Klinische Linguistik: Sprachstörungen aufgrund von

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Klinische Linguistik:
Sprachstörungen aufgrund von
Chromosomdefekten:
Down-, Williams-Beuren- und
Mikrodeletion 22q11-Syndrom
Sprech- und Sprachstörungen aufgrund genetischer,
kognitiver und organischer Beeinträchtigungen
von Helen Leuninger
Kommentar Chromosom
Das gesamte Erbgut des Menschen ist auf 46
Chromosome verteilt. Chromosome sind
unterschiedlich groß und enthalten 100 bis mehrere
1000 Gene.
Gene:
Abschntte der
dicht gepackten
langen Erbgutfäden
(DNS),
speichern den Bauplan
des Organismus)
Das Down-Syndrom
(Trisomie 21)
Down: britischer Arzt
(1866: Syndrom entdeckt)
1959: Lejeune erkennt die genetische Ursache
Das Down-Syndrom
(Trisomie 21)
Auftretenshäufigkeit: 1:650
Genetische Ursache: Chromosom 21 (oder Teile davon)
dreifach statt zweifach in jeder Zelle vorhanden
2 Formen
1. freie Trisomie: Verdreifachung des ganzen Chromosoms
(Auftreten korreliert mit dem Alter der Mutter)
2. Translokationstrisomie (seltener): 1 Abschnitt des
Chromosoms ist überzählig und an ein anderes
Chromosom angelagert (ein Elternteil kann Überträger
sein  in einer Familie können daher mehrere Kinder
das Down-Syndrom haben)
Das Down-Syndrom
(Trisomie 21)
Charakteristisches äußeres Erscheinungsbild: Dysmorphie
(rundlicher Minderwuchs, veränderter Lidverlauf, breite
Nasenwurzel…)
Verzögerung der motorischen Entwicklung
Variabel ausgeprägte Intelligenzminderung
Häufig Herzfehler, Fehlbildungen im
Magen-Darm-Trakt, Seh- und Hörfehler
Leukämien treten häufiger als bei Gesunden auf
Das Down-Syndrom
(Trisomie 21)
Sprache
A. Schaner-Wolles (1994)
Vergleich gesunde und Down Kinder (Satzimitationstest)
(i)
(ii)
(iii)
(iv)
(v)
(vi)
Mama schläft
Papa hat Hunger.
Sie ist müde
Die Puppen sitzen auf dem Sessel
Die Mutter schenkt der Tochter eine Puppe.
Im Park kauft die Mutter dem Kind ein Eis.
Ergebnisse
Korrekte Reaktionen: D maximal 30% (Durchschnitt)
Das Down-Syndrom
(Trisomie 21)
Ergebnisse
Korrekte Reaktionen: D maximal 30% (Durchschnitt)
Subjekt-Verb-Kongruenz
Verb-Zweit-[-fin]-Muster bleiben länger erhalten als bei unbeeinträchtigten
Kindern:
(i)
die Puppen sitz (-fin, Stamm) auf dem Sessel
(ii)
Die Mutter schenken (-fin, Inf.) Tochter Puppe
(iii)
Mama gehen (-fin, Inf.)weg
 D-Kinder beherrschen V2-Regel ohne entsprechende Morphosyntax
 Dissoziation mentaler Fähigkeiten; Dissoziation grammatikinterner
Kenntnisse (Wortstellung im Vergleich zu Flexion)
Das Williams-Beuren-Syndrom
Williams: australischer Kardiologe,
Beuren: deutscher Kardiologe
(Anfang der 1960er Jahre)
Andere Bezeichnungen:
Elfin Face Syndrom
WB-Syndrom
Williams Syndrom
WBS
Auftretenshäufigkeit: 1:20000
Ursache: Defekt im Chromosom 7
(Elastin-Gel und weitere
Gene fehlen)
Das Williams-Beuren-Syndrom
Klinik
Gesichtsdysmorphie
(Kobold-/Elfengesicht, breite Stirn, buschige
Augenbrauen, eingedrückter Nasenrücken, weit
auseinander stehende Zähne, volle Lippen)
Leichte Mikrozephalie
(pathologische Verkleinerung von
Umfang und Inhalt
des Schädels)
Geringes Gewicht bei der Geburt
Entwicklungsverzögerungern
Herzfehler
oft hyperaktiv, ängstlich
Das Williams-Beuren-Syndrom
Sprache
„an unusual command of language combined
with an unexpectedly polite, open and gentle
manner”
Das Williams-Beuren-Syndrom
Diagnose:
Chromosomenanalyse
(FISH-Test; Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung)
Das Williams-Beuren-Syndrom
Vergleichsstudie Williams-Beuren/Down (Bellugi u.a. 1992)
Je 6 Probanden (Alter, IQ: W: 14.4;50.8/D: 15.4; 48.8)
“What does hazardous mean?”
