DOC - Europa.eu

Werbung
EUROPÄISCHE KOMMISSION
Viviane Reding
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, EU-Justizkommissarin
Europa, das Recht und die deutschen Juristen: ein
luxemburgischer Zwischenruf
69. Deutscher Juristentag/München
18 September 2012
SPEECH/12/614
Sehr geehrter Herr Professor Dr. Henssler,
liebe Frau Bundesministerin der Justiz, liebe Sabine,
liebe Frau Justizministerin Dr. Merk,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich weiß sehr wohl, dass ich mich heute hier in München in äußerst ehrenwerte
Gesellschaft begeben habe. Vor mir in diesem Saal sitzt die "crème de la crème" des
deutschen Rechts: Deutschlands beste Köpfe aus Richterschaft, Anwaltschaft, Notariat
und Rechtswissenschaft, zusammen mit vielen einflussreichen Rechtspolitikern aus Bund
und Ländern, aus Justizministerien und Parlamenten. Vor dieser geballten Kraft des
deutschen Rechts kann ich mich als bescheidene Luxemburgerin nur ehrfurchtsvoll
verneigen.
Ja, es ist richtig, seit dem Vertrag von Lissabon wird auch von der Europäischen
Kommission in Brüssel Rechtspolitik betrieben. Aber als historisch erste EUJustizkommissarin weiß ich doch sehr wohl, dass all das in Brüssel und Strassburg vom
europäischen Gesetzgeber gesetzte Recht – ob im Zivilrecht, im Strafrecht oder im
Datenschutzrecht – am Ende von Ihnen allen, hier vor Ort in Deutschland und in Bayern,
umgesetzt und angewandt werden muss. Mit anderen Worten: Das europäische Recht ist
auf Sie alle angewiesen. Sie sind es, die mit dem europäischen Recht im Alltag klar
kommen müssen. Sie sind es, die wissen müssen, was eine Vorschrift des europäischen
Rechts bedeutet, wie es auszulegen und wie es anzuwenden ist. Kurz: Ohne Sie gibt es
kein europäisches Recht in der Lebenswirklichkeit.
Ich begrüße es daher sehr, dass Sie sich auf dem diesjährigen Juristentag hier in
München neben dem deutschen auch sehr ausführlich mit dem europäischen Recht
auseinandersetzen werden – ob es dabei um das optionale Europäische Kaufrecht geht,
um mögliche europäische Sammelklagen, um die EU-Richtlinie zum Recht auf
anwaltlichen Beistand im Strafverfahren, um die EU-Datenschutzverordnung oder um die
EU-Frauenquote für Führungsgremien der Wirtschaft, die die Europäische Kommission in
diesen Tagen vorbereitet.
Ich weiß sehr wohl, dass bei diesen fünf Themen nicht alle Juristen hier im Saal mit mir
einer Meinung sind. Das wäre ja auch noch schöner! Die Juristerei lebt schließlich vom
kontroversen Meinungsstreit, und es ist Aufgabe demokratisch legitimierter Politiker –
das ist in Brüssel nicht anders als in München oder Berlin –, am Ende aus juristischen
Thesen und Antithesen eine Synthese oder jedenfalls eine verlässliche herrschende
Meinung zu identifizieren, für die sich politische Mehrheiten finden lassen. Diesem
wichtigen Prozess will ich in meinem Vortrag nicht vorgreifen. Meine Auffassung zu den
fünf genannten Themen ist Ihnen ja hinlänglich bekannt, und ich bin sehr gespannt
darauf, was Sie in ihren Diskussionen in den nächsten Tagen dazu herausarbeiten
werden.
2
Möglicherweise kommen Sie ja zu der Auffassung, dass der Versuch der Kommission, im
Bereich des Verbrauchervertragsrechts nicht mehr auf die traditionelle Methode der
Vollharmonisierung zu setzen, sondern im Interesse der Subsidiarität und des
Grundsatzes der Vertragsfreiheit den Weg eines optionalen Vertragsrechtsinstruments
einzuschlagen, ungeeignet ist. Sollten wir vielleicht besser wieder zur Vollharmonisierung
zurückkehren? Ich werde mir solche Argumente natürlich sehr genau anhören, auch
wenn das optionale Instrument ein von mir ganz bewusst gewählter Weg ist, um den
Bedenken gerade der deutschen Rechtswissenschaft gegenüber der Vollharmonisierung
der vergangenen Jahrzehnte Rechnung zu tragen. Interessant finde ich dabei das hier in
München zu hörende Argument, dass wir in Brüssel bei diesem optionalen Instrument zu
schnell vorgehen würden. Das optionale Instrument ist doch zwanzig Jahre lang durch
die wissenschaftliche Forschung und anschließend von der Europäischen Kommission
zehn Jahre lang in Mitteilungen und öffentlichen Konsultationen vorbereitet worden,
bevor wir einen konkreten Gesetzgebungsvorschlag auf den Tisch gelegt haben. Offenbar
sind die Vorstellungen von "schnell" hier in München etwas anders als bei uns in Brüssel!
