Neue strahlenbiologische und strahlenepidemiologische Erkenntnisse zum Herz-Kreislauf- und Katarakt-Risiko nach Einwirkung ionisierender Strahlung Wolfgang-Ulrich Müller Institut für Medizinische Strahlenbiologie Universitätsklinikum Essen Herz-KreislaufErkrankungen als Strahlenschäden Pathogenese Herz-Kreislauferkrankungen sind oft durch eine Arteriosklerose bedingt, die im Zusammenhang steht mit: genetischer Prädisposition (Hypercholesterinämie), Umweltfaktoren, Lebensstil-bedingten Faktoren (Rauchen), anderen Grunderkrankungen (metabolisches Syndrom, Diabetes oder Niereninsuffizienz). Eine wesentliche Rolle spielt zudem das versorgende, geschädigte Kapillarnetz. Pathogenese nach Strahleneinwirkung Hier herrscht weitgehende Unklarheit. Das einzige Tiermodell zur Arteriosklerose zeigt nach Strahlenexposition eher protektive Effekte. Verschiedene Hypothesen werden diskutiert: Mutationshypothese: monoklonale Entstehung von arteriosklerotischen Plaques; Onkogene Aktivierung: Umwandlung von glatten ruhenden Muskelzellen in aktivierte sezernierende; Eine entzündungsunabhängige Reduktion der mikrovaskulären Perfusion; Radiogene Langzeiteffekte auf das Immunsystem; Entzündungsreaktionen und Veränderungen in Mikrogefäßen. Epidemiologie (Quelle: SSK, wird in Kürze veröffentlicht) Dosis-Wirkungsbeziehung für Herzerkrankungen in Hiroshima und Nagasaki (Mortalität) (Quelle: Shimizu et al. BMJ 2010;340:b5349) Dosis-Wirkungsbeziehung für Schlaganfall in Hiroshima und Nagasaki (Mortalität) (Quelle: Shimizu et al. BMJ 2010;340:b5349) Dosis-Wirkungsbeziehung für HerzKreislauferkrankungen in Mayak (Häufigkeit) (Quelle: Azizova et al. REB 50 (2011) 539–552) Übersicht über die vorliegenden Studien zu HerzKreislauferkrankungen nach Strahlenexposition (Quelle: Azizova et al. REB 50 (2011) 539–552) Stellungnahme der SSK Analysen der vorliegenden Studien mit einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung ergeben Werte des ERR je Dosis in einer Größenordnung von 0,1 Gy-1. Die absoluten Risiken für Herz-KreislaufErkrankungen nach Strahlenexposition mit einer Dosis von einigen hundert Milligray sind geringer, aber möglicherweise doch in der gleichen Größenordnung wie die entsprechenden Krebsrisiken. Allerdings kann auch eine Schwelle in der DosisWirkungsbeziehung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Bereich von einigen hundert Milligray nicht ausgeschlossen werden. Katarakte als Strahlenschäden Aufbau des Auges Aufbau der Augenlinse Katarakt-Formen nukleäre Katarakt Katarakt-Formen anterior kortikale Katarakt posterior Katarakt-Formen anterior subkapsuläre Katarakt posterior Katarakt-Formen Totaltrübung Katarakt (Grauer Star) Einflussfaktoren Geschlecht (höheres Risiko bei Frauen) Genetische Prädisposition (familiäre Anamnese) Erkrankungen (Diabetes mellitus, Hypertonie, Hypercholesterinämie) Nikotin Medikamente (Steroidhormone und Analoga) Mechanische Einwirkungen („Tennisball“-Trauma) Verletzungen der Linsenkapsel (Fremdkörper, Operationen) Chronische Aderhautentzündungen Infrarot-, UV-Strahlung (berufliche Exposition, Freizeitgewohnheiten) Ionisierende Strahlung. Geschlechts- und Altersabhängigkeit Erkenntnisse aus Tierversuchen zum Mechanismus der Entstehung strahleninduzierter Katarakte Zunächst Abnahme der Teilungsaktivität im Linsenepithel. Dann eine überschießende Teilungsaktivität mit zahlreichen abnormen Zellen. Volumenzunahme der Linsenepithelzellen und der Linsenfasern. Auflösung der organisierten Struktur der Zone, in der die Faserbildung beginnt. Akkumulation untypischer, teilweise kernhaltiger Faserzellen. Wo ist nun das Problem? Bis vor Kurzem ging man (insbesondere auch ICRP) davon aus, dass die Katarakt eindeutig ein deterministischer Effekt ist mit Schwellendosen von 0,5 bis 2 Gy nach akuter Exposition