D: “I don’t know.”
W: “Now, I’ve heard hazardous 10000 times.
It means something dangerous“
Dissoziation
sprachliche Fähigkeiten (verschont)
Kognitive Fähigkeiten (extrem beeinträchtigt):
Das Williams-Beuren-Syndrom
W (15 J., w): “You’re looking at a professional book writer.
My books will be filled with drama, action, and
excitement. And everyone will want to read them. I’m
going. To write books, page after page, stack after stack....
I’ll start on Monday.”
IQ: 49, Schule für mental retardierte Kinder, kognitive
Fähigkeiten eines 7-jährigen Kindes; visuell-räumliche
Fähigkeiten eines 5-jährigen Kindes
Das Williams-Beuren-Syndrom
Vergleichsstudie Williams-Beuren und SSES
(Clahsen & Almazan, 1998)
Morpheme: in der Spontansprache von W-Kindern
unauffällig, bei SSES-Kindern beeinträchtigt
Test: Elizitieren von
a) vorkommenden irregulären Verben (swim, dig…)
b) neologistischen irregulären Verben, die mit
vorkommenden reimen (strink, steeze)
c) vorkommenden regulären Verben (rob, look)
d) neologistische nicht-reimenden Verben (spuff,
dotch…)
Das Williams-Beuren-Syndrom
Ergebnisse
a
b
c
d
30
18
84
5
4
71
90
22
92
92
7
93
%
W
SSES
Sprachgesunde
W:
Übergeneralisierung des regulären PräteritumMorphems
SSES: Übergeneralisierung der nicht-markierten
(Stamm)formen
Sprachgesunde: wenig Übergeneralisierung
DAS 22q11-SYNDROM
Ursache
Mikrodeletion:
ein kleiner Teil der Erbinformation auf dem kurzen
Arm des Chromosoms 22 ist verloren gegangen
Auftretenshäufigkeit: 1:4000
Mikrodeletion 22q11 zweithäufigster Gendefekt beim
Menschen
(nach dem Down-Syndrom, der Trisomie 21)
DAS 22q11-SYNDROM
Zentrales Merkmal:
Herzfehlbildung vom konotrunkalen Typ (im Bereich der
großen, vom Herzen abgehenden Gefäße), die bei 75% der
kleinen Patienten meist chirurgisch therapiebedürftig ist..
Phänotyp:
CATCH-22 (wegen des abwertenden Beiklangs sollte dieses
Akronym nicht zur klinischen Klassifizierung verwendet
werden) = klassischer Symptomenkomplex einer 22q11Mikrodeletion:
DAS 22q11-SYNDROM
Cardiale Malformation (Herzfehlbildung)
A Anomale Facies (Gesichtsauffälligkeiten)
T Thymushypoplasie (Unterentwicklung oder Fehlen
der Thymusdrüse)
C Cleft Palate (Gaumenspalte)
H Hypokalzämie (erniedrigter Kalziumgehalt im Blut)
DAS 22q11-SYNDROM
EIN TYPISCHES GESICHT
Charakteristische Dysmorphiezeichen (Veränderung der Gestalt):
im Säuglingsalter schwer erkennbar
Das 22q11-Syndrom
EIN TYPISCHES GESICHT
mit zunehmendem Wachstum fällt dann ein charakteristisches
Gesichtsbild auf: 95% aller Patienten haben ein oder mehrere
typische Dysmorphiezeichen mit einem langen und schmalen
Gesicht mit prominenter (ausgeprägter, vorstehender) Nase
und breiter kantiger Nasenwurzel.
Das 22q11-Syndrom
EIN FEHLGEBILDETER GAUMEN
Auftretenshäufigkeit von Gaumenfehlbildungen:
ca. 2/3
Besonders isolierte Spalten des Gaumens:
nur bei jedem 10ten Patienten
submuköse Gaumenspalte (Gaumenmuskulatur nur unter der
Schleimhaut gespalten  Störungen bei der Gaumenhebung und
damit des Sprechens Symptome: Kerbe am Hinterrand des harten
Gaumens
eine unterschiedlich große muskuläre Diastase (Spaltung der
Muskulatur) auf der Mittellinie
geteilte Uvula (Gaumenzäpfchen)  bei der Phonation eine schlaff
nach unten hängende Uvula auf
Das 22q11-Syndrom
EIN FEHLGEBILDETER GAUMEN
Gaumensegel: zwar ausreichend lang und hebt sich auch beim
Sprechen, aber ohne intrinsische (innere) Spannung für den
Abschluss von Mundhöhle und Nase.
bis zu 90% mit gesichertem Befund keine Indikation für eine
operative Therapie vor, da durch eine logopädische Therapie
meistens die Muskulatur ausreichend trainiert werden kann,
um das Defizit zu kompensieren.
