und Risikofaktoren Häufigkeit Verlauf Diagnose Früherkennung Behandlung (Positiv-Beispiel: Reihung der Informationen zum Aufbau einer adäquaten Kognitionsstruktur) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 24 Kognitive Gliederung/Ordnung Vorstrukturierungen Prostatakrebs – eine Einführung Anatomie, Tumorbildung, Krebsstatistik Seit einigen Jahren ist das Prostatakarzinom bei Männern in Deutschland die häufigste Krebserkrankung. … Was hat das Alter mit der Krebsentstehung zu tun? Wie ist die Prostata anatomisch aufgebaut, und welche Funktion hat das gesunde Organ? … Inhaltsübersicht (Positiv-Beispiel: Es wird eine Vorschau auf abstraktem Konzeptniveau gegeben, das dann konkretisiert werden kann) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 25 Kognitive Gliederung/Ordnung Argumentquantität/-qualität • Die Tastuntersuchung: Der Arzt führt dazu einen mit ausreichend Gleitmittel präparierten Finger in den After des Patienten ein und kann so im Handumdrehen fühlen, ob alles o.k. ist. (Negativ-Beispiel: Neben verunglückter Metaphorik vor allem inadäquate Propagierung der Tastuntersuchung – um Männer zur Vorsorgeuntersuchung zu bewegen…) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 26 Kognitive Gliederung/Ordnung Argumentquantität/-qualität • Die Vorsorgeuntersuchung: Sie enthält jedoch nur die Tastuntersuchung der Prostata durch den Enddarm. Als Verfahren mit besserer Aussagekraft bietet sich die Bestimmung des PSA-Wertes im Blut an. (Negativ-Beispiel: Komplementär inadäquat zur vorherigen Folie – um Patienten zu einer IGELUntersuchung zu bewegen…) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 27 Kognitive Gliederung/Ordnung Argumentquantität/-qualität • Das sollte man wissen: – Mindestens 2 von 3 Männern mit einem auffälligen PSA-Wert haben in Wirklichkeit keinen Krebs. – Die Mehrzahl der Männer, bei denen PSA-Screening einen Prostatakrebs entdeckt, werden durch diesen Krebs weder beeinträchtigt noch gefährdet. – Für diese Männer ist die nachfolgende, nebenwirkungsreiche Behandlung überflüssig und somit nur mit Nachteilen verbunden. (Negativ-Beispiel: Einseitige Argumentation gegen PSAScreening) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 28 Kognitive Gliederung/Ordnung Argumentquantität/-qualität • Der Nutzen des PSA-Tests zur Früherkennung von Prostatakrebs ist in großen Studien untersucht worden. Die Ergebnisse zeigen, dass möglichen Vorteilen auch ernstzunehmende Nachteile gegenüberstehen. Vor einer Entscheidung für oder gegen einen PSA-Test lohnt es sich, das Für und Wider abzuwägen. • Mehr Wissen (Positiv-Beispiel: Zweiseitige Argumentation mit Möglichkeit zu vertiefter Information) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 29 Kognitive Gliederung/Ordnung Argumentquantität/-qualität • Behandlung …. Bei Männern mit einem Hoch-Risiko-Prostatakrebs wird die Prostata normalerweise operativ entfernt oder bestrahlt. Es gibt zwei Möglichkeiten der Bestrahlung: von außen (externe Strahlentherapie) oder innen (interne Strahlentherapie, Brachytherapie). (Positiv-Beispiel: Zweiseitige Argumentation als notwendige Anforderung eines mündigen Patienten) N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 30 Überblicksliteratur • N. Groeben (1982). Leserpsychologie: Textverständnis – Textverständlichkeit. Münster: Aschendorff • U. Christmann & N. Groeben (1999). Psychologie des Lesens. In: B. Franzmann et al. (Hrsg.), Handbuch Lesen (S. 145 – 223). München: Saur • U. Christmann (2008). Rhetorisch-stilistische Aspekte moderner Verstehens- und Verständlichkeitsforschung. In: U. Fix, A. Gardt & J. Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch (S. 1092 – 1106). Berlin/New York: de Gruyter N. Groeben Textverständlichkeit von Patienteninformation 31