und 5 bis 6 Gy nach chronischer Exposition. An diesen Werten orientierte sich auch der Grenzwert für die Augenlinse von 150 mSv im Jahr für beruflich Strahlenexponierte bzw. 15 mSv im Jahr für die allgemeine Bevölkerung. Woher kommen Hinweise, dass diese Vorstellung nicht richtig ist? Hiroshima/Nagasaki Liquidatoren Tschernobyl beruflich strahlenexponierte Personen (z.B. „Radiologic technologists“ USA), Patienten nach diagnostischer und/oder therapeutischer Bestrahlung, Gruppen mit hoher Strahlenexposition aus der Umwelt (z.B. Piloten und Astronauten). Gemeinsame Merkmale dieser Studien Es konnte kein Schwellenwert nachgewiesen werden, unterhalb dessen eine Schädigung der Augenlinse mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Die niedrigsten gemessenen bzw. rekonstruierten Dosen bewegen sich in einem Bereich von 5-100 mGy. Die Ergebnisse gelten für kurzzeitige und für chronische Expositionen. Beispiel: Hiroshima/Nagasaki (Minamoto et al. IJRB 80 (2004) 339) Erste Veränderungen bei 200 mSv Beispiel: Tschernobyl-Liquidatoren (Worgul et al. Rad. Res. 167 (2007) 233) Untersuchte Personen (12 Jahre nach dem Unglück) Prä-Katarakte 8607 Stadium 1+2 1967 (23,0%) Stadium 3-5 2211 (32,7%) 15 ( 0,2%) 90% jünger als 55 Jahre! Problem für BK 2402 Verfahren Erste BK 2402 Anzeigen liegen vor. Es gibt bisher nur wenige Daten zu altersund geschlechtsabhängigen Risikofaktoren nach Einwirkung ionisierender Strahlung. Damit ist es zur Zeit nicht möglich, Verursachungswahrscheinlichkeiten zu berechnen. Alterstrend in Hiroshima/Nagasaki (Nakashima et al. Health Physics 90 (2006) 154) Folgen aus den neuen Erkenntnissen zu Herz-Kreislauf- und Katarakt-Risiko nach Einwirkung ionisierender Strahlung neue dosimetrische Anforderungen und neue Grenzwerte? Herz-Kreislauf-Erkrankungen Die SSK schlägt vor: Die Hinweise auf mögliche Risikoerhöhungen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach Strahlenexpositionen mit einer Dosis von einigen hundert Milligray sollten, obwohl ein Nullrisiko nicht ausgeschlossen werden kann, aus Vorsorgegründen und angesichts bestehender wissenschaftlicher Unsicherheiten in Entscheidungen über Strahlenschutzmaßnahmen einbezogen werden. ICRP hat sich zu dem Problemkreis bisher nicht geäußert. Was bedeutet die neuen KataraktAnalysen für den Grenzwert am Auge von 150 mSv im Jahr? 20 Berufsjahre unter Ausnutzung der 150 mSv im Jahr führen zu einer Gesamtdosis von 3 Sv. In verschiedenen Studien wurde eine statistisch signifikante Erhöhung der Katarakthäufigkeit nach etwa 0,5 Sv gefunden. Das relative Risiko beträgt etwa 1,5 nach einer Exposition mit 1 Sv. Damit bewirken 3 Sv nach heutigem Kenntnisstand mehr als eine Verdoppelung des spontanen Kataraktrisikos. Vor diesem Hintergrund ist ein Grenzwert von 150 mSv im Jahr kaum zu rechtfertigen. Empfehlungen der SSK Anpassung der Regelungen in den Verordnungen an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Erfassung der Linsendosis bei Tätigkeiten mit signifikanter Linsenexposition. Schutzmaßnahmen. Einbeziehung der Augenlinse in die medizinische Überwachung bei potentieller Linsenexposition. Erforschung der Mechanismen (insbesondere genetische Prädisposition, Dosis-Wirkungsbeziehung). Empfehlung der ICRP Absenkung des Grenzwertes von 150 mSv im Jahr auf 20 mSv im Jahr für beruflich Strahlenexponierte. Zusammenfassung Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Zur Zeit unzureichende Datenlage, um konkrete Strahlenschutz-Regelungen zu treffen. Die Problematik unbedingt weiter verfolgen. Katarakt: Die Absenkung des Augenlinsen-Grenzwertes auf 20 mSv im Jahr wird kommen. Schutz der Augenlinse stärker beachten. Korrekte Messung der Augenlinsendosis. Einbeziehung der Augenlinse in die StrahlenschutzUntersuchung bei höher exponierten Personen.