Vorliegen einer echten submukösen Gaumenspalte: eine
Operation immer angezeigt, sobald ein Patient aufgrund einer
velopharyngealen
Insuffizienz
einen
hypernasalen
Stimmklang entwickelt.
Das 22q11-Syndrom
DIE HÖRBARE FEHLBILDUNG
typischen Besonderheiten: schon sehr früh
Schrei des Neugeborenen: hohes, klares Klangbild so
charakteristisch, dass der Erfahrene sofort das Vorliegen
einer Mikrodeletion 22q11 vermutet.
Eine mehr oder weniger prominente Schluckstörung (manchmal erst
nach einer kurzen Latenzzeit, wenigen Tagen bis Wochen; nicht
selten ist sie so ausgeprägt, dass die Säuglinge über viele Monate,
manchmal bis zum zweiten Lebensjahr, sondiert werden müssen, bis
sie gelernt haben zu schlucken.)
Das 22q11-Syndrom
DIE HÖRBARE FEHLBILDUNG
Beginn der Sprechentwicklung: zeitgleicher Beginn mit dem
Auflösen der Schluckproblematik, und damit deutlich verzögert
im Alter von 2 Jahren äußert ein Grossteil dieser Kinder seine ersten
Wörter
Wortschatz: lange sehr begrenzt (ca. 10 – 20 Worte)
danach scheinbar unvermittelt Schübe in der Sprach- und
Sprechentwicklung
Welches Modul betroffen?:
a) Kognition (allgemeine, soziale und/oder emotionale)
b) Sprache (Produktionsprobleme wegen rezeptiver Probleme)
Das 22q11-Syndrom
DIE HÖRBARE FEHLBILDUNG
eine persistierende, oft für Außenstehende schwer verständliche
Aussprache (insuffiziente Konsonantenbildung: pharyngealen
Ersatzlautbildung bis hin zu einer ausgeprägten Glottalisierung
vieler Konsonanten und Nasalierung der Vokale, vor allem
/u/ und /i/)
Grund: velopharyngeale Insuffizienz.
2 wesentliche Faktoren:
1. wegen ungenügender Gaumenbeweglichkeit mangelhafter
Abschluss von Mund- und Nasenraum (bei jedem dritten
Patienten;
Gaumenspalte
oder
Hypotonie

Kompensationsmechanismen der Zunge, Verspannungen und
Verkrampfungen  gepresste Stimme)
Das 22q11-Syndrom
DIE HÖRBARE FEHLBILDUNG
2. häufig Paukenergüssen und Mittelohrentzündungen:
Diese sind selbst bei intaktem Innenohr von
entscheidender Bedeutung für die zur
Sprachentwicklung notwendige Hörerfahrungsmenge.
Übersteigt eine eingeschränkte Jahreshörbilanz von
mehr als 20 – 30 dB den Zeitraum von 3 Monaten, so
nimmt dies bereits deutlich Einfluss auf die
Sprachentwicklung.
Das 22q11-Syndrom
Bis heute sind die Ursachen vieler der hier aufgezählten Phänomene der Sprech-,
Sprach- und Schluckstörungen vor allem der ersten beiden Lebensjahre bei
weitem noch nicht geklärt. Eine Lösung und Aufklärung kann daher nur in einem
interdisziplinären Ansatz erfolgen. Aus diesem Grund erscheint ein
Zusammenarbeiten der Logopädie, der Heilpädagogik, der kognitiven Linguistik,
der Klinischen Phonetik, der Entwicklungs- und Neuropsychologie, der HalsNasen-Ohrenheilkunde, der Phoniatrie und Pädaudiologie, der Humangenetik und
der MKG-Chirurgie als morphologisch-orientierter Disziplin als absolut
notwendig, um das Problem grundsätzlich zu erfassen, zu verstehen und
letztendlich erfolgreich zu therapieren.
Prof. Dr. Dr. Robert Sader
Fazit
Chromosomendefekt  D und W: Kognitive
Beeinträchtigungen  Sprachstörungen
Organische Ursache?  SSES:
Sprach(entwicklungs)störungen
Chromosomendefekt  ? 22q11: Kognitive
Störungen  Sprach(entwicklungs)störungen
 ? ?  22q11:
Sprach(entwicklungs)störungen
VIELEN DANK FÜR IHRE
AUFMERKSAMKEIT
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