Vielleicht sehen Sie auf diesem 69. Juristentag auch meine Haltung zu Überlegungen zu
EU-Sammelklagen kritisch. Ich persönlich bin entschieden gegen europäische
Gesetzgebung auf diesem Gebiet. Ich meine, dass das nationale Prozessrecht in der
Europäischen Union noch zu unterschiedlich ist, um solche Experimente zu wagen. Ich
kann auch keinen Vorteil im Import der amerikanischen "class actions" in die
europäische Rechtsordnung erkennen – auch nicht für die Verbraucher, die gerade in
Deutschland durch eine umfangreiche Gesetzgebung, durch die Justiz und durch
Verbraucherverbände bereits heute auf beeindruckend hohem Niveau geschützt sind.
Aber ich bin mir sicher, dass der eine oder andere unter Ihnen dies hier anders sieht,
und ich bin gespannt auf Ihre Argumente.
Freuen würde ich mich auch über kontroverse Beiträge zu der in diesen Tagen im
europäischen Gesetzgebungsverfahren
kontrovers
diskutierten
Richtlinie
auf
anwaltlichen Beistand im Strafverfahren. Halten Sie den Standpunkt der
Europäischen Kommission für richtig, dass der Kontakt des Anwalts zu seinem
Mandanten ausnahmslos der Vertraulichkeit unterliegt? So wie ich sehen dies
erfreulicherweise das Europäische Parlament sowie die italienische und die spanische
Regierung. Oder sind Sie der Auffassung, dass es begründete öffentliche Interessen
dafür gibt, den Grundsatz der Vertraulichkeit auch im Verhältnis zwischen Rechtsanwalt
und Mandant einmal zu durchbrechen? In diesem Fall unterstützen Sie möglicherweise
die Auffassung, die auch die deutsche Bundesregierung bei den Verhandlungen in
Brüssel gemeinsam mit der großen Mehrheit der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten
vertreten hat. Mich würde sehr interessieren, wie auf dem Deutschen Juristentag über
diese Frage diskutiert wird.
Vielleicht stellen Sie in Ihren Arbeitskreisen auch fest, dass das von der Kommission
vorgeschlagene Schutzniveau in der EU-Datenschutzverordnung aus deutscher Sicht
noch zu niedrig ist. Die EU-Datenschutzverordnung schreibt bekanntlich künftig in allen
EU-Mitgliedstaaten die Bestellung betrieblicher Datenschutzbeauftragter vor, wie dies
heute in dieser Form nur in Deutschland und in Österreich der Fall ist. Allerdings sieht
unser Vorschlag diese Pflicht erst für Unternehmen vor, die 250 oder mehr Mitarbeiter
zählen. Mich haben viele Beschwerden aus Deutschland erreicht, dass wir diese Schwelle
niedriger ansetzen sollten. Mich würde interessieren, was der Deutsche Juristentag dazu
meint. Auch im Übrigen bin ich natürlich über konkrete Vorschläge dankbar, wo genau
wir das Datenschutzniveau weiter heraufschrauben sollten; oder wo wir es etwas anders
justieren könnten.
3
Schließlich schließe ich nicht aus, dass gerade einige der hier anwesenden Juristinnen
nicht ganz zufrieden damit sind, dass die bisherigen Kommissionsentwürfe zur
Frauenquote nur die Aufsichtsräte erfassen sollen. Nun, in diesem Fall würde ich mich
natürlich über rechtlich gangbare Vorschläge freuen, die auch die Vorstände und andere
Entscheidungsebenen erfassen könnten – und trotzdem das Grundrecht der
unternehmerischen Freiheit und das Eigentumsrecht angemessen achten. Denn beides
sind Grundrechte, die für mich ebenso wichtig sind wie die Gleichberechtigung und
deshalb im Wege praktischer Konkordanz miteinander in Einklang gebracht werden
müssen. Unabhängig davon, wie der Rechtstext der Kommission am Ende formuliert sein
wird, eines steht fest: Die Quote wird kommen. Elf EU-Mitgliedstaaten haben bereits
heute unterschiedliche Quotenregelungen. Und ich bin sehr sicher, dass es auch in
Deutschland bis 2015 eine Quotenregelung geben wird. Das liegt nicht nur an Brüssel.
Das liegt auch an Berlin und vielleicht sogar an München, wo in diesen Tagen Frauen in
Führungspositionen ja ganz besonders "en vogue" sind. Ich begrüße dies außerordentlich
und freue mich über die vielen Verbündeten in dieser Frage gerade in Deutschland.
Gemeinsam werden wir das am Ende schaffen, da bin ich sehr zuversichtlich.
Meine Damen und Herren,
allein die Tatsache, dass Sie all diese komplexen Rechtsfragen und noch zahlreiche
weitere Themen in den kommenden Tagen hier in München erörtern werden, verlangt
mir großen Respekt ab. Ich kenne nicht viele europäische Staaten, in denen der
rechtlichen und rechtspolitischen Debatte ein so großer Raum wie in Deutschland
eingeräumt wird. Ich bin seit mehr als 20 Jahren in der Europapolitik, zehn Jahre als
direkt gewählte Europaparlamentarierin und nun im zwölften Jahr als vom Europäischen
Parlament gewählte EU-Kommissarin. Ich habe dabei immer wieder erlebt, dass
deutsche Juristen etwas ganz Besonderes sind.
Erlauben Sie mir als Luxemburgerin, die Ihre Sprache versteht und einigermaßen
spricht, die ihr eigenes Land aber dennoch selbstbewusst als zwar kleine, aber doch
eigenständige europäische Nation mit eigener Muttersprache begreift, einige
Bemerkungen einer Außenstehenden zu den Besonderheiten der deutschen Juristen und
zu ihrer Bedeutung für die europäische Integration.
Als ich 1999 mein Amt als EU-Kommissarin für Bildung und Kultur antrat, begegnete ich
den deutschen Juristen zum ersten Mal im Rahmen des von mir damals verantworteten
ERASMUS-Programms. Sie wissen, das ERASMUS-Programm der Europäischen Union
ermöglicht es jedes Jahr Tausenden von Studenten, einen Teil ihres Studiums in einem
anderen EU-Mitgliedstaat zu absolvieren und so im wahrsten Sinne des Wortes über den
Tellerrand zu blicken. Deutsche Juristen haben sich zunächst nur sehr zögernd für das
ERASMUS-Programm entschieden. Zu groß war anfangs die Sorge, dadurch einen Teil
des intensiven deutschen Jura-Studiums zu versäumen und so Zeit für die
Examensvorbereitung zu verlieren. Doch mit der Zeit wurden auch für die deutschen
Juristen vor allem die englischen Universitäten zu einem begehrten Ort, um
Auslandserfahrung zu sammeln. Mir berichtete damals eine englische Juraprofessorin
von ihren Eindrücken von diesen deutschen Juristen. "Man erkennt den German lawyer
sofort, wenn man ihre juristischen Essays korrigiert", so sagte sie mir damals. "Der
englische Jurist schreibt ein brillantes Essay, das durch Stil und Sprache beeindruckt.
Der deutsche Jurist aber gliedert darüber hinaus sein Essay noch in römisch I., römisch
II., arabisch 1., arabisch 2., klein a, klein doppel-a. Die Gedankenführung ist klar,
strukturiert und logisch." Ja, meine Damen und Herren, an Struktur und stringenter
Logik macht es dem deutschen Juristen in Europa kaum jemand nach.
4
Das zeigt übrigens auch das Phänomen des deutschen juristischen Kommentars. Es wird
Ihnen vielleicht nicht immer bewusst sein, meine Damen und Herren, aber
tausendseitige juristische Kommentare wie den Palandt oder den Münchner Kommentar
– so etwas gibt es nur in Deutschland. Nur deutsche Juristen ziehen mit solch schweren
Büchern beladen in Vertragsverhandlungen oder vor Gericht. In keinem anderen Land ist
es üblich, in kleinster Schrift auf äußerst dünnem Papier alle Paragraphen von vorne bis
hinten juristisch erörtern zu lassen, unter Berücksichtigung der gesamten
Rechtsprechung, der herrschenden Meinung und so mancher im Vordringen begriffenen
Mindermeinung.
Dieses
besondere
Handwerkszeug
des
deutschen
Rechtswissenschaftlers und Rechtspraktikers ist einzigartig in Europa und hat mich stets
beeindruckt.
Der deutsche Jurist weiß aber in der Regel nicht nur, wo etwas im Kommentar steht.
Denn ganz besonders bemerkenswert am deutschen Juristen ist seine breite juristische
Ausbildung. Ja, es ist richtig: Bis ein deutscher Jurist in den Beruf einsteigt, ist er meist
Ende 20, Anfang 30. Denn er hat im Unterschied zu seinen französischen oder britischen
Kollegen sein Studium nicht in drei Jahren absolviert, sondern nach dem Ersten auch ein
Zweites Staatsexamen und dazwischen eine praktische Ausbildung als Rechtsreferendar
durchlaufen. Der deutsche Volljurist ist damit am Ende seiner Ausbildung ein
Generaljurist, der sich vom Schuldrecht bis zum Gesellschaftsrecht und vom
Verfassungsrecht bis zum Bayerischen Bau- und Wasserrecht bestens auskennt. Der
fertige deutsche Jurist ist also nicht ein normaler Hochschulabgänger, sondern er besitzt
nach dem Zweiten Staatsexamen gemäß § 5 des Deutschen Richtergesetzes "die
Befähigung zum Richteramt".
Die generalistische juristische Ausbildung merkt man schnell, wenn man mit solch einem
deutschen Juristen zusammenarbeitet. Wir in der Europäischen Kommission merken das
ganz besonders. Es gibt Politikbereiche in Brüssel, in denen wir geradezu händeringend
nach diesen deutschen Volljuristen suchen. Dies ist zum Beispiel der Fall in der
Generaldirektion Wettbewerb, die für das EU-Wettbewerbsrecht zuständig ist –
traditionell eine Domäne, in der sich deutsche Juristen besonders ausgezeichnet haben.
Neuerdings ist auch die junge Generaldirektion Justiz zu einer bevorzugten Anlaufstelle
für deutsche Juristen geworden. In vielen Bewerbungsverfahren merken wir dabei, dass
die intensive deutsche juristische Ausbildung ein wichtiger Wettbewerbsvorteil sein kann.
Ich kenne einige französische, polnische oder italienische Generaldirektoren, die auf
ihren "German lawyer" als verlässlichen und strukturierten Mitarbeiter zählen. Ich selbst
habe dies ebenfalls erleben können: Bereits als EU-Kommissarin für Bildung und Kultur
suchte ich mir als Kabinettchef einen ausgezeichneten deutschen Juristen aus. Ich wurde
nicht enttäuscht und ernannte in meiner Zeit als EU-Kommissarin für Telekommunikation
und Medien erneut einen deutschen Juristen zum Kabinettchef. Und auch in meiner
aktuellen Amtszeit als EU-Justizkommissarin setze ich erneut auf einen deutschen
Prädikatsjuristen als meinen Kabinettchef. Da weiß man eben, was man hat!
5
Deutsche Juristen sind für den Prozess der Europäischen Integration stets von
besonderer Bedeutung gewesen. Es mag heute ein wenig in Vergessenheit geraten sein,
doch der erste Präsident der Europäischen Kommission war der deutsche Jurist Walter
Hallstein, der die europäische Politik von 1958 bis 1967 prägte. Walter Hallstein war es,
der Europa sehr treffend als "Rechtsgemeinschaft" charakterisierte. Als eine
Gemeinschaft, die erstmals in der Geschichte nicht durch staatliche oder Waffengewalt
zusammenhalten wird, sondern allein durch die Kraft des gemeinsam vereinbarten
Rechts. Und eine Gemeinschaft, die in ihrer täglichen Arbeit keine Armeen befehligt und
keine Gefängnisse leitet, sondern vor allem auf Recht setzt. Eine Gemeinschaft als
Geschöpf des Rechts, als Quelle des Rechts und als gemeinsame Rechtsordnung – so
sieht die Europäische Union bis heute aus. Für manchen mögen diese unzähligen Regeln
und der Brüsseler Drang nach Perfektionismus bürokratisch erscheinen. Aber das kommt
eben dabei heraus, wenn man ein kontinentales Friedenswerk wie Europa den deutschen
Juristen überlässt. Ich persönlich meine, dass sich deutsche Juristen wie Walter Hallstein
auf einzigartige Weise um Europa und um das Recht verdient gemacht haben.
Vielleicht liegt dies auch daran, dass deutsche Juristen wie kaum jemand anderes
wissen, welch schreckliches Unrecht auch mit Mitteln des Rechts angerichtet werden
kann. Vor dem Hintergrund der Taten vieler furchtbarer Juristen in der deutschen
Vergangenheit sind vielleicht gerade deutsche Juristen heute darum bemüht, das Recht
in den Dienst der Völkerverständigung, der Demokratie, der Grundrechte und des
Friedens zu stellen. Ein deutscher Jurist erklärte mir einmal die in der unmittelbaren
Nachkriegszeit geprägte "Radbruchsche Formel", die ich bis heute als Leitmotiv jedes
Rechtspolitikers empfehle: Zwar müssen positive Gesetze im Interesse der
Rechtssicherheit grundsätzlich auch dann angewendet werden, wenn sie ungerecht und
unzweckmäßig sind. Unerträglich ungerechte Gesetze aber müssen der Gerechtigkeit
weichen. Und Gesetze, die nicht einmal das Ziel verfolgen, gerecht zu sein, sind kein
Recht.
Besser kann man Lehren aus den historischen deutschen Erfahrungen mit den
schrecklichen Auswüchsen eines reinen Rechtspositivismus nicht zusammenfassen. Ohne
diese deutsche Erfahrung ist aus meiner Sicht auch nicht die besondere Rolle des
Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Politik und Gesellschaft zu verstehen. Für
die meisten deutschen Nachbarn ist es kaum nachzuvollziehen, dass Bundestag und
Bundesrat in Berlin jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen, das Grundgesetz zu
ändern. Und dass es dann anschließend rechtlich möglich ist, diese Verfassungsänderung
in Karlsruhe auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Ich persönlich halte es
für eine großartige Errungenschaft, dass es auch im demokratischen Rechtsstaat
äußerste rechtliche Grenzen gibt, um Demokratie und Grundrechte gegen ein
möglicherweise ungerechtes Diktat der Mehrheit zu verteidigen. Allein dass es solche
Verfahren beim Bundesverfassungsgericht gibt, hat aus meiner Sicht eine wichtige
zivilisatorische Funktion, um den Rechtsfrieden und das Vertrauen in den
Verfassungsstaat zu bewahren. Ich finde daher, dass Deutschlands Juristen stolz sein
sollten auf ihr Verfassungsgericht. Es setzt heute ohne Zweifel nicht nur für Deutschland,
sondern auch für ganz Europa Maßstäbe und hat dies in der vergangenen Woche erneut
unter Beweis gestellt.
6
Meine Damen und Herren,
die aktuelle Finanz- und Staatsschuldenkrise ist sicherlich eine besondere
Herausforderung für Juristen. Die rasante Geschwindigkeit der internationalen
Finanzmärkte hat auch der deutschen und europäischen Politik ein schwindelerregendes
Tempo aufgezwungen. Da fallen auf immer neuen Krisengipfeln unserer Staats- und
Regierungschefs Beschlüsse um Beschlüsse, die nur mit Mühe von normalen Politikern
und Parlamentariern, von den meisten Bürgern wahrscheinlich gar nicht mehr
nachvollzogen werden können. Auch deshalb ist die Krise mit der Zeit zu einer wahren
Vertrauenskrise geworden. Eine Krise des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit der
Politik allgemein. Aber auch eine Krise des Vertrauens in das Projekt der europäischen
Einigung. Die europäische Einigung hat uns über Jahrzehnte Frieden und Wohlstand
gebracht und genoss deshalb weithin Akzeptanz. Doch jetzt ist das schöne Wetter
vorbei. Und bei Regen und Gewitter scheint manchem Europa eine sehr viel weniger
attraktive Veranstaltung zu sein.
In einer solchen Vertrauenskrise kommt dem Recht eine ganz besondere Rolle zu. Das
Recht und seine Beständigkeit sind Grundlage von Vertrauen. Das Recht ist sozusagen
die gemeinsame Währung des Rechtsstaats. Wenn die Bürger dauerhaft nicht mehr in
das Recht vertrauen, dann endet der Rechtsstaat. Das ist etwas, was sich alle Politiker,
aber auch alle Juristen in diesen Tagen immer wieder in Erinnerung rufen müssen.
Ich verfolge daher mit einiger Sorge die in Deutschland seit einigen Monaten in den
Medien geführte Debatte um das Recht in der aktuellen Krisensituation. Es gibt da viele
Kommentatoren und unzählige Talkshow-Gäste, für die alle in der Krise getroffenen
Maßnahmen einen "permanenten Rechtsbruch" darstellen. "Rechtsbruch" ist das Wort,
das mir in der deutschen Krisenberichterstattung am meisten auffällt und in der sich die
deutsche öffentliche Debatte am stärksten von der in den übrigen Mitgliedstaaten
unterscheidet.
Meine Damen und Herren,
man mag ja Brüssel und hier in München auch Berlin grundsätzlich skeptisch gegenüber
stehen. Aber glauben Sie ernsthaft, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel,
der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, selbst ein herausragender Jurist, und
ihre europäischen Kollegen tatsächlich den ganzen Tag nach neuen Möglichkeiten
suchen, um europäisches oder deutsches Recht zu verletzen? Ist die Rede vom
permanenten Rechtsbruch nicht eine groteske Missachtung der fortgesetzten
Bemühungen aller verantwortungsbewussten Politiker, ob in Exekutive oder Legislative,
ob in Berlin oder Brüssel, ob in Luxemburg oder in Frankfurt am Main, in dieser globalen
Finanzkrise unsere gemeinsame Währung nach Maßgaben des Rechts zu bewahren und
zu stabilisieren?
Ich meine, es lohnt sich, der gebetsmühlenhaft wiederholten These vom permanenten
Rechtsbruch bei der Euro-Rettung einmal auf den Grund zu gehen.
7
Fangen wir an mit der praktisch täglich zu hörenden These, angefangen habe alles mit
dem "Bruch des Stabilitäts- und Wachstumspakts" durch Deutschland und
Frankreich in den Jahren 2003 und 2004. Auch ich war damals nicht glücklich darüber,
dass es gerade Deutschland war, welches den vertraglichen Referenzwert von 3 Prozent
für das Haushaltsdefizit zum wiederholten Male und entgegen den Vorgaben der
Europäischen Kommission überschritten hatte. Für mich als Luxemburgerin – wir
glauben in Luxemburg an den "Grundsatz der luxemburgischen Hausfrau", die stets
einen ausgeglichenen Haushalt oder einen Haushaltsüberschuss anstrebt – war die
Entscheidung der damaligen deutschen Regierung, die Vorgaben der Kommission zu
missachten, eine politisch falsche Entscheidung. Aber: Es war eine politisch falsche
Entscheidung, kein Rechtsbruch. Denn ein Blick in die europäischen Verträge zeigt, dass
es damals keine Rechtspflicht der Mitgliedstaaten gab, ihr Haushaltsdefizit unter 3
Prozent zu halten. Auch wenn ein berühmter bayerischer Einserjurist in der politischen
Debatte immer wieder auf den "Dreikommanull" bestanden hatte: In den Verträgen sind
diese rechtlich nicht verankert. Dort heißt es vielmehr, dass es der Rat der
Finanzminister der Mitgliedstaaten sind, die mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, ob
ein Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit aufweist. Und der Finanzministerrat entschied
eben damals, dass Deutschland und Frankreich mit ihren Maßnahmen grundsätzlich auf
dem richtigen Weg waren und deshalb nicht im Defizitverfahren sanktioniert werden
mussten. Das mag eine politisch falsche Entscheidung gewesen sein – doch die
europäischen Verträge überließen diese Entscheidung ganz bewusst der Politik. Die
Justitiabilität der Haushaltspolitik eines Mitgliedstaats ist in den Verträgen sogar gezielt
begrenzt worden. So kann die Kommission – anders als in allen übrigen Bereichen des
Unionsrechts – bis heute kein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat
einleiten, weil dieser die EU-Vorgaben im Defizitverfahren missachtet. Artikel 126 Absatz
10 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) schließt dies
ausdrücklich aus. Wenn man also genau hinsieht, kann man sicherlich bei den
Ereignissen im Jahr 2003 und 2004 von politisch fragwürdigen, aber sicherlich nicht
rechtswidrigen Entscheidungen sprechen. Denn das Recht sieht das nicht vor, was sich
viele Stabilitätspolitiker – auch ich – wünschen. Aus diesem Grund sind die Europäische
Kommission und das Europäische Parlament seit zwei Jahren dabei, die Regeln
schrittweise zu stärken und Sanktionsregeln zu verschärfen, und dabei können wir heute
erfreulicherweise auf die starke Unterstützung der deutschen Bundesregierung und des
deutschen Bundestags zählen.
Ein zweiter Fall, bei dem es sich lohnt, die These des permanenten Rechtsbruchs
juristisch zu hinterfragen, ist der des so genannten "Bail out"-Verbots. Das Bail outVerbot ist in Deutschland so berühmt, dass der Text des Artikels 125 AEUV es sogar auf
die Titelseiten nicht nur des Spiegel, sondern sogar, im Mai 2010, auf die Titelseite der
Bild-Zeitung geschafft hat. Im Volksmund wird das "Bail out"-Verbot meist so
verstanden: Man hat uns rechtlich garantiert, dass wir niemals für andere Euro-Staaten
zahlen müssen. Und jetzt müssen wir doch täglich Milliardenbeträge nach Südeuropa
pumpen. Sie erkennen dies sicherlich aus den Talkshows der letzten zwei Wochen
wieder.
8
Mit der rechtlichen Lage haben solche populärwissenschaftlichen Aussagen allerdings nur
wenig zu tun. Das erschließt sich bereits bei der Lektüre des Wortlauts des Artikels 125
AEUV. Dort heißt es eben nicht: Ein Euro-Staat darf einem anderen Euro-Staat nicht
finanziell unter die Arme greifen. Vielmehr heißt es dort: Ein Euro-Staat haftet nicht für
die Schulden eines anderen Euro-Staats und tritt nicht in diese ein. Mit anderen Worten:
Ausgeschlossen werden hier nur eine automatische Mithaftung eines Euro-Staats für
einen anderen sowie ein Schuldbeitritt. Nicht ausgeschlossen wird damit die freie
Entscheidung jedes souveränen Staats, ob er einem Nachbarstaat einen Kredit gewährt
oder ihn anderweitig finanziell unterstützt.
Dies bestätigt auch eine systematische Lesart der Verträge. Drei Artikel vor dem
berühmten Artikel 125 AEUV steht Artikel 122 AEUV, der in der deutschen Diskussion
praktisch nie Erwähnung findet. Dort heißt es, dass der Rat der EU-Finanzminister mit
qualifizierter Mehrheit beschließen darf, einem EU-Mitgliedstaat, der sich aufgrund
außergewöhnlicher Ereignisse in Schwierigkeiten befindet, einen finanziellen Beistand
der Union zu gewähren. In der deutschen juristischen Literatur heißt es dazu
regelmäßig, diese Vorschrift sei restriktiv zu interpretieren, Artikel 125 AEUV dagegen
weit auszulegen, denn Artikel 125 AEUV sei die Regel, Artikel 122 die Ausnahme.
Meine Damen und Herren,
das kann man sicherlich auch anders sehen. Normalerweise steht im Gesetz die Regel
systematisch vor der Ausnahmeregelung. Man darf jedenfalls hinterfragen, warum dies
gerade in den EU-Verträgen zwischen Artikel 122 und Artikel 125 AEUV umgekehrt
funktionieren soll.
Wir können dies hier leider nicht weiter vertiefen. Aber es sind auch bei der Frage des
Bail out-Verbots doch erhebliche Zweifel angebracht, ob die in Deutschland so unkritisch
wiederholte These vom permanenten Rechtsbruch juristisch wirklich zutrifft. Ich
persönlich halte die These in diesem Punkt für juristisch falsch. Und die Rechtsprechung
sowohl in Luxemburg als auch in Karlsruhe hat sie ja bisher erfreulicherweise auch nicht
bestätigt.
Ich weiß, dass mir der eine oder andere von Ihnen sagen wird, Sie haben ja gut reden,
aber wir Deutschen haben besonderen Grund, besorgt zu sein, denn wir tragen ja die
finanzielle Hauptlast der Krisenbewältigung. Da erlauben Sie mir bitte eine
luxemburgisch-patriotische Richtigstellung. Ohne Zweifel leistet Deutschland einen
beachtlichen und sehr verantwortungsbewussten Beitrag zum neuen Europäischen
Stabilitätsmechanismus. Dafür ist ganz Europa dankbar. Aber nicht nur Deutschland
leistet viel. Wenn Sie einmal das ESM-Kapital ins Verhältnis zur Bevölkerung setzen,
dann ist der Beitrag jedes Deutschen 2.317 Euro. Jeder Luxemburger leistet aber 3.506
Euro. Deshalb sind wir Luxemburger vielleicht noch etwas mehr am Erfolg der
Rettungsmaßnahmen interessiert als Sie hier in Deutschland!
Damit komme ich zum dritten, letzten und aktuellsten Fall, in dem die These vom
permanenten Rechtsbruch in diesen Tagen bemüht wird. Es geht dabei um die
Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank, die in Deutschland wie in keinem
anderen Mitgliedstaat mit juristischen Argumenten heftig angegriffen werden. Lassen Sie
mich dazu eines vorweg klarstellen: Auch mir ist es lieber, wenn eine Zentralbank sich
so weit wie möglich von Staatsanleihen entfernt hält. Auch ich möchte – wie alle
Luxemburger – natürlich keine Inflation erleben. Der Ankauf von Staatsanleihen durch
Zentralbanken darf daher aus ordnungspolitischen Gründen nicht zum Dauerzustand
werden.
9
Aus rechtlicher Sicht müssen wir allerdings auch anerkennen, dass Offenmarktgeschäfte
mit Staatsanleihen zum traditionellen Instrumentenkasten jeder Zentralbank gehören.
Die amerikanische Notenbank hat heute in ihrer Bilanz ganz überwiegend US Treasuries.
Auch die Deutsche Bundesbank hat in den 1970er Jahren in großem Umfang deutsche
Bundesanleihen völlig legal nach dem Bundesbankgesetz erworben, um so die damals
schwächelnde deutsche Konjunktur zu stützen. Und wenn man dem Autor Carlo Bastasin
glaubt, der das Buch "Saving Europe" über die Krise geschrieben hat, dann war es der
damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, der im Mai 2010 gegenüber den
europäischen Notenbankern erstmals anregte, zur Bekämpfung der Krise Staatsanleihen
anzukaufen.
Sicherlich ist es richtig, dass die EU-Verträge es der EZB verbieten, einem EUMitgliedstaat Staatsanleihen direkt abzukaufen. Diesen Erwerb am Primärmarkt verbietet
Artikel 123 AEUV als monetäre Staatsfinanzierung ausdrücklich, und sehr zu Recht. Nicht
davon erfasst ist aber der Erwerb von bereits gehandelten Staatsanleihen am
Sekundärmarkt. Für die EZB ist die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Erwerbs von
Staatsanleihen am offenen Markt sogar ausdrücklich in Artikel 18 der ESZB-Satzung
geregelt.
Diese
Vorschrift
ist
von
den
27
Mitgliedstaaten
vereinbarter
Vertragsbestandteil, ratifiziert in allen Mitgliedstaaten, in Deutschland mit Zwei-DrittelMehrheit in Bundestag und Bundesrat. Gemäß Artikel 18 ESZB-Satzung darf die EZB alle
börsengängigen Wertpapiere – und damit auch Staatsanleihen – am offenen Markt
erwerben, solange sie dabei im Rahmen der Geldpolitik und unter Beachtung der Ziele
tätig wird, die ihr die Verträge vorgeben.
Hierauf kommt es juristisch entscheidend an: Kauft die EZB Staatsanleihen am
Sekundärmarkt, um die Schulden von unsoliden Staaten zu finanzieren? Dann ist dies
eine Umgehung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung gemäß Artikel 123 AEUV.
Handelt die EZB aber aus geldpolitischen Gründen und unter Beachtung des von ihr
vorrangig vorgegeben Ziels der Preisstabilität, dann ist der Erwerb von Staatsanleihen
am offenen Markt von Artikel 18 ESZB-Satzung ausdrücklich erlaubt.
Meine Damen und Herren,
ich möchte Sie hier und heute nicht von dieser oder jener Rechtsauffassung überzeugen.
Ermutigen möchte ich Sie aber dazu, die juristische Debatte über die EuroRettungsmaßnahmen mit Ihrem gesamten juristischen Sachverstand und mit der
gebotenen Differenzierung zu führen.
Ich bin, wie schon gesagt, fest überzeugt davon, dass weder in Brüssel noch in Berlin
noch hier in München vorsätzliche Rechtsverletzer in der politischen Verantwortung sind.
Sondern verantwortungsbewusste Politiker, die sich der Bedeutung des Rechts sehr wohl
bewusst sind. Dies gilt an erster Stelle natürlich für die Europäische Kommission, welche
die Mitgliedstaaten zur "Hüterin der Verträge" berufen haben. Dies gilt aber auch für die
Europäische Zentralbank, die erste Zentralbank der Welt, die nicht im Rahmen eines
Staates geschaffen wurde, sondern allein mit Mitteln des Rechts und die deshalb auf die
Glaubwürdigkeit des Rechts besonders angewiesen ist.
10
Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen für die Diskussionen der kommenden Tage etwas
Gesprächsstoff geliefert habe. Für mich jedenfalls ist es eine große Ehre, heute auf dem
Deutschen Juristentag bei Ihnen zu Gast sein zu dürfen. Das einzige, was ich von Herzen
bedauere, ist, dass es mein Zeitplan nicht zulässt, heute Abend mit Ihnen auf das
Oktoberfest zu gehen. Denn es hätte mich schon sehr interessiert, ob wahrhafte
deutsche Juristen bei einer Maß Bier auch noch ein anderes Gesprächsthema finden als
Artikel und Paragraphen. Ich bin aber sicher, dass Sie darüber schriftlich berichten
werden – wahrscheinlich in einem schön nach römisch I., arabisch 1., klein a und
doppel-a gegliederten Tagungsbericht.
Ich wünsche Ihnen allen einen sehr erfolgreichen 69. Deutschen Juristentag.
11
Herunterladen